Die Stadt als Bildungsraum.Anthropologische, pädagogische und bildungspolitischeBlicke auf Architektur und Sozialräumlichkeit 1Eckart Liebau1. Moderne oder Tradition?In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte es eineausführliche, heftige und kontroverse Debatteüber architektonische und städtebauliche Fragendes Wiederaufbaus der Städte gegeben, die nichtnur in der Profession der <strong>Architekten</strong>, sondernauch öffentlich mit großer Leidenschaft ausgetragenwurde. Modernisten und Traditionalisten bzw.Historisten hatten sich heftig gestritten. In denfünfziger Jahren wurden aus den Theorien undEntwürfen dieser Debatte dann die wieder aufgebautenbzw. neuen Städte: München, Nürnberg,Lübeck stehen für „Wiederaufbau“, Hannover,Frankfurt, Köln und West-Berlin für Neubau.Es war natürlich die Stunde der <strong>Architekten</strong> undder Stadtplaner. In der Nachkriegszeit und denfünfziger Jahren waren Städtebau und Architekturnotgedrungen zentrale Themen, in denen überdie Gestaltung der Zukunft gestritten wurde. DieFronten waren dabei noch ziemlich klar, im ganzen– wenn man die sechziger Jahre einbezieht – muss„Die Wünsche nach Glück … findenihren zentralen Ort in den eigenenvier Wänden. Die Folgen für denNachwuchs sind dramatisch“man wohl sagen, dass die Modernisten in der LeCorbusier- und der Bauhaus-Tradition, die aus derEmigration entweder ganz zurückgekehrt warenoder sich doch wieder für längere Zeit auch in der<strong>Bund</strong>esrepublik aufhielten, schließlich gewonnenhaben – mit zum Teil absurden Ergebnissen übrigens:Auf der Berliner Bau-Ausstellung des Jahres1957, dieser Musterschau des modernen Bauens,deren Ergebnis u.a. das Hansa-Viertel war, hatz.B. Hans Schwippert, einer der damals führenden<strong>Architekten</strong>, ein Hochhaus gebaut mit 61 Wohnungenund mit 61 Küchen im Innenraum, ohneAbzug, ohne Fenster, ohne direkte Belüftung undohne direkte Beleuchtung; der Beton der fünfziger,sechziger und siebziger Jahre ist ja nicht zufälligin der Jugendbewegung der frühen achtzigerJahre zu einem zentralen Bild für alles Falsche geworden.Und damit war keineswegs nur der Betonder kommerziellen Innenstadtpaläste und Einkaufstempel,damit war auch der Beton der neuenSiedlungen gemeint: Bremen Neue Vahr, HamburgMümmelmannsberg, Berlin Märkisches Viertel.Festzuhalten bleibt die damalige strikte Oppositionvon Tradition und Moderne, die Gegenüberstellung,der Kampf zwischen „Bewahrern“ und„Erneuerern“. Die Zeichen standen auf Modernisierung,auf Fortschritt für alle durch Fortschrittvon Wirtschaft und Technik; das hatten schließlichselbst die Sozialdemokraten mit dem GodesbergerProgramm anerkennen müssen.Städtebaulich schlug sich diese neue Bewegungvor allem darin nieder, dass das Konzept der Entmischungder Funktionen, der radikalen Trennungalso zwischen Arbeiten, Wohnen, Einkaufen undFreizeit nun zum leitenden Paradigmaavancierte. „Durch die Vorstellung, dassman die individuellen Ansprüche anWohlergehen, an Komfort, an Unterhaltung,auch an Luxus, viel besser und vielperfekter erreichen kann, wenn mandie herkömmlichen Bindungen des Bauensin der Stadt abstreift, entsteht einegrundlegend veränderte Situation. –Plötzlich erscheint es möglich, die ganzeStadt nach dem Grundsatz der Spezialisierung zuentwerfen und dabei eine erweitere künstlerischeFreiheit zu finden.“ 2 Die Grundideen zur modernenrationalen Stadt lagen spätestens seit den20er Jahren vor. So stellte Le Corbusier sich dieUmgestaltung des Zentrums von Paris vor: 3Eine der zentralen Folgen ist die Verwandlung derStraße zur Autostraße und die Explosion des Verkehrs.Zunächst wurden sie noch begeistert begrüßt,die Mopeds, die Fahrräder mit Hilfsmotor,die Goggomobile, Messerschmidt-Kabinenroller,BMW-Isettas, VW-Käfer etc. Zunächst auch wur-34
den die neuen Formen des Wohnens, die luftigenSiedlungen an den Stadträndern, die Reihenhäuserund Bungalows, die neuen Wohnblocks mit ihrenweitflächigen Abstands-Grüns begeistert aufgenommen:endlich Bewegungsfreiheit, endlich Luft,endlich Zentralheizung!Die räumliche Entmischung bedeutete freilichnicht nur Funktionstrennung, sondern zugleichauch soziale Entmischung. In den alten Viertelnder Städte blieben die Armen, Alten, die Studenten,es kamen die Ausländer. Die Bürger und ihreKinder verließen die verdichteten Viertel der Stadt;sie zogen an die Ränder oder gleich ins Umland– das kennen wir heute als den „Speckgürtel derStädte“.2. Kindheit und FamilieDie Funktionstrennung führte nicht nur zu denneuen Wohnformen der Familien; sie brachte aucheine wachsende Konzentration der Familien aufdie familiale Binnenwelt mit sich, die heute in denSozialwissenschaften unter dem Stichwort „Intimisierung“beschrieben wird; Richard Sennetthat in einer großen Studie die Geschichte diesesVorgangs untersucht. 4 Der private Lebensraumwird zum Fluchtpunkt des der feindlichen Umweltabgetrotzten Lebensglücks. Die Wünsche nachGlück und Zufriedenheit finden ihren zentralenOrt in den eigenen vier Wänden. Die Folgen fürden Nachwuchs sind dramatisch: Waren in denfünfziger Jahren größere Kinderscharen durchausnoch keine Seltenheit, so ist heute das Einzelkindoder das Geschwisterpaar die Norm.Dementsprechend rückt das Kind in das Zentrumder Aufmerksamkeit. Kinder laufen nicht mehr– gewissermaßen nebenbei – einfach mit im erwachsenenAlltag, sondern werden zum sinnstiftendenMittelpunkt der Familien – und damitoft genug überlastet. Auf dem einen oder denbeiden Kindern ruhen ja nicht nur die aktuellenHoffnungen der Eltern auf Lebensglück, auf ihnenruht zugleich die ganze Last der Zukunft, für diesie möglichst gut ausgestattet werden sollen. DaAbb. 1 | Traum einer Stadt ohne Chaos: Le CorbusiersPlan Voisin für das Zentrum von Paris35