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Lernraum Schule - Bund Deutscher Architekten BDA

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InhaltMichael Kuhlemann (<strong>BDA</strong> Ruhrgebiet)Vorwort.1. Marler Symposium.Architektur & Pädagogik – <strong>Lernraum</strong> <strong>Schule</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2Christian Rittelmeyer (Kassel)Qualitätskriterien schülergerechter Schulbauten.Ein Einblick in die internationale Schulbauforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Riklef Rambow (BTU Cottbus)Lernen – in, durch und über Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20Johannes Bilstein (Kunstakademie Düsseldorf)Heimat zwingt zu anderer Arbeitsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Eckart Liebau (Universität Erlangen-Nürnberg)Die Stadt als Bildungsraum.Anthropologische, pädagogische und bildungspolitischeBlicke auf Architektur und Sozialräumlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401


Vorwort.1. Marler Symposium.Architektur & Pädagogik –<strong>Lernraum</strong> <strong>Schule</strong>Michael KuhlemannIm Mai 2008 fand in der Scharoun-<strong>Schule</strong> Marl das 1. Marler Symposiumzu Architektur und Pädagogik statt. Mit dem Thema „<strong>Lernraum</strong><strong>Schule</strong>“ reagierte der <strong>BDA</strong> Ruhrgebiet auf die überaus schwierigeAufgabe vieler Kommunen, ihre <strong>Schule</strong>n zukunftsfähig machen zumüssen; so schätzt das Deutsche Institut für Urbanistik den Investitionsbedarffür kommunale <strong>Schule</strong>n in Deutschland bis 2020 auf rund73 Milliarden Euro. Sanierungen, Neu- und Rückbau sowie flexiblesBauen im Bestand müssen aktuellen Anforderungen genügen unddabei die rückläufigen Schülerzahlen im Auge behalten, denn einsist jetzt schon klar: viele der geforderten Baumaßnahmen, die heutenotwendig sind, werden morgen nicht mehr aktuell sein, nämlichdann, wenn <strong>Schule</strong>n aufgrund mangelnder Nachfrage leerziehen.Das Symposium knüpfte an das jahrelange Engagement des <strong>BDA</strong> fürden Erhalt der Scharoun-<strong>Schule</strong> an, die bekanntlich lange Zeit abrissgefährdetwar, jetzt aber ihre Arbeit mit einem pädagogisch wegweisendenKonzept wieder aufnehmen soll. So hat die Musikschule dieannähernd intakten Räume in dem weitgehend maroden Bau bereitsin Betrieb genommen und wird in Zukunft eine pädagogische Symbiosemit der Aloisius-Grundschule eingehen, sobald die Sanierungabgeschlossen sein wird.Abb. | Innenansicht derScharoun-<strong>Schule</strong>Mit einem Vortrag über die „Qualitätskriterien schülergerechterSchulbauten“ gab Prof. Christian Rittelmeyer (Kassel) einen Einblickin die internationale Schulbauforschung und arbeitete dabei die Eckpunktefür unterstützendes Lernen durch entsprechende Raum, FarbundDekorgestaltung heraus. Von einer ganz anderer Seite rollteDr. Riklef Rambow (BTU Cottbus) das Thema auf und ging mit seinemVortrag über das „Lernen – in, durch und über Architektur“ der Fragenach, wie die positiven Wirkungen von Architektur besser zur Entfaltunggebracht werden können und wie baukulturelle Kompetenzdurch schulische und außerschulische Architekturvermittlung befördertund entwickelt werden kann.Prof. Johannes Bilstein (Kunstakademie Düsseldorf) eröffnete mit seinemVortrag zur pädagogischen Ästhetik des Raumes eine bildungsgeschichtlichePerspektive und stellte einige Argumentationsfolgenvor, die sich in der Vergangenheit in Bezug auf die Gestaltung von<strong>Schule</strong>n entfaltet haben und die bis heute Gültigkeit besitzen. Dabei2


wurde gezeigt, wie sich <strong>Architekten</strong> und Pädagogen in der Vergangenheiteine gut gebaute <strong>Schule</strong> vorstellten und welche Auswirkungendieses Denken auf unser heutiges Verständnis von Schulbau hat.Mit seiner Beschreibung der Stadt als Bildungsraum gab Prof. EckartLiebau (Universität Erlangen-Nürnberg) anthropologische, pädagogischeund bildungspolitische Einblicke in Architektur und Sozialräumlichkeit.Die Vorstellung von der Stadt als Modell für <strong>Schule</strong> bzw. vonder <strong>Schule</strong> als Modell für die Stadt knüpft an die VorstellungsweltScharouns an, der Bildung, Öffentlichkeit und Teilhabe als architektonischeund städtebauliche Prinzipien postulierte. Den Schlusspunktsetzte Jun. Prof. Carsten Ruhl (Universität Bochum) mit seinem Vortragüber das Verhältnis von Architektur und Pädagogik bei HansScharoun. Dabei analysierte er das architekturtheoretische DenkenScharouns im zeitgeschichtlichen Kontext und veranschaulichte dessenKonzepte anhand einschlägiger Entwürfe; sein Beitrag wurde inzwischenan anderer Stelle publiziert.An dem abschließenden Podiumsgespräch unter der Moderation vonGunvar Blanck beteiligten sich Referenten und Publikum gleichermaßen.In der überaus lebendig geführten Diskussion fanden Pädagogenund <strong>Architekten</strong> einen gemeinsamen Arbeitsansatz mit demlangfristigen Ziel, eine innovative Planungskultur zu entwickeln undLernräume zukünftig in Kooperation mit Pädagogen zu realisieren.Nur so – und das hat das Symposium eindeutig zeigen können – kanneine gedeihliche Schularchitektur auf Dauer garantiert werden.Zusammen mit der Kunstakademie Düsseldorf und in Kooperationmit der Stadt Marl und dem Initiativkreis der Hans Scharoun-<strong>Schule</strong>bereitet der <strong>BDA</strong> Ruhrgebiet zurzeit das 2. Marler Symposium zuArchitektur & Pädagogik vor, das 2010 im Rahmen der Kulturhauptstadtveranstaltung„Local-Heroe“ stattfinden wird. Dann wird es umdas Thema „<strong>Lernraum</strong> Stadt“ gehen.Die vorliegende Publikation wäre ohne das ehrenamtliche Engagementdes Initiativkreises und des Fördervereins der Musikschule derStadt Marl e.V. nicht zustande gekommen. Unser besonderer Dankgilt der Wüstenrot Stiftung, die die Drucklegung finanziell unterstützthat.Abb. | Innenansichten derScharoun-<strong>Schule</strong>3


Qualitätskriterien schülergerechter Schulbauten.Ein Einblick in die internationaleSchulbauforschungChristian Rittelmeyer1. Schulbau und Schulbaudiskussion inDeutschland: Ein kurzer RückblickIm Jahr 1951 wurde in Darmstadt eine Ausstellungzum Thema „Mensch und Raum“ veranstaltet.<strong>Architekten</strong> stellten ihre Bauentwürfe vorund diskutierten über die Aufgaben der Nachkriegsarchitektur,wobei zum Teil sehr lebhafteKontroversen zwischen – wie man sagen könnte –„Modernisten“ und „Traditionalisten“ entstanden.Unter anderem wurde auch über das neueHochhaus der Vereinten Nationen in New York„Ein Gebäude, in dem sozialesMiteinander ... und Hilfsbereitschafteingeübt werden sollen, darf keinekonträren Botschaften zum Ausdruckbringen“gesprochen. 1 Einer der Teilnehmer beklagte diese„aufgereckte Zigarrenkiste“, die polemisch gegendas gebaute Umgebungsmilieu in Szene gesetztsei und überdies die eigentliche Idee des Völkerbundesnicht zum Ausdruck bringe. Dem wurdemit dem Hinweis widersprochen, das Gebäudebeherberge eine bürokratische Organisation, diedurchaus einen angemessenen Ausdruck in derBauform erhalten habe.Heranwachsender, die von der internationalenSchulbauforschung belegt wurden. Ein Gebäude,in dem soziales Miteinander, Solidarität und Hilfsbereitschafteingeübt werden sollen, darf keinekonträren Botschaften zum Ausdruck bringen.Wenn beispielsweise ein schwer anmutendes Dachden Unterbau zu erdrücken scheint (vgl. Abb. 1),dann signalisiert diese architektonische Rhetorikein Gewaltverhältnis im Baumilieu, das von Schülern– wenn in der Regel auch unbewusst – registriertwird. Der Widerspruch zwischen Bauform undpädagogischen Grundsätzen wird dabei wenigstensim atmosphärischen Erleben desGebäudes bemerkt. 3 Ein Schulgebäude,das die Bildung von Individualität (stattKollektivität) favorisiert, sollte beispielsweisedurch seine Fassadengestaltungkeine „Gleichmacherei“ und Entindividualisierungnahe legen (vgl. Abb. 2).Unter anderem bedingt durch die Wahrnehmungsolcher Differenzbotschaftender architektonischen Form und der pädagogischenProgrammatik, entwickelnSchüler und Lehrer, wie Befragungen im Rahmeneines Forschungsprojekts zeigten, häufig antipathischeGefühle gegen derartige Gebäudeformen.Sie erleben diese Differenz von Form und Absichtwie die eines Lehrers, der in der GemeinschaftsoderSozialkunde Achtung vor anderen Menschenmit einer herablassenden und vielleicht auch beleidigendenGebärdensprache predigt. 4Zwei Aspekte scheinen mir an dieser Kontroverseauch im Hinblick auf die Schulbau-Diskussion interessantzu sein. Zunächst: Beide Kontrahentenstimmen offensichtlich darin überein, dass dieFunktion eines Gebäudes in dessen Gestaltungzum Ausdruck kommen soll oder – anders formuliert– dass Bauformen, Farben, Dekor und andereGestaltungselemente eines Gebäudes dessenIdee, seine Widmung oder soziale Funktion artikulierenbzw. symbolisch repräsentieren sollen. 2 Mankann über diese Devise im Hinblick auf öffentlicheGebäude sicher streiten – im Hinblick auf SchulundHochschulbauten trifft sie jedoch BedürfnisseAbb. 1 | Waldorfschule in Wangen (Allgäu)4


Abb. 2 | <strong>Architekten</strong>entwurf für ein Oberstufenzentrum in Berlin (1993)Im Hinblick auf das UN-Gebäude gibt es aber trotzdieser gemeinsamen Forderung beider Diskutanten,dass die Bauform der Gebäude-Funktion zufolgen habe, auch eine deutliche Meinungsdifferenz:Der eine sucht den Ausdruck der Völkerfreundschaftin der „aufgereckten Zigarrenkiste“vergeblich, die polemisch in das vorhandene Bauensemblegesetzt sei, für den anderen ist geradein dieser architektonischen Gestalt der bürokratischeCharakter der Organisation erkennbar. DiesesProblem unterschiedlicher Perspektiven, verschiedenartigerSprachspiele und Erwartungen im Hinblickauf Bauten ist nun auch ein fundamentalesim Verhältnis zahlreicher Schulbau-Nutzer auf dereinen und der <strong>Architekten</strong> sowie kommunalen Auftraggeberauf der anderen Seite. Was nicht seltenvon <strong>Architekten</strong> als Inbegriff kinderfreundlicherGebäude deklariert wird, erscheint den Schülernund Lehrern als Ausdruck von Trostlosigkeit, Kälteoder Brutalität. Solche Verständigungsproblemefallen nicht nur bei der Beratung von Schulbau-Projekten auf, sie sind darüber hinaus auch in derinternationalen Schulbauforschung immer wiederbetont worden. 5 Ein Beispiel für solche Wahrnehmungs-und Beurteilungsdifferenzen im Hinblickauf Schul- und Hochschulgebäude ist die folgendeEpisode:Abbildung 3 zeigt die Fassade eines Gebäudetyps,der in drei fast identischen Exemplaren dasso genannte geisteswissenschaftliche Zentrum derUniversität Göttingen schmückt. In einem dieserBauten ist die juristische, in einem weiteren dieAbb. 3 | Lehrgebäude der Universität Göttingen(erbaut Anfang der 1970er Jahre)5


Die Raumanmutung sei, so eine Studentin, in derTat scheußlich, aber man sei diesen Bautyp gewohntund rege sich nicht mehr auf – unsere heutigegebaute Umwelt sei doch zu einem überwiegendenTeil in diesem antihumanen Stil gestaltet.Und was sagten die verantwortlichen Planer ausder Stadtverwaltung dazu? Aus heutiger Sicht, soder seinerzeit zuständige Baurat Mitte der 1990erJahre, könne man diese Bauformen freilich kaumertragen. Damals indessen, Anfang der 1970erJahre, habe die strenge kubische Form und die asketischeInnenraum-Gestaltung als Inbegriff einerwissenschafts- und rationalitätsadäquaten Architekturgelten können. Man sollte sich, so die Erwartung,ganz auf das wissenschaftliche Denkenkonzentrieren können, ohne Ablenkung durch„ästhetischen Firlefanz“. – Man weiß jedoch ausgleich noch zu nennenden Forschungen jener Zeit,Abb. 4 | Seminarräume im geisteswissenschaftlichenZentrum der Universität Göttingensozialwissenschaftliche und im dritten die theologischeFakultät („Theologicum“) untergebracht.Abbildung 4 zeigt typische Seminarräume dieserBauten. Mir ist eine Lehrveranstaltung in Erinnerung,die ich aus Gründen des Raummangels imTheologicum abhalten musste, in einem Raumder gezeigten Art. An dieser Veranstaltung nahmenauch Theologiestudenten teil. Ich eröffnetedie Lehrveranstaltung mit der Bemerkung, dassSeminare in einem derartigen Ambiente kaum zumutbarseien. Man könne, so setzte ich die Einleitungfort, zwar nicht von einer Inkarnation desTeufels in diesem Raumgebilde sprechen, wohlaber von dessen Inlithinisierung (d.h. von seinerVerfestigung und Sichtbarwerdung im „Stein“,im Baumaterial). Niemand widersprach. Im Anschlussan die Seminarveranstaltung sprachenmich einige Studierende auf diese Bemerkung an.Abb. 5 | Polaritätenprofil: Bewertung von Universitätsgebäudenin Göttingen6


dass eine derartige Wahrnehmung des Bau-Ambientesschon damals für Schüler und Studierendenicht typisch war.Abb. 6 | Waldorfschule KölnAbb. 7 | Entwurf Hans Scharouns für eine Volksschulein Darmstadt, 1951Im Rahmen eines umfangreichen Forschungsprojekteszur Wirkung von Schulbauten auf Schülerhaben wir auch die Anmutungsqualitäten derartigerUniversitätsräume untersucht. 6 So wurdenz. B. Räume bzw. Fassaden der auf Abbildung 3und 4 gezeigten Art auf so genannten SemantischenDifferentialen eingestuft (vgl. Abb. 5). DieStudierenden kreuzten beispielsweise an, ob sieeinen Raum eher als erdrückend (Skala 1: „1“ oder„2“) oder eher als befreiend („4“ oder „5“) erlebten.Aus allen Urteilen wurden die Mittelwerteberechnet und in das Differential eingetragen (aufder ersten Skala liegt dieser Mittelwert im vorliegendenFall bei 2,5). Die Punkte wurden durchLinien verbunden, so dass ein so genanntes Polaritätenprofilentstand, das wichtige Trends des studentischenRaumerlebens erkennen lässt. Fassadeund Räume (Abbildungen 3 und 4) des genanntenBeispiels erhielten fast identische Beurteilungs-Profile; exemplarisch zeigt Abbildung 5 eine Seminarraum-Einstufung.Man sieht, dass der Raumvon besonders vielen Personen (= Extremwerte)als geordnet, hart, monoton, unbelebt, starr, kalt,langweilig, abstoßend, übersichtlich, hässlich, einheitlichund abweisend eingestuft wurde. Eigentlichein Bild des Todes, der Feindschaft, der abweisendenKälte – d. h. „steingewordenes“ Symboldes Antihumanen und im Hinblick auf das Theologicumdes Antireligiösen. Es gibt also eine Rhetorikdes Baumilieus, die wissenschaftlichen Inhaltenoder pädagogischen Bestrebungen widerspricht –und eine andere, die das widerspiegelt, was ideellin einer pädagogischen Programmatik lebt undzur Wirklichkeit strebt. Bauten und Räume dieserletztgenannten Art provozieren dann gegenläufigeAnmutungs-Profile: sie wirken belebt, schön,warm, anziehend, abwechslungsreich, ausgeglichen,freilassend, schwingend usw. Ein Beispiel fürdiesen Bautypus ist die auf Abbildung 6 gezeigteGestaltung eine Schulfassade. 7Im Rahmen der erwähnten Darmstädter Tagunghat Hans Scharoun seinen ersten und zu den zuvorgezeigten Negativbeispielen deutlich konträrenSchulbauentwurf vorgestellt. Auf die besondereSignatur seiner Entwürfe und Bauten wurdean anderer Stelle bereits genauer eingegangen. 8Mir scheinen drei Aspekte jedoch besonders erwähnenswertzu sein, weil sie deutlich machen,in welcher Hinsicht Scharoun als Pionier einerpädagogisch durchdachten Schulbau-Architekturbezeichnet werden kann. Erstens: Der in Darmstadtgezeigte Entwurf (Abb. 7) zeigt nach meinerKenntnis für den staatlichen Schulbau erstmalseine dezidierte Rücksichtnahme auf Entwicklungs-7


Abb. 8 | Aula der Scharoun-<strong>Schule</strong> in Marlbedürfnisse von Heranwachsenden. Die Gliederungdes Baus, so Scharoun, „sieht also nicht nurdas additive Nebeneinander einzelner, vielleichtsehr wirksamer und tüchtiger Räume vor, sondernversucht entsprechend dem Wachstum des Kindes,also entsprechend den sich ändernden verschiedenenBewusstseinsebenen, die Kinder gruppenhaft„Scharouns Grundidee einer entwicklungsanalogenSchulraumgestaltungwar jedoch wegweisend“zusammenzufassen“. 9 So sollen die Räume z. B. fürdie kleineren Kinder einen eher beschützenden,warmen Charakter haben, die für ältere hingegender zunehmenden Selbständigkeit entgegenkommen.Wir würden vielleicht heute nicht vorrangigbestimmte entwicklungspsychologische Gesichtspunktezur Fundierung solcher Überlegungenheranziehen, sondern auf Untersuchungen zurRaumwahrnehmung, zu Raumpräferenzen undsozialen Bedürfnissen von Kindern zurückgreifen,um entwicklungsgemäße Schulbauten zu planen,wobei durchaus auch an eine gut vorbereitete Beteiligungder Kinder und der Lehrer an den Planungenzu denken ist. 10 Scharouns Grundidee einerentwicklungsanalogen Schulraumgestaltung warjedoch wegweisend.Zweitens: Betrachtet man die „organische“ oder„dynamische“ Innen- und Außenraumgestaltungder <strong>Schule</strong>n Scharouns, dann kann deutlich werden,dass dieser Architekt ein wirklicher Apologetder Moderne genannt werden kann – und zwarin einem tieferen, kulturgeschichtlich aufgeklärtenSinn dieses Begriffs. Denn ein wesentliches Prinzipdes „Projektes Moderne“ ist nichtdie Wiederholung des Gleichen (wiesie in dem vermeintlich modernen, inWahrheit antiquierten Beispielen derAbbildungen 2 und 3 zu sehen ist),sondern Veränderung. Entwicklungsprozesseim modernen Verständnis sinddynamisch, sie haben kein teleologischbestimmbares Ziel, sondern verlaufen in weitgehendunbestimmter, offener Perspektive. Sie sinddurch immer wieder neue Gestaltungscharakteristikaausgezeichnet. Genau dies zeigen die Fassaden-und Innenraumgestaltungen der Scharoun-<strong>Schule</strong>n. Lässt man beispielsweise den Blick durchden Saal der Marler Schulaula von rechts nachlinks oder in umgekehrter Richtung gleiten, wirddieses dynamische und immer wieder neue Ausblickeeröffnende Gestaltungsprinzip augenfällig(vgl. Abb. 8).Drittens: Scharouns Entwurfszeichnungen zeigenhäufig fast ätherisch anmutende Gebilde, dieim Verlauf der konkreteren Bauplanung danngleichsam zunehmend in feste Formen gerinnen(Abb. 9). 11 Nicht immer entstehen dabei (etwa8


Abb. 9 | Entwurfszeichnung Hans Scharouns fürein GebäudeAbb. 10 | Berufsschule in Hannover aus den1970er Jahrenim Wohnhaus-Bau) gute Bauwerke. Im Schulbauindessen ist dieser künstlerische Ansatz Scharounsdeutlich erkennbar. In dieser Hinsicht bilden sieeinen Gegensatz zu jenem Entwurfs- und Realisationstypzahlreicher Schulbauarchitekten, bei dem– vereinfacht ausgedrückt – um HauptnutzflächenWände errichtet und überdeckelt werden, so dassBauten der in Abbildungen 2 und 3gezeigten Art entstehen. Rücksichtnahmeauf die Entwicklungsbedürfnisse vonKindern und Jugendlichen, eine Schulbau-Rhetorikder dynamischen Entwicklungund eine von ästhetischem Empfindengeleitete Baukonstruktion sindmeines Erachtens wesentliche, nach wievor unerlässliche Bestandteile einer menschengemäßenSchulbaugestaltung. Scharoun wurde jedochinsbesondere von einem seiner Berufskollegenheftig als Ideologisierer des Schulbaus und alsdessen „Zerdenker“ kritisiert.In dieser Kritik mag sich schon ein Motiv angedeutethaben, das erklärbar macht, warum sich in derFolgezeit nur wenige <strong>Architekten</strong> durch die ImpulseScharouns inspirieren ließen. Bis heute nehmenzahlreiche Vertreter der <strong>Architekten</strong>zunft und derSchulbau-Administration trotz proklamierter Kinderfreundlichkeitin Wahrheit keinerlei Rücksichtauf die Bedürfnisse der Nutzer dieser Gebäude –des Lehrpersonals und der Schülerinnen und Schüler.Das gilt sicher in besonderem Ausmaß fürdie Zeit der „Fabrikschulen“ und „Betonburgen“der 1970er Jahre (Abb. 10). 12 Die heute oft als„lebensfeindliche <strong>Schule</strong>n“ bezeichneten Ungetümewurden damals von <strong>Architekten</strong> häufig alskonsequente Umsetzung pädagogischer Leitideenwie „Soziales Lernen“ oder „Demokratisierung“bezeichnet, etwa wenn sie fensterlose Klassenräumeals Ausdruck von „Chancengleichheit“„Bis heute nehmen zahlreiche Vertreterder <strong>Architekten</strong>zunft ... keinerlei Rücksichtauf die Bedürfnisse der Nutzer“werteten, weil jeder Arbeitsplatz mit Leuchtender gleichen Luxzahl bestrahlt und kein Schülerplatzan einer Fensterseite bevorzugt beleuchtetwerde. 13 Paulhans Peters indessen, damaligerChefredakteur einer führenden Fachzeitschrift fürArchitektur, bezeichnete im Jahr 1980 die vorherrschendenSchulbautypen jener Zeit in einemLeitartikel als „<strong>Schule</strong>n zum Fürchten“. 14 In derTat hatten Untersuchungen gezeigt, dass sich beispielsweisein fensterlosen, aber auch anderweitigantipathisch erlebten neuen Schulgebäuden derSchulvandalismus besonders nachhaltig artikulierte,dass Schüler „Wohnlichkeit“, „Gemütlichkeit“,„Freundlichkeit“ in diesen Bauten vermissten unddiese so euphorisch angepriesenen Gebäude daherablehnten. 159


Konsequenzen aus den Warnungen und Forschungenwurden von <strong>Architekten</strong> und Behördenvertreterneher selten gezogen. Peters mahnte daherzwei Jahre später in einem weiteren Leitartikeleine Veränderung nicht zuletzt im Hinblick auf dieRhetorik an, mit der zahlreiche <strong>Architekten</strong>, aber„Sie sagen ‚Schulstraße’ zu einem Flur,der kein Ende zu haben scheint,‚Treffpunkt’ zu einem Loch im Raumgewebe“auch Vertreter der Kultusbürokratie ihre schüler-und lehrerfeindlichen Bauten zu legitimierensuchten: Diese Baumeister, so Peters, „lügen sichin die eigene Tasche, indem sie Räume und derenZusammenhänge mit Namen belegen, die überdas Maßlose, Sinnlose ihrer Formen den Mantelbarmherziger Verschleierung legen. Sie sagen‚Schulstraße’ zu einem Flur, der kein Ende zu habenscheint, ‚Treffpunkt’ zu einem Loch im Raumgewebe,‚Pausenhalle’ für etwas, das den Charmeeines Bahnhofs um drei Uhr morgensbesitzt, pinseln ein paar Treppenhäuserbunt an und sagen: ‚Wir haben die<strong>Schule</strong> kinderfreundlich gemacht’. Dasssich die Kinder für solche kinderfreundlichen<strong>Schule</strong>n dadurch ‚bedanken’, dasssie die durch sie hervorgerufenen Aggressionenauch in ihnen abreagieren,empfinden manche Politiker (und deren <strong>Architekten</strong>)immer noch als Undankbarkeit, anstatt darübernachzudenken, was wohl die Ursachen dafürsein könnten.“ 16Zwar entstanden insbesondere in den 1980er undin den frühen 1990er Jahren einige Schulbautenneuer Art, die Kriterien der Schülerfreundlichkeitmindestens in Teilbereichen erfüllten (wie HansHolleins Volksschule in der Köhlergasse Wiens,die von einer <strong>Architekten</strong>gemeinschaft geplanteWaldorfschule im norwegischen Stavanger oderUtz Peter Strehles Schwerhörigen- und SprachheilschuleJohanneskirchen bei München). 17 Siehtman sich neuere Bildbände zum internationalenSchulbau an, so kann man gelegentlich ein gutesGespür für eine Raumgestaltung bemerken, dieästhetisch wie auch in pädagogischer Hinsicht positivanspricht – auf die Kriterien einer solchen Gestaltungwird gleich zurückzukommensein. 18 Aber der vorherrschende Trendgeht doch in eine andere Richtung. Dievon Paulhans Peters benannten Problemebestehen in erheblichem Umfangfort. Monotonie der Fassaden- und Innenraumgestaltungauf der einen, hektischeund daher bedrängend bzw. suggestivwirkende Farbgebungen auf deranderen Seite herrschen ebenso vor wie kalt anmutendegraublaue Glas-Stahl-Bauten – um hier nureinige Beispiele für die andauernde Schulbau-Miserezu nennen. 19 Immer noch werden monumentaleGroßbauten geplant und sogar preisgekrönt,die auf Schülerseite Äußerungen wie „Kaserne“,Mammutschule“, „anonymer Kasten“ provozieren– so als hätte die internationale Schulbauforschungnicht belegt, dass es sich dabei um Arealehandelt, die Vandalismus und Lernunlust, Gewalt-„Immer noch werden monumentaleGroßbauten geplant und sogarpreisgekrönt“bereitschaft und Schulschwänzen fördern (vgl.Abb. 2). 20 Die Zeitschrift Baumeister schmückte1997 daher das Titelbild eines Themenheftes zum„Schulbau der neunziger Jahre“ mit der Frage:„Nichts dazugelernt?“. Diese Titelfrage dürfte sichunter anderem auf eine preisgekrönte <strong>Schule</strong> beziehen,die im Innenteil mit dem folgenden Kommentarvorgestellt wurde (Abb. 11): Es ist nicht nurihr erstes Schulgebäude, es ist ihr erstes realisiertesProjekt überhaupt. Den <strong>Architekten</strong> gelang eindurch und durch sympathisches Haus, das vielevon Kinder- und Jugendpsychologen angeführteForderungen erfüllt. Ganz nebenbei entstand10


Abb. 11 | Grundschule in Schaffhausen, 1994Architektur von hoher Bauqualität.“ Und wenigspäter: „... dem Projektanten ist es gelungen, einenOrt mit hohem Erlebniswert und Poesie zuformulieren.“ Der Anspruch der Preisträger, so erfahrenwir schließlich, „war kein anderer, als die<strong>Schule</strong> von morgen zu bauen.“ 21Das Gegenteil all dieser Behauptungen ist wahr.Das Bauwerk entspricht mindestens in der Fassadenansichtkeinem der Qualitätskriterien, die wirin einem umfangreichen Forschungsprojekt an derUniversität Göttingen herausgefunden haben. 22Dazu einige Hinweise.2. Nach welchen Kriterien beurteilen SchülerSchulbauten als sympathisch oder unsympathisch?Ein wichtiger Befund unserer Forschungen bestandin dem Nachweis, dass Schulbauten (bzw.deren Details) gestisch bzw. gebärdenhaft erlebtwerden – sie erscheinen beschwingt, traurig,brutal, geschwätzig, lebendig, erstarrt, verspielt,trostlos, gewalttätig, gesichts- und charakterlos,freilassend usw. In einem gewissen Sinn begegnendie verschiedenen Raumgestalten in <strong>Schule</strong>n,die Fassaden, Farbgebungen, Geländegestaltungenusw. Jugendlichen als „Interaktionspartner“,als z. B. bedrängende oder freilassende, düstereoder heitere Umgebungsfiguren. Diese erlebtenBotschaften der Schularchitektur werden wie dievon Lehrern bewertet – in der Regel geschieht dasallerdings unbewusst und macht sich in bestimmten(positiven oder negativen) Grundeinstellungenzur <strong>Schule</strong>, im atmosphärischen Empfinden derBaugestalt bemerkbar. Welche Merkmale zeigtnun eine als einladend, schön bzw. sympathischerlebte Schulbau-Gestalt? Sie sollte unseren Untersuchungenzufolgeanregend und abwechslungsreich statt langweiligbzw. monoton,freilassend und befreiend statt beengend undbedrängend sowiewarm und weich statt kalt und hartwirken. Diese drei Kriterien sind die maßgebendenGesichtspunkte, nach denen Schüler Schulgebäude(unbewusst) bewerten. Dazu einige Erläuterungen:a) Die Schularchitektur soll anregungs- und abwechslungsreich,nicht langweilig bzw. monotonwirken. Negativ werden z. B. Gebäude mit seriellenFenstergestaltungen, monotonen Fluren, sichwiederholenden Raumteilern, eintönigen bzw.monochromen Farben eingestuft – also Bautender in den Abbildungen 2, 3, 4 und 11 gezeigtenArt. Abgelehnt wird die Kastenarchitektur, Zustimmungerfahren „organisch“, „bewegt“ oder„lebendig“ wirkende Bauten, die das visuelle Erkundungsverhaltenprovozieren (vgl. als BeispieleAbb. 6 und 8. Dass eine „organische“ Gestaltungaber kein Garant für eine ästhetisch befriedigendeoder rhetorisch funktionale Bauform ist, machtedas einleitend geschilderte Beispiel der Abb. 1deutlich). Strenge, lineare kubische Raumformenkönnen allerdings innerhalb der <strong>Schule</strong> durchausfunktional sein und dann auch positiv erlebt werden– etwa wenn naturwissenschaftliche Räumeeines Gymnasiums eine gewisse Strenge und Kühlesignalisieren. Natürlich darf diese Strenge nicht11


trostlos wirken – wie die Bewertung der Abbildungen4 zeigten. Ein Schulbau darf deshalb auchnicht nach einem durchgehenden Schema geplantwerden, er muss vielmehr je nach Raumwidmungdifferenziert durchdacht und entsprechend vielfältiggestaltet werden. Dabei sollte allerdingskein additives Potpourri heterogener Elementeentstehen – vgl. dazu das dritte Qualitätskriterium.23 Auch ältere „Kastenbauten“ können, entsprechend„revitalisiert“, durch Bewuchs, unterschiedlicheWandtexturen oder Farbgebungenden Eindruck von Bewegtheit oder Lebendigkeit„Die Mitarbeit von Schülern istsicher sinnvoll, setzt aber eine vorhergehendeSensibilisierung ... voraus“hervorrufen. Ferner können Abwechslungs- undAnregungsreichtum durch eine vielfältige Farbgestaltungan Klassen- und Flurwänden, durch einästhetisches Dekor, durch eine differenzierte Lichtführungusw. hergestellt werden – was vor allembei der Renovierung von Altbauten bedeutsam ist.Das darf dann allerdings weder als Kaschierungder Monotonie noch als Chaotisierung des Baumilieusin Erscheinung treten – sonst widerspricht esunter Umständen dem folgenden Kriterium.b) Räume und Gebäudeformen sowie Farben unddas Interieur sollen freilassend und befreiend,nicht bedrängend oder beengend wirken. Schweranmutende Dächer, grelle Farben, mit Dekor überladeneKlassenraumwände, enge Flurführungenusw. führen in aller Regel zum Eindruck einesunsympathischen Schulgebäudes. Nicht nur von<strong>Architekten</strong> wird im Hinblick auf dieses Kriteriumvielfach gesündigt. So wird z. B. von einem Kunstlehrerund Schülern auf eine kahle Beton- oderKunststoffwand zur „Verschönerung“ eine grellorangeaufgehende Sonne gemalt, die derart intensivund aggressiv „leuchtet“, dass sie nicht mehrfreilassend wirkt. Mit Blick auf solche Beispiele istübrigens der verbreiteten Meinung zu widersprechen,dass „die Kids ihre <strong>Schule</strong> am besten selbergestalten können.“ Die Mitarbeit von Schülernist sicher sinnvoll, setzt aber eine vorhergehendeSensibilisierung für die Ausdrucksformen der Architektursprachevoraus. Dann können peinlicheInnenraum-Gestaltungen durch Laien vermiedenwerden, wie sie exemplarisch auf Abbildung 12gezeigt werden. Die Fuß- und Handspuren aufdem Boden legen nahe, dass hier offenbar jemandauf Händen und Füßen aus der Klasse gekrochenist – kein Wunder, ist der Eingang dochmit einem Fallgitter versehen, als verberge sichdahinter ein Gefängnis. Die grellenWandmalereien verraten auch nicht,welche pädagogischen Leitideen dafürmaßgebend waren, sie als Rahmen fürden traurigen Klassenraum-Eingang zuwählen. Insgesamt wirkt das Hallendetailauf befragte Schüler im Alter von14 – 16 Jahren eher abstoßend und bedrängend.Das Kriterium der freilassenden FarbundRaumgestaltung bezieht sich aber auch aufdie erlebte Beziehung zwischen den Elementen.So wird beispielsweise ein Dach als drückend, einGebälk als schwerfällig im Hinblick auf darunterliegende Bauelemente erlebt (vgl. das Einleitungsbeispielzu Abb. 1). Oder Schüler wie Lehrer habenbeim Betrachten eines Flurs den Eindruck, dasssich dessen verschiedene und intensive Farbgebungenwechselseitig „totschlagen“. Das berührtbereits das nächste Kriterium:c) Die Schulgebäude sollen Wärme und Weichheitstatt Kälte und Härte ausstrahlen. Das Kriteriumder Weichheit bezieht sich auf den erlebten Dialogder Elemente: So wirken z. B. Bauelemente undFarbgebungen, die beziehungslos nebeneinanderstehen, eher „hart“. „Weiche“ Beziehungen könnenz. B. zwischen einer Säule und einer Deckedurch verschiedene Kapitellformen, also durcharchitektonische Vermittlungsglieder, hergestelltwerden; ein Klassentrakt kann in einen farblichanders gestalteten Flur über „Zwischenfarben“vermittelt werden, oder die Farbgestaltung deseinen Traktes wird im Flur des anderen in einzelnenSäulenelementen und Geländergestaltungen12


nochmals wie ein „Nachklang“ aufgenommen.Im Hinblick auf den Wärmeeindruck ist es allerdingswichtig, dass Räume auch zu warm wirkenkönnen, dann verletzen sie das Freiheitskriterium,weil sie bedrängend wirken. Eine erlebte „mittlereTemperierung“ ist also das gesuchte Ideal. Diesekann z. B. durch ein Ensemble wärmer und kühlerwirkender Raumsegmente erreicht werden, denneine z. B. farblich einheitlich hergestellte „mittlereTemperierung“ würde wiederum dem erstenQualitätskriterium des Anregungsreichtums widersprechen.Auch im Hinblick auf das Alter derKinder sind für jüngere Schülerinnen und Schülereher warm wirkende, für ältere eher kühl anmutendeFarbgebungen sinnvoll (wobei „Kühle“ nichtmit „Kälte“ verwechselt werden darf). Kalt wirkenSichtbetonwände, wärmer und auch freilassenderwird ihre Wirkung beispielsweise durch aufgetragenewarmtönige und durchsichtig anmutendeLasuren; kalt wirken graue Kunststoffwände, wärmerkönnen sie durch Dekor, Bilder, Holzverkleidungenund natürlich auch durch die Farbgebunggestaltet werden. Kalt wirken aber vor allem auchviele der gegenwärtig verbreiteten „postmodernen“oder seriell gestalteten Schulbaugestaltungen,die mit ihren Stahlgerippen, graublauenFarben, mit ihrer beziehungslosen Addition „technischer“Elemente von Schülern im allgemeinenabgelehnt werden – auch für diese eher kühl biskalt wirkende Bauform kann die Abbildung 11 alsBeispiel gelten.Die drei genannten Qualitätskriterien könnennicht unabhängig voneinander betrachtet werden.Eine abwechslungsreiche, aber ornamentalüberladene Fassade kann bedrängend wirken, einintensiv rotgelb gestrichener Klassenraum kannzwar warm, aber zugleich nicht mehr freilassendwirken, usw. Wenn jedoch <strong>Schule</strong>n schön, einladend,abwechslungsreich, freilassend, belebendusw. wirken – welche Effekte hat das auf Schülerinnenund Schüler? Und wie wirkt sich dagegenein Schulbau-Milieu aus, das von Schülern als kalt,bedrängend, hässlich, langweilig und charakterloseingestuft wird?Abb. 12 | Wandmalereien um den Klassenraum-Eingang in einem Gymnasium (um 1975)3. Wie wirken Schulbauten auf Schülerinnenund Schüler? Ein Einblick in die SchulbauforschungIn den letzten Jahren sind nicht nur in Deutschlandempirische Studien publiziert worden, die der Wirkungkonkreter Gestaltungselemente in <strong>Schule</strong>ngenauer nachgegangen sind. 24 Eine umfangreicheinternationale Forschungsliteratur lässt inzwischenden Schluss zu, dass Schulbauten erhebliche Auswirkungenauf das Lernverhalten, auf die Aggressionsbereitschaftund auf die KrankheitsanfälligkeitHeranwachsender haben:Ein (leider auf die angelsächsische Fachliteraturbegrenztes) Sammelreferat des schon erwähntenDesign-Council London über bisherige Forschungenzum Thema kommt zu dem Schluss, dass insbesonderedie Farbgebung und Lichtführung in<strong>Schule</strong>n, die Luftqualität und Schallqualität, dieMöblierung und das Nahrungsangebot eindeutigeAuswirkungen auf Stimmungen, Lernleistungenund Wohlbefinden der Schüler haben. 25 Zu ähnlichenErgebnissen kommt ein ForschungsüberblickGlenn I. Earthmans, der auf dieser GrundlageEmpfehlungen für die Gestaltung von Schulbautenentwickelt. 26 Auch eine im „School Designand Planning Laboratory“ der Universität Georgia(U.S.A.) durchgeführte Forschungsarbeit zeigtAuswirkungen dieser Art. 2713


Wie schon erwähnt, haben Untersuchungen inDeutschland gezeigt, dass positiv erlebte Schulbauten(Architektur, Farbgebung, Schulhofgestaltung,Dekor usw.) mit geringeren schulvandalistischenAktivitäten der Schüler assoziiert sind. 28Abb. 13 | „Lehrstraße“ einer Grundschulein Almere (Niederlande), 1992Abb. 14 | „Lernstraße“ der EvangelischenGesamtschule Gelsenkirchen, 2004Einige Studien zeigen, dass positiv erlebte Schulbau-Umgebungen(z. B. mit Fenstern versehenestatt fensterlose Klassenzimmer oder „warme“Beleuchtung statt Neonlicht) die Krankheitsrateder Schüler senken; analoge Untersuchungen ausKrankenhäusern zeigen ähnliche Effekte. 29Meine eigenen Untersuchungen haben gezeigt,dass die Schularchitektur ausgeprägte körperlicheAuswirkungen hat: Je nach Formen und Farbenwerden Spannungs- und Entspannungsgefühle,Gefäßdurchblutung, Blickbewegungen und anderephysiologische Parameter in einer jeweils besonderenWeise provoziert; diese leibliche Komponenteder Architekturwirkung macht erst verständlich,warum z. B. Schulvandalismus, Krankheitsanfälligkeitoder Antipathien durch bestimmte Schulbauformenhervorgerufen bzw. vermindert werden. 30Untersuchungen in den USA von Glenn Earthmanund anderen haben gezeigt, dass die Schulleistungenin fast allen Fächern verbessert werden könnendurch ein architektonisches Umfeld, das Kindernund Jugendlichen sympathisch ist; werdenSchulgebäude antipathisch erlebt, verschlechternsich im statistischen Schnitt auch die Schulleistungen.31Abb. 15 | Eingangshalle der EvangelischenGesamtschule Gelsenkirchen, 2004Mitte der 90er Jahre rief die amerikanische IndustriedesignerinRuth Lande Shuman in New York dasSchulgestaltungs-Programm „Publicolor“ ins Leben.„Gefängnisartige“ Schulgebäude mit „industriellem,feindseligem Aussehen“ wurden (unterSchülerbeteiligung) mit lichteren Farbqualitäten„aufgehellt“ und abwechslungsreicher gestaltet:Die Folgen waren, wie das Schulpersonal berichtete,eine niedrigere Dropout-Rate der Schüler,geringere Disziplin-Probleme und eine deutlichgesteigerte Aufmerksamkeit im Unterricht. 32 Zwargeht es hier nicht um wissenschaftliche Unter-14


suchungen, sondern um freie Berichte des Lehrpersonals,die jedoch Bestätigung erfahren durchweitere, nunmehr wissenschaftliche Studien zurWirkung von Farben in Schulgebäuden. 33Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dassdie Gestaltung von Schulgebäuden von erheblicherBedeutung für die Leistungsfähigkeit, fürdas Wohlbefinden und für die Gesundheit Heranwachsenderist. Den Bauformen und Farben derSchulanlagen, dem Dekor und der Schulhofgestaltungmuss daher die gleiche Aufmerksamkeitgeschenkt werden wie der Qualität der Lehre undLehrpläne. Es ist ebenso eindeutig, dass dieserAspekt von Bildungspolitikern wie von der Erziehungswissenschaftin der jüngeren Vergangenheitsystematisch übersehen wurde; erst seit einigenJahren wächst das Interesse im Hinblick auf dieFunktion verschiedener Raumgestaltungen für denBildungsprozess Heranwachsender. 34Wie Kongresse beispielsweise des „Programmeon Educational Building“ (PEB) der OECD zeigten,gehören jedoch Klagen über menschenfeindlicheSchulbauten immer noch zum Standardrepertoireinternationaler Tagungen und Publikationen zudiesem Thema. Nach wie vor wird deutlich, dasszahlreiche <strong>Architekten</strong> pädagogische Bauten untergrundlegend anderen Gesichtspunkten planenund betrachten, als sie Schülern und Lehrern wichtigerscheinen. Da werden Flure als ‚Lehrstraßen’bezeichnet, die aus Lehrer- und Schülersicht wie„Blechkästen“ oder ‚kahl und monoton’, ‚kaltund abweisend’ erscheinen. 35 Man vergleiche indieser Hinsicht die als „Lehrstraße“ bezeichneteHallenansicht auf Abbildung 13 mit der positivbewerteten „Lernstrasse“ auf Abbildung 14. Dasletztgenannte Beispiel aus der Evangelischen GesamtschuleGelsenkirchen, realisiert durch das ArchitekturbüroHübner/Forster/Hübner, zeigt einenneueren und noch seltenen Trend im Schulbau, dersich in einer Art Urbanisierung und Ästhetisierungdes schulischen Ambientes artikuliert: Marktplätzemit Grünbewuchs (Abb. 15), Cafés, plätscherndeBäche, Theaterräume, „Gaststätten“, vielfältignutzbare Gruppenräume, schöne Bibliotheken,Rückzugsecken und Schul-Wege, die vielfältigeEin- und Ausblicke bieten, die warmtönig und imarchitektonischen Milieu dialogisch gestaltet sind,bieten „Lernlandschaften“, wie sie in der neuerendidaktischen Diskussion betont und gefordertwerden. 36 Ästhetische Gestaltung, dynamischeund kindgemäße Bauformen, also die erwähntenImpulse Hans Scharouns, sind hier in einer völligneuen, zeitgemäßen und pädagogisch reflektiertenWeise aufgegriffen worden, mögen auch imDetail noch diese und jene Probleme (meist technischerArt) von den „Bewohnern“ berichtet werden.Aber solche Bauten sind, wie erwähnt, noch selten.„An ein Gefängnis oder einen Bunker fühltensich entsetzte Eltern und Kinder erinnert, alssie die Realschule Kamper Weg das erste Mal voninnen sahen“, berichteten Tageszeitungen. 37 Dieöden Sichtbetonwände in „Knast-Optik“ wurdenindessen von der Architektin mit dem Hinweis gerechtfertigt,dass Beton, wenn er alt werde, „eineinteressante Patina“ bekomme, auch hätten ja berühmte<strong>Architekten</strong> wie Le Corbusier mit diesemstrapazierfähigen Baustoff gearbeitet. Ein voluminösesDach, das wie eine Landschaft übereinandergeschobenerEisblöcke und daher erdrückendim Hinblick auf den Unterbau erscheint, wird als„Verbindung von behütender Geste über demSchulleben und der umgebenden Allgäuer Landschaft“deklariert. Giebelbauten, die Lehrern alsmonotone Aufreihung vergrößerter Hundehüttenerscheinen, gelten dem Architekturbüro als„Ensemble voll räumlicher Überraschungen“; eineschwarz gestaltete Pausenhalle, die auf Schüler wiedas von Peters kritisierte „Loch im Raumgewebe“wirkt, ist aus <strong>Architekten</strong>sicht kinderfreundlich,denn „Schwarz ist die geeignete Hintergrundfarbefür das bunte Spiel der Kinder“. Auf die kritischeFrage eines Reporters, warum man in Berlin Schulbauentwürfevom Typ der Mietskaserne (Abb. 2)mit einem Preis auszeichne, antwortete der Leiterdes Wettbewerbsreferats beim Bausenat: „UnsereTypologie ist streng, kubisch und rationalistisch.Sie knüpft an die Tradition der Jahrhundertwendeund der 20er Jahre an.15


„Eine Art bauästhetische und pädagogischeAlphabetisierung ... scheintdaher dringend geboten“Der Innenstadtbereich ist durch Mietskasernenund geordnete Stadtstrukturen geprägt.“ 38 DerApologet solcher Schulbau-Sünden machte auchdeutlich, dass man aus den genannten Gründennur <strong>Architekten</strong>büros zum Wettbewerb einlade,die eine solche „Handschrift“ bevorzugen. Häufigkann man überdies den Eindruck gewinnen, dasses für einzelne Schulbau-Planer relativ gleichgültigist, ob sie ein Einkaufszentrum, ein Bank- oderSchulgebäude entwerfen. Erkennbar werden vorallem architektonisch Zeitgeist-Moden zitiert,nicht aber Botschaften inszeniert, die eine zeitgemäßenPädagogik zum Ausdruck bringen.Eine Art bauästhetische und pädagogische Alphabetisierungder für Schulbauten Verantwortlichen,der Pädagogen wie der <strong>Architekten</strong> und Behördenvertreter,scheint daher dringend geboten.Ausdrücklich sei hier betont, dass auch vielen PädagogenAufklärung dieser Art gut täte: Auf Ganztagsschulkongressenhabe ich mehrfach die Erfahrunggemacht, dass manchen Lehrerinnen oderLehrer nicht daran gelegen ist, sich vor einer Gestal-tungsplanung zunächst einmal für die Ausdrucksformender Architektur zu sensibilisieren, also eineArt elementare Lektürefähigkeit auf diesem Gebieteinzuüben. Möglichst rasch wird vielmehr danachverlangt, „die auf der Tagung entworfenen neuenpädagogischen Konzepte in geeignete Schulraumgestaltungenumzusetzen.“ Solchen Naivitätenkönnten von <strong>Architekten</strong> gewiss gewichtige Argumenteentgegengesetzt werden. Einwirklich wechselseitig aufklärender Dialogbeider Seiten ist daher notwendig,für den allerdings die richtigen Formenoder didaktischen Strategien erst nochentwickelt werden müssen. Dass häufigzwischen <strong>Architekten</strong>meinungen sowieSichtweisen von Verwaltungsbeamtenauf der einen und den Bedürfnissen von Schülernund Lehrern auf der anderen Seite erheblicheDifferenzen, wenn nicht Widersprüche bestehen,wäre dabei als Ausgangsproblem zu berücksichtigen.Zu suchen ist eine gemeinsame Sprache unddamit Verständigungsbasis beider Seiten. Fernerist es entscheidend, die durch Forschung herausgefundenenQualitätskriterien für Schulbauten ausSchülerperspektive zur Kenntnis zu nehmen. Dassder <strong>Bund</strong> deutscher <strong>Architekten</strong> die Initiative füreine in dieser Hinsicht dichtere Kommunikationzwischen Vertretern beider Seiten ergreift, ist imHinblick auf die erwähnte Relevanz des Themasermutigend und wegweisend.16


1 Vgl. O. Bartning (Hrsg.): Mensch und Raum.Darmstadt 1952, S. 96ff.2 Die Devise „form follows function“ geht aufden amerikanischen <strong>Architekten</strong> Louis Sullivan(1856–1921) zurück.3 Zur Wahrnehmung solcher Gewaltverhältnissedurch Schüler vgl. Chr. Rittelmeyer: Schulbautenpositiv gestalten. Wie Schüler Farben undFormen erleben. Wiesbaden 1994, S. 72ff.; fernerdazu auch: Chr. Rittelmeyer: Soziale Musterim Schulbau-Milieu. In: F. Bohnsack/S. Leber(Hrsg.): Sozial-Erziehung im Sozial-Verfall.Weinheim 1996, S. 307–319.4 Siehe ausführlicher dazu: Chr. Rittelmeyer: ZurRhetorik von Schulbauten. In: Die Deutsche<strong>Schule</strong> 96 (2004), S. 201–208.5 S. Higgins u. a. : The Impact of School Environments:A Literature Review. University of Newcastle(England). Herausgegeben vom DesignCouncil, 34 Bow Street, London, WC2E 7 TDL,Großbritannien (2005).6 Siehe dazu mein Buch „Schulbauten positiv gestalten.Wie Schüler Farben und Formen erleben“.Wiesbaden 1994; ferner Chr. Rittelmeyer:Bedeutungsfelder der Schulbau-Architektur.In: Psychologie in Erziehung und Unterricht 34(1987), S. 171–177.7 Ich nenne dieses positive Beispiel einer Kölner<strong>Schule</strong>, weil sie in architekturpsychologischenUntersuchungen als „<strong>Schule</strong> der Zukunft“ ermitteltwurde, in der die durch Nutzer erlebtefaktische Gestalt und geäußerte Verbesserungswünschekaum differieren. Vgl. dazu R.Walden/S. Borrelbach: <strong>Schule</strong>n der Zukunft.Heidelberg 2002; R. Walden: Architekturpsychologie:<strong>Schule</strong>, Hochschule und Bürogebäudeder Zukunft. Lengerich u. a. 2008.8 Dazu auch J. C. Kirschenmann/E. Syring: HansScharoun. Stuttgart 1993, S. 200ff.; H. Kemnitz:Schulbau jenseits der Norm: Hans ScharounsMädchengymnasium in Lünen. In: PaedagogicaHistorica 41 (2005), S. 605–625.9 Vgl. O. Bartning (Hrsg.): Mensch und Raum.Darmstadt 1952, S. 167.10 Vgl. z. B. P. Karmann: Die Wahrnehmungvon baulich-räumlicher Umwelt bei Kindern.Frankfurt/M. u. a. 1986; M. Pfeffer: SchulgemeindlichePlanung eines Grundschulgebäudes.In: Bildung und Erziehung 47 (1994), S.37–56; P. Hübner: Kinder bauen ihre <strong>Schule</strong>.Stuttgart 2005; W. Mahlke/N. Schwarte: Raumfür Kinder. Weinheim 1989; R. Quint: Raumerlebenund Raumutopie. Ökologische Überlegungenzu den Entwürfen schulischer Wunschräume.Frankfurt/M. u. a. 1990.11 Siehe dazu Hans Scharoun: Bauten, Texte, Entwürfe.Herausgegeben v. N. Pfankuch. Berlin1974; H. Scharoun: Raum und Milieu der <strong>Schule</strong>.In: architektur wettbewerbe 31 (1961), S.10–13.12 Vgl. die sehr kritischen Bemerkungen dazu beiH. Kükelhaus: Unmenschliche Architektur. Vonder Tierfabrik zur Lernanstalt. Köln, 51983.13 Vgl. z. B. den Artikel zur Integrierten GesamtschuleHannover-Roderbruch in: Bauwelt 66(1975), S. 205.14 P. Peters: <strong>Schule</strong>n zum Fürchten.In: Baumeister 77 (1980), S. 8–9.15 Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.):<strong>Schule</strong> kaputt. Hannover 1981; R. Klockhaus/B.Habermann-Morbey: Psychologie des Schulvandalismus,Göttingen 1986; W. Schoenig:Zerstörungen an unseren <strong>Schule</strong>n: Ursachenund Bewältigungsmöglichkeiten. In: WestermannsPädagogische Beiträge 34 (1982), S.538–543; A. P. Goldstein: The Psychology ofVandalism. New York 1996. Zur fehlenden„Wohlichkeit“ der Schulbauten: Institut fürSchulbau der Universität Stuttgart (Hrsg.): Untersuchungenzur Qualität gebauter Schulumwelt.Villingen 1977; B. Gollnow/V. Petersen:Neue Schulbauten. Architektonische Qualitätenund Nutzung an zehn <strong>Schule</strong>n. Eine empirischeUntersuchung. Schulbauinstitut derLänder, Berlin 1976.16 P. Peters: Nachfunktionalistischer Schulbau.In: Baumeister 79 (1982), S. 432–43317


17 Abbildungen in W. Kroner: Architektur für Kinder.Stuttgart 1994 und Chr. Rittelmeyer: Schulbautenpositiv gestalten. Wie Schüler Farbenund Formen erleben. Wiesbaden 1994. Nebeneinigen problematischen Gestaltungsformensind Beispiele einer pädagogisch reflektiertenSchulbauplanung auch zu finden bei J. Watschingerund J. Kühlbacher (Hrsg.): Schularchitekturund neue Lernkultur. Bern 2007 sowiein dem Buch von R. Walden und S. Borrelbach:<strong>Schule</strong>n der Zukunft. Heidelberg 2002; fernerdazu auch F. Hammerer/A. Dolesch: Schul(um)bau kann gelingen. Ein interdisziplinäres Entwicklungsprojektzur Optimierung schulischerLernumgebungen und Erfahrungsräume. In:Erziehung und Unterricht 157 (2007), S. 529–545.18 Ergänzend zu den zuvor genannten Büchernvgl.; A. Dreier u.a.: Grundschulen planen, bauen,neu gestalten. Empfehlungen für kindgerechteLernumwelten. Frankfurt/M. 1999.19 Zahlreiche Beispiele in einem Band der WüstenrotStiftung (Hrsg.): <strong>Schule</strong>n in Deutschland.Neubau und Revitalisierung. Stuttgart/Zürich2004. Positive wie negative Beispiele auch inW. Kroner: Architektur für Kinder. Stuttgart1994.20 Aus: Senatsverwaltung für Bau- und WohnungswesenBerlin (Hrsg.): <strong>Schule</strong>n für Berlin.Projekte der 90er Jahre. Berlin 1993. Fernerdazu auch: R. Walden: Architekturpsychologie:<strong>Schule</strong>, Hochschule und Bürogebäude der Zukunft.Lengerich u. a. 2008, S. 100ff.21 In: Baumeister 94 (1997), S. 18.22 Chr. Rittelmeyer: Schulbauten positiv gestalten.Wiesbaden 1994.23 Die von Charles Jencks im Hinblick unter anderemauf das Frankfurter Architekturmuseumso benannte „platonische Architektur“ kanninsofern ihren Sinn im Gesamtensemble einesSchulbaus haben. Vgl. Ch. Jencks: Die Postmoderne.Der neue Klassizismus in Kunst und Architektur.Stuttgart 1987.24 Vgl. z. B. P. Karmann: Die Wahrnehmungvon baulich-räumlicher Umwelt bei Kindern.Frankfurt/M. u. a. 1986; J. Forster: Räumezum Lernen & Spielen. Untersuchungen zumLebensumfeld „Schulbau“. Berlin 2000; R.Walden/S. Borrelbach: <strong>Schule</strong>n der Zukunft.Heidelberg 2002.25 S. Higgins u. a. : The Impact of School Environments:A Literature Review. University of Newcastle(England). Herausgegeben vom DesignCouncil, 34 Bow Street, London, WC2E 7 TDL,Großbritannien (2005).26 G. I. Earthman: Prioritization of 31 Criteriafor School Building Adequacy. American CivilLiberties Union Foundation of Maryland, Baltimore,MD 21212 (2004). Unter diesem Titelauch im Internet verfügbar (2005).27 C. K. Tanner/A. Langford: The Importance ofInterior Design Elements as They Relate to StudentOutcomes (2003). Forschungsbericht derUniversität von Georgia, 310 River’s Crossing,Athens, GA 30602. Vgl. auch C. K. Tanner/J.Lackney: Educational Facilities Planning, Leadership,Architecture, and Management. Boston2005.28 R. Klockhaus/B. Habermann-Morbey: Psychologiedes Schulvandalismus. Göttingen 1986.Für die USA vgl. ähnliche Forschungsresultatebei A. P. Goldstein: The Psychology of Vandalism.New York 1996.29 Z. B. R. Kuller/C. Lindsten: Health and behaviorof children in classrooms with and withoutwindows. In: Journal of Environmental Psychology12 (1992), S. 305–317; R. S. Ulrich: Viewthrough a window influences recovery fromsurgery. In: Science 224 (1984), S. 420–421;R. W. Blum/C. A. McNeely/P. M. Rinehart: Improvingthe odds. Forschungsbericht, Centerof Adolescent Health and Development. Universityof Minnesota 2002; R.Ulrich u. a.: TheRole of the Physical Environment in the Hospitalof the 21st Century. Herausgegeben vonder Robert Wood Johnson Foundation, 2004(Internetausgabe). Schon in den 1970er Jahrenhaben allerdings Mediziner vor den nachgewiesenengesundheitsschädlichen Wirkungen18


permanenter Kunstlicht-Beleuchtung etwa infensterlosen Klassenzimmern gewarnt – ohnedass auf diese Warnungen gehört wurde, vgl.F. Hollwich/B. Dieckhoes: Die Wirkung vonTages- und Kunstlicht auf den tierischen undmenschlichen Organismus. In: Fortschritte d.Medizin 90 (1972), S. 25–28.30 Chr. Rittelmeyer: Schulbauten positiv gestalten.Wie Schüler Farben und Formen erleben.Wiesbaden 1994; ders.: Pädagogische Anthropologiedes Leibes. Biologische Voraussetzungender Bildung und Erziehung. Weinheim2002, Kap. 2. ergänzend: Chr. Rittelmeyer:Anthropologisch-ästhesiologische Aspekte derRaumerfahrung. In: Mensch + Architektur Heft42/43 (2003), S. 8–15; ders./P. Krappmann: ZurSensomotorik der Schulbau-Wahrnehmung.In: Psychologie in Erziehung und Unterricht 41(1994), S. 303–312.31 G. I. Earthman: The Quality of School Buildings,Student Achievement, and Student Behavior.In: Bildung und Erziehung 52 (1999), S. 353–372.32 Publicolor. 114 East 32nd Street, Suite 900,New York N. Y. 10016 (U.S.A.).33 Z. B. R. Dunn u. a.: Light up their lives: A researchon the effects of lighting on childrens achievementand behavior. In: The Reading Teacher 38(1985), S. 863–869; A. Failey u. a.: The impactof color and lighting in schools. In: Councilof Educational Facility Planners Journal 1979,S. 16–18; K. Engelbrecht: The Impact of Coloron Learning. 2003: Internet-Bericht http://web.archive.org/web/20040218065036/. Fernerzu diesem Thema auch: J. Pile: Color inInterior Design. New York 1997; F. H. Mahnke/R.H.Mahnke: Color, Environment and HumanResponse. New York 1996.34 Ergänzend zu bereits genannten Büchern hiereinige weitere Hinweise: Chr. Day: Bauen fürdie Seele. Architektur im Einklang mit Menschund Natur. Freiburg 1996; M. Freyer: Das Schulhaus.Entwicklungsetappen im Rahmen der Geschichtedes Bauern- und Bürgerhauses sowieder Schulhygiene. Passau 1997; M. Göhlich:Die pädagogische Umgebung. Eine Geschichtedes Schulraums seit dem Mittelalter. Weinheim1994; M. Noack: Der Schulraum als Pädagogikum.Weinheim 1996; G. Reiß (Hrsg.): <strong>Schule</strong>und Stadt. Weinheim/München 1995; U. Chr.Maurer-Dietrich: Den Schulbau neu denken,fühlen und wollen. Dissertation Fakultät fürBaukunde der Technischen Universität Eindhoven,2007; R. Walden: Merkmale innovativerSchulbauten in Deutschland. In: K. Westphal(Hrsg.): Orte des Lernens. Beiträge zu einer Pädagogikdes Raumes. Weinheim 2007, S. 121–134; F.-J. Jelich/H. Kemnitz (Hrsg.): Die pädagogischeGestaltung des Raums. Bad Heilbrunn2003; G. Becker/J. Bilstein/E. Liebau (Hrsg.):Räume bilden. Seelze 1997; L. Wigger/N. Meder(Hrsg.): Raum und Räumlichkeit in der Pädagogik.Bielefeld 2002.35 Abbildung in W. Kroner: Architektur für Kinder.Stuttgart/Zürich 1994, S. 92f. Vgl. als Kontrastbeispielvon Lern- und Lehrstrassen die Innenraumgestaltungin den <strong>Schule</strong>n von P. Hübner:Kinder bauen ihre <strong>Schule</strong>. Stuttgart 2005.36 P. Blundell Jones: Peter Hübner. Bauen alssozialer Prozess. Building as a social process.Stuttgart 2007; P. Hübner: Kinder bauen ihre<strong>Schule</strong>. Stuttgart 2005. Zum Verständnis einergestalteten Umgebung, die pädagogisch gehaltvolleBotschaften vermittelt, nicht nur imBaus, sondern auch in der Art der Feste, derUnterrichtsdramaturgie, der Charakteristik vonSportveranstaltungen, den künstlerischen Fächernusw., vgl. Chr. Rittelmeyer/H. Klünker:Lesen in der Bilderschrift der Empfindungen.Erziehung und Bildung in der klassischen griechischenAntike. Stuttgart 2005.37 Düsseldorfer Stadtpost v. 18. 9. 2002; RheinischePost vom v. 18. 9. 2002.38 Tagesspiegel vom 27. 2. 1994.19


Lernen – in, durch und über ArchitekturRiklef RambowDas Verhältnis zwischen Menschen und ihrer gebautenUmwelt ist, psychologisch betrachtet,komplex und nicht auf eine einfache Ursache-Wirkung-Beziehungzu reduzieren. Stattdessen findenvielfältige Transaktionen zwischen Gebäuden, Freiräumenund ihren Nutzerinnen und Nutzern statt.Das ist bei Schülerinnen und Schülern und ihrer<strong>Schule</strong> nicht grundsätzlich anders als in anderenFällen. Allerdings kommen im Falle der Schularchitekturnoch einige Besonderheiten hinzu. ImFolgenden wird dieses Verhältnis etwas genauerbetrachtet, wobei das Lernen als das vorrangigeZiel des Aufenthalts in der <strong>Schule</strong> im Zentrumder Betrachtung steht. Aus analytischen Gründenwerden drei Arten des Zusammenhangs von Lernenund Architektur unterschieden: Das Lernenin Architektur, das Lernen durch Architektur, undzuletzt das Lernen über Architektur. Dabei wirddeutlich werden, dass diese drei Modi des Lernenskeineswegs unabhängig voneinander sind unddeshalb stets im Zusammenhang zueinander betrachtetwerden müssen.Lernen in ArchitekturLernen ist nicht nur ein geistiger, sondern auchein körperlicher Vorgang. Lernen spielt sich mithinstets zu einer konkreten Zeit an einem konkretenOrt ab, und die dort gegenwärtige Lernumwelthat erheblichen Einfluss auf den Lernprozess unddie Lernergebnisse. Aber was genau konstituiertdiese Lernumwelt? Es ist sinnvoll, zwischen einersozialen Lernumwelt, die vor allem aus Mitschülernund Lehrern besteht, und einer materialenUmwelt, nämlich dem Schulgebäude,seiner Einrichtung, den Freiflächenund seiner unmittelbaren Umgebung zuunterscheiden. Obgleich seit PISA – zuRecht – wieder viel über soziale und organisatorischeBedingungen von <strong>Schule</strong>,wie Lehrmethoden, Klassengrößen, Bewertungsmaßstäbeund ähnliche soziale Rahmenbedingungendes Lernens diskutiert wird, findendie architektonische Gestaltung von <strong>Schule</strong>n undder Umgang mit den Gebäuden noch zu seltendie Beachtung, die ihnen eigentlich zusteht. Ganzim Gegenteil: Der erhebliche Sanierungsbedarf,der dadurch entsteht, dass die Gebäude des Neubauboomsder sechziger und siebziger Jahre des20. Jahrhunderts nun in die Jahre kommen, wirdaufgrund der schwierigen kommunalen Finanzverhältnissevielerorts nur unzureichend bewältigt.Renovierungen und Umbauten werden aufgeschoben,solange es eben noch geht. Schülerinnen undSchüler sind dadurch – ebenso wie die Lehrerinnenund Lehrer – häufig räumlichen Bedingungen ausgesetzt,die an der Grenze des Zumutbaren, undmanchmal auch weit jenseits davon liegen.Dabei sind die nachgewiesenen Einflüsse der Architekturauf das Lernen – und auf das Lehren!– ebenso vielfältig wie bedeutsam. Architekturfördert oder beeinträchtigt die Gesundheit unddas Wohlbefinden. Architektur eröffnet oderverschließt Möglichkeiten des Erlebens und Verhaltens.Architektur erleichtert oder erschwertbestimmte soziale Konstellationen und Organisationsformen(siehe z.B. Weinstein, 1979, Weinstein& David, 1987)Die Gesundheit und das Wohlbefinden der Schülerund Lehrer werden beispielsweise durch die verwendetenMaterialien beeinflusst. Diese sollten freivon Schadstoffen sein und baubiologischen Kriterienentsprechen. Ebenso wichtig ist eine intelligenteakustische Gestaltung, die der Ausbreitung vonLärm entgegenwirkt und dadurch Konzentrationund Kommunikation ohne Anstrengung ermöglicht.Immerhin verbringen Schüler und Lehrer in„Das heißt, dass schon kleine,scheinbar vernachlässigbare Mängel… die Lernprozesse verhindern“den Schulräumen tausende von Stunden ihrer Lebenszeit.Das heißt, dass schon kleine, scheinbarvernachlässigbare Mängel wie ein ungünstigerNachhall im Klassenraum oder eine immer wiederlaut schlagende Tür, auf Dauer zu erheblichen Ein-20


schränkungen und Belastungen führen können,die Lernprozesse verhindern (vgl. Huber, Kahlert &Klatte, 2002; Klatte, 2006). Chronifizierte Nervositätund Gereiztheit können die Folge sein.Weitere wichtige Aspekte sind Frischluftzufuhrund Klimaregulierung, deren Rahmen durch dieArchitektur des Gebäudes gesetzt werden. Anordnungund Öffenbarkeit der Fenster sollten ermöglichen,das leicht und ohne Störung für einen hinreichendenLuftaustausch gesorgt werden kann.Die Anordnung der Heizkörper und die Art ihrerSteuerung bestimmen, ob es gelingt, im Winter einRaumklima zu schaffen, das flexibel an die jeweiligenBedürfnisse angepasst werden kann. Stickige,verbrauchte Luft mit überhöhtem Kohlendioxid-Anteil und eine zu hohe oder zu niedrige Temperaturkönnen ebenso hinderlich für den Lernerfolgund die Unterrichtsatmosphäre sein wie eine falscheUnterrichtsgestaltung durch den Lehrer odereine überhöhte Klassengröße. Schon hier wirddeutlich: Ob eine architektonische Lösung gut oderschlecht ist, zeigt sich erst im verantwortungsvollenGebrauch. Gute Architektur macht Angebote,die von den Lehrern und den Schülern gemeinsamverstanden und genutzt werden können. Diesengemeinsamen Aneignungs- und Gebrauchsprozesserfolgreich zu organisieren, ist eine wichtigeAufgabe der <strong>Schule</strong> und sollte als eigenständigesLernziel verstanden werden.Eine ganz erhebliche und doch oft unterschätzteBedeutung für das Wohlbefinden hat auch dieGestaltung der Pausenräume und Freiflächen. Dabeiist vor allem wichtig, dass Optionen für vieleverschiedene Aktivitäten geboten werden, wederdürfen die Bedürfnisse einer bestimmten Altersgruppenoch die eines Geschlechts dominieren(vgl. Flade, 1998). Unterschiedliche sportliche Aktivitätenmüssen ebenso möglich sein wie konzentrierteruhigere Beschäftigungen. Die gestalterischeHerausforderung besteht dabei darin, eine Balancezwischen guter Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeitdurch die Lehrkräfte auf der einen Seiteund einem ausreichenden Maß von geschütztenRückzugsmöglichkeiten auf der anderen Seite zufinden. Gerade die Außenraumgestaltung solltezudem von vornherein ein hohes Maß an Flexibilitätund nachträglicher Veränderbarkeit ermöglichen.Bei späteren Umplanungen können und sollen dieSchüler dann auch selber einbezogen werden. Ausjüngerer Zeit gibt es viele interessante, erfolgreicheBeispiele für derartige Beteiligungsprojekte, beidenen, zum Teil mit ehrenamtlicher Unterstützungvon <strong>Architekten</strong>, nicht nur die Gestaltung erheblichaufgewertet werden kann, sondern zugleichauch fundierte Kenntnisse über die Gestaltbarkeitder eigenen Lebenswelt vermittelt werden. Wenndabei alle an einem Strang ziehen, müssen solcheProjekte finanziell nicht aufwändig sein.Architektur kann Möglichkeiten des Verhaltensund Erlebens eröffnen, aber auch verschließen.Hiermit ist vor allem die Ebene der Grundrissgestaltunggemeint. Welche Räume werden zurVerfügung gestellt, wie groß sind sie, welchenZuschnitt haben sie, wie sind sie zueinander angeordnet?Auch hier sind die Einflüsse oft ebensosubtil wie nachhaltig: Bestimmte Raumformenverhindern den Einsatz innovativer Lehrformen,weil sie nicht flexibel nutzbar sind. FachübergreifenderProjektunterricht ist leichter durchführbar,wenn Klassenräume zeitweise erweitert oder zusammengeschaltetwerden können (vgl. Dudek,2000). Für die Art des Umgangs miteinander kannes entscheidend sein, ob die Räume für die Lehrerund die Verwaltung in einem eigenen Trakt untergebrachtund durch eine Tür abgetrennt sind, oderob sie einladend und offen zugänglich angeordnetsind. Kulturelle Veranstaltungen, welche die <strong>Schule</strong>zur Gemeinde hin öffnen, sind auf einen flexiblenund ausreichend großen Veranstaltungsraumangewiesen. Das Vorhandensein von nutzbarerWandfläche im Klassenraum, aber auch auf denGängen oder in der Halle fordert zur spontanenAusstellung von Arbeitsergebnissen und damit zuVergleich und Verständigung auf. Klassenräumebieten Ein- und Ausblicke oder verwehren sie. DieArchitektur ermöglicht und fördert durch diesegestalterischen Entscheidungen eine bestimmteLehr- und Lernkultur, die sich auf Dauer stabilisiertund oftmals nur wenig bewusst ist. Dieses Verhält-21


nis ist zwar nicht zwingend – natürlich lassen sichauch in einem Schulgebäude der Gründerzeit dieRäume anders nutzen als dies von der wilhelminischen<strong>Schule</strong> einst vorgesehen war –, aber einesolche Umnutzung erfordert Kraft und den kontinuierlichenWillen, sich gegen die An- und Zumutungendes Gebäudes aktiv durchzusetzen. Ein gutgeplanter, neu errichteter Schulbau kann, indem er„Umbauten bestehender Gebäude… setzen häufig den Rahmen für dasLerngeschehen der nächsten zehn,zwanzig oder dreißig Jahre“diese Mühen erspart, viel zusätzliche Energie fürden eigentlichen Unterricht freisetzen. Auch Umbautenbestehender Gebäude sollten, indem siediese Gesichtspunkte berücksichtigen, zu einer Erweiterungder pädagogischen Möglichkeiten beitragen,denn sie setzen häufig den Rahmen für dasLerngeschehen der nächsten zehn, zwanzig oderdreißig Jahre (Wüstenrot Stiftung, 2004).2. Lernen durch ArchitekturDie zweite Ebene, auf der Architektur wirkt, istdie des symbolischen Ausdrucks. Ein Schulgebäudesagt durch seine Architektur, aber auch durchseinen Erhaltungszustand viel aus über die Vorstellungder <strong>Schule</strong> von sich selbst, über das Verhältnisvon Schülern und Lehrern, und über die Positionder <strong>Schule</strong> in der Gesellschaft. Die Architektur verräumlichtauch Ideen davon, was „Lernen“ eigentlichheißt. Schon am ersten Schultag werden dieseVorstellungen vermittelt, wenn die Kinder entwederehrfurchtsvoll die Treppe zur großen, schwerenEingangstür der wilhelminischen Grundschulehoch und dann zu ihrem Klassenraum am Ende eineskasernenartigen Gangs geleitet werden, oderwenn sie ebenerdig durch eine Glastür in ein lichtesAtrium eintreten, in dem die Arbeiten aus demKunstunterricht der Zweitklässler ausgestellt sind.Von der Architektur und ihrer Nutzung hängt eszu wesentlichen Teilen ab, welche Blicke, welcheGeräuschkulisse, welche Gerüche und Bewegungseindrückesich in diesem Moment zu einer Erwartungshaltungan die eigene Zukunft als Lernendemund als Mitglied einer Gemeinschaft formen.Die Architektur kann auf diese Weise dazu beitragen,Werte wie Respekt, Selbstvertrauen, Gemeinschaftsgefühlund Verantwortungsbewusstseinzu vermitteln. Ebenso kannsie aber auch das Gegenteil ausdrücken.Verschmutzte Toiletten, bei denen dieDeckel abgeschraubt und die Türennicht verschließbar sind, signalisierenunmittelbar einen Mangel an Respektvor der Persönlichkeit des Schülers undein grundlegendes Misstrauen. DefekteMöbel, blinde Scheiben, kahle, mit Graffiti verseheneBetonwände führen nicht nur zu funktionalenBeeinträchtigungen und behindern dadurchdas Lernen, sie setzen auch eine Abwärtsspiraleder Nichtachtung in Gang. Werden sie einmal zugelassen,so kann sich dadurch leicht ein respektloserUmgang mit der gebauten Umwelt etablieren,der sich auch auf die sozialen Beziehungen untereinanderauswirkt. Deswegen ist es wichtig, solchenFormen von Vandalismus und Verwahrlosungfrühzeitig entgegen zu treten.Aber wer soll in Zeiten fortgesetzter Mittelkürzungendafür sorgen, dass die Lernumwelt tatsächlichdiesen Ansprüchen genügt? Immer öfter scheint esnur noch durch das finanzielle und handwerklicheEngagement der Eltern möglich zu sein, Verbesserungender räumlichen Situation oder zumindestdie Bewahrung des Status Quo zu sichern. So begrüßenswertderartige Aktionen für sich genommensind, so sollten sie doch keinesfalls auf Dauerden Normalfall darstellen. Denn einerseits werdendie Schulträger dadurch aus einer Verantwortungentlassen, die sie auch weiterhin unbedingt fürsich annehmen müssen. Wenn sie dieser Aufgabenicht nachkommen, dann ist es wichtig, einenhinreichenden politischen Druck zu erzeugen, umdie Frage der Instandhaltung von Lernumweltenauf der Tagesordnung zu halten. Die Verhältnisse22


in manchen <strong>Schule</strong>n sind ein Skandal, der auch alssolcher immer wieder benannt werden muss.Zum anderen sollte der sachgemäße Gebrauchder Schularchitektur aber auch eine Aufgabe sein,der sich die <strong>Schule</strong> selber aktiv stellt. Der richtigeUmgang mit dem Schulgebäude stellt eine Vielzahlkomplexer, sehr realistischer, sozialer undkognitiver Anforderungen, die zu bewältigendie Schülerinnen und Schülerlernen müssen. Es ist die Aufgabe derSchulleitung, der Lehrer und Lehrerinnen,organisatorische Formen der Gebäudeunterhaltung,der Fürsorge, derUmgestaltung und der Umnutzung zuentwickeln, die im Schulalltag umgesetztwerden können (Tanner & Lackney,2005). Jede Schülerin und jeder Schüler muss immerwieder Gelegenheit erhalten, das Gebäude alsetwas zu erleben, was nicht einfach da ist, sondernangeeignet werden kann und muss. Das erfordertWissen, zum Beispiel über den Energieverbrauchund dessen Kosten, über das Verhältnis von Heizenund Lüften oder über die Beleuchtung. Es erfordertdie Vermittlung von Fähigkeiten, zum Beispiel,wenn es etwas zu reparieren gibt oder eine Wandgestrichen werden soll. Es erfordert aber auch dieFormulierung von Regeln, die dem gemeinsamenUmgang mit dem Gebäude einen verbindlichenRahmen geben. Es muss klar sein, wer sich darumzu kümmern hat, wenn etwas beschmiert oderzerstört wird oder wenn Dreck liegen bleibt. SolcheRegeln sollten auf der Ebene der <strong>Schule</strong>, aberauch auf der Ebene der einzelnen Klasse gemeinsamerarbeitet und festgehalten werden, genausowie Regeln zum sozialen Umgang miteinander, umAnonymisierung und individuelle Verantwortungslosigkeit,die Vandalismus und Verwahrlosung ermöglichen,von Beginn an vorzubeugen.3. Lernen über Architektur„Die Verhältnisse in manchen<strong>Schule</strong>n sind ein Skandal, der auchals solcher immer wieder benanntwerden muss“Sowohl die angemessene Nutzung von Architekturals auch das „Lesen“ von Architektur, also dieAufmerksamkeit für und die Interpretation vonarchitektonischen Formen als Träger von Bedeutung,erfordern Wissen und Erfahrung; sie müssenihrerseits erlernt werden. Die damit bezeichnetenFähigkeiten sind nicht nur für die Interaktion derSchüler mit dem Schulgebäude von Bedeutung,sondern können als wesentliche kulturelle Grundkompetenzenbetrachtet werden, die weit über die<strong>Schule</strong> hinausweisen. Das Schulgebäude ist allerdingsder nächstliegende Beispielfall, von dem ausgehenddie Themen räumliche Umwelt, Architekturund Stadt erschlossen werden können.Das Thema Architektur und gebaute Umwelt ist inden meisten Rahmenlehrplänen und Curricula gegenwärtignoch eher randständig. Dieser Umstandhat seit etwa zehn Jahren zu einer wachsendenAnzahl von Aktivitäten und Initiativen geführt,die überwiegend von <strong>Architekten</strong>kammern und-verbänden ausgehen. Dabei wurden vielfältigeKonzepte und Unterrichtseinheiten entwickelt undin Pilotprojekten erprobt, die Architektur lebensnah,problemorientiert und zeitgemäß zum Themaschulischer Auseinandersetzung machen sollen(1). Allerdings ist es bislang nur ausnahmsweisegelungen, über den Status von Einzelprojekten hinauszugelangenund architekturbezogene Inhaltein systematischer Weise in den Regelunterricht zuintegrieren. Das hat viele Gründe; einer davon istsicher, dass Architektur und Stadt sich nicht ohneweiteres in die vorgegebene Fächerstruktur einpassenlassen; ein anderer ist der, dass es kaum architekturdidaktischeForschung an den Hochschulengibt und das Thema auch in der Lehrerausbildungnur ein untergeordnete Rolle spielt.Was sollten die Ziele einer stärkeren Auseinandersetzungmit Architektur in der <strong>Schule</strong> sein? Die wenigenvorliegenden Untersuchungen zur Schüler-23


wahrnehmung von Architektur weisen darauf hin,dass ohne eine solche Auseinandersetzung ein Bildvon Architektur entsteht, das kaum Bezüge zur Lebensweltder Schüler aufweist (Rambow, 2000, S.58ff.). Die Schüler trennen deutlich zwischen ihrergebauten Umwelt, die als unattraktiv wahrgenommenund nach ökonomischen, rein nutzungsbezogenenKriterien beurteilt wird, und der Architektur,die als Teil der Kunst auf spektakuläre Sonderbautenbeschränkt bleibt. Die Wahrnehmung von Architekturbleibt zudem weitgehend auf den Sehsinnbeschränkt; Architektur ist etwas, was mansich – z.B. im Urlaub oder in Zeitschriften – vor allemansieht. Dementsprechend wird die unmittelbare,alltägliche gebaute Umwelt oft pauschal undundifferenziert abgelehnt als etwas, was lieblosund scheinbar ohne bewusste Gestaltungsabsichteinfach „hingestellt“ wurde; die Bedeutung vonGebäuden für das eigene Erleben oder Verhaltenerscheint gering und kann nur schwer beschriebenwerden. Eigene Einflussmöglichkeiten auf dasBau- und Planungsgeschehen sind nicht bekannt;die Akteure bleiben anonym und weit entfernt vonder eigenen Lebenswirklichkeit.Nimmt man diese – zugegeben stark vereinfachte– Zustandsbeschreibung als Ausgangspunkt, solässt sich daraus folgendes allgemeines Lernziel für„Eine differenzierte Wahrnehmungvon Architektur bildet die Basis fürAneignung und Mitgestaltung“die Vermittlung von Architektur im Schulunterrichtableiten: Es geht darum, die kognitiven und motivationalenGrundlagen für eine kompetente, informierteund kritische Wahrnehmung, Aneignungund Mitgestaltung von Architektur und Stadt zuschaffen.auf das Visuelle entgegenzuwirken und die Vielfaltder sinnlichen Bezüge zum eigenen Erlebenaufzuschließen. Zum anderen ist es wichtig, Wahrnehmungund Beschreibung von Beginn an zu verbinden,so dass das nötige begriffliche Wissen aufgebautwird, das für die Kommunikation über dieeigenen Beobachtungen und Empfindungen notwendigist. Die scheinbare Grenze zwischen der„besonderen“ Architektur und der „alltäglichen“gebauten Umwelt gilt es, aktiv aufzuweichen,indem gezeigt wird, dass in beiden Bereichengrundsätzlich die gleichen Regeln gelten und auchin der unmittelbaren Umwelt reizvolle und interessantgestaltete Situationen zu finden sind. Umlangfristiges Interesse aufzubauen, ist es wichtig,auch den Genuss der Wahrnehmung zu fördern,also das Lustvolle des Entdeckens, Erspürens undBeschreibens von Architektur – auch im scheinbarBanalen, Alltäglichen – zu vermitteln.Auf einer solchen aktiven, differenzierten und multimodalenWahrnehmung aufbauend geht es danndarum, die Rolle der Architektur für das eigeneErleben und Verhalten zu untersuchen. Dabei sollensowohl beeinträchtigende wie auch förderlicheEinflüsse zur Sprache kommen, um davon ausgehendAneignungsmöglichkeiten entwickeln, aberauch Aneignungshindernisse richtig einschätzenzu können. Dabei bezeichnet Aneignungerst einmal jede Form der bewussten Interaktionmit dem Gebäude, vom kurzfristigenÖffnen eines Fensters bis hinzur dauerhaften Veränderung der Raumnutzung,der Ummöblierung oder derFestlegung von Zuständig- und Verantwortlichkeiten.Das Ziel ist, die Vielfalt möglicherAneignungshandlungen zu verdeutlichen und auchdie Möglichkeit der kreativen Neuentwicklung vonAneignungsstrategien zu eröffnen, um das passive„Erdulden“ der gebauten Umwelt zu beenden(Reicher, Edelhoff, Kataikko & Uttke, 2007).Eine differenzierte Wahrnehmung von Architekturbildet die Basis für Aneignung und Mitgestaltung.Dabei ist es einerseits wichtig, frühzeitig alle Sinneeinzubeziehen, um der ausschließlichen FixierungWährend die Aneignung auf eine aktive, kreativeAuseinandersetzung mit dem Bestehenden zielt,geht es bei der Mitgestaltung um Möglichkeitendes Eingreifens in den Entstehungsprozess der24


gebauten Umwelt. Diese sind in einer demokratischenGesellschaft natürlich stark vermittelt undzum Teil sehr abstrakt, aber gerade deshalb müssensie in der <strong>Schule</strong> behandelt werden. Wo undvon wem werden die Entscheidungen getroffen,die meine Lebenswelt auf Jahre verändern? Wokann ich mich darüber informieren und welchegesetzlichen Grundlagen gelten hier? In welchemUmfang und in welchen Phasen sind Beteiligungsmöglichkeitenüberhaupt vorgesehen? Am bestenlässt sich die Komplexität solcher Prozesse an aktuellen,subjektiv bedeutungsvollen Planungs- undBauprojekten verdeutlichen, die vor Ort beobachtetund recherchiert werden können. Dabei ist eswichtig, einerseits keine Illusionen aufzubauen,andererseits aber auch das Gefühl von Macht- undEinflusslosigkeit, das durch die Langfristigkeit unddie komplizierten Verantwortlichkeiten politischerPlanungsprozesse leicht entsteht, zu dämpfen, indemgut gewählte Beispiele erfolgreicher Partizipationund bürgerlicher Einflussnahme vorgestelltund diskutiert werden. Das Ziel ist eine aktive undkreative Zeitgenossenschaft, welche Architekturund gebaute Umwelt als Teil der eigenen kulturellenLebensgrundlagen erkennt.Finnland, das in Hinsicht auf die politische Aufmerksamkeitfür baukulturelle Fragen eine europäischeVorreiterrolle beanspruchen darf, hat bereitsvor Jahren einen Bericht zur „bürgerlichen Architekturausbildung“vorgelegt (Korpelainen & Yanar,2001). Darin wird das übergreifende Ziel einer solchenAusbildung folgendermaßen formuliert: „Theidea of civic education in architecture is to redefinethe relation between experts and non-experts“.Auf die Schularchitektur bezogen bedeutet das:Wir benötigen eine hochwertige Schulbauarchitektur,die das Lernen und Lehren erleichtert, unddie Schülern und Lehrern Respekt und Wertschätzungvermittelt; wir benötigen aber auch Schüler,Eltern und Lehrer, die ihrerseits in der Lage sind,eine solche Architektur einzufordern, angemessenzu nutzen und aktiv mitzugestalten; und wir benötigen<strong>Architekten</strong> und Bauherren, die auf solcheForderungen eingehen und willens und in der Lagesind, sie im kontinuierlichen Dialog zu entwickeln.Anmerkung:(1) Einen guten Überblick über diese Aktivitätenvermittelt die Seite der <strong>Bund</strong>esarchitektenkammerim Netz: http://www.bak.de/site/282/default.aspxLiteratur:Dudek, M. (2000). The Architecture of Schools andthe New Learning Environments. Oxford, UK:Architectural Press.Flade, A. (1998). Evaluation eines innerstädtischenSchulhofs. In F. Dieckmann, A. Flade, R. Schuemer,G. Ströhlein & R. Walden (Hrsg.), Psychologieund gebaute Umwelt (S. 243–247). Darmstadt:Institut Wohnen und Umwelt.Huber, L.; Kahlert, J. & Klatte, M. (Hrsg.). (2002).Die akustisch gestaltete <strong>Schule</strong>. Auf der Suchenach dem guten Ton. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht.Klatte, M. (2006). Auswirkungen der akustischenBedingungen in Schulräumen auf Kinder – Ergebnisseaus Labor- und Felduntersuchungen.Zeitschrift für Lärmbekämpfung, 2/2006, 41–46.Korpelainen, H. & Yanar, A. (2001). DiscoveringArchitecture. Civic Education in Architecturein Finland. Report. Helsinki: The Finnish Associationof Architects and the Arts Council ofFinland.Rambow, R. (2000). Experten-Laien-Kommunikationin der Architektur. Münster: Waxmann.Reicher, C., Edelhoff, S., Kataikko, P. & Uttke, A.(Hrsg.). (2007). Kinder_Sichten. Städtebau undArchitektur für und mit Kindern und Jugendlichen.Troisdorf: Bildungsverlag EINS.Tanner, C. K. & Lackney, J.A. (2005). EducationalFacilities Planning. Leadership, Architecture,and Management. Boston, MA: Allyn & Bacon.Weinstein, C. (1979). The physical environment ofthe school: A review of the research. Review ofEducational Research, 49, 577–610.Weinstein, C. & David, T. (Eds.). (1987). Spaces forChildren. The Built Environment and Child Development.New York: Plenum Press.Wüstenrot-Stiftung (Hrsg.). (2004). Schulbau inDeutschland. Neubau und Revitalisierung.Stuttgart: Karl Krämer.25


Heimat zwingt zu anderer ArbeitsartJohannes BilsteinIm Folgenden sollen aus bildungsgeschichtlicherPerspektive einige Argumentationsfolgen vorgestelltwerden, die sich in Bezug auf die räumlicheund architektonische Gestalt von <strong>Schule</strong>n entfaltethaben, und die bis heute ihre Gültigkeit behaupten.Behandelt werden sollen jeweils epochenspezifischeLeit-Imaginationen zum Schulgebäude:Vorstellungen und Leitbilder also, die den Diskursenüber „guten Schulbau“ zugrunde liegen. 11. Das Kloster„Diese asketische Tradition wirkt bis indas 20. Jahrhundert hinein, wird aberauch zunehmend kritisiert“Zunächst muss man sagen: Ausführliche Pläne fürSchulgebäude gibt es schon lange, zum Beispielauf dem Klosterplan von St. Gallen aus dem 8.Jahrhundert nach Christus. Da sind in die Kloster-Anlage gesonderte Schulgebäude eingeplant. Esgibt dann – später, seit dem Mittelalter – die großenStadt-<strong>Schule</strong>n, und es gibt in den katholischenTeilen Deutschlands seit dem 16. Jahrhundert dieoft riesigen Jesuiten-Kollegien mit mehreren Hundertenvon Schülern. Dabei handelt es sich sowohlum Internats-<strong>Schule</strong>n in kollegiater Bauweise, woLehrende und Lernende also zusammen leben, alsauch – vor allem in den Städten – um Tagesschulenohne Schlafmöglichkeiten für die Schüler. Undganz selbstverständlich ist in diesen Einrichtungenimmer nur ein Geschlecht, das männliche, vertreten.2Den wichtigsten Referenz-Bau für diese Art von<strong>Schule</strong>n bildet also das Kloster: Eine mönchische,monastische Lebens-Gemeinschaft, die auf klarumrissenem Raum alle Funktionen und Bedürfnissedes täglichen Lebens erfüllt. Dieses Kloster-Vorbild bleibt für den Schulbau über viele Jahrhundertebestimmend – auch dann, wenn mit den seitdem 18. Jahrhundert entstehenden Volksschulenwesentlich kleinere Einheiten geplant und gebautwerden, die nicht als nach außen abgeschlosseneLebensgemeinschaft von Kindern und Erwachsenenverstanden sind. Eines bleibt nämlich konstant:Die Lehrer wohnen immer weiter in diesen<strong>Schule</strong>n. All diese <strong>Schule</strong>n sind – auf die eine oderandere Weise – als „Haus des Schulmeisters“ gebaut.Die Wohnung des Lehrers – und gegebenenfallsseiner Familie – und die Schulstube bildenweitgehend eine räumliche Einheit. Bei großen<strong>Schule</strong>n mit mehreren Lehrern ist das eine großeEinheit, bei kleinen Dorf-<strong>Schule</strong>n ist es eine sehrkleine und intime Einheit.Und was auch erhalten bleibt, ist der asketischeCharakter des Klosters. In <strong>Schule</strong>n, die sich irgendwiemonastisch verstehen, geht es nicht umVergnügen und Spaß, sondern um Entsagung,bestenfalls um Arbeit und Gebet, um ora et labora.Diese asketische Tradition wirkt bis in das 20.Jahrhundert hinein, wird aber auch zunehmendkritisiert.„Klöster“ – da ist man sich in reformorientiertenKreisen ganz einig – Klöster sollen die allgemeinen<strong>Schule</strong>n auf keinen Fall sein, denn damitwürden sie den Wünschen undBedürfnissen der Kinder allzu sehrentgegenstehen. Wenn man eine reformierteErziehung gerade „vom Kindeaus“ neu organisieren will, dannsind alle asketistischen Elemente fehlam Platze. Kinder wollen spielen undherumrennen, und die Reformer am Anfang des20. Jahrhunderts sind sich darüber einig, dass diesekindlichen Bedürfnisse nicht etwa unterdrückt,sondern zum Wohle des kindlichen Glückes unddes <strong>Schule</strong>rfolges gefördert und genutzt werdensollen. 3 Klöster sind da nicht die richtigen Vorbilder,und die ehemalige Nähe von <strong>Schule</strong> und Klostergilt es zu überwinden. Ein programmatischerText von 1925 macht das in schöner Deutlichkeitklar: „Wie das Kloster, war die <strong>Schule</strong> lebensfremd.Hohe Mauern, von antiquarischer Buchweisheit errichtet,trennten sie vom Weltgeschehen. Erde galtals Jammertal, Menschen als Sünder, die sich nicht26


selbst befreien konnten aus dem Sündenpfuhl, diedemütig und hilflos Gnade erflehen mußten.“ 4„Lebensfremd“, „vom Weltgeschehen getrennt“,die Menschen „demütig und hilflos“ – in solchenFormulierungen erscheint das Kloster geradezuals Gegenbild einer erneuerten, kindgerechten<strong>Schule</strong>.2. Die KaserneNeben dem Kloster gibt es jedoch in den Polemikenund Kritiken des 19. Jahrhunderts vor allemeine andere Referenz-Institution, mit der die <strong>Schule</strong>immer wieder in Verbindung gebracht wird:die Kaserne. Das hat seine reale Grundlage darin,dass es tatsächlich seit dem Aufbau der großenstehenden Heere im 18. Jahrhundert eine eigenemilitärische Tradition der Internatserziehung gibt:die Kadetten-Anstalten. Zuständig für die Erziehungder Offiziers- und Beamtensöhne, orientierensich diese militärischen Nachwuchs-Schmiedenzunächst an klösterlichen Vorbildern, entwickelndann aber bald ganz eigene, harte und rigoroseFormen des pädagogischen Umganges und aucheigene, extrem auf Disziplinierung hin ausgelegteRaum-Arrangements. 5Nach der – vom Versailler Vertrag erzwungenen– Auflösung dieser Kadetten-Anstalten werdendie Gebäude und Räume dann anders genutzt,sie bleiben zumeist jedoch schulischen Zweckengewidmet. Sie werden Volksschulen oder Gymnasienzugeteilt, behalten aber natürlich ihre alte,auf Disziplin und Kontrolle hin angelegte Raum-Charakteristik. Gegenüber diesen Kadetten-Anstaltenentwickelt sich im Laufe des 19. Jahrhundertseine zunehmend heftige Kritik. Sie werdenzu idealtypischen Verkörperungen einer verhasstenund verachteten Erziehung, erscheinen in denimmer häufiger und immer lauter werdenden Polemikenals die Prototypen aller „Schulkasernen“.Dabei sind diese Polemiken durchaus umfassendgemeint. Sie zielen letztlich auf die auch pädagogischsich auswirkende universelle Militarisierungder Wilhelminischen Gesellschaft. Je mehr sichdie Armee als „<strong>Schule</strong> der Nation“ versteht, umsounheimlicher wird dieser Anspruch den kritischenGeistern. So wird seit ungefähr 1880 über die„Schulkasernen“ genauso viel geschimpft und gestrittenwie über die „Mietskasernen“. Beide sindzu Stein gewordene Symbole der Behandlung vonMenschenmassen, beide: die Mietskaserne wie dieKasernenschule, taugen als polemisch einsetzbareSchreckensfiguren im Kampf für bessere Lebensbedingungen.Dieser Kampf verschärft sich nach 1918. Im Jahre1921 – um nur ein Beispiel zu nennen – erscheintvon den Hamburger Reformpädagogen AdolfJensen und Wilhelm Lamszus ein kleines Büchlein,das in den reformorientierten Kreisen derdeutschen Intelligenz bald Furore macht: „Schul-Kaserne oder Gemeinschaftsschule“, heißt dasBuch, und es ist eine Kampfschrift für eine neueArt von <strong>Schule</strong> und Lernen. Geschimpft wird aufdie „Lernschule“, die nichts anderes war „als eingroßartig organisierter Zerstörungsprozeß... DieLernschule ist das Potsdam der Erziehung, ist Militarismusder Seele, Schulkaserne.“ 6 Genau undvoller Zorn beschreiben Jensen und Lamszus, wiees in einer solchen <strong>Schule</strong> zugeht – und wie dabeifür die Kinder alle Freude und alle Phantasie verlorengehen. „Fünfzig Schüler sitzen stramm denlinken Unterarm aufgestützt und den rechten Zeigefingerunverrückt auf der Stelle im Buche, wowir augenblicklich sind. Es ist das Märchen vonSchneewittchen, das von der Klasse im Paradeschrittgenommen wird.“Wie auf dem Exerzierplatz geht es in einer solchenKasernenschule zu, wie in Potsdam also: DerLehrer schreitet die „Front“ der brav und genauausgerichteten Schüler ab. „Nun kommandiert er:halt! und befiehlt die Augen auf eine bestimmteStelle zu richten und über diese Stelle zu denkenund zu träumen. Dann geht es weiter, marsch!“ 7So werden Phantasie und Lebendigkeit vernichtet.Die Kaserne, das ist für alle Aufbruchs- und Erneuerungswilligeder Zeit nach dem ersten Weltkriegdas Schreckbild schlechthin. Andererseits jedoch27


diese hygienischen Massen-<strong>Schule</strong>n. Aber ihr Charakterals massenhaft gebaute Anstalten zur pädagogischenBehandlung von Menschenmassen istallzu offensichtlich. 8Ein Beispiel: Beides: die gute hygienische Absichtund den düsteren Schrecken der Massen-Anstaltkann man im Grundplan für die HaidhausenerVolksschule in München von 1875 deutlich erkennen(Abb. 1). Ein Kellergeschoß und vier Stockwerkesind da vorgesehen, mit 22 Klassenräumen fürje 56 Schüler. Insgesamt 1232 Kinder also sollenin dieser <strong>Schule</strong> lernen. Es ist ein streng ordentliches,Hierarchie und Ordnung widerspiegelndesRaum-Arrangement: ganz offensichtlich auf Kontrolle,Überblick und Sauberkeit hin konzipiert,ohne irgendwelche Nischen und ohne Variations-Angebote.Abb. 1 | Entwurfszeichnung. Volksschule München-Haidhausen,1875; Quelle: Hermann Lange:Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit.Weinheim, Berlin 1967. S. 551.sind viele der großen Schulgebäude, die im Laufedes 19. Jahrhunderts in Deutschland entstehen,oft gut gemeint; sie sind hygienischangelegt mit langen, Frischluft heranführendenKorridoren. Denn immerhinmuss man sich mit der VolkskrankheitTuberkulose auseinandersetzen, undimmerhin gibt es – auch schon vor RobertKoch – ein Wissen darüber, dassman vor allem den Kindern der Armen,die zuhause unter meist ungesundenund unerträglichen Bedingungen leben, viel Luftund Licht bieten muss, um sie in der <strong>Schule</strong> unddurch die <strong>Schule</strong> gesund zu machen oder gesundzu halten. Gut gemeint sind sie also durchaus,Man kann sich die räumliche Enge und das Ausmaßan Disziplinierung gut vorstellen, das den Kindernda zugemutet wird. Aus vielen Biographien undErinnerungen weiß man, wie erbärmlich die Insassensich da oft vorgekommen sind, wie schwer siesich damit getan haben, in der schon baulich undräumlich demonstrierten Anstaltsordnung zurechtzu kommen. 9 Düster war es, und seit den 1860erJahren entwickelt sich denn auch immer deutlichereine immer breiter werdende Kritik an dem nunErreichten: an der Lern- und Paukschule, an denVerknöcherungen und Erstarrungen des Schulsystemsund an der unmenschlichen und vielen unnatürlicherscheinenden Behandlung der Jugend in„Das hygienische Ideal-Schulhaus, derTraum vieler Pädagogen, Politiker undVerwaltungsmänner, wird zum Alptraumseiner Nutzer“diesen <strong>Schule</strong>n. Das hygienische Ideal-Schulhaus,der Traum vieler Pädagogen, Politiker und Verwaltungsmänner,wird zum Alptraum seiner Nutzer.Nicht zuletzt in der Nietzsche-Nachfolge werden28


Abb. 2 | Willy Steiger: S’Blaue Nest. Dresden1925. UmschlagszeichnungKlagen darüber immer populärer. Mit diesen Klagenbeginnen die großen Erneuerungs- und Reformbewegungen,die sich zum Ziel gesetzt haben,nun <strong>Schule</strong> ganz neu und anders zu denken– und sie auch anders zu bauen. 103. Das NestDamit sind wir nun bei der Reformpädagogik amAnfang des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich daum eine breite Bewegung, die sich einordnet indie große Vielfalt an Bestrebungen zur Reform desganzen Lebens, wie man sie zu dieser Zeit findet.Ziel ist eine umfassende Erneuerung aufallen Gebieten des menschlichen Daseins:eine Reform der Ernährung (die Reformhäuser,die daraus hervorgingen, gibt esja bis heute); eine Reform des Arbeitensund Wohnens, der Kleidung, der Sexualität,des Umganges mit dem menschlichenKörper etc. Diese in ganz Europa sich ausbreitendeBewegung bleibt zwar einerseits immerin der Minderheit, erzielt aber andererseits Wirkungen,die bis heute zu erkennen sind. Hierhergehören dann auch all die Bestrebungen, <strong>Schule</strong>und – überhaupt – Erziehung zu erneuern: also dieReform-Pädagogik im engeren Sinne, die unserVerständnis von Erziehung bis heute beeinflusst.Wenn man sich ansieht, was in der Erziehungs-Diskussion jetzt als Konsequenz aus den PISA-Ergebnissen vorgeschlagen wird, dann ist das aufweite Strecken genau das, was die Reformpädagogenam Anfang des 20. Jahrhunderts gefordertund ausprobiert haben: Gruppen-Differenzierung,didaktische Flexibilität, Freie Arbeit, kreativer Umgangmit Unterrichtsmaterial und Gegenständen,individuelle Betreuung der Lernenden in der Gruppe,etc. Auch heute greift man noch geradezuselbstverständlich auf die Ideen und Vorstellungender Reformpädagogik zurück. Und diese Reformpädagogikwar von Anfang an hoch sensibel fürdie Räume und Bauten, in denen Erziehung stattfindensollte.Ein Beispiel: Im Jahre 1925 erscheint ein Buch, indem ein Volksschullehrer seine Erlebnisse und Erfahrungenan der <strong>Schule</strong>, genauer: an einer ganzbesonderen Versuchsschule, die aber auch eineganz normale Volksschule ist, beschreibt. WillySteiger heißt der Autor. Er arbeitet seit dem Beginnder 1920er Jahre an der Volksschule Dresden-Hellerau,er hat mit den Kindern eine neueund andere Art von <strong>Schule</strong> ausprobiert und beschreibtdas nun in diesem Buch, und zwar unterder Überschrift „S’blaue Nest.“ Steiger ist reformpädagogisch,oder genauer: lebensreformerischengagiert. Er kämpft für die Ernährungsreform,er ist Antialkoholiker, Anhänger der Nacktkultur,„Auch heute greift man nochgeradezu selbstverständlich auf die Ideender Reformpädagogik zurück“und leidenschaftlicher Erziehungsreformer. WasSteiger 1925 im „Blauen Nest“ beschreibt, das istseine Arbeit mit einer Schulklasse, in der er neueFormen der Erziehung und des Lernens ausprobierenwollte – und diese Experimentalklasse hater zusammen mit seinen Kindern „S’Blaue Nest“genannt. Sie malen sich eine Art Logo, das an dieKlassentür gehängt wird, und das dann auch denUmschlag des Buches ziert (Abb. 2).29


Abb. 3 | Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus [Nürnberg 1658], Dortmund 1978, S. 198„Ein Nest – so beschreibt er das Bild – Ein Nest undsoviel Schnäbel aufsperrende Vögelchen drin, wieKinder im Zimmer waren. Und ein großer Vogel,der Lehrer, brachte geistige Nahrung in Gestalt einesRegenwurms den hungernden Kleinen.“ 11 Das„Blaue Nest“ in der Volksschule Hellerau bestehtvon 1921 bis 1924. Steiger will seinen Schülerinnenund Schülern eine neue und bekömmliche Artvon <strong>Schule</strong> anbieten: ein Nest eben, das die <strong>Schule</strong>zur Heimat macht – und zwar als Ergebnis eigenerund gemeinsamer Arbeit.„Wir kauften blaue Vasen, schmückten den Tischmit stets frischen Blumen, schafften Schreibzeuge,sogar eine Tischdecke, malten Bilder zum Wandschmuck,einige brachten sich Sitzkissen mit. Wiefein gemütlich war es, wenn erzählt oder gesungenoder vorgelesen wurde. Da kamen alle wieKüchlein um die Glucke in die Ecke und lauschten.Besonders abends, wenn wir alle Lichter löschten,nur eine Lampe oder gar nur zwei Kerzen brennenließen. Da war Stimmung wie in einem trautenHeim.“ 12Hier ist nun also aus der <strong>Schule</strong> ein Nest geworden,ein trautes Heim, das den Kindern Schutz und Sicherheitsignalisiert, in dem sie sich auf Freundlichkeitund Umsorgung – Glucke! – verlassen können.Dieser pädagogische Heimat-Raum ist den Menschenund ihren Bedürfnissen so weit wie möglichangepasst, und gerade durch diese Anpassung soller seine erzieherische Wirkung entfalten. Steiger30


weiß: „So ein Zimmer wird natürlich gehütet. DerHausmeister hat nie zu kehren brauchen. Wir sorgtenselbst für Ordnung... Der alte Drill war tot!...Ein buntes Nest ist weder in der Kaserne noch im„Der heimatliche Raum zwingt zuanderer Arbeitsart“Kloster denkbar. Der Raum zwingt zu andrer Arbeitsart.“13 Durch das Raum-Arrangement selbstwerden die Kinder und ihr Lehrer in die Richtungdes reformpädagogischen Zieles geführt: hin zuGruppenarbeit und selbstbestimmtem Üben, zuspontanem, direktem und situativem Lernen in derPraxis: Der heimatliche Raum zwingt zu andererArbeitsart. 144. Heimat im ZwangSo wünscht sich Steiger das, und so macht er esauch. Aber man sollte sich noch einmal vor Augenhalten: Die <strong>Schule</strong>, in der er sein Nest veranstaltet,ist eine normale Volks-<strong>Schule</strong> – also eine Zwangs-Anstalt. Viele: Eltern und Kinder sehen eigentlichnicht so recht ein, dass die Kleinen da hinein sollen.Von 1717 an, von der Einführung der Schulpflichtin Preußen also, dauert es eine ganze Zeit,genauer: gut 150 Jahre lang, bis sich diese neuePflicht überall durchsetzt. Viele Eltern ärgern sichzunächst, dass ihnen die Kleinen nicht mehr fürdie Kartoffel-Ernte und andere Arbeiten zur Verfügungstehen und sie tun alles, was sie können,um ihre Kinder – vor allem die Mädchen – vor soviel überflüssigem Lern-Zeug zu bewahren. Aber:Viel kann man da nicht machen. Schon zu ZeitenSteigers, erst recht bei uns heute weiß jedes Kind:jeder muss in die <strong>Schule</strong> – und wer nicht dahingeht,den holt dann eben in letzter Konsequenzdie Polizei. Und so ist es im Laufe der vergangenen200 Jahre dahin gekommen, dass aus einemzunächst eher randständigen System das zentrale,von vielerlei Mythen umgebene Ritual der Industriegesellschaftgeworden ist (Ivan Illich hat dasso genannt). Und die Orte und Räume, in denendieses mythenbildende Ritual stattfindet, sind insofernzunächst einmal Ausdruck eines staatlichüberwachten Zwanges: Dass eben alle in die <strong>Schule</strong>müssen. Diese Zwangs-Anstalt inszeniert Steigernun als Nest, in dem es behaglich undgemütlich ist – und der Widerspruchscheint ihm gar nicht bewusst zu sein.Sein Zwangs-Nest ist schlicht Heimat– die Behaglichkeit dieses Raumes verdecktseinen Zwangs-Charakter.5. Die WerkstattAber: Es gibt neben dem Kloster, der Kaserne unddem Nest noch einen weiteren Referenz-Ort, mitdem die <strong>Schule</strong> ganz traditionell verglichen wird:die Werkstatt (Abb. 3). Schon bei Comenius, im17. Jahrhundert also, wird die <strong>Schule</strong> ganz lapidardefiniert: Die <strong>Schule</strong> ist eine Werkstatt, heißtes da: „Schola est officina“, und das ist zunächstnoch ganz sachlich gemeint. „Die <strong>Schule</strong> ist eineWerkstatt, in welcher die jungen Gemüther zur Tugendgeformet werden.“ Für ihn ist die Werkstattnoch ein ganz selbstverständlicher Ort menschlicherArbeit. Das aber ändert sich mit zunehmenderModernisierung. Mit der Entstehung großer,moderner Manufakturen werden Handarbeit undWerkstatt zu kritisch gemeinten Gegenbildern, dieeiner als degeneriert erlebten Kultur vorgehaltenwerden – zum Beispiel bei Pestalozzi zu Beginndes 19. Jahrhunderts. Der wünscht sich <strong>Schule</strong>n,die wie Werkstätten immer vor Tätigkeit glühensollen, in denen auch immer Späne und Werkzeugeherumliegen – die also Zeugnis ablegen von Arbeitsfreudeund ununterbrochener Aktivität. 15Was da im Laufe des 19. Jahrhunderts entsteht,das ist ein Idealbild, ein Traum von der Werkstatt,die als Ort nicht entfremdeten menschlichen Arbeitensden Qualen der Fabrik entgegengestelltwird. Dieser Traum von der Werkstatt wird seitdem Beginn der Industrialisierung in ganz Europageträumt: die romantischen Nazarener in Romwollen – kurz nach 1800 – die Werkstätten dermittelalterlichen Künstler wiederbeleben; die englischearts-and-crafts-Bewegung nimmt deren Im-31


puls nach 1850 auf und gründet eigene, als Werkstättenorganisierte Kunsthandwerks-Betriebe;diese Betriebe wiederum werden zum Vorbild fürdie vielen kontinental-europäischen Reform-Unternehmungen,die sich um 1900 herum in Münchenund Köln, in Worpswede, Prag und Dessaufigurieren – um nur einige Orte zu nennen. Überallentstehen „Werkstätten“, in denen die alten Tugendendes vor-industriellen Fleißes mit der neuen,auf Massenfertigung angewiesenen Marktlageverbunden werden und in denen die dort tätigenMenschen ohne Zwang und Entfremdung zu einerneuen Haltung gegenüber Arbeit und Gesellschaftfinden sollen. 16 Und dieser Traumwird auch von den Schul-<strong>Architekten</strong>geträumt: immer häufiger erscheintdie Werkstatt als die entscheidendeBezugs-Imagination für die architektonischeGestaltung der <strong>Schule</strong>n – HeinrichTessenows Schulbauten in Dresdenbieten da ein Beispiel für viele.Spätestens mit den an Natur orientierten Argumentender Reformpädagogik jedoch weitetsich dieser Referenz-Rahmen noch einmal: hinzukommt nun die organisch verstandene Natur, diesich auch in den Bauten, auch in den Schul-Bautenwiderspiegeln soll. So wie das Lernen der Kinder,die Erziehung und überhaupt der Umgang derMenschen miteinander sich an Natur orientierensoll, so sollen nun auch die Schulbauten „natürlich“erscheinen. Dabei ist es durchaus unterschiedlich,was unter „Natur“ begriffen wird: diekann wild und edel im Rousseau’schen Sinne sein,sie kann aber auch elegant und künstlerisch verfeinertsein, wie der Jugendstil sich das vorstellt. Aufjeden Fall aber wird mit der Reform-Bewegungnach 1900 der Bezug auf eine irgendwie vorgegebeneNatur zu einem zentralen Argument.Gemeinsam ist all diesen modernen, seit dem Beginndes 20. Jahrhunderts entstandenen Konzepten,dass sie grundsätzlich mehr als früher von denKindern und ihren Bedürfnissen aus denken – dassdas Nest, aber auch die Werkstatt und erst recht„Wir bewegen uns in zum Teil sehr altenLinien der Imaginationsgeschichte und wirfällen mit der Wahl der Leit-Imaginationwichtige Vorentscheidungen“Die Werkstatt als Referenz-Raum der <strong>Schule</strong> wirdso zu einer Chiffre für einen umfassenden Reform-Anspruch, der Arbeit und Leben, Gestaltungsanspruchund Funktionalität zu verbinden versucht.Auch das Buch über „Schulkaserne oder Gemeinschaftsschule“von Jensen und Lamszus – manerinnere sich an die Polemik gegen das Potsdamder Erziehung – hat als Untertitel: „Ein Blick in ihreWerkstatt“ und betont damit den Arbeits- undProzess-Charakter der neuen Bemühungen umeine neue <strong>Schule</strong>.6. Die Naturder nach Natur-Vorgaben gestaltete Schulbau vorallem eine Aufgabe haben: den Kleinen das Lerneneinfacher und angenehmer zu machen. 17 Wieimmer man also <strong>Schule</strong> heute denkt: Als Klosteroder Kaserne – das tun wir kaum noch –, als Nestoder als Werkstatt, als organisches Gebilde oderals Stadt im Kleinen: Wir bewegen uns in zum Teilsehr alten Linien der Imaginationsgeschichte undwir fällen mit der Wahl der Leit-Imagination wichtigeVorentscheidungen darüber, was sich dannin der pädagogischen Wirklichkeit für die jüngereGeneration in diesen <strong>Schule</strong>n entwickelt.1 Vgl. Bilstein, Johannes: Hör-Räume – Seh-Räume.Zur Real- und Imaginationsgeschichte vonSchulbauten. In: Westphal; Kristin (Hrsg.): Ortedes Lernens. Beiträge zu einer Pädagogik desRaumes. Weinheim 2007. S. 95–120; vgl. Böhme,Jeanette (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinärenDiskurs. Wiesbaden: VS-Verlag2009.2 Grundlegend: Lange, Hermann: Schulbau undSchulverfassung der frühen Neuzeit. Weinheim,Berlin: Beltz 1967, bes. S. 83–134 zum Zusam-32


menhang von Schulverfassung und Schulbauim vormodernen Europa.3 Zur Herkunft des reformpädagogischen Zentral-Slogan„Vom Kinde aus“: Baader, Meike:Erziehung als Erlösung. Transformationen desReligiösen in der Reformpädagogik. Weinheim:Juventa 2005.4 Steiger, Willy: S’Blaue Nest. Erlebnisse und Ergebnisseaus einer vierjährigen Arbeit mit einerVolksschuloberstufe. Dresden 1925. repr.Frankfurt am Main: päd extra 1978, S. 3.5 Entwicklungslinien und Einzelbeispiele in: Stübig,Heinz (Hrsg.): Bildung, Militär und Gesellschaftin Deutschland. Köln: Böhlau 1994,z. B. S. 9–43 zur Gesamtentwicklung; präziseSkizze: Stübig, Heinz. Das Militär als Bildungsfaktor.In: Karl-Ernst Jeismann und Peter Lundgreen(Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte.Bd. III. München: Beck 1987.S. 362–377.6 Jensen, Adolf und Wilhelm Lamszus: Schul-Kaserneoder Gemeinschaftsschule. Berlin: Freiheit1921, S. 4.7 Ebda, S. 29.8 Frühe Lit. zur Schulhygiene: Lange, Hermann:Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit.Weinheim, Berlin: Beltz 1967, S. 317 Anm.10; zur Schulhygiene-Bewegung orientierend:Krei, Thomas: Gesundheit und Hygiene in derLehrerbildung. Strukturen und Prozesse imRheinland seit 1870. Köln: Böhlau 1995, bes.S. 16-54 zum politischen und sozialen Hintergrund;schöne Belege, polemisch zugespitztauf den militaristischen und völkischen Hintergrundder Schulhygieniker: Bendele, Ulrich:Krieg, Kopf und Körper. Frankfurt am Main,Berlin, Wien: Ullstein 1984, bes. S. 98–122;Skizze zur reformpädagogischen Kritik: Göhlich,Michael: Die pädagogische Umgebung.Weinheim: Beltz 1993, bes. S. 108–136; mitSchwerpunkt auf Bayern: Freyer, Michael: DasSchulhaus – Entwicklungsetappen im Rahmender Geschichte des Bauern- und Bürgerhausessowie der Schulhygiene. Passau: Rothe 1998,bes. S. 219–230.9 Schönes Beispiel für viele: Alfred Döblins Schilderungeneines Gymnasiums als „nüchternerSteinkasten“, „düsterroter Backsteinbau,schwer und freudlos“, eingezwängt zwischen„grauen Mietskasernen“: Döblin, Antigone;Beispiel für den unter Umständen auch großartigenEindruck ausgebauter <strong>Schule</strong>n auf einfacheKinder: Rosegger, Als wir zur Schulprüfunggeführt wurden.10 Zum Einfluss Nietzsches auf die Reformpädagogik:Niemeyer, Christian: Nietzsche in der Pädagogik?Weinheim: <strong>Deutscher</strong> Studien Verlag1998, Nietzsche; umfassend: Aschheim, StevenE.: Nietzsche und die Deutschen. Stuttgart,Weimar: Metzler 1996, bes. S. 86–129.11 Vgl. Anm. 4, Steiger [1925], repr. 1978, S. 59.12 Ebda., S. 60.13 Ebda.14 Skizze zur Verortung der Steiger’schen Didaktik:Zinnecker, Vorwort zum Reprint von Steiger,Nest, ebda., S. IX.15 Detaillierter: Bilstein, Johannes: Jenseitslandschaftenim pädagogischen Diesseits: Garten,Fabrik und Werkstatt. In: Gerold Becker, JohannesBilstein und Eckart Liebau (Hrsg.): Räumebilden. Seelze: Kallmeyer 1997. S. 19–52.16 Orientierend: Mundt, Barbara: Der Werkstättengedankeum 1900. In: Kunstchronik.39. Jg. (1986). S. 95–107, bes. S. 14–42, zurVor- und Gründungsgeschichte; zum mentalitärenHintergrund um 1900: Hepp, Carola:Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik undReformbewegungen nach der Jahrhundertwende.München: dtv 1987, bes. S. 159–178,zum Werkstatt-Gedanken; zum WorpswederBeispiel Heinrich Vogeler: Bilstein, Johannes:Jugendstil, Kommunismus, Reformpädagogik.In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung.Bd. 7. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. S. 1–36.17 Zu Grund-Imaginationen gegenwärtigen Schulbausvgl.: Kasper, Ernst: „Die müssen sich versteckenkönnen..“. In: Becker, Gerold; Bilstein,Johannes und Eckart Liebau (Hrsg.): Räume bilden.Seelze: Kallmeyer 1997. S. 195–207.33


Die Stadt als Bildungsraum.Anthropologische, pädagogische und bildungspolitischeBlicke auf Architektur und Sozialräumlichkeit 1Eckart Liebau1. Moderne oder Tradition?In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte es eineausführliche, heftige und kontroverse Debatteüber architektonische und städtebauliche Fragendes Wiederaufbaus der Städte gegeben, die nichtnur in der Profession der <strong>Architekten</strong>, sondernauch öffentlich mit großer Leidenschaft ausgetragenwurde. Modernisten und Traditionalisten bzw.Historisten hatten sich heftig gestritten. In denfünfziger Jahren wurden aus den Theorien undEntwürfen dieser Debatte dann die wieder aufgebautenbzw. neuen Städte: München, Nürnberg,Lübeck stehen für „Wiederaufbau“, Hannover,Frankfurt, Köln und West-Berlin für Neubau.Es war natürlich die Stunde der <strong>Architekten</strong> undder Stadtplaner. In der Nachkriegszeit und denfünfziger Jahren waren Städtebau und Architekturnotgedrungen zentrale Themen, in denen überdie Gestaltung der Zukunft gestritten wurde. DieFronten waren dabei noch ziemlich klar, im ganzen– wenn man die sechziger Jahre einbezieht – muss„Die Wünsche nach Glück … findenihren zentralen Ort in den eigenenvier Wänden. Die Folgen für denNachwuchs sind dramatisch“man wohl sagen, dass die Modernisten in der LeCorbusier- und der Bauhaus-Tradition, die aus derEmigration entweder ganz zurückgekehrt warenoder sich doch wieder für längere Zeit auch in der<strong>Bund</strong>esrepublik aufhielten, schließlich gewonnenhaben – mit zum Teil absurden Ergebnissen übrigens:Auf der Berliner Bau-Ausstellung des Jahres1957, dieser Musterschau des modernen Bauens,deren Ergebnis u.a. das Hansa-Viertel war, hatz.B. Hans Schwippert, einer der damals führenden<strong>Architekten</strong>, ein Hochhaus gebaut mit 61 Wohnungenund mit 61 Küchen im Innenraum, ohneAbzug, ohne Fenster, ohne direkte Belüftung undohne direkte Beleuchtung; der Beton der fünfziger,sechziger und siebziger Jahre ist ja nicht zufälligin der Jugendbewegung der frühen achtzigerJahre zu einem zentralen Bild für alles Falsche geworden.Und damit war keineswegs nur der Betonder kommerziellen Innenstadtpaläste und Einkaufstempel,damit war auch der Beton der neuenSiedlungen gemeint: Bremen Neue Vahr, HamburgMümmelmannsberg, Berlin Märkisches Viertel.Festzuhalten bleibt die damalige strikte Oppositionvon Tradition und Moderne, die Gegenüberstellung,der Kampf zwischen „Bewahrern“ und„Erneuerern“. Die Zeichen standen auf Modernisierung,auf Fortschritt für alle durch Fortschrittvon Wirtschaft und Technik; das hatten schließlichselbst die Sozialdemokraten mit dem GodesbergerProgramm anerkennen müssen.Städtebaulich schlug sich diese neue Bewegungvor allem darin nieder, dass das Konzept der Entmischungder Funktionen, der radikalen Trennungalso zwischen Arbeiten, Wohnen, Einkaufen undFreizeit nun zum leitenden Paradigmaavancierte. „Durch die Vorstellung, dassman die individuellen Ansprüche anWohlergehen, an Komfort, an Unterhaltung,auch an Luxus, viel besser und vielperfekter erreichen kann, wenn mandie herkömmlichen Bindungen des Bauensin der Stadt abstreift, entsteht einegrundlegend veränderte Situation. –Plötzlich erscheint es möglich, die ganzeStadt nach dem Grundsatz der Spezialisierung zuentwerfen und dabei eine erweitere künstlerischeFreiheit zu finden.“ 2 Die Grundideen zur modernenrationalen Stadt lagen spätestens seit den20er Jahren vor. So stellte Le Corbusier sich dieUmgestaltung des Zentrums von Paris vor: 3Eine der zentralen Folgen ist die Verwandlung derStraße zur Autostraße und die Explosion des Verkehrs.Zunächst wurden sie noch begeistert begrüßt,die Mopeds, die Fahrräder mit Hilfsmotor,die Goggomobile, Messerschmidt-Kabinenroller,BMW-Isettas, VW-Käfer etc. Zunächst auch wur-34


den die neuen Formen des Wohnens, die luftigenSiedlungen an den Stadträndern, die Reihenhäuserund Bungalows, die neuen Wohnblocks mit ihrenweitflächigen Abstands-Grüns begeistert aufgenommen:endlich Bewegungsfreiheit, endlich Luft,endlich Zentralheizung!Die räumliche Entmischung bedeutete freilichnicht nur Funktionstrennung, sondern zugleichauch soziale Entmischung. In den alten Viertelnder Städte blieben die Armen, Alten, die Studenten,es kamen die Ausländer. Die Bürger und ihreKinder verließen die verdichteten Viertel der Stadt;sie zogen an die Ränder oder gleich ins Umland– das kennen wir heute als den „Speckgürtel derStädte“.2. Kindheit und FamilieDie Funktionstrennung führte nicht nur zu denneuen Wohnformen der Familien; sie brachte aucheine wachsende Konzentration der Familien aufdie familiale Binnenwelt mit sich, die heute in denSozialwissenschaften unter dem Stichwort „Intimisierung“beschrieben wird; Richard Sennetthat in einer großen Studie die Geschichte diesesVorgangs untersucht. 4 Der private Lebensraumwird zum Fluchtpunkt des der feindlichen Umweltabgetrotzten Lebensglücks. Die Wünsche nachGlück und Zufriedenheit finden ihren zentralenOrt in den eigenen vier Wänden. Die Folgen fürden Nachwuchs sind dramatisch: Waren in denfünfziger Jahren größere Kinderscharen durchausnoch keine Seltenheit, so ist heute das Einzelkindoder das Geschwisterpaar die Norm.Dementsprechend rückt das Kind in das Zentrumder Aufmerksamkeit. Kinder laufen nicht mehr– gewissermaßen nebenbei – einfach mit im erwachsenenAlltag, sondern werden zum sinnstiftendenMittelpunkt der Familien – und damitoft genug überlastet. Auf dem einen oder denbeiden Kindern ruhen ja nicht nur die aktuellenHoffnungen der Eltern auf Lebensglück, auf ihnenruht zugleich die ganze Last der Zukunft, für diesie möglichst gut ausgestattet werden sollen. DaAbb. 1 | Traum einer Stadt ohne Chaos: Le CorbusiersPlan Voisin für das Zentrum von Paris35


die Eltern angesichts der Rasanz der gesellschaftlichen,ökonomischen, politischen und technologischenEntwicklungen wissen, dass das künftigeLeben der Kinder sich von ihrem eigenen erheblichunterscheiden wird, versuchen sie, ihren Kinderneine möglichst breite „Grundausstattung“ mit aufden Weg zu geben: das gilt schon materiell z.B.im Blick auf die Kinderzimmer, ihre Einrichtungund die Ausstattung der Kinder mit Spielzeug,Kleidung, Sportgeräten, Musikinstrumenten undmedialen Equipments; es gilt, noch wichtiger, vorallem auch im Blick auf die Ausstattung der Kindermit Kompetenzen und Titeln. Das betrifft nicht nurdie formelle schulische und berufliche Ausbildung,es betrifft auch alle nur denkbaren Zusatzausstattungen:Sport, Musik, Ballett usw. Nicht mehr dieFortsetzung der Vergangenheit, sondern die Ausstattungfür eine unbekannte, tendenziell gefährlicheZukunft steht dabei im Mittelpunkt.Dementsprechend sind es vor allem die traditionellenNormen und Werte „mittlerer Reichweite“, diebis in die fünfziger, sechziger Jahre als Sitten, Gewohnheiten,übliche Handlungsmuster, auch alsStereotype in den alltäglichen Lebensformen sedimentiertwaren, die sich in den Modernisierungsprozessenverflüssigen und damit verflüchtigen.„Das gehört sich nicht“ ist heute kaum noch sagbar;es wird zumindest begründungspflichtig. Undwir finden darum gerade in den Mittelschichtenzahllose Mütter und auch Väter, die ihren Kindernnach Maßgabe der jeweils neuesten Ratgeberliteraturin immer neuen verbalen Anläufen zu erklärenversuchen, wie sie sich und vor allem, warumsie sich in irgendeiner Weise verhalten sollen: diesich also zu ihren Kindern quasi-therapeutisch inBeziehung setzen, statt einen möglichst interessantenAlltag mit ihren Kindern zu leben, in demsie für die Kinder da sind, wenn sie gebrauchtwerden, und in dem dann auch die Kinder einfachKinder sein dürfen.Kinder sind erst einmal Kinder, also Neulinge, Ankömmlinge.Sie leben vor allem in ihrer Gegenwartund müssen dies auch dürfen. Lernen müssen sieohnehin. Denn sie müssen sich in jedem Einzel-fall die Dispositionen erst aneignen, die sie fürdie Bewältigung ihres gegenwärtigen Alltags undihrer individuellen Zukunft brauchen. Auch dafürbrauchen sie Zeit, Raum und vielfältige soziale Beziehungen.Dafür brauchen sie auch die Hilfe undUnterstützung von Erwachsenen, nicht zuletztdurch die <strong>Schule</strong>. Das Generationen-Verhältniswird durch die Modernisierung nicht außer Kraftgesetzt, auch wenn sich die Formen der Generationen-Beziehungenradikal gewandelt haben undweiter wandeln.3. Der öffentliche RaumManchmal kann man in alten Büchern Darstellungenfinden, die aus der Sicht der Gegenwart wieder Entwurf einer humanen Utopie erscheinen. Soging es mir bei der Lektüre von Jane Jacobs bereits1961 erschienener Studie über „Tod und Lebengroßer amerikanischer Städte“. Dort findet sichfolgende Beschreibung des Bürgersteigs:„Unter der scheinbaren Unordnung der altenStadt herrscht, wo immer sie gute Funktionenhat, eine wunderbare Ordnung, welche dieSicherheit der Straßen und die Bewegungsfreiheitin den Straßen gewährleistet. Es isteine sehr komplexe Ordnung. Ihr Wesen istein enges Ineinandergreifen verschiedener Benutzungsmöglichkeitender Bürgersteige, dieein ständiges Defilieren vieler Augen mit sichbringt. Diese Ordnung setzt sich zusammenaus Bewegung und Wechsel, und obwohl essich um Leben und nicht um Kunst handelt,könnten wir es als eine städtische Kunstformbezeichnen und einem Tanz vergleichen. DasBallett eines gut funktionierenden Bürgersteigsist an jedem Ort ein anderes, es wiederholt sichnie und wird an jedem Ort stets erneut mit Improvisationenangereichert. So ist der Teil derHudson Street, in dem ich wohne, jeden TagSzenerie eines vielgestaltigen Bürgersteig-Balletts.Ich selbst trete kurz nach acht auf, wennich den Abfalleimer hinaustrage. Das ist zwareine prosaische Beschäftigung, aber ich genießemeine Rolle, mein kleines Klappern, wäh-36


end die Züge der Schüler von der Junior HighSchool durch die Bühnenmitte ziehen und ihreBonbonpapiere fallen lassen. (Wie können sienur so viel Bonbons schon so früh am Morgenessen?)Während ich die Papiere zusammenfege, beobachteich das übrige Ritual des Morgens: Mr.Halpert schließt den Handwagen der Wäschereivon seinem Ankerplatz an der Kellertür los,Joe Cornacchias Schwiegersohn schichtet dieleeren Kisten aus dem Delikatessengeschäftvor der Tür auf, der Frisör bringt seinen Klappstuhlhinaus, die Frau des Verwalters aus demMietblock setzt ihren stämmigen dreijährigenSprössling auf der Treppe vor dem Haus ab, woer das Englisch lernt, das seine Mutter nichtsprechen kann. Die Volksschulkinder auf demWeg nach St. Luke laufen vereinzelt in südlicherRichtung vorbei, die Schulkinder für St.Veronica in westlicher und die Kinder für diePrepschool 41 in östlicher Richtung, Angestellteauf dem Weg zur Arbeit und Hausfrauen bevölkerndie Straße: der Tag hat begonnen. […]Stillstand und Bewegung, Leidenschaft und Vernunft,Kindheit und Erwachsenheit, die den Sozialraumder humanen Stadt ausmacht und die fürKinder, also auch für Erwachsene zuträgliche Stadtkonstituiert.4. Die neuen MischformenAuch wenn es wie eine Utopie klingen mag: Unterpostmodernen Bedingungen dürften die Chancen,diese Stadt für die Kinder und für die Erwachsenenwiederzugewinnen, vermutlich erheblich besserstehen als in den Zeiten des modernistischenFunktionstrennungswahns. Die Auswanderungaus den Städten hat sich mancherorts bereits wiederumgekehrt und einem Rückzug in die StädtePlatz gemacht. Das betrifft natürlich besonders diewieder funktionierenden, inzwischen saniertenQuartiere. Die Flächensanierung der sechziger undsiebziger Jahre ist in den achtziger und neunzigerJahren durch Objektsanierung abgelöst worden.Stadtplanung und Städtebau mühen sich, allenSchwierigkeiten und Widerständen zum Trotz, vielerortsum eine Wiederbelebung der Stadt. AuchWenn ich nach der Arbeit nach Hausekomme, steigert sich das Ballett.Es ist die Zeit des Rollschuh- und Stelzenlaufensund des Dreiradsports,des Einkaufens im Zickzack von einerStraßenseite zur anderen, vomLebensmittelladen zum Obststandund zurück zur Metzgerei; es ist dieStunde, in der sich die Teenager inschönster Aufmachung präsentieren und sichum heraussehende Unterröcke oder gutsitzendeKragen besorgt zeigen; es ist die Stunde, inder hübsche Mädchen aus den MGs steigen, inder die Feuerwehr durch die Straße braust; esist die Stunde, in der jeder, den man in der HudsonStreet kennt, vorbeikommen wird.“ 5Das ist keineswegs nachbarschaftlich-gemeinschaftlicheIdylle; es ist vielmehr die Mischung ausFremdheit und Vertrautheit, Nähe und Distanz,Öffentlichkeit und Privatheit, Arbeit und Spiel,„Stadtentwicklung, die Kinderngerecht werden will, wird also dermodernen Funktionstrennung …entschieden entgegenwirken müssen“das bürgerschaftliche Engagement, der Einsatzfür das eigene Viertel oder das eigene Quartier,hat deutlich zugenommen. Dafür sind auch neuepolitische Formen wie z.B. Stadteilforen erfundenworden. Auch den Kindern wird heute größereAufmerksamkeit geschenkt; mancherorts werdensie z.B. durch die Einrichtung von Kinderparlamenteno.ä. sogar systematisch an der politischen Meinungsbildungbeteiligt.Stadtentwicklung, die Kindern gerecht werdenwill, wird also der modernen Funktionstrennung37


von Arbeiten, Wohnen, Einkaufen, Freizeit mit ihrenirrwitzigen Konsequenzen für den Individual-Verkehr entschieden entgegenwirken müssen. DieStadt als Lebensraum für Kinder und Jugendlichemuss selbstverständlich kinder- und jugendspezifischeBereiche ausweisen, von den Kinderkrippenüber die Kindergärten bis zu den Jugendhäusernund <strong>Schule</strong>n. Sie muss aber vor allem dafür sorgen,daß die Stadtteile selbst wieder lebendig – undd.h. funktionsgemischt – werden. Hier entscheidetsich die alltägliche Lebensqualität. Das wirdin den Stadtrand-Quartieren anders aussehen alsin den zentrumsnahen innerstädtischen Mischgebietenund noch einmal anders im Zentrum selbst.Eindeutig ist aber, dass Kinder wohnungsnahenSpielraum brauchen, den sie dann im Heranwachsenzu Fuß, mit dem Fahrrad oder auch mit denSkatern (und nur im Ausnahmefall mit dem Autooder dem Bus) zum Streifraum erweitern können.Sie brauchen Zonen und Orte, wo sie sich mit denGleichaltrigen treffen und ihr eigenständiges Kinderlebenleben können. Sie brauchen alltäglicheBegegnungsmöglichkeiten mit bekannten und mitfremden Erwachsenen; sie brauchen also nicht nurprivates, sie brauchen vor allem auch dezentralesöffentliches Leben. Vielleicht bieten, zumal für dieStadtplanung, Mittelalter, Renaissance und die altenStadtviertel hier interessantere Modelle als dieModerne.5. Die Stadt als Modell der <strong>Schule</strong> und die<strong>Schule</strong> als Modell der StadtZur Frage der Teilhabe allerdings, die zugleich dieFrage nach der sozialen Gestalt einer kindertauglichenStadt aufwirft, dürften die historischenModelle nicht so viel zu bietenhaben. Hier müssen wir uns in derjüngsten Vergangenheit und in der Gegenwartumsehen; und manches wirdauch neu zu erfinden sein. Wir müssenpädagogisch und politisch also nach dentatsächlichen und den möglichen aktivenTeilhabeformen von Kindern und Jugendlichenfragen: am familiären und gesellschaftlichen, aucham geselligen Alltag, an er gesellschaftlichen Arbeitin ihren nicht bezahlten und auch in ihren bezahltenFormen, an lokaler Politik und Öffentlichkeit,an institutionalisierter Erziehung und Bildung,an Kunst und Kultur, an Religion und auch an Wissenschaft.Damit werden nicht nur politische undinstitutionelle Fragen aufgeworfen, sondern auchim engeren Sinne pädagogische. Z.B. erhält hierdas Verständnis der <strong>Schule</strong> als „Bildungsagentur“einen durchaus neuen Sinn; eine ihrer neuen Aufgabenist es, den Schülern außerschulische Teilhabe-und Mitwirkungsgelegenheiten als Lerngelegenheitenzu vermitteln, ihnen aber zugleich dennotwendigen Rückzugs- und Reflexionsraum zubieten.<strong>Schule</strong>n sind, wie Hartmut von Hentig einmal formulierthat, ein „Mittleres“, eine „Brücke“ zwischenden intimen Räumen der Familie und Privatheitund den öffentlichen Räumen von Gesellschaftund Politik. 6 Sie müssen also zu beiden Seiten offensein; die Bildung des Bürgers der großen Polis wirdin der kleinen Polis grundgelegt. Nicht die in derNeo-Reformpädagogik so verbreiteten Vorstellungenvon Intimität und Gemeinschaft können hierdas Leitbild bieten; es geht vielmehr um Zivilitätund Öffentlichkeit. Die Begegnung und den Umgangmit dem Fremden, dem fremden Wissen, derfremden Alltags- und Hochkultur, aber auch denfremden Menschen können Kinder und Jugendlichehier im noch geschützten Rahmen lernen.Darin besteht eine entscheidende Bildungsaufgabe.Denn am Umgang mit dem Fremden entscheidetsich nicht nur die Qualität der <strong>Schule</strong>,nicht nur die Qualität der Öffentlichkeit, sonderndie Qualität der Kultur und des Zusammenlebens„Vernünftige <strong>Schule</strong> also ist nicht nur‚pädagogische Provinz’, sie ist auch einTeil der Stadt“überhaupt. Vernünftige <strong>Schule</strong> also ist nicht nur„pädagogische Provinz“, sie ist auch ein Teil derStadt, dieses zentralen Ortes der Fremdheit und38


des Fremden: „Die Stadt“, schreibt Richard Sennett,„ist das Instrument nichtpersonalen Lebens,die Gussform, in der Menschen, Interessen, Geschmacksrichtungenin ihrer ganzen Komplexitätund Vielfalt zusammenfließen und gesellschaftlicherfahrbar werden… In dem Maße, wie die Menschenlernen können, ihre Interessen in der Gesellschaftentschlossen und offensiv zu verfolgen,lernen sie auch, öffentlich zu handeln. Die Stadtsollte eine <strong>Schule</strong> solchen Handelns sein.“ 7 Polis,città educativa, Lebens- und Erfahrungsraum füralle ihre Bürgerinnen und Bürger, auch die kleinen:„Um angenehm zu leben, muß man fast immerein Fremder unter den Leuten bleiben.“ (Frhr. v.Knigge 1790): Was das architektonisch bedeutenkönnte, das zeigt sich hier, im Schulbau HansScharouns, der sich am Modell der Übergänge zurStadt orientiert.1 Der Vortrag bildet eine stark gekürzte Fassungvon: Liebau, Eckart: Erfahrungswelt und Welterfahrung:die postmoderne Stadt und ihreKinder. In: Lehmann, Jürgen/Liebau, Eckart(Hg.): Stadt-Ansichten. Würzburg 2000,S. 293– 312.2 Feldtkeller, Andreas: Die zweckentfremdeteStadt. Frankfurt/M., New York 1994, S. 112.3 Ebda., S. 114.4 Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichenLebens. Frankfurt/M. 1983.5 Jacobs, Jane: Tod und Leben großer amerikanischerStädte. Frankfurt/M., Berlin 1953, S. 44 f.6 v. Hentig, Hartmut: Die <strong>Schule</strong> neu denken.München 1993.7 Vgl. Anm. 4, Sennett 1983, S. 382.39


Impressum<strong>Lernraum</strong> <strong>Schule</strong>.1. Marler Symposium zu Architektur & PädagogikDie Veranstaltung fand am 15. Mai 2008 in der Hans Scharoun-<strong>Schule</strong> in Marl statt.Herausgeber: <strong>Bund</strong> <strong>Deutscher</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>BDA</strong> RuhrgebietProjektleitung und Redaktion: Michael Kuhlemann, Björn Schreiter und Gunvar Blanck<strong>Bund</strong> <strong>Deutscher</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>BDA</strong> RuhrgebietGeschäftsführender VorstandVorsitzenderGunvar BlanckStellvertr. Stellvertr. Stellvertr.Frank Lohse Björn Schreiter Christiane VoigtGeschäftsstelleim stadtbauraumBoniverstraße 3045883 GelsenkirchenGeschäftsstellenleiterMichael KuhlemannGrafische Gestaltung und Satz: Zwobakk Industries, Mülheim an der RuhrGesamtherstellung: Buersche Druckerei Neufang KG, GelsenkirchenMit freundlicher Unterstützung der Wüstenrot Stiftung und des Fördervereinsder Musikschule der Stadt Marl e.V.© 2009 <strong>Bund</strong> <strong>Deutscher</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>BDA</strong> RuhrgebietFotonachweis: Die Aufnahmen der Hans Scharoun-<strong>Schule</strong> werden hier mit freundlicherGenehmigung des M:AI abgedruckt; die übrigen Fotos stammen aus den Archiven der Autoren.Umschlaggestaltung: Aula der Hans Scharoun-<strong>Schule</strong> in MarlJAHRESPARTNER DES <strong>BDA</strong> RUHRGEBIET 200940


Schriften zur Architektur im Ruhrgebiet

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