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DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi

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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />

<strong>ORDNUNG</strong><br />

begründet von Laurentius Siemer OP<br />

und Eberhard Welty OP<br />

Nr. 6/2001 Dezember 55. Jahrgang<br />

Wirtschaft und Soziales<br />

Editorial<br />

Wolfgang Ockenfels, Scharpings Kartoffeln<br />

und die Mediendemokratie<br />

Rainer Kreuzhof, Marktwirtschaft und Christentum<br />

– Widerspruch oder Notwendigkeit?<br />

Stephan Wirz, Unternehmensethik in einer<br />

liberalisierten und deregulierten Wirtschaft<br />

Detlef Grieswelle, Generationengerechtigkeit<br />

und Generationenpolitik<br />

Hans Heinrich Nachtkamp, Für ein Erziehungsentgelt<br />

Cornelius G. Fetsch, Vermögensbeteiligung.<br />

Grundlage moderner Wirtschafts- und Sozialpolitik<br />

Bericht und Gespräch<br />

Peter Schallenberg, Ethik und Rationierung.<br />

Probleme im Gesundheitswesen<br />

Manfred Spieker, „Gerechter Friede“. Zum<br />

Hirtenbrief der deutschen Bischöfe<br />

Joseph Cardinal Ratzinger, Zum Tode von<br />

Arthur F. Utz O.P.<br />

Besprechungen<br />

401<br />

404<br />

414<br />

424<br />

437<br />

447<br />

459<br />

467<br />

474<br />

475<br />

Herausgeber:<br />

Institut für<br />

Gesellschaftswissenschaften<br />

Walberberg e.V.<br />

Redaktion:<br />

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />

Heinrich Basilius Streithofen OP<br />

Bernd Kettern<br />

Redaktionsbeirat:<br />

Stefan Heid<br />

Martin Lohmann<br />

Edgar Nawroth OP<br />

Herbert B. Schmidt<br />

Günter Triesch<br />

Rüdiger von Voss<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Andrea und Hildegard Schramm<br />

Druck und Vertrieb:<br />

Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />

53708 Siegburg<br />

Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />

Die Neue Ordnung erscheint alle<br />

2 Monate<br />

Bezug direkt vom Institut<br />

oder durch alle Buchhandlungen<br />

Jahresabonnement: 49,- DM<br />

Einzelheft 10,- DM<br />

zzgl. Versandkosten<br />

ISSN 09 32 – 76 65<br />

Bankverbindungen:<br />

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(BLZ 380 500 00)<br />

Postbank Köln<br />

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(BLZ 370 100 50)<br />

Anschrift der<br />

Redaktion und des Instituts:<br />

Simrockstr. 19<br />

53113 Bonn<br />

Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323<br />

Tel. Institut: 0228/21 68 52<br />

Fax Institut: 0228/22 02 44<br />

Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />

Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />

Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />

Haftung<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />

Vervielfältigung nur mit<br />

besonderer<br />

Genehmigung der Redaktion<br />

401


Editorial<br />

Scharpings Kartoffeln und die Mediendemokratie<br />

Es war vor jenem 11. September, als Rudolf Scharping über seine Partnerschaft<br />

mit Gräfin Pilati verbreiten ließ: „Es wird keiner von uns beiden zu Hause sitzen,<br />

Kartoffeln schälen, Wäsche waschen und darauf warten, daß der andere<br />

endlich kommt.“ Zum Glück für den Verteidigungsminister, der Mallorca unterbrechen<br />

und in den Krieg ziehen mußte, ist keines der Medien auf diese familienfeindliche<br />

Entgleisung zurückgekommen: Nicht auf die Flugbereitschaft, die ihn<br />

nicht zu Hause sitzen ließ, sondern direkt in das Liebesnest beförderte; nicht auf<br />

das Kartoffelschälen seiner Ehefrau, die ihm drei Kinder geboren und aufgezogen<br />

hat; nicht auf die schmutzige Wäsche, die ungewaschen blieb, weil die Öffentlichkeit<br />

darauf wartete, daß endlich etwas anderes kommt.<br />

Es kam der 11. September (der nebenbei auch noch die sozialpolitische „Faulenzer“-Debatte<br />

überschattete und damit beendete) nicht nur als Macht der Ereignisse<br />

über uns, sondern als Übermacht der Medien und der Bilder. Wir und die<br />

Terroristen haben vielleicht nur zu viele apokalyptische Hollywood-Filme konsumiert.<br />

Einerlei ob im wirklichen Leben oder in der Fiktion, wir sehnen uns<br />

nach starken und immer stärkeren Reizen. Gegen internetbewaffnete terroristische<br />

Schwarmgeister hilft schließlich nur noch das Militär. Die ultima ratio wird<br />

zum ersten Gedanken. Und die moderne Aufklärung unter der Patronage der<br />

elektronischen Massenmedien ist kaum mehr in der Lage, sich an die Errungenschaften<br />

der mittelalterlichen Lehre vom „gerechten Krieg“ zu erinnern.<br />

Seit Erfindung der Buchdruckerkunst gehört freilich die Klage über den Machtmißbrauch<br />

und die Unmoral der Medien zu den Pflichtübungen jeder Kulturkritik.<br />

Bekannt sind vor allem die Wehklagen der Päpste über den von der Presse<br />

besorgten Verfall von Religion und Sitte. Weniger bekannt hingegen sind die<br />

radikalen pressekritischen Äußerungen, die aus dem 19. Jahrhundert von Arthur<br />

Schopenhauer, Richard Wagner und Sören Kierkegaard überliefert sind. Im letzten<br />

Jahrhundert war es vor allem Karl Kraus, der der Presse einen unerbittlichen<br />

Kampf ansagte. Seine polemisch-satirischen Abrechnungen mit der liberalen, zu<br />

allen Schandtaten fähigen „Journaille“ durchziehen sein gesamtes Lebenswerk,<br />

haben literarisch Schule gemacht und ihre reinigende Wirkung auf den journalistischen<br />

Sprachstil und Anstand nicht ganz verfehlt. Aus heutiger Sicht erscheint<br />

es allerdings reichlich übertrieben, in der Presse den Inbegriff des Kulturverfalls<br />

zu erblicken - oder sie sogar für die Entstehung von Kriegen verantwortlich zu<br />

machen, wie es Kraus mit Blick auf den ersten Weltkrieg und die „Letzten Tage<br />

der Menschheit“ getan hatte.<br />

Im elektronischen Zeitalter hat Kraus keinen ebenbürtigen Nachfolger gefunden.<br />

Aber seinen Spuren folgt auf soziologischen Wegen Neil Postman, der im Umgang<br />

mit der amerikanischen Fernsehwirklichkeit zu einer äußerst kulturpessimistischen<br />

Einschätzung der Medienwirkung gekommen ist. Schon die Titel<br />

402


seiner bekanntesten Bücher („Das Verschwinden der Kindheit“, „Wir amüsieren<br />

uns zu Tode“) sprechen aus, für wie böse er die Macht des Fernsehens hält. Kritiker<br />

werfen ihm maßlose Übertreibung vor und verweisen auf die ambivalenten<br />

Ergebnisse der empirischen Medienwirkungsforschung, die noch in den Kinderschuhen<br />

steckt.<br />

Inzwischen wird darüber gerätselt, wie stark die Bild-Medien in Form und Inhalt<br />

auf die Politik abfärben. Für Gerhard Schröder entscheidend sind „Glotze und<br />

Bild-Zeitung“. Als Repräsentant der Mediendemokratie weiß er, daß es nicht<br />

mehr auf Kirchen, Wirtschaftsverbände und soziale Bewegungen ankommt, sondern<br />

diese nur dann politisches Gewicht erhalten, wenn sie sich von den Massenmedien<br />

ins rechte Bild setzen lassen und dabei eine gute Figur machen.<br />

Noch vor jeder Prüfung inhaltlicher Botschaften, die das Fernsehen verbreitet,<br />

muß in Frageform angenommen werden: Wird durch das Prinzip „Bild vor<br />

Wort“ ein neuer Analphabetismus gefördert? Lähmt die suggestiv-faszinierende<br />

Kraft sich bewegender farbiger Bilder die kritische Rationalität? Hängt die gefühlsgeladene,<br />

mythenüberfrachtete, magiesüchtige Harry-Potter-New-Age-Bewegung<br />

mit einem übersteigerten Fernsehkonsum zusammen? Überlagert das<br />

kurzweilig Unterhaltende die Information? Wird Sachbezogenheit durch Personalisierung<br />

ersetzt, Gründlichkeit durch Schnelligkeit zunichte gemacht? Führt<br />

es zu einer oberflächlichen Ästhetisierung der Politik, wenn nur telegene Politiker<br />

zum Zuge kommen, die in wenigen Schlagworten sekundenschnell sagen<br />

können, worauf es ihnen ankommt? Wird dabei die Nüchternheit dem Zwang<br />

zum Dramatisieren geopfert? Geraten Tradition und Geschichtsbewußtsein unter<br />

die Räder einer sensationellen Aktualität?<br />

Immer mehr wird die Politik auf Fernsehformat zugeschnitten und heruntergebogen:<br />

Inszenierung statt Sache, Design statt Sein, Theater statt Textbuch. Die<br />

Talkshow wird wichtiger als die Kabinettssitzung. Die Mediendemokratie verheißt<br />

Spannung und Spaß und fürchtet nur einen Vorwurf, nämlich langweilig zu<br />

sein. Zweifellos eignet sich das Fernsehen bestens zur entmündigenden Manipulation<br />

und zur gefühlsduseligen Propaganda. Daß dieses Medium eine gesellschaftliche,<br />

ökonomische und politische Macht darstellt, ist kaum zu bestreiten,<br />

am wenigsten von denen, die sie organisatorisch und journalistisch handhaben.<br />

Aber die Macht- und Moralfrage darf nicht nur an die Medienproduzenten gestellt<br />

werden. Ebenso angesprochen ist das verantwortliche Handeln der Medienkonsumenten.<br />

Denn das Publikum muß sich nicht alles gefallen lassen. Vor<br />

allem aber bedarf es der Medienpädagogik in Kirche, Familie und Schule, damit<br />

die Bürger schon von Kindsbeinen an lernen, wie man abschalten und dann auch<br />

erfahren kann, daß es jenseits der Fernsehwirklichkeit noch eine andere gibt.<br />

Der größte Angriff auf die westliche Zivilisation ist ihre Selbstzerstörung durch<br />

Demontage von Ehe und Familie, befördert durch die Medien. Scharping bleibt<br />

leider nicht zu Hause sitzen, meinethalben vor dem Fernsehen, sondern sorgt<br />

weiter für Spannung. Seine Kartoffeln bleiben ungeschält, seine schmutzige Wäsche<br />

ungewaschen. Und wir warten darauf, daß es endlich anders kommt.<br />

Wolfgang Ockenfels<br />

403


404<br />

Rainer Kreuzhof<br />

Marktwirtschaft und Christentum –<br />

Widerspruch oder Notwendigkeit?<br />

I. Zur Notwendigkeit einer Berufs- und Arbeitsethik<br />

Im Bericht des Club of Rome wurde Anfang der 70er Jahre zum ersten Mal in<br />

vernehmbarer Form auf die sich entwickelnde Wirtschafts-, Umwelt und Gesellschaftskrise<br />

unserer Zeit hingewiesen. 1 In vielen Industrieländern haben wir seither<br />

mit einer dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Parallel dazu kommt<br />

es immer wieder zu Hungerkatastrophen in der Dritten Welt. Auch Fragen permanenter<br />

Umweltzerstörung und immer knapper werdender Ressourcen sind<br />

kennzeichnend für die Zeit, in der wir leben. Und schließlich zeigen sich auch<br />

große Probleme in der Gesellschaft, wie Drogenkonsum, Zerfall der Familie und<br />

vieles andere mehr. Mit diesem Einschnitt hat sich quasi unser gesamtes Weltbild,<br />

von dem bisher optimistischen Fortschrittsglauben zu einem eher pessimistischen<br />

Weltverständnis gewandelt. Wie konnte es dazu kommen? Bis dahin<br />

war doch unser westliches Wirtschaftssystem so außerordentlich erfolgreich.<br />

Wie ist also einerseits der enorme wirtschaftliche Erfolg der Vergangenheit und<br />

andererseits das Marktversagen in der Moderne zu erklären? Bei genauerer Betrachtung<br />

wird deutlich, daß bei aller Veränderung in der Neuzeit und Aufklärung<br />

die christliche Kultur mit ihren moralischen Werten bis in die Nachkriegszeit<br />

fortwirkte. Beispiele dafür sind kaufmännische Verhaltensregeln oder das<br />

Eigentumsrecht des Grundgesetzes. 2 Der Wettbewerbsgedanke konnte demzufolge<br />

seine positiven Konsequenzen voll entfalten, da im Hintergrund die chris tliche<br />

Moral und Moralität für ein faires Verhalten sorgte. Das Eigentumsrecht, so<br />

wie es im Grundgesetz verankert ist, basiert dabei im wesentlichen auf den Vo rstellungen<br />

des Thomas von Aquin. Zwar ist auch hier das Eigennutzdenken Ausgangspunkt<br />

für die Rechtfertigung des Privateigentums, anders aber als bei Adam<br />

Smith sind hier nicht natürliche Wirtschaftsgesetze der Ausgangspunkt, denen<br />

der vernunftbegabte und autonome Mensch (Freiheit) unterworfen ist (Determinismus),<br />

vielmehr wird einem verantwortungslosen Gebrauch die Sozialverpflichtung<br />

des Eigentums gegenübergestellt.<br />

In neuerer Zeit erleben wir eine zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche.<br />

Dabei wird ökonomisches Nutzendenken auf immer neue Felder wie Bildung,<br />

Kultur, Gesundheit und sogar Kirche übertragen. Der Lebensvollzug verengt<br />

sich zunehmend auf die ökonomischen Kategorien Arbeit und Konsum. 3<br />

Dementsprechend brechen traditionelle kirchliche Bindungen im Zuge eines<br />

extremen Individualismus bzw. Hedonismus ab und christliche Werte werden<br />

sukzessiv aus der Öffentlichkeit verdrängt. In der Folge pervertiert schließlich<br />

der Wettbewerbsgedanke, und weder staatliche Wirtschaftssteuerung noch neoliberale<br />

Konzepte der Stärkung des Wettbewerbs können die wachsende Krisen-


entwicklung verhindern. Auch die seit einiger Zeit diskutierten humanistischen<br />

Wirtschaftsethiken sind aufgrund ihres individualistischen Menschenbildes und<br />

der mangelhaften Berücksichtigung der Moralität außerstande, wirksam zu werden.<br />

Beispielsweise in der sogenannten „Anreizethik“ des Wirtschaftsethikers Karl<br />

Homann soll das Marktversagen dadurch überwunden werden, daß Anreize für<br />

gute Zwecke gesetzt werden. 4 Hierzu gehören Anreizsysteme wie die Ausbildungsplatzabgabe<br />

und die ökologische Steuerreform. Aufgrund mangelnder<br />

inhaltlicher Bestimmung der Anreizziele kann es dabei allerdings auch zu einer<br />

Pervertierung der Moral kommen, wenn z.B. der Schwangerschaftsabbruch<br />

durch die Krankenkasse bezahlt, die Pflege des behinderten Kindes jedoch entsprechend<br />

der Kostenlage mit höheren Beiträgen belegt wird. Außerdem besteht<br />

in diesem Zusammenhang auch immer die Gefahr des Mißbrauchs von Anreizen,<br />

da die Frage der Moralität nicht gestellt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Förderung<br />

strukturschwacher Regionen, bei der Firmen wiederholt und systematisch<br />

Fördermittel für immer neue Standorte abfordern, ohne sich dauerhaft an einen<br />

dieser Orte zu binden. Von Karl Homann ist aber sicherlich zu lernen, daß es<br />

einen Zusammenhang zwischen Handlungs- und Gesellschaftstheorie dergestalt<br />

gibt, daß die Handlungen der Personen Einfluß auf gesellschaftliche Ereignisse<br />

haben und daß umgekehrt gesellschaftliche Regeln oder Institutionen als Bedingung<br />

des Handelns zu berücksichtigen sind. Statt einen Gegensatz von Gesinnungsethik<br />

und Anreizethik zu konstruieren, sollte auf betriebswirtschaftlicher<br />

Ebene die Unternehmensethik als Sozialethik eher um eine Berufs- und Arbeitsethik<br />

als Individualethik ergänzt werden, denn nur so kann ein Mißbrauch von<br />

Institutionen vermieden werden.<br />

Wenn hier bisher eher kritisch auf die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse<br />

eingegangen wurde, so soll damit keineswegs der freie Wettbewerb in Frage<br />

gestellt werden. Im Gegenteil, es gilt die positiven Kräfte der Marktwirtschaft zu<br />

stärken. 5 Wettbewerb und Nutzendenken werden aber zunehmend zur Grundlage<br />

eines ökonomistischen Weltbildes, das totalitäre Züge annimmt und einen missionarischen<br />

Charakter entfaltet. Ähnlich wie in der Vergangenheit das Weltbild<br />

der modernen Naturwissenschaften den christlichen Glauben in Frage stellte, so<br />

muß das Christentum heute eine Antwort auf diese Ökonomisierung aller Lebensbereiche<br />

finden. 6<br />

II. Einstellungen zu Beruf und Arbeit in der Moderne<br />

Welche Folgen hat nun aber die Ökonomisierung aller Lebensbereiche für die<br />

Einstellungen der Betroffenen zu Beruf und Arbeit im einzelnen? Die Beantwortung<br />

dieser Frage war Gegenstand eines gemeinsam mit Studierenden des Fachgebiets<br />

Personalwesen und Organisation der Fachhochschule Flensburg durchgeführten<br />

Lehr- und Forschungsprojektes. In einer explorativen Untersuchung<br />

wurden Einzelpersonen in ausgewählten Städten der Bundesrepublik Deutschland<br />

zu ihrem Berufs- und Arbeitsethos befragt. 7 Da die Betroffenen über Internet<br />

angesprochen wurden, liegt der Schwerpunkt der Antworten bei den jünge-<br />

405


en, männlichen und akademisch ausgebildeten Personen aus der Privatwirtschaft.<br />

Frauen, ältere Teilnehmer und solche mit Berufsausbildung bilden ebenso<br />

wie Selbständige und Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst eine beachtenswerte<br />

Minderheit.<br />

Die Untersuchungsergebnisse zeigen zunächst einmal ein durchaus positives<br />

Bild: So steht bei der Berufswahl die Eignung an erster Stelle und der Sinn der<br />

Arbeit wird vorzugsweise in der Selbstverwirklichung gesehen. Den Entscheidungsspielraum<br />

im Beruf schätzen die Teilnehmer eher hoch ein und die Übernahme<br />

von Verantwortung wird überwiegend als Alltäglichkeit und Freude<br />

wahrgenommen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß soziales Engagement<br />

und der Einsatz für die Ziele des Unternehmens oder der Kunden kaum<br />

eine Bedeutung haben. Auch bei den außerberuflichen Aktivitäten hat das Ehrenamt<br />

nur einen geringen Stellenwert. Diese Untersuchungsergebnisse spiegeln<br />

im wesentlichen den bereits seit längerem bekannten Wertewandel in Richtung<br />

Individualismus und Hedonismus wieder.<br />

Wie wirkt sich diese Entwicklung aber auf die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft<br />

aus? Hier zeigen die Ergebnisse der Befragung, daß die Leistung<br />

der Befragten sehr stark von der Anerkennung durch andere abhängt und<br />

die Betroffenen vielfach schnelle berufliche Erfolge benötigen, um die Motivation<br />

nicht zu verlieren. Als negative Einflußfaktoren wirken sich nach eigenen<br />

Angaben vor allem Mobbing und störende Einflüsse aus dem privaten Bereich<br />

aus. Hier zeigt sich die ganze Zwiespältigkeit des sogenannten Wertewandels.<br />

Obwohl die Betroffenen sich vorzugsweise als Individuum betrachten, sind sie<br />

sehr stark von sozialen Beziehungen abhängig. Die Folgen sind häufig mangelnde<br />

Ausdauer und Belastbarkeit.<br />

Entscheidend für die Bewältigung anstehender Probleme im Berufs- und Arbeitsleben<br />

sind aber vor allem die Einstellungen zu Moral und Moralität. Aus den<br />

Untersuchungsergebnissen wird deutlich, daß die Verantwortungsübernahme in<br />

besonderem Maße von der Nähe zur jeweiligen Person bzw. Institution abhängig<br />

ist. Verantwortung übernehmen die Befragten also in erster Linie für sich selbst<br />

und für die Familie. Bei Wertverletzung durch Vorgesetzte gelten öffentlich<br />

diskutierte Verhaltensweisen wie Ausländerfeindlichkeit und sexuelle Belästigung<br />

am wenigsten als tolerabel. Und bei der Frage nach den Gründen für verantwortungsloses<br />

Handeln im Beruf wurde überwiegend die humanistische Variante<br />

gewählt, nach der Verantwortungsbewußtsein eine Frage der Aufklärung ist.<br />

Bei genauerer Betrachtung lassen diese Ergebnisse Schwächen in der Gewissensbildung<br />

vermuten. So spricht einiges dafür, daß die Wertorientierung entweder<br />

von der sozialen Nähe oder der öffentlichen Meinung, und weniger von einer<br />

konsequenten Gewissensbildung abhängig ist. Die Vorstellung, daß Verantwortungsbewußtsein<br />

lediglich eine Frage der Aufklärung sei, ist naiv und unterstützt<br />

die These von der mangelhaften Gewissensbildung. Gerade bei Phänomenen wie<br />

Mobbing, die von den Befragten als besonders problematisch eingeschätzt werden,<br />

zeigen Rückfragen, daß dem Menschen durchaus eine Neigung zur Verantwortungslosigkeit<br />

zugeordnet wird.<br />

406


Abschließend sei noch auf das Verhältnis von Familie und Beruf sowie das Leben<br />

ohne Arbeit eingegangen. Hier zeigen die Befragungsergebnisse erneut den<br />

hohen Stellenwert der Familie, wobei diese nach Auffassung der meisten Befragten<br />

durch berufliches Verhalten beeinflußt wird. Die meisten jüngeren Teilnehmer<br />

haben darüber hinaus natürlich noch wenig über ein Leben ohne Arbeit<br />

nachgedacht. Wenn überhaupt werden bei Arbeitslosigkeit finanzielle Probleme<br />

gefürchtet, während der Ruhestand eher positiv besetzt ist. Diese Sichtweise<br />

bestätigt noch einmal das Bild von einer Berufs- und Arbeitswelt, die es zu konsumieren<br />

gilt. Für Orientierungsmuster wie Mühsal und Pflichterfüllung ist in<br />

dieser Welt kein Platz.<br />

III. Chancen einer christlichen Berufs- und Arbeitsethik<br />

Kann in dieser Situation eine christliche Berufs- und Arbeitsethik helfen, vorhandene<br />

Probleme aufzufangen, oder hat sie sich nicht längst überlebt? Bevor<br />

auf diese Frage eingegangen wird, muß noch einmal der Zusammenhang von<br />

Handlungs- und Gesellschaftstheorie angesprochen werden.<br />

Wenn wir uns hier einer Berufs- und Arbeitsethik als Individualethik zuwenden,<br />

so bedeutet dies nicht, daß der Wert der Sozialethik geleugnet wird. Im Gegenteil,<br />

die vorherigen Ausführungen sollten zeigen, daß beide Ansatzpunkte einander<br />

geradezu bedingen. Einerseits überfordern wir den einzelnen ohne sozialethisch<br />

begründete Rahmenbedingungen hoffnungslos und andererseits führt die<br />

fehlende individualethische Orientierung zu einer Perversion der zuvor genannten<br />

Rahmenbedingungen und auch des Wettbewerbs. Eine Berufs- und Arbeitsethik<br />

soll also den Wettbewerb mit seinen Anreizen nicht ersetzen, sondern liegt<br />

diesem voraus. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wer denn die sozialethisch<br />

begründeten Rahmenbedingungen durchsetzen soll bzw. was der einzelne Arbeitnehmer<br />

oder Arbeitgeber tun kann. Ohne veränderte Einstellungen und<br />

Handlungsweisen des einzelnen sind hier sicherlich keine Veränderungen zu<br />

erwarten. Wenn wir immer nur auf die politischen Handlungsträger warten wollen,<br />

sind die Zukunftsaussichten nicht allzu hoffnungsvoll.<br />

Wenden wir uns nun aber wieder den bestehenden Problemen zu, wie sie in der<br />

vorliegenden Untersuchung deutlich wurden. Ist die dieser Situation zugrunde<br />

liegende Entwicklung eigentlich nur negativ zu bewerten? Bei genauerem Hinsehen<br />

muß diese Frage mit nein beantwortet werden. Die Orientierung der Berufswahl<br />

an der Eignung und das Streben nach Selbstverwirklichung in der Arbeit<br />

stellen doch zunächst einmal eine Befreiung von Fremdbestimmung dar, und<br />

dies ist nicht nur positiv für den einzelnen, sondern ist auch notwendige Voraussetzung<br />

dafür, daß der Mitarbeiter sich vom Aufgabenerfüller zum Problemlöser<br />

entwickeln kann. Eine dynamische Wirtschaft aber, die die bestehende Krise<br />

überwinden will, benötigt verstärkt Problemlöser auf allen Ebenen. 8<br />

Ist aber andererseits die vorliegende Entwicklung nur positiv zu bewerten? Auch<br />

diese Frage muß – wie bereits bei der Darstellung der Untersuchungsergebnisse<br />

angedeutet – mit nein beantwortet werden. Wenn die Selbstverwirklichung nur<br />

individualistisch und hedonistisch verstanden wird, führt dies nicht nur zu per-<br />

407


manenten Frustrationen in Beruf und Arbeit, sondern der Wettbewerbsgedanke<br />

pervertiert und das Marktversagen ist vorprogrammiert. Arbeit ist nun einmal<br />

auch mit Mühsal verbunden, und Erfolge können nicht ohne Leistung erreicht<br />

werden. Mitarbeiter und Führungskräfte denken zwar ökonomisch konsequent,<br />

wenn sie letztlich auch die Arbeit als Konsumgut ansehen und nicht mehr den<br />

Unternehmenserfolg, sondern nur noch den persönlichen Erfolg anstreben, aber<br />

diese Strategie zahlt sich langfristig für keinen von uns aus. 9<br />

Wie ist aber nun die christliche Sicht von der Arbeit bzw. vom Beruf, und kann<br />

uns diese helfen, die bestehenden Probleme zu bewältigen? Papst Johannes Paul<br />

II. weist in der Enzyklika über die menschliche Arbeit „Laborem exercens“ darauf<br />

hin, daß Arbeit Teilnahme am Schöpfungswerk Gottes bedeutet. Im Schöpfungsbericht<br />

der Bibel wird der Mensch als Ebenbild Gottes beauftragt, die Welt<br />

in Heiligkeit und Gerechtigkeit zu regieren, um so das Schöpfungswerk Gottes<br />

im Rahmen seiner menschlichen Möglichkeiten weiterzuführen und zu vollenden.<br />

Der Mensch soll dabei Gott sowohl in der Arbeit als auch in der Ruhe nachahmen<br />

und damit alle Dinge, sich selbst und die gesamte Wirklichkeit in Beziehung<br />

zu Gott bringen. Diese Wahrheit hat besonders leuchtend Jesus Christus<br />

selbst herausgestellt, der einen großen Teil seines Lebens als Zimmermann arbeitete<br />

und auch seine Frohbotschaft nicht nur verkündet, sondern vor allem durch<br />

sein Wirken vollbracht hat. Schließlich bedeutet Arbeit unvermeidlich auch<br />

Mühsal, wie uns der Schöpfungsbericht lehrt. Vor dem Hintergrund von Kreuz<br />

und Auferstehung kann aber der Christ in seiner Arbeit einen kleinen Teil des<br />

Kreuzes Christi auf sich nehmen, um so im Licht der Auferstehung einen Schimmer<br />

des „neuen Himmels und der neuen Erde“ zu entdecken. 10<br />

Was bedeutet aber das bisher Gesagte ganz konkret für eine christliche Berufs-<br />

und Arbeitsethik? Besonders eindrucksvoll hat diese Sichtweise der Gründer des<br />

Opus Dei Josemaría Escrivá in seinem Programm der Heilung der Arbeit entfaltet.<br />

Ein christliches Leben vollziehen wir demnach nicht dadurch, daß wir der<br />

Arbeit den Rücken kehren, sondern indem wir sie in Beziehung zu Gott bringen.<br />

Dies bedeutet als erstes, daß wir unsere Arbeit heiligen, das heißt in diesem Fall,<br />

sie sachgerecht leisten, um so die Wirklichkeit im Sinne Gottes weiter zu gestalten<br />

und zu vollenden. Ein zweiter Aspekt ist der der persönlichen Heiligung in<br />

der Arbeit. In der Gegenwart Gottes arbeiten heißt also ständig „mit den Händen“<br />

beten. Damit ist der Beruf und die Arbeit vor allem auch ein Bewährungsort<br />

für Tugenden. Und schließlich können wir die Welt mit christlichem Geist<br />

durchdringen und somit heiligen. Diese Sicht führt zu einem Geflecht von aufrichtigen,<br />

uneigennützigen persönlichen Kontakten und Freundschaften. 11<br />

Nachdem wir eine Grundvorstellung von einer christlichen Berufs- und Arbeitsethik<br />

erhalten haben, gilt es nun, diese auf verschiedene Anwendungsbereiche zu<br />

übertragen. Hierzu können unsere Untersuchungsergebnisse noch einmal Ansatzpunkte<br />

bieten. Wie bereits gesagt, ist in Hinblick auf die Berufswahl positiv<br />

hervorzuheben, daß sich die meisten Befragten an der Eignung orientieren und<br />

nach Selbstverwirklichung in der Arbeit streben. Diese Einstellungen können die<br />

Basis für sachgerechtes Handeln und damit für die Heiligung der Arbeit bilden.<br />

Interessanterweise fehlt aber eine angemessene Orientierung darüber, mit wel-<br />

408


chem Ziel gearbeitet werden soll, denn bei der Berufswahl steht das soziale Engagement<br />

auf dem letzten Platz und es wird weder für die Ziele des Unternehmens,<br />

noch für die Kunden gearbeitet. Lediglich eine Minderheit arbeitet für das<br />

eher abstrakte Ziel einer „lebenswerten Welt“. Hat uns nicht die extreme Nutzorientierung<br />

in der Wirtschaft den Blick dafür versperrt, was denn sinnvolle<br />

Unternehmensziele sein können und daß Arbeit auch Dienst am Kunden bedeutet?<br />

Sachgerechtigkeit muß also auch danach fragen, was der Sinn meines Handelns<br />

als Arbeiter am Fließband einer Automobilfabrik, als Versicherungsvertreter<br />

oder als Manager ist. Wenn wir so fragen, werden wir in der Maschinenfabrik<br />

möglichst gute Arbeit leisten und Montagefehler vermeiden, auch ohne daß wir<br />

unmittelbar einen persönlichen Vorteil haben. Oder als Versicherungsvertreter<br />

werden wir dem Kunden die Versicherungen anbieten, die seiner Risikolage tatsächlich<br />

entsprechen, auch wenn wir den Betroffenen leicht zu mehr überreden<br />

könnten. Und schließlich werden wir als Manager nicht versuchen, den Mitarbeiter<br />

zu instrumentalisieren, sondern werden die Voraussetzungen schaffen, die<br />

notwendig sind, damit der Mitarbeiter optimale Leistung erbringen kann. Insgesamt<br />

stellt sich vor dem Hintergrund einer solch veränderten Sichtweise verstärkt<br />

die Frage, wozu jeder einzelne von uns berufen ist. Dies gilt sowohl für den<br />

Lebenstand als auch für den Beruf. Auch innerhalb einer dauerhaften Berufung<br />

können Neuorientierungen als „Berufung in der Berufung“ gefragt sein. So kann<br />

uns eine Unternehmenskrise ungewollt entweder zu einem besonderen Engagement<br />

als Betriebsrat oder als selbständiger Unternehmer herausfordern. In der<br />

Beantwortung dieser Fragen können wir den Sinn unseres Lebens auch in einer<br />

sich ständig ändernden Berufs- und Arbeitswelt immer wieder neu entdecken.<br />

Ist aber ein solches Berufs- und Arbeitsethos angesichts der ständigen Umbrüche<br />

in der Berufs- und Arbeitswelt nicht naiv? Der amerikanische Soziologe Richard<br />

Sennett zeigt doch gerade auf, daß die heutigen Flexibilitätsanforderungen langfris<br />

tige Zielorientierungen verhindern und in der Folge freundschaftliche bzw.<br />

familiäre Bindungen zerstören, so daß wir immer weniger einen Sinn in unserem<br />

Leben und in unserer Arbeit entdecken können. 12 Wenn wir uns die vorliegenden<br />

Untersuchungsergebnisse noch einmal anschauen, so erkennen wir aber, daß für<br />

die meisten Befragten Familie und Beruf gleichwertig sind, in fast der Hälfte der<br />

Fälle ist die Familie sogar wichtiger. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, daß<br />

sich bei der überwiegenden Zahl der Betroffenen das berufliche Verhalten<br />

durchaus auf das Familienleben auswirkt. Hier sollten wir bei allen Verständnis<br />

für die Wünsche der Unternehmen nach flexiblen Mitarbeitern nicht die Wechselwirkung<br />

zwischen Familie und Beruf aus dem Auge verlieren. Eine zu extreme<br />

und kurzfristige Nutzenorientierung bei den Unternehmen könnte uns in eine<br />

Situation bringen, in der letztlich sowohl die Unternehmen als auch die Mitarbeiter<br />

auf der Verliererseite stehen, da dann auch die Mitarbeiter nicht mehr den<br />

Unternehmenserfolg, sondern nur noch den persönlichen Erfolg anstreben. Woher<br />

sollen denn die Werthaltungen kommen, aus denen eine Unternehmenskultur<br />

entsteht, mit der sich die Mitarbeiter identifizieren können und in der die Personenwürde<br />

respektiert wird? Die Familie kann sich nur dann als Ort zur Vermittlung<br />

eines Berufs- und Arbeitsethos verstehen, wenn sie nicht durch die Verän-<br />

409


derungen in der Berufs- und Arbeitswelt in Frage gestellt wird. 13 Auch im Zusammenhang<br />

mit einem Leben ohne Erwerbsarbeit, also bei Arbeitslosigkeit und<br />

Ruhestand, ist nach einer angemessenen Sinnorientierung zu fragen. Zwar verweisen<br />

hier die Befragungsergebnisse nicht auf besondere Probleme, dies liegt<br />

jedoch daran, daß vorzugsweise jüngere Arbeitnehmer in gesicherter beruflicher<br />

Situation geantwortet haben. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen<br />

sollte jedoch deutlich geworden sein, daß Arbeit mehr ist als nur Broterwerb und<br />

daß wir alle gesellschaftlichen Anstrengungen unternehmen sollten, um Menschen<br />

die Möglichkeit zur Arbeit bieten zu können. Wenn wir dabei Arbeit nicht<br />

nur auf Erwerbsarbeit reduzieren und die soziale Sicherung im Auge behalten,<br />

bestehen vielleicht anderweitige Möglichkeiten, mehr Menschen eine sinnvolle<br />

Tätigkeit zu bieten. Lohnenswerte Aufgaben gibt es in unserer Gesellschaft sicherlich<br />

genügend. Die negativen Befragungsergebnisse bezüglich ehrenamtlicher<br />

Tätigkeiten fordern hier allerdings zu einer Neuorientierung auf.<br />

Als letztes ist schließlich noch nach dem Berufs- und Arbeitsleben als Bewährungsort<br />

für menschliche Tugenden zu fragen. Dabei gelten Klugheit, Gerechtigkeit,<br />

Tapferkeit und Mäßigung als grundlegende Kardinaltugenden. Die Klugheit<br />

versetzt uns vor diesem Hintergrund in die Lage, zu erkennen, was sinnvoll ist<br />

und wie wir es erreichen können, sie lenkt also unser Gewissensurteil. So können<br />

beispielsweise schlechte Arbeitsbedingungen zwar kurzfristig Kostenvorteile<br />

verschaffen, sind aber unklug, weil die Mitarbeiter letztlich ihre Leistungsbereitschaft<br />

bzw. Leistungsfähigkeit verlieren. Die Gerechtigkeit umfaßt demgegenüber<br />

den Willen, jedem das zu geben, was ihm zusteht. Hier zeigen die Ergebnisse<br />

der Internet-Befragung, daß insgesamt durchaus ein hohes Maß an Sensibilität<br />

gegenüber Wertverletzungen verschiedenster Art besteht. Bei der Tapferkeit als<br />

Fähigkeit, in Schwierigkeiten standzuhalten und im Erstreben des Guten durchzuhalten,<br />

bestehen bei den Befragten allerdings Probleme. So zeigen die Ergebnisse<br />

– wie bereits berichtet –, daß die Leistung sehr stark von der Anerkennung<br />

durch andere abhängt, und daß die Betroffenen vielfach schnelle berufliche Erfolge<br />

benötigen, um die Motivation nicht zu verlieren. Die Mäßigung schließlich<br />

sichert die Herrschaft des Willens über die Begierden. Ohne diese Tugend würde<br />

sich beispielsweise bei Managern das Streben nach Macht, Karriere und Gewinn<br />

im Falle von Unternehmenszusammenschlüssen grenzenlos und damit zerstörerisch<br />

auswirken.<br />

410<br />

IV. Spiritualität des Alltags<br />

Die bisherigen Überlegungen zur modernen Berufs- und Arbeitswelt mögen ja<br />

durchaus zutreffen, und die Hinweise zur christlichen Berufs- und Arbeitsethik<br />

vielleicht auch erbaulich sein, aber können sie uns im Alltag wirklich helfen? Im<br />

Kern fehlt es uns an einer individuellen moralischen Orientierung und einer<br />

Motivation, moralisch zu handeln. Sind aber individuelle Zielorientierung und<br />

Motivation nicht Gegenstand einer Vielzahl von Erfolgstrainingsangeboten mit<br />

und ohne esoterischer Ausrichtung? 14 Allerdings steht bei dieser Form der säkularen<br />

Spiritualität der Selbsterlösergedanke Pate, der letztlich zum Scheitern<br />

verurteilt ist. Aus christlicher Sicht sollten wir in einer solchen Situation daher


eher nach unserem geistlichen Leben fragen. Schon Benedikt wußte, daß „Beten<br />

und Arbeiten“ zusammengehören. Dabei geht es aber nicht um eine geistliche<br />

Technik, sondern um eine lebendige Beziehung zu Gott.<br />

Wie können wir aber ein geistliches Leben führen, das uns zu einem christlichen<br />

Berufs- und Arbeitsethos befähigt? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen<br />

hier einige Anregungen gegeben werden.<br />

An erster Stelle ist hier natürlich auf den Erfahrungswert der 3500 Jahre alten<br />

jüdischen Sabbat- und frühchristlichen Sonntagskultur hinzuweisen. Dabei haben<br />

wir schon aus dem Schöpfungsbericht und Dekalog erfahren, daß wir nicht nur<br />

an seinem Schöpfungswerk, sondern auch an seiner Arbeitsruhe teilhaben dürfen.<br />

Diese Zeit befreit uns auch aus der „Sklaverei“ jedweder Fremdbestimmung<br />

im Wirtschaftsleben und kann uns so geistige Quelle für ein christliches Berufs-<br />

und Arbeitsethos sein. Gerade durch den Gottesbezug entsteht eine Unverfügbarkeit,<br />

die uns davor schützt, uns selbst und unsere „Freizeit“ zu verzwecken<br />

und wirtschaftlichen Zielen zu opfern. 15 Die Vorstellung, daß dieser Freiraum<br />

uns geistige Quelle sein kann, erfahren wir aber nicht nur durch die Möglichkeit<br />

zur Erholung, zum Nachdenken und zur Gemeinschaft. In der Liturgie zur Gabenbereitung<br />

bei der Eucharistiefeier wird das Brot als Frucht der Erde und der<br />

menschlichen Arbeit dargebracht, das uns zum Brot des Lebens wird. Hier wird<br />

auf faszinierende Weise das wechselseitige Durchdringen von göttlicher Allmacht<br />

und freiem menschlichen Tun deutlich, das uns auch zur Quelle eines<br />

erfüllten Arbeitslebens werden kann. 16 Können nicht auch wir unsere Arbeitsergebnisse<br />

in all ihrer Bruchstückhaftigkeit und Unvollkommenheit bei dieser<br />

Gelegenheit in Gedanken vor Gott bringen und sie uns verwandelt wieder schenken<br />

lassen?<br />

Neben der gemeinschaftlichen Feier der Liturgie brauchen wir aber auch immer<br />

wieder Zeiten der Besinnung und des persönlichen Gebetes. So schlägt beispiels<br />

weise der Benediktinermönch Anselm Grün vor, daß wir vor allem schwierige<br />

Situationen des Berufslebens in einer Zeit der Stille vor Arbeitsbeginn<br />

durchbeten und damit vor Gott tragen können. Oft erfahren wir dabei, daß uns<br />

eine veränderte Sicht der Dinge geschenkt wird, die uns befähigt, neue Wege zu<br />

gehen. Dabei sind feste Zeiten und Rituale besonders hilfreich, weil sie Ordnung<br />

schaffen, Sinn stiften, Freude bringen und damit insgesamt eine heilende Wirkung<br />

erzeugen. Ebenso können wir Arbeitserlebnisse, die uns belasten, weil wir<br />

durch andere verletzt wurden oder andere verletzt haben, am Ende eines Arbeitstages<br />

oder einer Arbeitswoche Gott anvertrauen und ihn um Heilung und<br />

Vergebung bitten. In diesem Zusammenhang bietet vor allem die Buße und Ve rsöhnung<br />

als Sakrament der Heilung Chancen für eine Umkehr und Neuorientierung<br />

auch unseres Handelns in Arbeit und Beruf. 17<br />

Schließlich ist nicht zuletzt auch das Bibelstudium als geistliche Quelle für das<br />

Berufs- und Arbeitsethos zu nennen. Gerade durch das Wort Gottes können wir<br />

Kraft, Trost und Inspiration für den beruflichen Alltag bekommen. Wie oft wird<br />

hier von der Erfahrung menschlichen Scheiterns und göttlicher Gnade berichtet.<br />

Heute sprechen wir häufig von einer Zeit mit mangelnder moralischer Orientierung<br />

und Rückgang der christlichen Lebensführung. In Jesaja 58,12 finden wir<br />

411


eispielsweise vor einem ähnlichen geschichtlichen Hintergrund wie heute im<br />

Zusammenhang mit der Sabbatheiligung die folgende Aussage: „Deine Leute<br />

bauen die uralten Trümmerstätten wieder auf, die Grundmauern aus der Zeit<br />

vergangener Generationen stellst du wieder her.“ Können wir nicht auch ein<br />

christliches Berufs- und Arbeitsethos mit Gottes Hilfe wieder herstellen? Der<br />

Weg der Kirche durch die Zeit ist zwar immer wieder ein Auf und Ab gewesen,<br />

wir sollten heutige Krisen aber nicht als Niedergang begreifen, wie es manche<br />

Geschichtsideologie gerne glauben machen möchte. Wir müssen dabei nicht<br />

immer das Rad neu erfinden, wir dürfen auch von den Erfahrungen vergangener<br />

Generationen von Mitchristen lernen und somit in einer gemeinsamen Tradition<br />

leben.<br />

Für den Christen geht es aber nicht darum, trotz seiner Arbeit im beruflichen<br />

Alltag und in der Familie ein christliches Leben zu führen. Im Gegenteil, Beten<br />

und Arbeiten bedingen einander und beide gehören gleichermaßen zum christlichen<br />

Lebensvollzug. 18 Ohne unseren christlichen Glauben verzwecken zu wollen,<br />

können wir sagen, daß ohne Religion als Rückbindung auch unser Wirtschaftssystem<br />

nicht funktioniert.<br />

So plausibel die bisherigen Überlegungen auch sein mögen, die Schwierigkeit<br />

besteht heute darin, die vorherrschende anthropozentrische Orientierung zu überwinden<br />

und den Menschen zu einer christozentrischen Existenz zu befähigen und<br />

zu ermutigen. Streng genommen ist dies nichts anderes als die Beschreibung<br />

eines Bußaktes, ja einer Bekehrung im Sinne des Apostels Paulus. Damit ist<br />

auch die Frage nach einer „Evangelisation der Wirtschaft“ angesprochen. 19<br />

Ohne eine hinreichende Antwort auf diese Frage geben zu können, sollen hier<br />

noch folgende Ansatzpunkte genannt werden: Zunächst einmal verweisen beispielsweise<br />

Arbeitslosigkeit und Armut als Konsequenz des Marktversagens auf<br />

ein mangelhaftes Wirtschaften. Der hierbei entstandene Leidensdruck bietet<br />

wiederum die Möglichkeit – keineswegs aber die Sicherheit – zur Neuorientierung.<br />

Die Suche nach einer Wirtschaftsethik ist ein Beispiel dafür.<br />

Als nächstes können wir Christen im Sinne Pestalozzis durch Vorbild und Liebe<br />

zu einer Umkehr und Neuorientierung beitragen. Viele Fach- und Führungskräfte<br />

versuchen dies bereits in der Stille. Wir sollten diesen Weg – auch wenn unsere<br />

Erfolge immer nur bruchstückhaft sein können – nicht schamhaft verschweigen,<br />

sondern auch in der Wirtschaft unseren christlichen Standpunkt vertreten.<br />

Schließlich muß alle Hoffnung auf „Evangelisation“ angesichts der fortschreitenden<br />

Entchristlichung scheitern, wenn wir nicht auf das Handeln Gottes vertrauen.<br />

Deshalb ist beispielsweise das kleine Dorf Medjugorje in der Herzegowina<br />

so erstaunlich. Viele Menschen haben dort neu zum Glauben gefunden und<br />

wirken nun in den Gemeinden bzw. in der Gesellschaft.<br />

Anmerkungen<br />

1) Meadows, D. et. Al. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome<br />

zur Lage der Menschheit. Stuttgart.<br />

412


2) Steinhausen, G. (1912): Der Kaufmann in der deutschen Vergangenheit. Leipzig, S.<br />

114 f.; Grundgesetz Art. 14 und 15; Thomas von Aquin. (1985): „Summa Theologiae“<br />

(1266-1273), dt. Übersetzung (J. Bernhardt): Summe der Theologie, 3. Bd.: Der Mensch<br />

und das Heil, 3. Aufl. Stuttgart.<br />

3) Scheuch, E. K. (1999): Wider die Ökonomisierung aller Lebensbereich, in: Beckers, E.<br />

u.a. (Hrsg.): Hochschulausbildung im Aus? 2. Symposium des Professorenforums, Gießen,<br />

S. 141 ff.<br />

4) Homann, K. (1997): Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament<br />

aller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 21, S. 13 ff.<br />

5) Novak, M. (1998): Die katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 2. Aufl.<br />

Trier.<br />

6) Scheuch, E. K. (1999): a.a.O. und Tenbruck, F. H. (1984): Die Unbewältigten Sozialwissenschaften<br />

oder Die Abschaffung des Menschen, Graz/Wien/Köln, S. 52 ff.<br />

7) Befragungszeitraum 28.3. bis 2.4.2000, Antworten N = 118, E-Mail-Anfragen in den<br />

Städten: Kempten, Aachen, Kiel, Brandenburg, Rücklaufquote ca. 16%.<br />

8) Kreuzhof, R. (2000): Personalwirtschaft, in: Arens-Fischer, W.; Steinkamp, Th.<br />

(Hrsg.).: Betriebswirtschaftslehre, München/Wien, S. 234 ff.<br />

9) Kreuzhof, R. (1999a): Jenseits von Arbeit und Konsum. Ladenöffnungszeiten und die<br />

Arbeit an Sonn- und Feiertagen, in: Die Neue Ordnung, Heft 5, S. 377.<br />

10) Papst Johannes Paul II (1981): Enzyklika Laborem exercens über die menschliche<br />

Arbeit zum neunzigsten Jahrestag der Enzyklika „Rerum Novarum“, Castel Gandolfo,<br />

Rand-Nr. 25,26,27.<br />

11) Le Tourneau, D. (1988): Das Opus Dei. Kurzporträt seiner Entwicklung, Spiritualität<br />

und Tätigkeit, 2. Aufl. Stein am Rhein, S. 49 ff.<br />

12) Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, (dt.) 8.<br />

Aufl. Berlin 1998.<br />

13) Kreuzhof, R. (1999b): Ethische Grundlagen für ein erfolgreiches Personalmanagement,<br />

in: Beckers, E. u.a. (Hrsg.): Hochschulausbildung im Aus? 2. Symposium des Professorenforums,<br />

Gießen, S. 185 ff.<br />

14) Seiwert, L.J. (1999): Selbstmanagement. Persönlicher Erfolg, Zielbewußtsein, Zukunftsgestaltung,<br />

2. Aufl. Landsberg am Lech.<br />

15) Kreuzhof, R. (1999a): a.a.O. S. 378 f.<br />

16) Puhl, St. (1998): Zur Spiritualität der Arbeit, in: Die Neue Ordnung, Heft 6 1998,<br />

(Internet-Dokument) S. 3 f.<br />

17) Grün, A.: Mit Benediktus Christ sein, Radio Vatikan (Audio-Kassette); Derselbe<br />

(1997): Geborgenheit finden – Rituale feiern. Wege zu mehr Lebensfreude, Stuttgart S.<br />

145 ff.; Derselbe (1999): Vergib Dir selbst. Versöhnung – Vergebung. Münsterschwarzach.<br />

18) Puhl, St. (1998): a.a.O. S. 4 ff.<br />

19) Mein Dank für den Hinweis auf die Evangelisation der Wirtschaft gilt Pastor Bernhard<br />

Müller, Schleswig.<br />

Prof. Dr. Rainer Kreuzhof lehrt Personalwesen, Organisation und Wirtschaftsethik<br />

an der Fachhochschule Flensburg.<br />

413


414<br />

Stephan Wirz<br />

Unternehmensethik in einer liberalisierten und<br />

deregulierten Wirtschaft<br />

1. Das Unternehmen als eigener moralischer Akteur<br />

In den letzten 20 bis 30 Jahren ist innerhalb der Wirtschaftsethik eine Akzentverschiebung<br />

festzustellen: Dominierten im 19. Jahrhundert und über weite Strecken des<br />

20. Jahrhunderts volkswirtschaftliche Fragestellungen, z.B. die Auseinandersetzung<br />

um Kapital und Arbeit, Privat- und Kollektiveigentum (der Produktionsmittel) sowie<br />

Markt- und Zentralverwaltungswirtschaft, den wirtschaftsethischen Diskurs, so rükken<br />

seit den siebziger (USA) und achtziger Jahren (Europa) betriebswirtschaftliche<br />

Probleme in den Blickpunkt des wirtschaftsethischen Interesses. 1 Wohl nicht ganz<br />

zufällig ist bei dieser ethischen Akzentverlagerung eine gewisse Gleichzeitigkeit<br />

festzustellen sowohl mit der Ende der siebziger Jahre beginnenden „neoliberalen“<br />

Wende in der Wirtschaftspolitik der (westlichen) Industriestaaten als auch mit dem<br />

Niedergang des „real existierenden Sozialismus“: Ausgehend von den USA („Reaganomics“)<br />

und Großbritannien („Thatcherismus“) setzt sich in den achtziger und<br />

neunziger Jahren global eine Wirtschaftspolitik durch, die die Liberalisierung, Privatisierung<br />

und Deregulierung der Wirtschaft auf ihr Banner geschrieben hat, um damit<br />

den Staatseinfluß in der Wirtschaft zurückzubinden, die Wettbewerbsintensität zu<br />

steigern und die Handlungsspielräume der Unternehmen zu erweitern.<br />

Damit aber wächst den Unternehmen auch mehr Verantwortung zu – ein Umstand,<br />

der durchaus korrespondiert mit der stärker betriebswirtschaftlich, auf das Unternehmen<br />

fokussierten Wirtschaftsethik der letzten zwei, drei Jahrzehnte. Entsprechend<br />

der amerikanisch-angelsächsischen Herkunft dieser Business und Corporate Ethics-<br />

Ansätze steht die Wahrnehmung der Eigenverantwortung der Unternehmen im Zentrum<br />

der ethischen Überlegungen und nicht – wie es europäisch-kontinentaler Tradition<br />

entspricht – die Bändigung der neu hinzugewonnenen Handlungsspielräume<br />

durch staatliche Regulierungen. Angesichts dieser neueren wirtschaftlichen Entwicklung<br />

ist es daher fraglich, ob wirtschaftsethische Ansätze noch genügen können, die<br />

das Moralische in der Wirtschaft ausschließlich oder doch überwiegend über die<br />

Rahmenordnung sichern wollen. 2 Die Wirtschaftsethik muß zusätzlich das Unternehmen<br />

als eigenen moralischen Akteur anerkennen, 3 und von ihrem Selbstverständnis<br />

her es als eine ihrer vornehmen Aufgaben ansehen, die Unternehmen, insbesondere<br />

deren Management, bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung zu unterstützen.<br />

Auf die Herausforderungen, die sich daraus für die theologischen Ethik-Institute<br />

ergeben können, wird das letzte Kapitel dieses Aufsatzes noch näher eingehen.


Die strukturethische Ausgestaltung der Rahmenordnung ist trotz Deregulierung und<br />

Liberalisierung der Wirtschaft selbstverständlich weiterhin notwendig, 4 aber sie ist<br />

nicht hinreichend: Notwendig, weil die Rahmenordnung nicht zuletzt die ethischen<br />

Mindeststandards für die Unternehmen definiert und damit für alle Unternehmen die<br />

gleiche ethische Ausgangslage schafft. Ethisches Verhalten, soweit es von diesen<br />

Mindeststandards abgedeckt wird, erweist sich folglich als kostenneutral: Keiner<br />

kann sich legal durch Unterbieten dieser Standards einen Kostenvorteil verschaffen.<br />

Die strukturethische Ausgestaltung der Rahmenordnung allein ist aber nicht hinreichend:<br />

Dies wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, daß eine marktwirtschaftliche<br />

Rahmenordnung letztlich auf die Gewährleistung der wirtschaftlichen<br />

Handlungsfreiheit der Produzenten und Konsumenten abzielt, wie die Liberalisierungs-<br />

und Deregulierungspolitik der letzten Jahre nachdrücklich zeigt. Das heißt<br />

aber doch, daß eine auch unter den Prämissen der Ethik noch so gute Rahmenordnung<br />

gerade diese Handlungsfreiräume nicht einfangen kann und auch gar nicht<br />

einfangen will. Diese Handlungsfreiräume sind aber keineswegs ethisch indifferent.<br />

Zugespitzt formuliert: Nicht von der staatlichen Rahmenordnung, sondern von der<br />

unterschiedlichen (auch ethischen) Qualität der wahrgenommenen Handlungsfreiheit<br />

hängt z.B. das Innenleben eines Unternehmens ab: das kollegiale oder mißgünstige<br />

Klima einer Abteilung (Stichwort: Mobbing), das egozentrische oder den Mitarbeitern<br />

angemessene Führungsverhalten eines Vorgesetzten, das ethischen Gesichtspunkten<br />

Rechnung tragende oder aber sie vernachlässigende Beförderungs- oder<br />

Bonussystem eines Unternehmens. Mit diesen Problemstellungen sind die Menschen<br />

tagtäglich konfrontiert; hier ergeben sich auch für sie wichtige Anknüpfungspunkte,<br />

sich mit Ethik auseinanderzusetzen.<br />

2. Unternehmensethik als integraler Teil der Wirtschaftsethik<br />

Die Wirtschaftsethik kann in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung daher nicht<br />

ausschließlich auf eine Strukturenethik reduziert werden, sondern sie muß den verschiedenen<br />

Handlungsebenen Rechnung tragen und sie in ihren Ansatz integrieren.<br />

Hilfreich ist dabei die von Georges Enderle Mitte der achtziger Jahre getroffene<br />

Unterscheidung der Handlungsebenen in eine Mikro-, Meso- und Makro-Ebene, 5<br />

womit nicht nur die sehr differenzierten Anforderungen an eine Wirtschaftsethik,<br />

sondern auch die unterschiedlichen ethischen Verpflichtungen der Akteure zum<br />

Ausdruck kommen:<br />

- Die Makro-Ebene ist die Handlungsebene des Staates und der zunehmend bedeutend<br />

werdenden supranationalen Institutionen. Sie schaffen die nationalen bzw. internationalen<br />

Rahmenordnungen. Hier setzt die Strukturenethik an. Hier ist auch der<br />

richtige Ort, den Diskurs über die ethische Rechtfertigungsfähigkeit eines Wirtschaftssystems<br />

oder einer (supra)nationalen Wirtschaftsordnung zu führen. 6<br />

- Die Meso-Ebene ist u.a. die Handlungsebene der Unternehmen, die durch entsprechendes<br />

normatives, strategis ches und operatives Management ihrer Unternehmensbereiche<br />

ihre Wettbewerbsposition sichern bzw. ausbauen wollen. Hier liegt das<br />

primäre Aufgabengebiet der Unternehmens-(Organisationen-)ethik.<br />

415


- Die Mikro-Ebene ist die individuelle menschliche Handlungsebene. Wenn das<br />

Unternehmen auch als eigener moralischer Akteur aufgefaßt werden kann, wie<br />

Georges Enderle meines Erachtens zu Recht feststellt, 7 so darf doch auch nicht übersehen<br />

werden, daß die einzelnen Mitarbeiter nicht nur Funktionsträger des Unternehmens<br />

sind, die Entscheidungen des Unternehmens nach innen und außen loyal<br />

vertreten und durchsetzen, sondern auch im Unternehmen Individuen bleiben, die<br />

trotz der Einschränkung durch staatliche und firmeneigene Handlungsbedingungen<br />

noch über eigene Handlungsfreiräume verfügen. Ihre ethische Ausgestaltung interessiert<br />

die Individual-/Tugendethik.<br />

Auf jeder Ebene gibt es also Handlungsbedingungen (z.B. in Form von gesetzlichen<br />

Bestimmungen, einer vorgefundenen Marktsituation oder von persönlichen Charaktereigenschaften),<br />

aber auch Handlungsfreiheit, die es nun ethisch und ökonomisch<br />

sinnvoll zu nutzen gilt. Diese Handlungsfreiräume existieren auch auf der Ebene der<br />

Unternehmen, sonst wäre das Leitbild der Marktwirtschaft, das freie Unternehmertum,<br />

Makulatur, und es bräuchte – wenn alles dem Sachzwang unterliegen würde –<br />

auch keine betriebswirtschaftlichen Lehrgänge, vor allem nicht im Hinblick auf<br />

Unternehmensführung und Strategie. Ebenso wären dann all die Managementliteratur<br />

und die Unternehmensberater, die mehr oder weniger erfolgreiche neue unternehmerische<br />

Lösungen anbieten, obsolet. 8 Auf der anderen Seite überspielt dieser<br />

ethische Ansatz aber auch nicht die zweifellos vorhandenen (betriebswirtschaftlichen)<br />

Sachzwänge, deshalb geht er davon aus, daß für die Realisierung tragfähiger<br />

wirtschaftsethischer Lösungen meistens alle Handlungsebenen (nicht zuletzt auch die<br />

Makro-Ebene) miteinbezogen werden müssen. Weder die Strukturen-, noch die<br />

Unternehmensethik dürfen in den Fehler verfallen, sich zu verabsolutieren und alle<br />

wirtschaftsethischen Probleme nur noch via Rahmenordnung bzw. nur noch via<br />

Unternehmen lösen zu wollen. Es braucht also – wie es Thomas Hausmanninger in<br />

einem vergleichbaren Kontext einmal genannt hat – eine „konzertierte Aktion“ 9 , das<br />

Zusammenwirken aller drei genannten Ebenen. Im folgenden werden sich aber die<br />

Ausführungen auf die Meso-Ebene, die Handlungsebene der Unternehmen, beschränken.<br />

416<br />

3. Inhalte der Unternehmensethik<br />

Welche sittlichen Forderungen sind an die Unternehmen zu stellen? Die Bandbreite<br />

der unternehmensethischen Antworten auf diese Frage ist erheblich, wie die Ansätze<br />

von Karl Homann (als Vertreter einer ethischen Minimalposition) und Peter Ulrich<br />

(als Vertreter einer Maximalposition) exemplarisch zeigen. So komprimiert Karl<br />

Homann seine ethischen „Handlungsempfehlungen“ für die Unternehmen, unter der<br />

Voraussetzung einer funktionierenden Rahmenordnung, in die eine Forderung: „Die<br />

Akteure sollen sich systemkonform verhalten.“ 10 Das bedeutet für ihn ein Zweifaches:<br />

Erstens, „die Akteure sollen die Regeln der Rahmenordnung, die allgemeinen<br />

staatsbürgerlichen Regeln und die Regeln der Wettbewerbsordnung, befolgen“ und<br />

zweitens, „innerhalb dieser Regeln sollen die Unternehmen langfristige Gewinnmaximierung<br />

betreiben.“ 11 Dieser Minimalposition Homanns steht die Forderung Peter<br />

Ulrichs diametral gegenüber, Unternehmensentscheidungen und deren Durchführung


vom Konsens der davon betroffenen Anspruchsgruppen abhängig zu machen. Alle<br />

„stakeholders“ haben das „moralische Recht“ „zur Einmischung in die Unternehmenspolitik“.<br />

„Die Unzumutbarkeit dieser Ansprüche muß von der Unternehmensleitung<br />

vor der Öffentlichkeit begründet werden.“ 12<br />

Stellt sich bei Homann die bereits eingangs angesprochene Frage, ob die Moral in der<br />

Wirtschaft sich wirklich allein durch eine (noch so ideale) Rahmenordnung garantieren<br />

läßt, rufen bei Ulrich die intensiv zu führenden Begründungs- und Konsensdiskurse<br />

zwischen Unternehmen und ihren Anspruchsgruppen Zweifel an ihrer Durchführbarkeit<br />

innerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems hervor. Für den unternehmerischen<br />

Alltag muß ein tragfähigerer, d.h. ein „gemäßigter Anspruchsgruppen-<br />

Ansatz“ entwickelt werden. 13 Entsprechend den ethischen Kriterien der individuellen<br />

Angemessenheit, Sozial- und Umweltverträglichkeit (Nachhaltigkeit) wird zwar auch<br />

die Verantwortung der Unternehmen gegenüber Einzelpersonen (z.B. Konsument,<br />

Mitarbeiter), Unternehmen (z.B. Lieferanten-, Kundenfirma), der Gesellschaft und<br />

der Natur einzufordern sein, doch unter Berücksichtigung der originären Unternehmenszwecke<br />

(Bedarfsdeckung und Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit), der grundsätzlichen<br />

Entscheidungskompetenz der Unternehmen und der Fragmentierung unternehmerischer<br />

Macht und Verantwortung innerhalb eines dezentral wirkenden<br />

marktwirtschaftlichen Systems.<br />

4. Implementierung der Unternehmensethik<br />

Die Inhalte der Unternehmensethik müssen dort implementiert werden, wo Unternehmensentscheidungen<br />

gefällt und in konkrete Handlungen umgesetzt werden. Wie<br />

kann der „ethische Anwendungsfall“ systematisiert werden angesichts der fast unüberschaubaren<br />

Vielzahl und auch Vielfalt der getroffenen unternehmerischen Entscheidungen<br />

und Handlungen? Ein taugliches Mittel dazu ist die horizontale und<br />

vertikale Strukturierung dieser Entscheidungs- und Handlungsorte:<br />

Die horizontale Strukturierung orientiert sich an der Wertschöpfungskette. Jede unternehmerische<br />

Entscheidung und Handlung hat dort ihren bestimmten Platz. Jede<br />

läßt sich einem der Bereiche Forschung und Entwicklung, Einkauf, Produktion,<br />

Verkauf oder Verwaltung (Controlling, Personal, Öffentlichkeitsarbeit) zuordnen. Je<br />

nach Ort in der Wertschöpfungskette (ob im gentechnologischen Forschungslabor<br />

oder in der Werbeabteilung eines Pharma-Konzerns) ergeben sich bei der Einlösung<br />

ethischer Kriterien je eigene unternehmensethische Fragestellungen mit Schnittstellen<br />

zu anderen ethischen Forschungsgebieten und anderen Wissenschaften.<br />

- Die Entscheidung sowie die Auslösung von Handlungen sind Management-<br />

Aufgaben. Deshalb lassen sich unternehmerische Entscheidungen und Handlungen<br />

nicht nur nach ihrem Ort in der Wertschöpfungskette unterscheiden, sie gehören auch<br />

(im Sinne einer vertikalen Strukturierung) einer der drei verschiedenen Dimensionen<br />

des Managements an: der normativen, der strategischen oder der operativen Dimension.<br />

Normatives Management beschäftigt sich mit den generellen Zielen der Unternehmung,<br />

mit Prinzipien, Normen, Spielregeln, die die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit<br />

des Unternehmens ermöglichen sollen und sich in Unternehmensverfassung,<br />

-politik und -kultur niederschlagen. Strategisches Management zielt auf den Aufbau,<br />

417


die Pflege und die Ausbeutung von Erfolgspotentialen mittels Einsatz entsprechender<br />

Ressourcen. Operatives Management befaßt sich mit der praktischen Umsetzung der<br />

normativen und strategischen Vorgaben mittels zielführender Operationen. 14<br />

Verbindet man nun die horizontale und vertikale Struktur miteinander, lassen sich die<br />

Entscheidungs- und Handlungsorte des Unternehmens in Form einer Matrix-Struktur<br />

darstellen:<br />

Gesamtunternehmen<br />

F&E<br />

Einkauf<br />

Produktion<br />

Verkauf<br />

Verwaltung<br />

418<br />

normatives Mgt strategis ches Mgt operatives Mgt<br />

Für eine systematische Implementierung der Unternehmensethik heißt dies: Unternehmensethik<br />

muß in alle Bereiche und Management-Dimensionen hineinwirken,<br />

damit die gesamten Unternehmensprozesse ethisch ausgestaltet werden können. 15 In<br />

der technischen Qualitätssicherung ist seit längerem die „end-of-the-pipe“- Nachbesserung<br />

zugunsten einer stetigen Qualität der Herstellungsprozesse in den Hintergrund<br />

gedrängt. Genauso muß es auch bei der Unternehmensethik der Fall sein: weg von<br />

punktuellen Korrekturmaßnahmen, hin zu einer ethischen Gesamtqualität der Prozesse.<br />

Das Beispiel der technischen Qualitätssicherung zeigt übrigens sehr schön, wie<br />

unternehmerische Handlungsbedingungen (Übernahme staatlicher technischer Normen)<br />

und unternehmerische Handlungsfreiheit (Aufbau eines Qualitätsmanagements<br />

als Summe aller qualitätssichernden Maßnahmen des Managements) sich positiv<br />

ergänzen können. Entsprechendes gilt für die Strukturen- und Unternehmensethik.<br />

Neben der strukturethisch ausgestalteten staatlichen bzw. supranationalen Rahmenordnung<br />

muß die Unternehmensethik zu einem Element des normativen, strategischen<br />

und operativen Managements entfaltet werden, sowohl im Hinblick auf das<br />

Gesamtunternehmen als auch im Hinblick auf die einzelnen Bereiche. Dies ist kein<br />

leichtes Unterfangen: Während die Unternehmensethik sich beim normativen Management,<br />

also beim Aufstellen von Unternehmensverfassungen, Leitbildern und Ve rhaltenskodizes,<br />

16 in vertrauter Umg ebung befindet und sich aufgrund der begrenzten<br />

betriebswirtschaftlichen Auswirkungen auch noch im „geschützten Gelände“ aufhält,<br />

muß sie innerhalb des strategischen und operativen Managements Lösungen entwickeln,<br />

die das Gute mit dem ökonomischen Erfolg verknüpfen. 17<br />

Die Unternehmensethik wird nur Element dieser beiden wichtigsten Management-<br />

Dimensionen, wenn es ihr gelingt, die Chefetage der Unternehmen von der betriebswirtschaftlichen<br />

Plausibilität ihrer Argumentation zu überzeugen. Daß das keineswegs<br />

unter dem Anspruch des Ethischen liegen muß, wird im Verweis auf die Scholastik<br />

deutlich, die das Nützliche (utile) nebst dem Ehrbaren (honestum) und Erfreu-


lichen (delectabile) zu den drei Eigentümlichkeiten des Guten zählt. 18 Zwei Beispiele<br />

mögen dies illustrieren:<br />

- Im Rahmen des strategischen Managements eines Unternehmens kann ein unter<br />

ethischen Gesichtspunkten hochwertiges Produkt bzw. Produktionsverfahren gezielt<br />

zu einer – wie es im Marketing heißt – „unique selling proposition“ aufgebaut werden,<br />

d.h. der Konsument weiß um diesen ethischen Bestandteil und fragt daher bewußt<br />

dieses Produkt nach. Eventuell ist er auch dazu bereit, dafür einen höheren<br />

Preis aufzuwenden. Durch dieses Produkt bzw. Produktionsverfahren kann das<br />

ethisch innovative Unternehmen sich gegenüber seinen Konkurrenten deutlich abheben.<br />

Sein ethisches Verhalten generiert nicht Mehrkosten, sondern Mehrertrag. In<br />

diese Kategorie fallen nicht nur Bioprodukte, sondern z.B. auch ressourcenschonende<br />

High-Tech-Fabrikate.<br />

- Im Rahmen des operativen Managements können ethischen Verhaltensstandards,<br />

die zuvor im Leitbild (normatives Management) definiert wurden (z.B. soziale Kompetenz<br />

der Führungskräfte und Mitarbeiter, Kundenorientierung, fairer Umgang mit<br />

Lieferanten), 19 in der Praxis Geltung und Nachdruck verschafft werden, wenn sie in<br />

die vorhandenen oder neu zu schaffenden Anreizsysteme integriert werden: Existiert<br />

in einem Unternehmen Management by Objectives, führt man also zu Beginn eines<br />

Jahres Zielvereinbarungsgespräche mit den Mitarbeitern durch, müssen die vereinbarten<br />

Ziele – wenn die Unternehmensethik wirklich zu einem Element des operativen<br />

Managements geworden ist – jetzt auch einen entsprechenden ethischen Gehalt<br />

aufweisen: Am Schluß des Gesprächs zwischen dem Vorgesetzten und dem Mitarbeiter<br />

stehen dann nicht nur die zu erreichenden Budgetzahlen bezüglich Umsatz<br />

oder Gewinn fest, sondern beispielsweise auch – im Sinne einer ethischen Transformation<br />

– der anzustrebende (und am Jahresende durch Befragungen zu kontrollierende)<br />

Zufriedenheitsgrad der Kunden, Mitarbeiter und Lieferanten. Durch das betriebswirtschaftliche<br />

Instrument der „Balanced Scorecard“ gibt es die Möglichkeit,<br />

diese ethischen Gesichtspunkte in die Sprache der Ökonomie umzuschreiben, sprich<br />

sie zu quantifizieren, wodurch auch die Zielerreichung „durch eine systematische<br />

und konsequente Leistungsmessung“ überprüft werden kann. 20 Solche Zielvereinbarungen<br />

sind auf Führungsebene im Erfolgsfall meistens mit Bonuszahlungen verbunden.<br />

Ein Bonus wird also bei einem Anreizsystem, das auch ethische Überlegungen<br />

integriert, nur ausbezahlt, wenn im Geschäftsjahr auch die ethischen Anforderungen<br />

erfüllt wurden. Ein Anliegen der Unternehmensethik muß es also sein, daß die Anreizsysteme<br />

in den Unternehmen so ausgestaltet werden, daß ethische und ökonomische<br />

Kriterien gleichberechtigt sind, damit ethisches Verhalten nicht diskriminiert<br />

wird.<br />

5. Bedeutung des persönlichen Ethos für die Unternehmensethik<br />

Die Mikro-Ebene, die individuelle menschliche Handlungsebene, wurde in diesen<br />

Ausführungen bisher nur kurz angesprochen. Das hat mit dem gewählten Schwerpunkt<br />

dieses Artikels zu tun, der Fokussierung der Wirtschaftsethik auf die Meso-<br />

Ebene, und ist keineswegs damit zu erklären, daß die Mikro-Ebene etwa von geringerer<br />

Wichtigkeit wäre. Im Gegenteil: Um Unternehmensethik als Element des nor-<br />

419


mativen, strategischen und operativen Managements in alle Unternehmensbereiche<br />

integrieren zu können, bedarf es maßgeblicher Führungskräfte, denen Ethik ein Anliegen<br />

is t und die ihr Gewicht und ihr persönliches Ansehen für solche unternehmensethischen<br />

Lösungsansätze einsetzen und mit gutem Beispiel vorangehen. Es ist<br />

daher wichtig, diese Multiplikatoren auch entsprechend in Wirtschafts- und Unternehmensethik<br />

auszubilden. Hier kommt eine wachsende Aufgabe auf die Ethik-<br />

Institute an Universitäten und Fachhochschulen zu. Zusätzlich zum bestehenden<br />

Aufgabengebiet zeichnen sich deshalb für die Zukunft vier neue Tätigkeitsfelder ab:<br />

- Ausbau der wirtschafts- und unternehmensethischen Lehrangebote in den wirtschafts-<br />

und ingenieurwissenschaftlichen Diplom- und Nachdiplom-Studiengängen 21<br />

- Entwicklung spezifischer Ethik-Nachdiplomstudien bzw. Ethik-Seminare für Führungskräfte<br />

in der Wirtschaft durch (theologische) Ethik-Institute 22<br />

- Entwicklung modularer Ethik-Angebote für die unternehmensinterne Aus- und<br />

Weiterbildung 23<br />

- Entwicklung eines Angebots ethischer Beratungsdienstleistungen für Unternehmen<br />

24<br />

Ein Engagement der theologischen Ethik-Institute in diese Richtung ist nicht nur in<br />

hochschulpolitischer Hinsicht 25 , sondern auch aus theologisch-kirchlichen Gründen<br />

sinnvoll, markieren doch die theologischen Ethik-Institute durch ein verstärktes<br />

öffentliches Engagement Präsenz in einer säkularisierten Gesellschaft, in einem<br />

Bereich (Wirtschaft, Unternehmen), wo rein kirchliche (diözesane) Stellen immer<br />

weniger Zugang finden werden. Für theologische wie für andere Ethik-Institute an<br />

Universitäten und an Fachhochschulen gilt: Wenn sie kein entsprechendes Angebot<br />

lancieren, wird ihr Platz von anderen – auch von dubiosen Anbietern – eingenommen.<br />

Literatur<br />

Anzenbacher, Arno: Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992.<br />

Bleicher, Knut: Das Konzept Integriertes Management, Frankfurt am Main/New York 2 1992.<br />

Degenhardt, Johannes Joachim: Der Unternehmer in katholischer Sicht, in: Lothar Roos/ Christian<br />

Watrin (Hg.), Das Ethos des Unternehmers (Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Nr. 30),<br />

Trier 1989, S. 11-24.<br />

Enderle, Georges: Corporate Ethics at the Beginning of the 21 st Century (bisher unveröffentlichtes<br />

Manuskript eines Referates anläßlich der Konferenz der Inter-American Development<br />

Bank im Dezember 2000).<br />

Enderle, Georges: Ethik als unternehmerische Herausforderung, in: Schweizerische Zeitschrift<br />

für betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, Heft 6 (1987), S. 433-450.<br />

Gäbler, Ulrich: Wissenschaft als Dialog. Rektoratsrede, Heft 98, Basel 2000.<br />

Hausmanninger, Thomas: Sozialethik als Strukturenethik, in: Hans-Joachim Höhn (Hg.),<br />

Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn/München/Wien/ Zürich 1997, S. 59-88.<br />

Homann, Karl/Blome-Drees, Franz: Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992.<br />

Michel, Uwe/Renz, Reto T.: Die Steuerung des Erfolgs von Beteiligungen. Value Based Management<br />

und Balanced Scorecard, in: NZZ, 5.8.2000, Nr. 180, S. 23.<br />

420


Staffelbach, Bruno: Management-Ethik. Ansätze und Konzepte aus betriebswirtschaftlicher<br />

Sicht, Bern/Stuttgart/Wien 1994.<br />

Steinmann, Horst/Löhr, Albert: Grundlagen der Unternehmensethik, Stuttgart 1992.<br />

Ulrich, Peter: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie,<br />

Bern/Stuttgart/Wien 2 1998.<br />

Utz, Arthur F.: Das Schicksal der Marktwirtschaft. Grundsätzliche Überlegungen zur Wirtschaftsordnung,<br />

in: Arthur F. Utz, Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983-1997<br />

(hg. von Wolfgang Ockenfels im Auftrag der Internationalen Stiftung HUMANUM), Paderborn/München/Wien/Zürich<br />

1998, S. 463-467.<br />

Anmerkungen<br />

1) Die katholische Soziallehre hat sich bisher eingehend mit den volkswirtschaftlichen Fragestellungen<br />

befaßt. Bezüglich der unternehmensethischen Aspekte läßt sich mit dem Erzbischof<br />

von Paderborn, Kardinal Johannes Joachim Degenhardt, konstatieren: „Wenn wir die bald<br />

einhundertjährige päpstliche und lehramtliche katholische Sozialverkündigung ... durchsehen,<br />

so können wir einen überraschenden Mangel schnell feststellen: die Gestalt des Unternehmers<br />

und die Aufgabe des freien Unternehmertums in einer marktorientierten Wettbewerbswirtschaft<br />

kommen kaum vor.“ Vgl. Johannes Joachim Degenhardt, Der Unternehmer in katholischer<br />

Sicht, in: Lothar Roos/Christian Watrin (Hg.), Das Ethos des Unternehmers (Beiträge zur<br />

Gesellschaftspolitik, Nr. 30), Trier 1989, S.11.<br />

2) So Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen<br />

1992, S. 35: „... die Effizienz in den Spielzügen, die Moral in den Spielregeln. Gerade dadurch,<br />

daß man die Spielzüge von moralischen Forderungen entlastet und lediglich die Einhaltung der<br />

Spielregeln verbindlich macht, wird es möglich, die Wettbewerbshandlungen allein an der<br />

Effizienz auszurichten und die Moral in den Spielregeln, in den für alle Spieler verbindlichen<br />

Rahmenbedingungen, abzugelten.“ Allerdings weisen Homann und Blome-Drees (a.a.O., S.<br />

114-118) (wie auch Horst Steinmann/Albert Löhr, Grundlagen der Unternehmensethik, Stuttgart<br />

1992, S. 104f) auf die Unvollkommenheit bzw. auf die Steuerungsgrenzen der Rahmenordnung<br />

hin (Time lag, Vollzugs- und Kontrolldefizite). Aus dem daraus sich ergebenden<br />

„Verantwortungsvakuum“ leitet sich nach Homann/ Blome-Drees wieder ein Auftrag an die<br />

Unternehmen ab, „die im Normalfall an die Ordnungsebene abgegebene moralische Verantwortung<br />

wieder auszuüben“ (a.a.O., S. 117).<br />

3) Vgl. Georges Enderle, Corporate Ethics at the Beginning of the 21 st Century (bisher unveröffentlichtes<br />

Manuskript eines Referates anläßlich der Konferenz der Inter-American Development<br />

Bank im Dezember 2000): „A crucial feature of corporate ethics is the understanding of<br />

the business organization as a moral actor. This implies that the company has a certain unity<br />

and identity with an explicit or implicit mission and culture. It has a certain autonomy with a<br />

more or less extended space of freedom. It can choose among different courses of action and<br />

therefore necessarily involves an ethical or „values“ dimension.“<br />

4) Treffend faßt Arthur F. Utz die grundlegende Aufgabe der wirtschaftlichen Rahmenordnung<br />

in den Satz zusammen: „Jegliche Wirtschaftsordnung muß dem Ziel dienen, die materielle<br />

Wohlfahrt der gesamten Gesellschaft zu verwirklichen, und zwar so, daß zugleich die echt<br />

humanen, d.h. sozialen und kulturellen Anliegen mitberücksichtigt werden.“ Vgl. Arthur F.<br />

Utz, Das Schicksal der Marktwirtschaft. Grundsätzliche Überlegungen zur Wirtschaftsordnung,<br />

in: Arthur F. Utz, Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983-1997 (hg. von Wolfgang<br />

Ockenfels), Paderborn u.a. 1998, S. 463.<br />

5) Georges Enderle, Ethik als unternehmerische Herausforderung, in: Schweizerische Zeitschrift<br />

für betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, Heft 6 (1987), S. 438.<br />

421


6) Peter Ulrich mahnt zu Recht diesen Diskurs an, auch in einer Zeit ohne wirtschaftlichen<br />

Gegenmodells. Vgl. Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen<br />

Ökonomie, Bern/Stuttgart/Wien 2 1998 – Zu bezweifeln ist aber, ob dieser Diskurs permanent,<br />

vor jeder unternehmerischen Entscheidung, geführt werden muß. Logische Gründe (die<br />

Zustimmung zu einem Wirtschaftssystem schließt auch die Zustimmung zu systembedingten<br />

Konsequenzen mit ein) und Praktikabilitätsgründe (Konsistenz einer Wirtschaftsordnung und -<br />

politik) sprechen dagegen.<br />

7) Siehe Fußnote 3; vgl. dazu auch Georges Enderle, Ethik als unternehmerische Herausforderung,<br />

S. 439; Bruno Staffelbach, Management-Ethik. Ansätze und Konzepte aus betriebswirtschaftlicher<br />

Sicht, Bern/Stuttgart/Wien 1994, S. 262f mit Hinweisen auf Peter French, Thomas<br />

Donaldson, K. E. Goodpaster.<br />

8) Nach Horst Steinmann/Albert Löhr, Grundlagen der Unternehmensethik, S. 100-102, erstreckt<br />

sich die „unternehmerische Gestaltungsfreiheit“ sowohl auf die Wahl der gewinnträchtigen<br />

Strategie („Entscheidungsautonomie für das spezifische unternehmerische Handlungsprogramm“)<br />

als auch auf die Realisierung dieser Strategie im Managementprozeß („Gesamtheit<br />

der Maßnahmen zur Ausgestaltung der Managementprozesse“).<br />

9) Er spricht von einer „konzertierten Aktion“ im Zusammenhang mit „Rahmenethos“, „institutionalisierter<br />

Selbstbindung“ und „Ethos“. Vgl. Thomas Hausmanninger, Sozialethik als<br />

Strukturenethik, in: Hans-Joachim Höhn (Hg.), Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn/München/Wien/Zürich<br />

1997, S. 85.<br />

10) Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 51.<br />

11) Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 51.<br />

12) Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, S. 449.<br />

13) Dies ist eine der Aufgaben, die sich mir im Rahmen meines Habilitationsprojekts „Erfolg<br />

und Ethik in der Unternehmensführung. Eine ethische Auseinandersetzung mit modernen<br />

Managementtheorien“ (Arbeitstitel) stellen.<br />

14) Knut Bleicher, Das Konzept Integriertes Management, Frankfurt am Main/New York<br />

2 1992, v.a. S. 68-78.<br />

15) Angesichts mancher Trends in der „angewandten Ethik“: Eine insuläre Abdrängung der<br />

Ethik in Leitbilder oder in die Personalabteilungen ist kontraproduktiv; bei einer solchen lokalen<br />

Beschränkung besteht immer die Gefahr, daß die Ethik zu einem – vielleicht öffentlichkeitswirksamen<br />

– Feigenblatt mißbraucht wird. Selbstverständlich ist die ethische Durchdringung<br />

der Unternehmensvisionen, Leitbilder und Unternehmensphilosophien an sich nicht<br />

negativ, sondern ein Teil ihres Aufgabengebietes, aber die Unternehmensethik muß auch „Biß“<br />

erhalten, indem sie in die Ziele und Maßnahmen des strategischen Managements bzw. in die<br />

Durchführung und Kontrolle des operativen Managements einfließt.<br />

16) Aufgrund des amerikanischen Strafrechts, der 1991 in Kraft getretenen „Federal Sentencing<br />

Guidelines for Organizations“, beschäftigt sich ein umfangreicher Teil der unternehmensethischen<br />

Literatur mit diesem Thema.<br />

17) Man beachte die Reihenfolge, denn hier soll keiner plumpen Erfolgsethik das Wort geredet<br />

werden.<br />

18) Vgl. Arno Anzenbacher, Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, S. 268.<br />

19) Dies geschieht übrigens auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen! Nicht nur das Ethische<br />

hat eine nützliche Komponente, auch das Nützlichkeitsdenken der Betriebswirtschaft kommt<br />

ohne ethische Dimension nicht ganz aus: Die Unternehmen leben von moralischen Voraussetzungen,<br />

die sie nicht selbst herstellen können: z.B. von Sekundärtugenden wie dem Fleiß, der<br />

Pünktlichkeit, der Genauigkeit ihrer Mitarbeiter; von der Vertragstreue, Verläßlichkeit, Wahrhaftigkeit<br />

ihrer Geschäftspartner; von der Anerkennung und Befolgung der staatlichen Ordnung<br />

durch die Bürger und überhaupt von Freiheit, Wohlstand, Recht und sozialer Sicherheit.<br />

Erst in Staaten, wo diese ethischen Voraussetzungen auf allen Ebenen fehlen (z.B. in manchen<br />

Staaten Osteuropas oder jüngst in Venezuela, wo große Kapitalbeträge wegen politischen und<br />

422


echtlichen Unsicherheiten aus dem Lande abgezogen wurden), erkennt man die Bedeutung<br />

der Ethik als eines der Fundamente der Wirtschaft.<br />

20) Vgl. Uwe Michel/Reto T. Renz, Die Steuerung des Erfolgs von Beteiligungen. Value<br />

Based Management und Balanced Scorecard, in: NZZ, 5.8.2000, S. 23: „Das Konzept der<br />

Balanced Scorecard beruht ... darauf, den Fokus der rein finanziellen Steuerung zu erweitern<br />

und die Leistung eines Unternehmens als Gleichgewicht – balanced – aus mehreren Perspektiven<br />

zu betrachten. Diese Perspektiven – Kunden, Geschäftsprozesse, Potenziale, Innovationen,<br />

Mitarbeiterentwicklung und Finanzen – werden als wesentliche Handlungsfelder für den zukünftigen<br />

wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens explizit zum Gegenstand der Strategie<br />

gemacht. ... Die Zielerreichung wird bottom-up durch eine systematische und konsequente<br />

Leistungsmessung mit strategiebezogenen Steuerungsgrößen – der Scorecard – transparent.“<br />

21) Wenn die wirtschafts- und ingenieurswissenschaftlichen Hochschul-Institutionen über<br />

keine Lehrkräfte für Ethik verfügen, können in Zukunft vermehrt bestehende universitäre und<br />

FH-Ethik-Institute als Lehrkräfte-Pool fungieren, sofern dort entsprechende Ressourcen vorhanden<br />

sind. Angesichts rückläufiger Studentenzahlen an den theologischen Fakultäten in den<br />

deutschsprachigen Ländern könnte sich hier für die theologischen Ethik-Institute eine interessante<br />

Entwicklung abzeichnen.<br />

22) An der Universität Luzern entsteht unter der Federführung der Geisteswissenschaftlichen<br />

Fakultät und unter Mitwirkung des theologischen Instituts für Sozialethik ein Nachdiplomkurs<br />

(NDK) „Philosophische Unternehmensführung“, der sich an etablierte Führungskräfte richtet.<br />

Die acht Module (Lehreinheiten) bestehen jeweils aus einer vierstündigen Abendveranstaltung<br />

und einem zweitägigen Blockseminar. Es kommen nicht nur unterschiedliche Lehr- und Lernformen<br />

zum Tragen (Vorlesungen, Selbststudium, Gruppenarbeiten, Diskussion), einen wichtigen<br />

Stellenwert nimmt auch der Praxisbezug ein: Die Modulverantwortlichen werden unterstützt<br />

von einem Praxispool, dem Unternehmerpersönlichkeiten aus der Zentralschweiz angehören,<br />

die diese Lehrveranstaltungen z.B. durch Gastreferate, Statements, Coaching der Gruppenarbeiten<br />

begleiten.<br />

23) Im Zuge von lean management, lean production und outsourcing gliederten eine Reihe von<br />

Unternehmen, die bislang über eine eigene Fort- und Weiterbildungsabteilung verfügten, ihre<br />

Ressourcen aus. Sie kaufen nun Ausbildungs-Paketlösungen bei Externen ein. Vorstellbar ist,<br />

daß Ethik-Institute bedarfsgerechte Angebote zum Thema „Wirtschafts- und Unternehmensethik“<br />

ausarbeiten und auch für die Durchführung der Schulung bei Firmen besorgt sind.<br />

24) Zur Illustration mögen einige Beispiele dienen: Begleitung von Leitbild- und Veränderungsprozessen,<br />

Aufstellen von Kriterien für Ethik-Anlagefonds, Aufstellen von Ethik-<br />

Programmen (Ethik-Audits, -Hotline, Ausbildung von Business Ethics Officern).<br />

25) Die Analyse des Rektors der Universität Basel, Ulrich Gäbler, daß die Wissenschaft ihre<br />

„Sozialgestalt“ verändert, daß „neue Kooperationen und Netzwerke entstehen“, Wissenschaft<br />

an „sozialer Nähe“ gewinnt und ihr Ort „nahe bei Interessierten oder Betroffenen“ ist, gibt<br />

wohl den momentanen hochschulpolitischen Trend treffend wieder. Vgl. Ulrich Gäbler, Wissenschaft<br />

als Dialog. Rektoratsrede, Heft 98, Basel 2000, S.9. Die theologischen Ethik-Institute<br />

können sich durch die neuen Tätigkeitsfelder neue Studentenkreise (außerhalb der theologischen<br />

Fakultät) erschließen. Außerdem werden sie durch eine (maßvolle und wissenschaftlich<br />

zu rechtfertigende) Hinwendung zu praxisnahen Aktivitäten und Dienstleistungen gegenüber<br />

staatlichen Geldern finanziell unabhängiger.<br />

Prof. Dr. Stephan Wirz lehrt Wirtschaftsethik an der Fachhochschule Aargau<br />

(Schweiz) und ist freier Mitarbeiter und Habilitand an der Kath.-Theol. Fakultät<br />

der Universität Luzern.<br />

423


424<br />

Detlef Grieswelle<br />

Generationengerechtigkeit<br />

und Generationenpolitik<br />

I. Leitbegriff der Generationengerechtigkeit<br />

Eine zentrale Vokabel unserer Zeit, ein Leitbegriff zum Selbstverständnis der<br />

Gesellschaft, ist die Generationengerechtigkeit. Dieser Begriff hat andere Termini<br />

in den Hintergrund treten lassen. Das gilt für Philosophie und Ethik, Kirchen,<br />

Gewerkschaften und Arbeitgeber, vor allem auch für die Politik. Viele Handlungsbereiche<br />

werden unter dem Begriff der Generationengerechtigkeit durchdekliniert,<br />

beispielsweise die sozialen Sicherungssysteme, die Arbeitslosigkeit, die<br />

Vermögensbildung, Randständigkeit und Armut, das Steuersystem, die Staatsverschuldung.<br />

Die Norm der Generationengerechtigkeit bezieht sich auf Orientierungen<br />

für das eigene Handeln von Personen, auf den institutionellen Rahmen<br />

der Gesellschaft und die kulturellen Werte, auch auf unterschiedliche räumliche<br />

Perspektiven, seien diese regional, national, supranational oder global, auch auf<br />

verschiedene Ebenen der Abstraktion. Die Generationengerechtigkeit gehört<br />

sicherlich ganz allgemein zu den Leitbildern einer guten Ordnung, wie sie jede<br />

Gesellschaft entwirft; heute ist aber in besonderem Maße ein Kampf darüber<br />

entbrannt, was als generationengerecht zu gelten hat.<br />

Generationengerechtigkeit: Um kaum einen Begriff wird derzeit so hart gerungen<br />

wie um das schillernde Wortpaar, das viele gesellschaftliche Gruppen für<br />

sich reklamieren. Nur wer die Deutungshoheit erobert, was als generationengerecht<br />

zu gelten hat, hat Aussicht auf Politik- und Gestaltungsfähigkeit. Spätestens<br />

seit der Diskurs-Theorie Foucaults wissen wir ja, daß Diskurse nicht nur<br />

beschreiben und analysieren, sondern auch vorschreiben, bestimmen, festlegen<br />

und so Einfluß und Macht ausüben wollen. Wer sich in Diskursen durchsetzt,<br />

verfügt über die Definitionsmacht der Sicht der Dinge und dominiert mit seinem<br />

Zeichensystem jenes des politischen Gegners.<br />

Generationengerechtigkeit wird das Schlüsselwort der Gesellschaft in den nächsten<br />

Jahren, meinte der bekannte Freizeitforscher Opaschowski zu Beginn des<br />

neuen Jahrtausends. Aber bereits in den letzten Jahren wurden wirtschaftspolitische<br />

und sozialpolitische Themen in öffentlichen Diskursen zunehmend in der<br />

Perspektive der Generationen erörtert. Die Frage der Gerechtigkeit zwischen den<br />

Generationen und der Verantwortung für künftige Generationen gehörte zu jenen<br />

Themen, die vor allem in der Sozialpolitik „Karriere machten“ und andere Formen,<br />

über den Sozialstaat zu sprechen, etwas in den Hintergrund drängten.<br />

Christoph Conrad hat in einem größeren Aufsatz dargelegt, wie nach der Sprache<br />

der Klassen und des Klassenkampfes, der Sprache von Staat und Untertan,<br />

der Geschlechter, Geschlechterdifferenzen und -beziehungen, der Abstammung<br />

und Ethnien (Einwanderer!) als letzte Version die Rhetorik der Generationen an


Einfluß gewann. Die Aufzählung der verschiedenen Sichtweisen und Rhetoriken,<br />

um über den Sozialstaat zu streiten, ist sicherlich unvollständig und läßt sich<br />

erweitern. Eine Analyse des „Sozialen“ bedarf des Rückgriffs auf alle Sichtweisen<br />

und Rhetoriken, vor allem aber auch auf den Generationenansatz. Die Sprache<br />

der Generationen gibt der Diskussion um die Krise des Sozialstaats besondere<br />

Impulse, die andere Rhetoriken ihr nicht geben können. Dabei gilt es allerdings<br />

zu beachten, daß die öffentliche Sprache der Generationen wie auch anderer<br />

Rhetoriken weniger zur exakten Beschreibung und Analyse und sachlichen<br />

Argumentation geschaffen wurde, sondern vielfach entstanden ist als ideologisches,<br />

wertendes Programm, um gegnerische Sichtweisen in Frage zu stellen und<br />

eigene politisch durchzusetzen. Eingängige Metaphorik (z.B. Übertragung des<br />

Familienmodells auf die Gesamtgesellschaft), Anspielungen (z.B. an biologische<br />

Vorstellungen) und ethische Implikationen zeichnen die Benennung von Spannungslinien<br />

aus, so auch bei der Verteilung von Rechten und Pflichten unter den<br />

Generationen. Oft erfolgt der Diskurs der Generationen in recht menschenverachtender,<br />

aggressiver oder gar martialischer Sprache, wenn Konflikte zwischen<br />

den Generationen festgestellt bzw. prognostiziert werden: Die Slogans reichen<br />

von „Überalterung“, „Altenlast“, „Altenberge“, „Unproduktivität des Alters“,<br />

„Vergreisung der Gesellschaft“ über „Zerstörung des Generationenvertrages“ bis<br />

hin zum „Aufstand der Jüngeren gegen die Älteren“ und „Kampf der Generationen“.<br />

Bei aller Emotionalisierung des öffentlichen Diskurses ist die Generationenbetrachtung<br />

ein guter Ansatz für einen aufgeklärten Diskurs, wie Conrad ganz<br />

richtig schreibt: „Zum einen ist die Betrachtung von Wohlfahrtsbilanzen über<br />

den Lebenslauf ganzer Generationen eine außerordentlich fruchtbare, dynamisierte<br />

Betrachtung gesellschaftspolitischen Wandels. Bei solchen Längsschnitten<br />

nimmt die Generationenperspektive im Idealfall keine Rücksicht auf die herkömmlichen<br />

Einteilungen und Abgrenzungen der Sozialpolitik; sie interessiert<br />

sich nicht für Ressortgrenzen zwischen Familien- und Rentenpolitik, zwischen<br />

Versicherung und Sozialhilfe oder zwischen staatlichen und privaten Sicherungssystemen.<br />

Auch wenn dieser Ansatz empirisch schwer einzulösen ist, stellt<br />

er doch ein wichtiges Korrektiv gegenüber herkömmlichen Umverteilungsanalysen<br />

dar. Es zeigen sich strukturelle Bruchlinien, die anders beschaffen sind als<br />

frühere Konflikte. Daß die existierenden Formen politischer Repräsentation solche<br />

Konfliktlinien kaum abbilden, sollte nicht zu dem Schluß verleiten, daß sie<br />

weniger virulent wären. Das Sprechen von Generationen ersetzt nicht das von<br />

Klassen oder Geschlechtern, aber die Frage nach der Gerechtigkeit zwischen den<br />

Generationen muß sich keiner der anderen Spannungslinien als ‚Nebenwiderspruch’<br />

unterordnen. Wenn die künftige Debatte um die Reform des Sozialstaats<br />

nicht mehrsprachig geführt wird, sollte man sich nicht wundern, wenn die Jungen<br />

die Kündigungsklauseln im Generationenvertrag aufmerksamer lesen und<br />

andere Verlierer gar nicht mehr glauben, in einen Sozialvertrag eingebunden zu<br />

sein.“<br />

Eine der entscheidenden Zukunftsfragen ist also die politische Gestaltung in<br />

Generationengerechtigkeit. Die Perspektive der Verantwortung zwischen den<br />

425


Generationen zielt, will man das einmal ganz grundlegend beschreiben, auf die<br />

gesellschaftliche Zuordnung und wechselseitige Beziehung der Lebensphasen<br />

zueinander, speziell des sog. mittleren Lebensalters, das durch ausgeprägte Ve rpflichtungen<br />

wie Erwerbstätigkeit, Haushaltsführung, Ehe/Familie und Erziehung<br />

gekennzeichnet ist, zu dem mehr rezeptiven Lebensalter der heranwachsenden<br />

Kinder und Jugendlichen einerseits und zu den aus verschiedenen sozialen<br />

Zusammenhängen partiell ausgegliederten bzw. sich zurückziehenden älteren<br />

Menschen andererseits. Die Frage der Generationen, ihrer gesellschaftlichen<br />

Stellung, ihrer Rechte und Pflichten sowie ihres Zusammen- und Auseinanderlebens<br />

ist sicherlich ein zeitloses Problem. Allerdings gewinnt sie mit dem Rückgang<br />

der Geburtenzahlen und dem Altersstrukturwandel unserer Bevölkerung an<br />

Bedeutung, besonders für die Gestaltung des Sozialstaats.<br />

Hondrich/Arzberger schreiben ganz richtig: „Sozialstaatliche Probleme sind<br />

heute zum großen Teil Probleme der Solidarität zwischen den Generationen: Wie<br />

gewährleisten die aktiven mittleren und jüngeren Jahrgänge die materielle Absicherung,<br />

aber auch die persönliche Pflege und Zuwendung, deren die Älteren<br />

bedürfen? Und wie finanzieren sie, nach der anderen Richtung, die immer längeren<br />

Ausbildungszeiten der Kinder und statten sie mit der Stärke und Stabilität der<br />

Gefühle und Motive aus, aus denen Bildungs- und Leistungsfähigkeit, also Lebenstüchtigkeit<br />

erwächst? Die Probleme haben also eine materielle und eine<br />

persönliche Seite, und sie stellen sich in zwei Richtungen, wobei die jeweils<br />

mittleren Kohorten im Zentrum der Probleme stehen, weil die Solidaritätsanforderungen<br />

sich auf sie konzentrieren. Nicht nur in den zur Dramatisierung neigenden<br />

Massenmedien, sondern auch in wissenschaftlichen Abhandlungen verdichtet<br />

sich die These, finanzielle und persönliche Belastungen des intergenerationellen<br />

Ausgleichs überforderten die beruflichen aktiven Jahrgänge, so daß sie<br />

den Generationenvertrag aufkündigen würden.“<br />

Das Wort „Generationengerechtigkeit“ zielt auf folgende Bedeutungsinhalte:<br />

Zusammengehörigkeit, Verbundenheit, Gemeinschaftsbewußtsein der Generationen.<br />

Das menschliche Zusammenleben bedarf der Eingrenzung von Individualismus<br />

und Einzel- und Gruppeninteressen durch Orientierungs- und Verhaltensprinzipien<br />

nach der Maßgabe wechselseitiger Rücksichtnahme. Stärke und Überlegenheit<br />

einzelner Menschen und Gruppen erfordern Solidarität als Gegenkraft,<br />

damit soziale Harmonie und Stabilität nicht gefährdet werden. Dabei kann sich<br />

Generationengerechtigkeit nicht in Einstellungen, also moralischen Überzeugungen<br />

und angemessenem Bewußtsein, erschöpfen. Sie verweist auch auf die Notwendigkeit<br />

von Anreizsystemen, um Verhalten in die gewünschte Richtung zu<br />

lenken, sowie von günstigen Rahmenbedingungen und vor allem auf die notwendige<br />

Institutionalisierung von Verhalten in Normen, Rollen und Ordnungsmaximen.<br />

Es geht also wesentlich auch um verbindliche Verhaltensregeln, die<br />

auf das Handeln orientierend, ordnend und lenkend einwirken und Menschen<br />

bereit machen, als soziale Wesen - in Rücksicht auf die anderen Mitglieder - zu<br />

handeln. Natürlich ist ein erwünschtes Handeln am ehesten dann zu erreichen,<br />

wenn verschiedene Methoden ineinander greifen.<br />

426


Generationengerechtigkeit als Verhaltensprinzip kann in bezug auf ganz verschiedene<br />

Institutionen und Handlungsfelder realisiert werden. Zu nennen sind<br />

hier vor allem Familie, Erziehung, Wirtschaft, Arbeit, soziale Sicherung, Wohnen<br />

und natürliche Umwelt. Ebenso sind die sozialen Gebilde, in denen sich<br />

Solidarität unter Umständen entfaltet, recht mannigfaltig. Das Spektrum reicht<br />

von Kleingruppen wie Familien und Freundeskreisen über Organisationen wie<br />

Betriebe, Schulen, Universitäten und Verbände bis hin zu Staat und Gesellschaft.<br />

In Kleingruppen handelt es sich um ein Verhalten, das wesentlich auf Gefühlen<br />

wie Zuneigung, Liebe, Sympathie und Vertrauen beruht. Solche Verhaltenswiesen<br />

und Verhaltensmuster sind nur hier praktikabel und sinnvoll, aber nicht ohne<br />

weiteres übertragbar auf unpersönliche, unorganisierte, funktional-spezifische<br />

und stark von Leistung und Interessen bestimmte Zweckgebilde. Hier haben<br />

Egoismus, Durchsetzungs- und Machtwille sowie Streben nach Erfolg viel grössere<br />

Bedeutung, ja sie sind geradezu Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit<br />

solcher Gruppen. Diese Verhaltensweisen bedürfen der Zügelung durch eine<br />

gesellschaftliche Ethik der Generationengerechtigkeit und der sozialen Verantwortung<br />

sowie vor allem einer Eingrenzung durch die Schaffung einer gerechten<br />

Ordnung von seiten der hierzu verpflichteten Instanzen legitimer Herrschaft.<br />

Generationengerechtigkeit zielt in der Regel auf verschiedene Dimensionen der<br />

Lebensführung und Ordnungsgestaltung. An Handlungsbereichen zu erwähnen<br />

sind die Verteilung von Gütern wie Einkommen, Konsum, freier Zeit, Aufstiegsmöglichkeiten,<br />

Statussymbolen, sozialer Sicherung; die Teilhabe an Willensbildungsprozessen<br />

und an der Ausübung und Kontrolle von Herrschaft; die<br />

Erziehung und sozio-kulturelle Eingliederung des Nachwuchses, aber auch die<br />

Aufgabenbestimmung für ältere Menschen und deren Betreuung und Pflege.<br />

Jede Gesellschaft steht vor den angesprochenen grundsätzlichen Problemen: Wie<br />

die Antworten im einzelnen konkret aussehen müssen, darüber gibt das Postulat<br />

der Generationengerechtigkeit keine präzise Auskunft. Generationengerechtigkeit<br />

beinhaltet ja kein Programm, sondern stellt eine Heuristik dar, um über<br />

Rechte und Pflichten nachzudenken und Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Befriedigende<br />

Lösungen der Probleme tragen bei zur sozialen Identität in einem<br />

Gemeinwesen, d.h. zu einem positiven Gefühl der Zugehörigkeit, und zur Legitimität<br />

von Ordnung.<br />

II. Differenzierung sozialer Gerechtigkeit<br />

In einem Diskurs über Generationengerechtigkeit sind alle Deutungen der sozialen<br />

Gerechtigkeit einzubeziehen wie formale Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit,<br />

Leistungs- und Chancengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit.<br />

Die formale Gerechtigkeit soll allen am Gesellschafts- und Wirtschaftsprozeß<br />

Beteiligten gleiche Behandlung sichern. Sie fußt auf der Einsicht, daß die Menschen<br />

von Geburt aus gleich sind und grundsätzlich die gleichen Entfaltungsrechte<br />

haben sollen. Hierzu gehört vor allem der gleiche rechtliche Zugang zu<br />

jenen Faktoren, die den sozialen Status des einzelnen bestimmen wie Einkommen,<br />

Eigentum, Ausbildung etc. Formale Freiheit bedeutet nicht gleiches Kön-<br />

427


nen, sondern nur gleiches rechtliches Dürfen. Es geht um gleiche Freiheitsrechte<br />

für jeden Bürger, in dem Sinne, daß es - rechtlich gesehen - keine Privilegien<br />

und keine Diskriminierungen gibt und dem Gebot der Fairneß auch entsprochen<br />

wird durch Verfahrensgerechtigkeit in der Rechtsfindung und im Rechtsvollzug.<br />

Umstritten im gesellschaftspolitischen Diskurs war in der Vergangenheit der<br />

Begriff der Verteilungsgerechtigkeit, häufig distributive Gerechtigkeit genannt.<br />

Bezog sich der Begriff ursprünglich, so bei Aristoteles, auf Tugendbelohnung<br />

und Anerkennung von Sittlichkeit und gutem Leben, später, in der Aufklärung,<br />

auf die staatliche Sicherung der Privatrechtsordnung, vor allem der Eigentumsordnung,<br />

geht es hier um ausgleichende Gerechtigkeit in Form stärkerer materieller<br />

Gleichheit, um eine gerechtere Verteilung von Gütern wie beispielsweise<br />

Einkommen und Vermögen. Gerechtigkeit gebietet hiernach ausgleichende Maßnahmen<br />

zugunsten jener, die sonst allzu sehr zurückbleiben. Der Begriff der<br />

distributiven Gerechtigkeit bezieht sich vor allem auch auf die Gewährung sozialer<br />

Sicherheit durch Absicherung grundlegender Risiken und auf die vielfältigen<br />

Solidarkomponenten in den einzelnen Systemen. Im Rahmen der austeilenden<br />

Gerechtigkeit wurde unter der Formel „Jedem das Seine“ die sog. Bedarfsgerechtigkeit<br />

herausgehoben. Hierunter wurde in ferner Vergangenheit eine Verteilung<br />

der Güter nach den jeweiligen Bedürfnissen verstanden, wobei es in der<br />

Regel an einem plausiblen Maßstab fehlte, um den Umfang und die Intensität der<br />

individuellen Bedürfnisse zu messen und interpersonell zu vergleichen. Deshalb<br />

behalfen sich die Vertreter der Bedarfsgerechtigkeit häufig mit der Fiktion, daß<br />

alle Menschen gleiche Bedürfnisse hätten und folglich ein gleich hoher Anteil<br />

der Menschen an den Gütern zu fordern wäre. Heute bezieht sich das Postulat der<br />

Bedarfsgerechtigkeit fast nur noch auf die Sicherung elementarer Grundbedürfnisse;<br />

jedem Gesellschaftsmitglied, unabhängig von seinem Beitrag zum wirtschaftlichen<br />

Wertschöpfungsprozeß, ist ein soziokultureller Mindeststandard zu<br />

gewähren.<br />

Bei beträchtlich gewachsenen Ungleichheiten in der Bundesrepublik Deutschland<br />

durch begrenzte reale Einkommenszuwächse der Lohnempfänger, hohe<br />

Arbeitslosigkeit und Reduktion der „Normalarbeitsverhältnisse“, Zunahme der<br />

Abgaben der Arbeitnehmer an die Sozialkassen, hohe Steuern der Beschäftigten,<br />

geringen Anteil der Lohnempfänger an Vermögen, Zinsen und Dividenden bleibt<br />

die Frage der Verteilungsgerechtigkeit auf der politischen Tagesordnung, fordert<br />

auf alle Fälle Konsequenzen in anderen Bereichen der sozialen Gerechtigkeit.<br />

Wächst mit der Wirtschaftsentwicklung die soziale Ungleichheit und kann die<br />

Politik das nicht ändern, dann müssen die Bürger - um dies zu akzeptieren -<br />

wenigstens das Gefühl haben, gerechte Chancen auf Aufstieg und den Erwerb<br />

von Wohlstand zu besitzen. Ob allerdings in einer relativ homogenen Nation wie<br />

der deutschen sich eine die USA kennzeichnende Hochschätzung der Aufstiegschancen<br />

gegenüber der Einkommensgleichheit durchsetzt, ist zu bezweifeln.<br />

Eine stärkere Zustimmung zu Phänomenen der Ungleichheit wird vor allem<br />

davon abhängen, inwieweit der Staat dem Gebot der Fairneß entspricht, z.B.<br />

durch Beseitigung ungerechter Steuerpraktiken, Abschaffung von Subventionen<br />

in traditionellen Industrien, durch Förderung des sozialen Engagements der öko-<br />

428


nomischen Gewinner (Stiftungen!), durch Reduktion gigantischer Abfindungen<br />

für Topmanager, durch stärkere Besteuerung von Erbschaften.<br />

In der Debatte um die soziale Gerechtigkeit wird heute vor allem betont, daß<br />

diese nicht zuvorderst den sozialen Ausgleich zu beachten habe, sondern die<br />

Leistungsgerechtigkeit, also die Anerkennung der personalen Leistung. Gerechtigkeit<br />

verpflichte zwar die Starken zum Eintreten für die Schwachen, aber dies<br />

dürfe Leistungsanreize und Leistungsbereitschaft der Starken nicht gefährden. Es<br />

ist durchaus richtig: Die eigene Leistung gehört zur freien Entfaltung der Person<br />

und stellt einen wesentlichen Antrieb dar für persönliche Anstrengungen. Das<br />

Postulat der Leistungsgerechtigkeit zielt vor allem auf die sog. Tauschgerechtigkeit<br />

als Fairneß der Vertrags- und Austauschbedingungen zwischen einzelnen<br />

und sozialen Gruppen, also auf das „richtige“, „angemessene“ Verhältnis von<br />

Leistung und Gegenleistung, was beispielsweise den gerechten Preis für Güter,<br />

die gerechte Entlohnung von Arbeitnehmern und die gerechte Zuordnung von<br />

Beiträgen und Sozialleistungen angeht. Leistung ist unabdingbar in einer Gesellschaft,<br />

die auf Selbstverantwortung setzt. Leistung sichert die materiellen Bedingungen<br />

der Freiheit. In der Konstruktion unserer Gesellschaft besteht heute vor<br />

allem die Gefahr überzogener Solidaritätsanforderungen, verteilungspolitische<br />

Ansprüche dürfen Staat und Wirtschaft nicht überfordern und den Wohlstand<br />

nicht untergraben. Es könnte sehr schnell bei vielen Bürgern der Argwohn erwachsen,<br />

im Spiel der Verteilungspolitik zu den übermäßig geschröpften Zahlmeistern<br />

zu gehören, was die Solidaritätspolitik gefährdet.<br />

Gerechtigkeit darf nicht mehr vorherrschend mehr Gleichheit im Sinne von mehr<br />

Verteilungs- und Ergebnisgleichheit bedeuten. Wer allzu sehr auf die Sphäre der<br />

Verteilung schaut und jene der Produktion des Wohlstandes außer acht läßt, läuft<br />

in die Irre. In Reformdiskussionen (z.B. zur Steuerpolitik) dürfen nicht Umverteilungsaspekte<br />

im Vordergrund stehen, schon allein deshalb, weil scheinbare<br />

Ungerechtigkeiten zu mehr Wohlstand und zum Abbau von Arbeitslosigkeit und<br />

damit zu mehr Gleichheit führen können. Nach der Theorie der Gerechtigkeit<br />

von Rawls sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu gestalten, daß<br />

a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vo rteil dienen und b)<br />

sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedermann offen stehen.<br />

Im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit ist heute insbesondere auf eine gerechte<br />

Verteilung von Lebenschancen und auf ähnliche Ausgangsbedingungen und<br />

gleichmäßigere materielle Chancen im Hinblick auf tatsächlich realisierbare<br />

Möglichkeiten abzustellen. Dazu gehört z.B. ein gerechterer Zugang zu Bildungseinrichtungen<br />

und Berufs- und Arbeitsplätzen durch den Ausgleich nachteiliger<br />

Vorbedingungen (z.B. Leistungen für Familien, für Bildungszwecke).<br />

Man spricht häufig von Startgerechtigkeit im Sinne der Schaffung von mehr<br />

Gleichheit der Startbedingungen, vor allem durch Gewährung gleicher Ausbildungschancen.<br />

Chancengerechtigkeit ist eine notwendige Ergänzung der Gleichheit<br />

vor dem Recht. Bundeskanzler Schröder postuliert: „Gerade weil aber die<br />

Herstellung und Bewahrung sozialer Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinne<br />

oberstes Ziel sozialdemokratischer Politik ist und bleibt, können wir uns nicht<br />

mehr auf Verteilungsgerechtigkeit beschränken. Dies geht schon deshalb nicht,<br />

429


weil eine Ausweitung der Sozialhaushalte nicht zu erwarten und übrigens auch<br />

nicht erstrebenswert ist. Für die soziale Gerechtigkeit in der Wissens- und Informationsgesellschaft<br />

ist vor allem die Herstellung von Chancengerechtigkeit<br />

entscheidend.“<br />

Die Menschen wollen ihren Anteil an Wohlstand und Vermögen nicht durch<br />

„Segnungen“ erhalten, sondern durch eigene Leistung, staatliche Politik hat<br />

entsprechend nicht zu allererst eine gerechte Verteilung zu organisieren, sondern<br />

die Eröffnung von Zugangschancen für alle zu ermöglichen.<br />

In der gegenwärtigen Diskussion, vor allem in Sozialethik, in den Kirchen und<br />

der Politik, dominiert - im Kontext der Betonung von Leistungs- und Startgerechtigkeit<br />

- das Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit, eine Perspektive, die für<br />

die heutige Orientierung und die Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme<br />

neue Akzente beinhaltet. „Beteiligungsgerechtigkeit“ zielt sowohl auf das<br />

Menschenbild, auf gesellschaftliche Werte, aber auch auf die Gestaltung von<br />

Ordnung. Leitideen sind die Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe und die Ve rbesserung<br />

der Entfaltungschancen durch institutionelle Innovationen in verschiedenen<br />

Handlungsfeldern wie vor allem Erwerbsarbeit, Bildung und berufliche<br />

Qualifikation, Vermögensbildung, Arbeitsbeziehungen, Familie und Erziehungsarbeit,<br />

ehrenamtliches Engagement. Als Motto für die Erneuerung gilt die Förderung<br />

aktiver Beteiligung an grundlegenden Rollen einer Bürgergesellschaft der<br />

Inklusion, also der Wahrnehmung von Verantwortung und Engagement. Teilhabe<br />

dürfe keinesfalls nur in einer lediglich finanziellen Absicherung bestehen,<br />

sondern in der Befähigung der Menschen, gesellschaftliche Prozesse aktiv mitzugestalten;<br />

ein Abgleiten in ausschließlich materielles Verteilungsdenken gelte<br />

es zu vermeiden.<br />

Das Leitbild der Teilhabegerechtigkeit umfaßt wie das des aktivierenden Sozialstaats<br />

eine weitgehende Loslösung vom inaktiven Versorgungsprinzip hin zur<br />

schnellstmöglichen Reintegration in den Arbeitsmarkt, die Verhinderung von<br />

sozialer Not vor Sozialhilfe, die Rehabilitation vor Rente, verschiedene Maßnahmen<br />

der Arbeitsförderung vor Arbeitslosenunterstützung.<br />

Das Menschenbild ist mit Eigenschaften wie Unabhängigkeit, Aktivität, Entfaltung<br />

von Fähigkeiten, Eigeninitiative zu beschreiben, die Einbeziehung, Bindung,<br />

Inklusion ermöglichen. Die Werte und Ordnungsprinzipien für soziale<br />

Gestaltung sind zu bezeichnen mit Termini wie Freiheit, Subsidiarität, Leistung,<br />

Eigenverantwortung, Entfaltung der Humanressourcen, Mitbestimmung, Prävention<br />

und Rehabilitation, Integration in Kommunikation und Information.<br />

Die katholischen Bischöfe in den USA hatten in ihrem Hirtenbrief von 1986 für<br />

diese Aspekte den Begriff der kontributiven Gerechtigkeit verwendet. Diese<br />

bezieht sich darauf, daß jedes Gesellschaftsmitglied die Pflicht, aber auch das<br />

Recht habe, das Seine zum Wohl der Gesellschaft im Ga nzen beizutragen. „Soziale<br />

Gerechtigkeit bedeutet, daß Menschen verpflichtet sind, sich aktiv und<br />

produktiv am Leben der Gesellschaft zu beteiligen, und daß es der Gesellschaft<br />

obliegt, ihnen die Möglichkeit einer solchen Beteiligung zu schaffen“, hieß es im<br />

Wirtschaftshirtenbrief der nordamerikanischen Bischöfe. „Also müssen Struktu-<br />

430


en geschaffen, ausgebaut und gesichert werden, die die verantwortliche Teilnahme<br />

am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben ermöglichen“,<br />

schreibt die Ethikerin Heimbach-Steins. Und eine Beschränkung der Gerechtigkeitsverpflichtung<br />

auf die gegenwärtig Lebenden sei nicht vertretbar angesichts<br />

des Wissens um die langfristigen Konsequenzen gegenwärtigen ökonomischen,<br />

sozialen und ökologischen Handelns. Insofern sei auch das Kriterium der Beteiligungsgerechtigkeit<br />

mit einem Zeitindex zu versehen. Denn das ethische Ve rständnis<br />

von Gesellschaft, in der und für die solche Gerechtigkeit realisiert werden<br />

solle, schließe die nachfolgenden Generationen und deren Lebens- und Beteiligungsrechte<br />

zwingend ein. Leistungs-, Chancen- und Teilhabegerechtigkeit<br />

sowie der aktivierende Sozialstaat sind Leitbilder für die Gestaltung der Zukunft<br />

in Generationenverantwortung.<br />

III. Merkmale eines aufgeklärten Diskurses<br />

Die Verschiebung im Altersaufbau wird in Zukunft das Erscheinungsbild der<br />

Gesellschaft beträchtlich verändern und vielfältige Auswirkungen auf Wirtschaft<br />

und soziale Sicherungssysteme haben. Angesichts der für die nächsten Jahrzehnte<br />

absehbaren demographisch bedingten Gewichtsverlagerung zwischen den jeweils<br />

aktiv Erwerbstätigen und der älteren Bevölkerung kann es nicht ausgeschlossen<br />

werden, daß die Solidarität zwischen den Generationen tendenziell ihre<br />

bisherige mehr oder weniger fraglose Selbstverständlichkeit einbüßt.<br />

Es geht im Zusammenhang der Generationengerechtigkeit um eine ausgewogene<br />

Berücksichtigung der Interessen der verschiedenen Generationen, um einen gerechten<br />

Ausgleich. Einerseits ist es Aufgabe, den älteren Generationen und ihren<br />

Leistungen gerecht zu werden, andererseits die im Erwerbsleben stehenden Generationen<br />

nicht übermäßig zu belasten. Die Frage der Generationengerechtigkeit<br />

darf aber nicht auf die Lastenverteilung innerhalb der Sozialversicherung, vor<br />

allem im System der gesetzlichen Rentenversicherung, beschränkt werden, die<br />

jüngeren Generationen geraten dann weitgehend in die Rolle der Verlierer. Die<br />

gute ökonomische Situation der jüngeren Generationen, ihr materieller Wohlstand,<br />

ihre Bildung und Ausbildung, ihre Lebenslage insgesamt, ist wesentlich<br />

auch das Ergebnis ökonomischer Prozesse über Generationen hinweg, also einer<br />

produktiven Volkswirtschaft aufgrund des Sparens und Investierens der früheren<br />

Generationen. Die Jungen sind auch die Erben dessen, was die Älteren jetzt und<br />

in den nächsten Jahren hinterlassen.<br />

Zur Bewahrung des Generationenvertrages bzw. zur Gestaltung von Generationenverantwortung<br />

gehört jedoch nicht nur eine angemessene Verteilung von<br />

ökonomischen und sozialen Ansprüchen und Pflichten, sondern auch die Solidarität<br />

in unserer Gesellschaft gegenüber den Familien, wo Kinder erzogen und<br />

damit wesentliche Leistungen für das Gemeinwesen erbracht werden. Familienpolitik<br />

muß ein zentraler Bereich für die Gestaltung in Generationenverantwortung<br />

sein. Familien brauchen zur Bewältigung ihrer Aufgaben, auch angesichts<br />

gestiegener Anforderungen und gesellschaftlicher Veränderungen, vielfältige<br />

Formen der Entlastung, Unterstützung und Ermutigung. Und Solidarität mit äl-<br />

431


teren Menschen bedeutet nicht nur sozialen Schutz für diese, sondern auch, deren<br />

Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten zu verstärken, weil ältere Menschen<br />

nicht nur als Abhängige und Betreuungsbedürftige gesehen werden, sondern<br />

eigene gesellschaftliche Beiträge leisten wollen, auf die übrigens unsere Ge -<br />

sellschaft in ferner Zukunft vermehrt angewiesen sein wird.<br />

Weiterhin erfordert eine Gestaltung in Generationenperspektive und –verantwortung<br />

langfristiges Denken und Handeln zur Sicherung des zukünftigen Zusammenhalts<br />

der Generationen und frühzeitige Vorsorge, um das Ziel zu erreichen.<br />

Und nicht zuletzt meint der Begriff des Generationenvertrages, wenn man ihn<br />

weit genug faßt, ganz allgemein die Verantwortung für nachwachsende Generationen<br />

in dem Sinne, daß heute kein Leben zu deren Lasten und auf deren Kosten<br />

erfolgen darf.<br />

Das Postulat der Generationengerechtigkeit zielt also auch auf die Lebensbedingungen<br />

der noch nicht lebenden Generationen. Welche Chance haben sie aufgrund<br />

der Entscheidungen der heute lebenden Generationen? Ist es zulässig,<br />

durch hohe Staatsverschuldung, unzureichenden Umweltschutz und unzulängliche<br />

Reformen der sozialen Sicherungssysteme die Lebensbedingungen der nachfolgenden<br />

Generationen gegenüber jenen der heute lebenden gravierend zu verschlechtern?<br />

Soziale Verantwortung und Gerechtigkeit haben immer auch die<br />

Bedürfnisse zukünftiger Generationen einzubeziehen und ihnen einen angemessenen<br />

Stellenwert einzuräumen.<br />

Die zentrale Frage dieser Zukunftsverantwortung ist, welche Probleme für das<br />

Verhältnis der Generationen im Jahre 2010, 2020, 2030 erwachsen und ob die<br />

Generationenverantwortung dann noch funktioniert sowie was zu tun ist, mö glichst<br />

jetzt oder bald, um die Grundlagen für den zukünftigen Zusammenhalt der<br />

Generationen zu schaffen. Aufgabe der Politik und wichtiger gesellschaftlicher<br />

Gruppen ist es, in langfristigen Zeithorizonten zu denken und zu handeln und<br />

durch grundlegende Reformen und Vorsorgemaßnahmen die Voraussetzungen<br />

für die Bewältigung der Aufgaben der Zukunft zu legen. Allzu sehr dominiert in<br />

der Regel die Gegenwartsorientierung gegenüber einer Verantwortung für die<br />

Lebenschancen der heute jungen, die Zukunft der noch nicht geborenen Menschen.<br />

Unbestreitbar sind in den Bereichen Umwelt, Bevölkerung, Familie, soziale<br />

Sicherung, Schulden und Subventionen langfristige Zeithorizonte vonnöten.<br />

Die Aufgabe ist es, rechtzeitig zu handeln und nicht erst, wenn die Probleme<br />

durch Reformen überhaupt nicht mehr zu lösen sind. Allerdings ist es schwer,<br />

den vorherrschenden kurzfristigen Zielsetzungen der Bürger, Verbände und Politiker<br />

langfristige Ziele entgegenzusetzen und dafür Akzeptanz zu finden.<br />

Das Bewußtsein, in langen Zeitperspektiven zu denken, zu planen und präventiv<br />

zu handeln, ist in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung nur sehr partiell<br />

vorhanden. Bei schon in der Gegenwart wirksam werdendem Problemdruck<br />

schaut es besser aus, in vielen anderen, erst in späterer Zukunft virulenten Fragen<br />

bedenklich schlechter. Häufig bekennt man sich in Politik, Wissenschaft, in<br />

Verbänden und Medien zu der grundlegenden Verpflichtung der Zukunftsorientierung,<br />

aber man zieht nicht die entsprechenden Konsequenzen. Werte werden<br />

recht abstrakt artikuliert, steuern aber nicht die Motivation und führen nicht zur<br />

432


Formulierung von Handlungsbedarf und zur Einleitung konkreter Maßnahmen.<br />

Vieles wird kollektiv verdrängt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Staatsverschuldung,<br />

wo es ja keine nennenswerte Gruppe in unserer Gesellschaft gab, die dieses<br />

Thema zum öffentlichen Ärgernis erhob. Eine andere Unzulänglichkeit besteht<br />

darin, Reformen, die nur heute und kurzfristig Probleme bewältigen, als<br />

wirksame Langfristlösungen zu bezeichnen, wobei in der Regel sehr schwer<br />

festzustellen ist, ob die sog. Strukturreformer das glauben oder nur werbewirksamen<br />

Optimismus verbreiten wollen. Erfolgt gar die Zustimmung aller gesellschaftlich<br />

bedeutsamen Gruppen zu solchen Reformen, rücken deren Kritiker<br />

geradezu in die Ecke der ewig Unbelehrbaren, Besserwisser, bestenfalls noch<br />

Querdenker, die die Wahlchancen beeinträchtigen. Im politischen Entscheidungsfeld<br />

werden mit dem Anwachsen von Widerständen und dem Näherrücken<br />

von Wahlterminen die Zeitperspektiven zumeist immer kürzer und die geforderten<br />

Lasten für gegenwärtige Generationen immer kleiner.<br />

Ein vernünftiger Diskurs zur langfristigen Daseinssicherung hat vor allem folgende<br />

Gesichtspunkte zu beachten:<br />

- Kritik zu üben an vorherrschender Gegenwartsorientierung, Kurzatmigkeit und<br />

Zukunftsvergessenheit und dafür zu plädieren, daß die Folgen von Handlungen<br />

vor Kindern und Kindeskindern verantwortet werden können;<br />

- das Bewußtsein des Einzelnen zu stärken, Teil einer generationenübergreifenden<br />

Gemeinschaft zu sein, die von der Vergangenheit in die Zukunft reicht, und<br />

das Recht der nachwachsenden Generation gegenüber der gegenwärtigen gelten<br />

zu lassen;<br />

- die Bereitschaft zu fördern, für die Nachwelt etwas zu tun, obwohl die Nachwelt<br />

nichts für uns tun kann und wir nicht sicher sein können, ob spätere Generationen<br />

bereit sind, ihrerseits Pflichten der Zukunftsvorsorge anzuerkennen und<br />

zu befolgen;<br />

- die motivationalen Voraussetzungen der Bevölkerung zu verbessern für die<br />

effektive Übernahme von Zukunftsverantwortung im Sinne wechselseitiger Ve rbundenheit<br />

und Zusammengehörigkeit (Solidarität);<br />

- negative Tendenzen zu vermeiden für eine adäquate Zukunftsbewertung (z.B.<br />

Minderschätzung zukünftigen Nutzens und Schadens um ihrer Zukünftigkeit<br />

willen, Abhängigkeit der Einschätzung zukünftigen Nutzens und Schadens von<br />

Präferenzen, die wir heute nicht teilen, Gleichgültigkeit gegenüber Nutzen und<br />

Schaden, der andere und uns Fernstehende trifft, Gefahr, daß Beiträge der heutigen<br />

Generationen ihre Leistungsfähigkeit überschreiten und ungerecht sind);<br />

- die Normen zu erörtern zur intergenerationellen Gerechtigkeit, zur Zumutbarkeit<br />

von Zukunftsrisiken und zur Gegenwartsbewertung zukünftigen Nutzens<br />

und Schadens und ihrer generellen Verteilung zwischen den Generationen;<br />

- sowohl ideale Normen als auch Praxisnormen herauszuarbeiten, da letztere<br />

ohne ideale Normen beliebig, ideale ohne Praxisnormen wirklichkeitsfern wären;<br />

433


- sachgerecht zu differenzieren nach räumlichen und zeitlichen Reichweiten der<br />

notwendigen Generationenpolitik (häufiger Adressat der Norm die ganze<br />

Menschheit);<br />

- die Fähigkeit des politischen Entscheidungssystems zu stärken zur Bewältigung<br />

langfristiger Vorsorgeprobleme, Generationengerechtigkeit gleichermaßen zu<br />

sehen als Wert und Instrument politischer Steuerung.<br />

Es darf auf alle Fälle nicht ausschließlich bei Topoi bleiben wie „Verantwortung<br />

für zukünftige Generationen“ oder „die Welt ist nur von unseren Kindern geborgt“,<br />

sondern aus dem Generationendiskurs müssen Handlungskonsequenzen<br />

erfolgen.<br />

Die Voraussetzungen, in der Pflicht zur Generationenverantwortung zu planen<br />

und zu handeln, sind heute in vielen Bereichen recht günstig. Die Belastungen<br />

durch eine ungünstige Bevölkerungsstruktur werden in den nächsten Jahren<br />

kaum wirksam. Wir haben relativ geringe Ausgaben für Kinder, auch eine relativ<br />

kleine „Altenlast“, die Einkommen und Vermögen der privaten Haushalte sind<br />

beachtlich, die Wissenspotentiale für Selbstvorsorge verbessert. Die Chancen für<br />

mehr Eigeninitiative können also als gut bezeichnet werden. In Zukunft ist eher<br />

mit einer Verschlechterung zu rechnen.<br />

Der Handlungsbedarf für Zukunftsvorsorge wird natürlich nur dann angemessen<br />

wahrgenommen, wenn mit den abgeschlossenen sozialen Reformen keine allzu<br />

hohen Erwartungen auf dauerhafte Lösungen verbunden werden: Maßnahmen,<br />

die keine langfristig tragenden Reformen darstellen, müssen als solche bezeichnet<br />

und weiterreichende Neuerungen vorbereitet werden.<br />

Es ist fraglich, ob unsere Gesellschaft in der Lage ist, die Herausforderungen zu<br />

bestehen und die notwendige Verantwortung gegenüber kommenden Generationen<br />

wahrzunehmen. Hohe Ansprüche und weitere Wachstumserwartungen an<br />

materiellen Wohlstand, soziale Sicherung, Freizeit und ausgeprägte Bequemlichkeit,<br />

Genußmentalität und teilweise sogar Egoismus sind Hindernisse dafür, daß<br />

Ansprüche der Zukunft sich gegenüber jenen der Gegenwart behaupten. Die<br />

Menschen von heute, denen es im allgemeinen recht gut geht, möchten ja das<br />

Wohlergehen künftiger Generationen nicht unbedingt zu einem zentralen Problem<br />

werden lassen, weil ansonsten unangenehme Pflichten zur Einschränkung<br />

erwachsen würden.<br />

Die Führungsgruppen in Politik und Gesellschaft sind gefordert, Generationengerechtigkeit<br />

und Langfristperspektive zu befördern, durch Beeinflussung von<br />

Bewußtsein, Anreizsysteme, günstige Rahmenbedingungen und nicht zuletzt<br />

durch die Schaffung generationengerechter Ordnungen. Dies bedeutet freilich<br />

große Risiken für den Machterhalt. Eventuell sind sogar Führungspersonen gefordert,<br />

die nicht zuvörderst auf ihre Wiederwahl abstellen, sondern ihre Ämter<br />

als zeitlich begrenzte Funktionen verstehen, damit die wichtigen Aufgaben erfüllt<br />

werden können. Falls unsere Gesellschaft erst lern- und handlungsfähig<br />

wird, wenn die Bedrohungen zu großen Gefahren geworden sind, dann haben<br />

sozialverträgliche Lösungen kaum noch Chancen, und die Fundamente unserer<br />

demokratischen und sozialen Ordnung stehen zur Disposition.<br />

434


Der Gedanke, die Legitimität von Ideen und Maßnahmen habe sich wesentlich<br />

aus ihrem Leistungsbeitrag für die Zukunft zu ergeben, hat an Einfluß verloren.<br />

Dies auch deshalb, weil der Glaube an eine bessere Zukunft weitgehend dahin ist<br />

und es eigentlich nur darum geht, den zukünftigen Generationen mit unserer<br />

Situation einigermaßen vergleichbare Bedingungen zu ermöglichen. Über weite<br />

Phasen unserer Geschichte war ein Denken wirksam, das seine Erwartungen in<br />

die Zukunft projizierte, wo die Zukunft der Raum der Erfüllung war. Diese Sinnstiftung<br />

für einen Verzicht in der Gegenwart ist heute nicht oder kaum mehr<br />

möglich, weil die Fortschrittsidee beträchtlich an Kraft verloren hat, im öffentlichen<br />

Bereich sowieso, aber auch im privaten.<br />

Vordergründige Beobachtungen könnten zur Ansicht führen, unsere Gesellschaft<br />

sei geradezu zukunftsbesessen und keineswegs von einer Verweigerungshaltung<br />

bezüglich einer Gestaltung für kommende Generationen bestimmt. Der Zukunftsbegriff<br />

ist ja in aller Munde. Fast jede zweite Partei-, Gewerkschafts- und<br />

Arbeitgeberkonferenz führt ihn im Thema. Das sagt aber noch nicht, daß man<br />

ernsthaft über die Zukunft nachdenkt, d.h. die wirklichen Probleme aufgreift, die<br />

angemessene Zeitperspektive hat, aus den abstrakten Wertbekundungen die praktischen<br />

Konsequenzen zieht, alle wesentlichen Bereiche berücksichtigt, bereit ist,<br />

für sich und seine Gruppe Risiken für die Bewältigung der Langfristaufgaben<br />

einzugehen und Lasten für große Teile der Bevölkerung zu fordern. Summa<br />

summarum wird man, am Maßstab der praktischen Konsequenzen gemessen,<br />

sagen müssen, daß Gleichgültigkeit, Verdrängung und Verharmlosung häufig die<br />

bestimmenden Einstellungen sind.<br />

Solches gilt nicht für die bei uns ja sehr verbreiteten Zukunftspessimismen, Krisenprophezeiungen<br />

und zum Teil auch Untergangsbeschwörungen. Hier ist zwar<br />

die Zukunft im Visier, aber keinesfalls findet ein rationaler Diskurs über die<br />

Probleme und insbesondere nicht über deren Bewältigung statt. Zunächst einmal<br />

fällt auf, daß neben der Umwelt viele andere lösungsbedürftigen Bereiche weitgehend<br />

ausgespart werden. Es fehlt an integrativen Perspektiven für Probleme<br />

und Problemdimensionen. Fragen der Umwelt, der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes,<br />

der Rente, der Gesundheit etc. sind zusammen und in ihren jeweiligen Interdependenzen<br />

zu sehen, und dieser Wechselbezug gilt vor allem für die Perspektive<br />

der Zukunftsgestaltung und des Verhältnisses der Generationen zueinander.<br />

Vorschläge für einen Sektor sind häufig geradezu kontraproduktiv für die Generationengerechtigkeit<br />

in anderen Feldern. Auch wird nur selten aus Wertpostulaten<br />

die Konsequenz gezogen: Wertdeklamation und Wertrealisierung fallen weit<br />

auseinander. Lasten werden vielfach nur anderen zugemutet, nicht sich selbst<br />

und der breiten Bevölkerung. Eine wachsende Staatsverschuldung zu Lasten<br />

nachkommender Generationen war in der Regel die einzige Lösungsperspektive.<br />

Übertriebene Ängstlichkeit und Katastrophenstimmungen, von den Medien zum<br />

Teil regelrecht kultiviert, führen eher zu lähmendem Pessimismus als zu optimistischem<br />

Lösungsengagement oder aber drängen zu radikalen Veränderungen<br />

gesellschaftlicher Ordnung, die keine Akzeptanz in der Bevölkerung finden, weil<br />

sie mit wichtigen gemeinsamen Werten nicht übereinstimmen.<br />

435


Alle wichtigen Dimensionen der Generationengerechtigkeit hat jüngst in einem<br />

Vortrag der Bundesverfassungsrichter a. D. Paul Kirchhof angesprochen. Seine<br />

Darlegungen können als Resümee dienen: „Gerechtigkeit heißt auch und vor<br />

allem Verantwortlichkeit für die nächste Generation. Deshalb muß der Rechtsstaat<br />

einen Generationenvertrag schaffen, der sich nicht in der sozialen Sicherung<br />

im Alter, bei Arbeitslosigkeit und Krankheit erschöpft, sondern im Umweltschutz<br />

der nächsten Generation gute Lebensverhältnisse sichert, im Abbau<br />

der Staatsverschuldung einen belastenden Vorgriff auf die Zukunft vermeidet,<br />

durch Bildung und Ausbildung die nächste Generation zur Freiheit befähigt, in<br />

technischen und wirtschaftlichen Vorkehrungen das kulturelle und technische<br />

Lebensniveau der Zukunft sichert.<br />

Voraussetzung für eine Gerechtigkeit in der Generationenfolge ist zunächst, daß<br />

eine nachfolgende Generation existiert und daß diese dank Erziehung und Bildung<br />

zur Freiheit und Demokratie fähig ist. Sodann muß diese Nachfolgegeneration<br />

lebenswerte Existenzbedingungen in ähnlicher Weise vorfinden, wie wir sie<br />

erleben dürfen. Dieses Postulat betrifft die Umwelt, meint aber auch die Wertordnung<br />

und die kulturellen Standards. Wir alle hoffen, unsere Errungenschaften<br />

des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst und Religion an unsere Kinder weitergeben<br />

zu können.<br />

Jede Generation kann nicht das Auto neu erfinden, auch nicht das Grundgesetz<br />

neu schreiben, sondern baut auf das auf, was die vorausgehenden Generationen<br />

erarbeitet, entwickelt und veredelt haben. Gegenwärtig können wir insbesondere<br />

eine weltoffene Friedensgemeinschaft und damit eine der wichtigsten Prämissen<br />

für Gerechtigkeit an die Zukunft weitergeben.<br />

Die nächste Generation darf auch nicht übermäßig durch die vorausgehende<br />

belastet und ausgebeutet werden. Deswegen ist die Staatsverschuldung strikt<br />

zurückzuführen. Wenn die Gegenwart für den aktuellen Konsum mehr Geld<br />

beansprucht als sie erwirtschaftet, so belastet dieser Vorgriff auf die Zukunft<br />

unserer Kinder, die das Darlehen mit Zins und Zinseszins zurückzahlen müssen.<br />

Das Verbot übermäßiger Belastung gilt gleichermaßen für die Alterssicherung,<br />

die wiederum eine Gleichheit der Last in der Generationenfolge zu wahren hat.<br />

Wenn nunmehr auf die jetzt ins Erwerbsleben eintretende Generation die Doppelbelastung<br />

zukommt, den alten Generationenvertrag bedienen und gleichzeitig<br />

zur Eigenvorsorge einen Kapitalstock bilden zu müssen, dann erscheint dies als<br />

eine Überforderung der nunmehr Erwerbstätigen, die nur mit schonenden Übergängen<br />

eingeleitet werden darf.<br />

Eine wichtige Säule des Generationenvertrages ist die natürliche Bindung der<br />

Kinder zu ihren Eltern, die in der Anonymität der Sozialversicherung nicht verloren<br />

gehen darf. Umgekehrt müssen die Eltern stets die Möglichkeit haben, ihr<br />

Wissen, aber auch das Familiengut an die nächste Generation in familiärer Bindung<br />

weitergeben zu dürfen.“<br />

Dr. Detlef Grieswelle ist wissenschaftlicher Berater im Bundesministerium für<br />

Arbeit und Sozialordnung.<br />

436


Hans Heinrich Nachtkamp<br />

Für ein Erziehungsentgelt<br />

Nun ist es wieder geschehen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden:<br />

Wie mit Familien in Deutschland umgegangen wird, hält einer verfassungsmäßigen<br />

Überprüfung nicht stand. Es ist nicht die erste Strophe dieses Liedes. Die<br />

jüngste bezieht sich auf Verhältnisse bei der Pflegeversicherung. Es bleibt die<br />

Frage, wann der Vers zur Alterssicherung verfaßt wird. 1 Was ist los? Gibt es ein<br />

massives Versagen des Gesetzgebers? Nach weit verbreiteter Meinung ist das<br />

wohl nicht der Fall. Der Anteil der Eltern an der deutschen Bevölkerung schwindet<br />

– schon seit geraumer Zeit. Ihre Repräsentanz in den Stellwerken der Politik<br />

dürfte aus naheliegenden Gründen eher unter ihrem Bevölkerungsanteil liegen.<br />

Und heißt nicht Demokratie: „Wer am Steuer sitzt, bestimmt die Richtung?“ 2<br />

Familien im Aufwind der Politik?<br />

Falsch wäre freilich die Behauptung, Familien hätten keine oder kaum eine politische<br />

Bedeutung in unserem Lande. Zunächst einmal haben sie ein von der Ve rfassung<br />

gewährtes Privileg (Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz). Und deutsche Politiker(innen)<br />

haben beispielsweise im Schweiße ihres Angesichts (und für gutes<br />

Einkommen) darüber gestritten, ob es geboten sei, Rechtsfolgen dieses Privilegs<br />

auf gleichgeschlechtliche Paare auszudehnen. 3 Wohlgemerkt: Paare von leiblichen<br />

Geschwistern, gleichen oder verschiedenen Geschlechts, die jeweils einen<br />

gemeinsamen Haushalt führen, standen nicht zur Debatte, ebenso wenig war von<br />

Freundschaftspaaren die Rede, schon gar nicht von Haushaltsgemeinschaften,<br />

die aus mehr als zwei Personen bestehen. Nein, die Ausdehnung des Eheprivilegs<br />

erstreckt sich ausschließlich auf gleichgeschlechtliche Liebespaare. – Hier<br />

sollte freilich nur demonstriert werden, wozu Familien in Deutschland gut sind:<br />

Sie verschaffen Politiker(inne)n und solchen, die es werden möchten, Karrieremöglichkeiten<br />

und geben ihnen Anhaltspunkte für allerlei Kalkulationen – oft<br />

abstruse.<br />

Neuerdings sieht es so aus, als würde ein weiteres Feld entdeckt, für dessen Bestellung<br />

man Familien – notabene von antiker Façon – benötigt. Manches deutet<br />

auf einen Raumgewinn der Erkenntnis hin, das Debakel mit der Altersstruktur<br />

der Bevölkerung könnte etwas mit den Nachteilen zu tun haben, die ein Elternhaus<br />

sich mit der Erziehung seiner Kinder einhandelt. Und was als Nachteil<br />

gesehen wird, besteht in den allermeisten Fällen darin, daß Kindererziehung –<br />

gute Kindererziehung zumal – Zeit beansprucht. Diese müssen die Eltern selbst<br />

aufbringen, also Erwerbszeitopfer und entsprechende Einkommenseinbußen hinnehmen,<br />

oder aber kaufen – zum Nachteil anderer Ausgaben, an denen ihnen<br />

liegt. Also – so wird messerscharf geschlossen – ist ein reichhaltiges Angebot<br />

bezahlbarer Erziehungsleistungen dringend vonnöten, die den Eltern ermöglichen,<br />

weitestgehend so zu leben, wie sie es auch ohne Kinder tun würden. Ve r-<br />

437


einbarkeit von Beruf und Familie! Das ist der Meeresstern, der Richtungsweiser<br />

schlechthin, auf den die Großkopfeten (selbstverständlich beiderlei Geschlechts)<br />

der im Bundestag agierenden Parteien sowie der politischen Schickeria rundum<br />

vertrauen. Lebhaft wird beklagt, daß der Sozialstaat in Deutschland im Hinblick<br />

auf die Lösung des Problems versagt; in anderen Ländern seien Eltern besser<br />

aufgehoben. In Deutschland „ist der Sozialstaat eine Luftnummer“, hieß es in der<br />

Heute-Sendung des ZDF am 04.04. dieses Jahres. 4 Und die beigezogene Bundes-<br />

Familien-Ministerin beklagte, daß sie ja leider wegen mangelnder Bundeskompetenz<br />

kaum mehr tun könne, als werbend durch die Lande zu reisen, um die –<br />

gemeinsam mit den Kommunen – zuständigen Länder zu einem kinderfreundlichen<br />

Politikkonzept zu bringen. 5<br />

Zwei Botschaften sind in diesen Verlautbarungen zu erkennen. Erstens: Kindererziehung<br />

in der Familie ist kein Beruf; anders ist das Bedauern über die notleidende<br />

Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht erklärbar. Schon dieses zeigt,<br />

daß den Leuten, die darüber große Reden schwingen, auch das geringste Ve rständnis<br />

für Familie und Familienarbeit abgeht. Zweitens: Familienpolitik ist<br />

offenbar Sozialpolitik, also Umverteilungspolitik 6 : Familien mit Kindern sollten<br />

mehr Almosen haben – in Form von Realtransfers (das sind zum Beispiel verbilligte<br />

Kindergartenplätze, vor allem aus öffentlichen Kassen subventionierte<br />

Ganztagsbetreuungen, außerdem Zeitkarten für den öffentlichen Personennahverkehr,<br />

öffentlich subventionierte Mitgliedschaften in Vereinen und dergleichen),<br />

natürlich sind auch Einkommenstransfers und Steuervergünstigungen<br />

gefragt.<br />

Ziel dieses Beitrages ist zu zeigen, daß den Eltern zunächst und vor allem ein<br />

angemessenes öffentliches Leistungsentgelt für die Erziehung ihrer Kinder gebührt.<br />

Und es geht darum, diesen Anspruch aus der Sicht eines Nationalökonomen<br />

zu begründen. 7 Was Eltern für die Gesellschaft leisten und was die Gesellschaft<br />

ihnen dafür schuldet, ist aus dem Dunstkreis triefender Mildtätigkeit 8<br />

herauszulösen und in den Kontext von Leistungsgerechtigkeit zu bringen.<br />

438<br />

Leistungen der Eltern im Dienste der Gesellschaft<br />

Eltern lassen ihre Kinder zu voller Menschenwürde heranreifen und geben ihnen<br />

die Hilfen, deren sie dabei bedürfen. Volle Menschenwürde bedeutet im Kontext<br />

einer freiheitlichen Gesellschaft ganz gewiß das Bewußtsein des eigenen Wertes;<br />

sie heißt indes auch, daß die Würde eines jeden Menschen zu achten ist. In der<br />

Familie lernen Kinder, nicht nur Andersartiges und Andersartige zu ertragen, zu<br />

„tolerieren“, sondern sich zu freuen an der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten.<br />

Als Christ fügt der Autor hinzu, diese Freude ist dadurch motiviert, daß das ganze<br />

Spektrum von Möglichkeiten, Mensch zu sein, einen Abglanz der Unendlichkeit<br />

liefert, über die Gott verfügt. In der Familie eignen die Kinder sich jene<br />

Verhaltensweisen an, deren der pluralistische Verfassungsstaat bei seinen Menschen<br />

bedarf, die er freilich nicht durch Verfassung und Gesetze erzwingen kann.<br />

Wenn Kinder keine Chance haben, in einer Familie aufzuwachsen und dort aufzunehmen,<br />

was an Einstellung zu einer pluralistis chen Gesellschaft und dem


pluralistischen Ve rfassungsstaat notwendig ist, so kann das Defizit anderswo<br />

allenfalls unter Einsatz erheblicher Mühen und teurer Ressourcen aufgefüllt<br />

werden.<br />

Die Leistungen, die Eltern durch die Erziehung ihrer Kinder der Gesellschaft<br />

zukommen lassen, haben unter anderem zwei hervorstechende Merkmale:<br />

Die Produzenten – also hier die Eltern – können kein Mitglied der Gesellschaft<br />

von dem Nutzen aus dem Umstand ausschließen, daß ihre Mitmenschen zu guten<br />

Staatsbürger(inne)n erzogen wurden.<br />

Die Zahl der Nutznießer ist für die Qualität oder Quantität des Vorteils, den<br />

jedes Individuum aus der guten Erziehung seiner Mitmenschen zieht, unerheblich;<br />

es gibt keine „Rivalität im Konsum“.<br />

Das ist anders bei solchen Gütern und Leistungen, die Konsumenten gewöhnlich<br />

am Markt erwerben. Man denke sich als Beispiel ein bestimmtes Nahrungsmittel<br />

oder ein Kleidungsstück. Dabei kann der Produzent sich weigern, einen Nachfrager<br />

zu bedienen; das Ausschlußprinzip gilt. Außerdem bedeutet das Auftreten<br />

eines weiteren Konsumenten die Notwendigkeit, eine höhere Produktion zu<br />

bringen und sich auf die entsprechenden Kosten einzulassen oder aber die Lieferungen<br />

an andere Konsumenten zu mindern; es herrscht also Rivalität im Konsum.<br />

Ausschlußmöglichkeit und Rivalität sind die typischen Kennzeichen der<br />

Individualgüter, bei denen die Steuerung von Produktion und Verteilung optimal<br />

über ein System vollkommener Märkte erfolgt. Fehlen diese Eigenschaften, so<br />

hat man es mit Gütern oder Leistungen zu tun, die von Ökonomen Kollektivgüter<br />

genannt werden. 9 Hier kann der Marktmechanismus im Hinblick auf eine optimale<br />

Bedürfnisbefriedigung nicht funktionieren. Der Grund ist: Die Mitglieder<br />

der Gesellschaft können die Leistung unabhängig von ihrer Zahlungsbereitschaft<br />

konsumieren. Die Produzenten können nämlich keinem Menschen die Belieferung<br />

verweigern. Die Folge ist, daß auch niemand bereit ist, für Nutzen aus Kollektivgütern<br />

(hier: aus dem allgemeinen Wohlverhalten der Menschen) individuell<br />

zu zahlen. Jeder Mensch kann die „Trittbrettfahrerposition“ einnehmen, sich<br />

also vor der Teilhabe an der Finanzierungslast drücken und gleichwohl volle<br />

Teilhabe am Konsum genießen. Daß dabei die betreffende Kollektivgutproduktion<br />

leidet, geht in die individuellen Wirtschaftskalküle nicht ein. Der Staat ist<br />

gefordert, wenn es ein gesellschaftliches Interesse daran gibt, Kollektivgüter auf<br />

einem gesellschaftlich erwünschten Mengen- und Qualitätsniveau herzustellen.<br />

Das gilt auch im Hinblick auf elterliche Erziehungsarbeit.<br />

Der deutsche Verfassungsgeber hat dieses Interesse auch artikuliert. Artikel 6<br />

Absatz (3) GG sagt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht<br />

der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung<br />

wacht die staatliche Gemeinschaft.“ (Hervorhebung vom Verf.). Daß der Kollektivgutcharakter<br />

der Erziehung bei der Entwicklung und späteren Umsetzung des<br />

Grundgesetzes keine Rolle spielte, ist dem Umstand zuzuschreiben, daß man –<br />

auch der Ökonom – noch nicht in der Lage war, über Kollektivgüter und ihre<br />

Integration in ein System der durchdachten Ressourcenallokation klare Aussagen<br />

zu formulieren. Bis zum Ende der vierziger Jahre und danach standen andere<br />

439


Fragen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses derer, die über die<br />

Funktionen öffentlicher Haushalte nachdachten. Musgraves berühmtes Lehrbuch,<br />

das den Kollektivgütern breiten Raum gab, erschien erstmals 1959, die<br />

erste Auflage einer deutschen Ausgabe 1964. 10 Was die Väter unserer Verfassung<br />

im Grunde wohl gesehen haben, ist offenbar noch ökonomisch aufzuarbeiten<br />

– in einer solchen Weise, daß es einer breiteren Öffentlichkeit verständlich<br />

gemacht werden kann. Mindestens genau so wichtig ist, aus den Erkenntnissen<br />

politische Folgerungen zu ziehen.<br />

Im übrigen gibt es in Deutschland zwei Bevölkerungsgruppen, denen die Verfassung<br />

spezifische Aufgaben zuweist. Das sind die Wehrpflichtigen und die Eltern.<br />

Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, daß eine gruppenspezifische Beschwerung<br />

mit einer gesellschaftlichen Aufgabe ohne Entschädigung vor dem Gleichheitsgrundsatz<br />

des Artikels 3 GG standhält Die Wehrpflichtigen und die Zivildienstleistenden<br />

erhalten ein Leistungsentgelt. Die Eltern erhalten Almosen. Leistungsgerechtigkeit<br />

verlangt indes, daß auch den Eltern ihre im öffentlichen<br />

Interesse erbrachten Leistungen angemessen entgolten werden.<br />

440<br />

Humankapital im Dienste der Zukunftsvorsorge<br />

Heute drängt sich zunehmend ein weiteres Argumentationsfeld auf. Auch jene<br />

Sachzwänge, die auf ihm zu behandeln sind, haben nicht immer bestanden. Hier<br />

liegt Begründung eines Erziehungsentgelts im Kontext der Vorsorge, die jeder<br />

mündige Mensch für die Zeit treibt oder doch treiben sollte, in der er nicht<br />

(mehr) produktiv wirken, nicht (mehr) erwerbstätig sein kann.<br />

Die Vorsorge besteht darin, daß die Menschen in ihrer Erwerbsphase jene produktiven<br />

Kräfte aufbauen und bereitstellen, mit denen zukünftig – in ihrer Altersphase<br />

– Güter und Leistungen, auch und gerade zu Konsumzwecken, produziert<br />

werden können. Und eine ökonomisch sinnvolle Vorsorge enthält außerdem<br />

die Maßgabe, daß dem Senior dann der auch Zugriff auf die produktiven Ressourcen<br />

zusteht, die er früher aufgebaut hat.<br />

Diese produktiven Kräfte sind – in grober Einteilung – sächliche Produktionsmittel<br />

(Kapital), unsere Erde (also Boden) und Arbeitskraft (Menschen). Boden<br />

kann man nicht bereitstellen. Man kann mehr oder weniger verantwortungsvoll<br />

mit ihm umgehen. Das breite und tiefe Thema, das sich daran anschließt, ist<br />

nicht Gegenstand der hier dargestellten Überlegungen. Kapital entsteht durch<br />

Investieren. Die bislang in Deutschland durchgeführten Nettoinvestitionen akkumulieren<br />

sich zu dem bei uns vorhandenen Sachkapital. Investitionen werden<br />

alimentiert durch Konsumverzichte, durch Sparen: Es gilt stets – in jedem Wirtschaftssystem<br />

– die Gleichheit von Ersparnis und Investition. Wer zur Akkumulation<br />

von Sachkapital beiträgt, erwirbt in entsprechendem Umfange Eigentumsrechte<br />

an Vermögen. Solche Eigentumsrechte können sich unmittelbar auf Sachen<br />

– etwa Gebäude oder Maschinen – beziehen und dann entsprechende Gewinnbeteiligungsrechte<br />

implizieren. Sie können indes auch für Geld- oder Forderungsvermögen<br />

gelten; sie begründen dann Ansprüche gegenüber den Besitzern/Eigentümern<br />

des damit finanzierten Sachkapitals. Jeder Erwerb von Sach-


oder Forderungsvermögen begründet den Anspruch auf die Früchte dieses Ve rmögens.<br />

Solche Ansprüche können notfalls mit rechtlichen Mitteln durchgesetzt<br />

werden.<br />

Arbeitskräfte entstehen dadurch, daß Kinder zur Welt kommen, aufwachsen und<br />

in sich geeignetes Humankapital akkumulieren. Sie tun dies in der Obhut ihrer<br />

Eltern, die dafür Aufwendungen tragen müssen, soweit nicht andere dafür aufkommen.<br />

Rechtsansprüche der Eltern auf Beteiligung an den Erträgen, die später<br />

aus dem durch ihre Erziehung in ihren Kindern bewirkten Humankapital gezogen<br />

werden 11 , gibt es nicht. Rechtlich durchsetzbare Ansprüche dieser Art haben<br />

Eltern auch nie gehabt.<br />

Doch war früher im allgemeinen ein Vertrauen auf eine bestimmte Art von Familienmoral<br />

gerechtfertigt, kraft derer die herangewachsenen Kinder ihre alt gewordenen<br />

Eltern versorgen. Es gab sogar Zeiten, in denen auch in Europa die<br />

Kinder eine wichtige, vielfach die einzige Quelle der Altersversorgung waren.<br />

Die individuelle Vorsorge mit ihnen gestaltete sich allerdings als höchst risikoreiches<br />

Unterfangen. Wem Kinder versagt blieben oder wer sie frühzeitig durch<br />

Tod verlor, verfiel im Alter der Armut, wenn nicht Eigentum an Kapitalgütern<br />

für hinreichenden Einkommenszufluß sorgte.<br />

Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung, nicht nur in Europa, konnten die<br />

Senioren sich von ihren Kindern emanzipieren. Wohl hat die Industrialisierung<br />

zum Zerfall der familialen Bindungen in erheblichem Maße beigetragen. Sie war<br />

indes auch von enormem Vermögenswachstum und entsprechender Steigerung<br />

der Vermögenserträge begleitet. Das Bewußtsein schwand, für den Lebensunterhalt<br />

der alt gewordenen Eltern verantwortlich zu sein; gleichzeitig nahm – im<br />

ganzen gesehen – das Sachvermögen der Senioren zu. Die gesetzliche Rentenversicherung<br />

– in Deutschland durch Bismarck eingeführt – sorgte dafür, daß der<br />

Prozeß der Umschichtung, von der Altersversorgung durch Kinder hin zur Altersversorgung<br />

auf der Basis von Sachvermögen, auch die einkommensschwächeren<br />

Menschen einbezog. War der Lebensunterhalt im Alter immer weniger<br />

gut bei den eigenen Kindern aufgehoben, so gelang seine Fundierung – schon<br />

wegen der rechtlichen Absicherung mit geringeren Risiken behaftet – immer<br />

besser durch Vermögensbildung während der Erwerbsphase.<br />

War der Produktionsfaktor „menschliche Arbeit“ für den Lebensunterhalt im<br />

Alter schließlich bedeutungslos geworden? Das zu behaupten, wäre falsch. Nach<br />

wie vor bedarf die Produktion von Nahrung, Kleidung, Behausung, von Kultur-<br />

und Luxusgütern, die Senioren konsumieren möchten, des Einsatzes von Arbeit.<br />

Diese gibt es nur in dem Maße, wie Humankapital gebildet worden ist. Das geschieht<br />

immer noch auf die alte Weise – unter Konsumverzichten der Eltern.<br />

Deren Ansprüche indes, die zwar nicht einklagbar, doch vorhanden waren, sind<br />

als individuelle Rechte weitgehend untergegangen. Man kann sagen, sie sind<br />

unversehens kollektiviert worden. Das hat durchaus Vorteile. Mit der Kollektivierung<br />

der Ansprüche ging nämlich auf natürliche Weise die Kollektivierung<br />

einiger Risiken einher. Wer keine Kinder bekommen kann, wessen Kinder früh<br />

sterben, der ist im Alter nicht unversorgt; die Gemeinschaft läßt ihn nicht fallen.<br />

So mag man, wenn man unbedingt will, die Kollektivierung der Versorgungsan-<br />

441


sprüche gegen die Kinder als einen Akt der Solidarität deuten. In Wahrheit ist sie<br />

– mindestes auch – ein Akt ökonomischer Klugheit, sogar in dem ach so<br />

schrecklichen neoklassischen Sinne. 12<br />

Allerdings gilt dieses nur, solange es zum Lebensplan praktisch jedes Menschen<br />

gehört, eigene Kinder zu haben. Sobald Menschen bewußt und willentlich das<br />

Risiko herbeiführen, dessen nachteilige Folgen quasi kollektiviert sind, bricht<br />

das System zusammen. 13 Wie kann der Zusammenbruch vermieden werden? –<br />

Der eine Weg besteht darin, die Ansprüche auf die Früchte der Nachkommenschaft<br />

zu entkollektivieren und sie nur den Eltern zu geben. Das würde die „natürlichen“<br />

Anreize, Kinder zu haben, insoweit nicht behindern oder verkümmern<br />

lassen. Doch entstünde dabei wiederum das Problem, daß diejenigen, die ungewollt<br />

kinderlos bleiben, verlassen sind. Zu berücksichtigen ist auch, daß unter<br />

den Bedingungen einer in hohem Grade arbeitsteiligen Volkswirtschaft deren<br />

Arbeitspotential auch Kollektivgutzüge trägt. Der Leiter einer geschlossenen<br />

Hauswirtschaft im Altertum mußte bei der Erziehung der Nachkommenschaft<br />

nicht berücksichtigen, welche Fähigkeiten bei den Menschen des Umfeldes angesiedelt<br />

waren. Auch für die Erziehung, die der mittelalterliche Handwerksmeister<br />

seinem Sohn und Nachfolger angedeihen ließ, war unerheblich, was<br />

andere konnten oder nicht. Heute sind wir angewiesen auf eine gesamtgesellschaftlich<br />

abgestimmte Bildung. Das Wissen, das andere Menschen beherrschen,<br />

ist maßgeblich für elterliche Empfehlungen, was die Kinder sinnvollerweise<br />

lernen sollten.<br />

Die Re-Individualisierung der durch die eigene Nachkommenschaft bewirkten<br />

Altersversorgung würde also nicht nur die Verteilung der individuellen Reproduktionsmöglichkeiten<br />

in unzuträglicher Weise vernachlässigen. Sie würde auch<br />

dem Kollektivgutcharakter modernen Humankapitals nicht Rechnung tragen. So<br />

braucht man eine andere Maßnahme, die verhindert, daß die Trittbrettfahrerposition<br />

bei der Heranbildung des Produktionsfaktors Arbeit ohne nachteilige wirtschaftliche<br />

Folgen eingenommen werden kann. Diese Maßnahme ist ein Erziehungsentgelt,<br />

mit dem die Gesellschaft den Dienst kompensiert, den Erziehende<br />

ihr leisten. Alle, die sich an dem Aufbau des künftigen Arbeitspotentials nicht<br />

beteiligen mögen oder können, bekommen nichts; dafür haben sie mehr Zeit und<br />

mehr andere Ressourcen, die sie zur Sicherung ihrer Altersversorgung einsetzen<br />

können. Wer alternativ Zeit und andere Ressourcen in den Dienst der Zukunftsvorsorge<br />

durch Heranbildung von Arbeitspotential stellt, erhält ein einkommensmäßiges<br />

Äquivalent von der Gesellschaft, das nach eigener Präferenz verwendet<br />

werden kann.<br />

442<br />

Folgen des Erziehungsentgelts<br />

Ein solches Erziehungsentgelt wäre Einkommen – mit allen Folgerungen, die<br />

sich daraus ergeben.<br />

Es wäre der Einkommensbesteuerung zu unterwerfen. Die soziale Komponente<br />

eines auf Kinder bezogenen Familienlastenausgleichs, die von vielen – freilich


an falscher Stelle – gefordert wird, würde sich bei offen progressivem Steuertarif<br />

auf natürliche Weise entfalten.<br />

Ein Erziehungsentgelt würde allerdings nicht die Kinderfreibeträge der Einkommensteuer<br />

ersetzen. Diesen ist aufgegeben, das Existenzminimum der Kinder<br />

steuerlich zu schonen. Jenes ist ein Leistungsentgelt. Beide haben unterschiedliche<br />

Funktionen. 14<br />

Anders als mit den Kinderfreibeträgen ist es mit einem Freibetrag, der die Kosten<br />

der Kinderbetreuung abdecken soll. Er wäre unter dem Regime eines Erziehungsentgelts<br />

überflüssig. Letzteres soll den Eltern ja gerade ermöglichen zu<br />

entscheiden, ob sie Betreuungsleistungen am Markt einkaufen oder selbst erbringen<br />

wollen. Eltern bekämen mehr Freiheit, und die Allokation von Erziehungsleis<br />

tungen würde insgesamt effizienter. Auch darum geht es: Das Erziehungsentgelt<br />

würde die Eltern in die Lage versetzen, jene Nachfrage nach Betreuung ihrer<br />

Kinder von der besonderen Art zu entfalten, die ihren Vorstellungen am besten<br />

entspricht, oder alternativ die Erziehung ihrer Kinder vollständig in der eigenen<br />

Hand und das Erziehungsentgelt in der eigenen Tasche zu behalten. In Wahrheit<br />

würden sie einen Markt aufspannen, durch den die Produktion und Verteilung<br />

von Betreuungsleistungen viel besser gesteuert würde, als ein noch so ausgefeiltes<br />

System von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungseinrichtungen es könnte.<br />

Das Angebot würde differenzierter, als wir es uns heute ausmalen können,<br />

und besser auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten.<br />

Das Erziehungsentgelt würde freilich die Bemessungsgrundlage der gesetzlichen<br />

Versicherungen unberührt lassen; es gehörte nicht zu den Einkünften aus unselbständiger<br />

Tätigkeit. 15<br />

Weil das Erziehungsentgelt ein Leistungsentgelt ist, verträgt sich mit seiner<br />

Konzeption keine Einkommensgrenze.<br />

In die Berechnungsgrundlagen für kinderzahlbezogene Einkommenstransferzahlungen<br />

würde hingegen das Erziehungsentgelt eingehen müssen. Bei der Wohngeldberechnung<br />

beispielsweise wäre es dem Haushaltseinkommen zuzurechnen.<br />

Entsprechend müßte bei der Sozialhilfe verfahren werden.<br />

Allerdings müßten mit der Einführung des Erziehungsentgelts alle kinder- und<br />

erziehungsbedingten öffentlichen Leistungen realer wie monetärer Art, die nicht<br />

durch die Taschen der Eltern laufen, sondern Objektförderung darstellen, einer<br />

strengen Prüfung unterzogen werden, inwieweit sie zu rechtfertigen sind. Weder<br />

soll ihrer allgemeinen Abschaffung a limine das Wort geredet werden, noch kann<br />

man sie allesamt beibehalten.<br />

Die familienbezogene Subventionierung des öffentlichen Nahverkehrs, von<br />

Sportstätten, Museen und außerschulischen Bildungseinrichtungen müßte wohl<br />

fallen.<br />

Auch die Subventionierung von Kindergärten und Kindertagesstätten gehört zu<br />

den Todeskandidaten, wenn nicht der Nachweis gelingt, daß die Erziehung im<br />

Kindergarten im Interesse der Gesellschaft liegt. Es reicht nicht zu zeigen, daß es<br />

für Kinder in dieser oder jener Situation doch ganz nützlich sei, auch oder ausschließlich<br />

Kindergartenerziehung zu erfahren. Was öffentliche Zuschüsse zu<br />

443


den Kosten der Kindergärten auch nach Einführung eines Erziehungsentgelts<br />

rechtfertigen würde, wäre die Erkenntnis, daß es allen Menschen in unserem<br />

Lande nützen würde, wenn möglichst viele Kinder auch Kindergartenerziehung<br />

erleben könnten. Ein staatlich abgesicherter Rechtsanspruch auf einen<br />

Kindergartenplatz wäre allerdings überflüssig.<br />

Das Erziehungsentgelt ersetzt freilich kinder- und erziehungsbedingte öffentliche<br />

Sicherungsleistungen zugunsten der Eltern. Dazu gehören vor allem Anrechnungen<br />

der Erziehungszeiten in der GRV. Einmal ganz abgesehen von dem fragwürdigen<br />

Dauerwert der Münze, in der damit bezahlt wird; die Finanzierungslast<br />

wird nicht der Allgemeinheit, sondern nur einem Teil, nämlich dem – grosso<br />

modo – einkommensschwächeren Teil der Bevölkerung aufgebürdet. Im übrigen<br />

soll ein Erziehungsentgelt die Erziehenden auch dazu befähigen, für eine zusätzliche<br />

Altersversorgung Zahlungen zu leisten. Doch bliebe auch dies in ihrer<br />

eigenen Verantwortung.<br />

444<br />

Andeutungen zu den fiskalischen Kosten<br />

Die leidige Frage nach den fiskalischen Kosten eines Erziehungsgeldes steht<br />

auch hier im Raum. Doch muß der Hinweis genügen: Andernorts ist darüber<br />

gesprochen und geschrieben worden. 16 Schließlich stelle man sich vor, in<br />

Deutschland würden sämtliche Kapitalerträge sozialisiert und dann – etwa über<br />

Steuersenkungen – an alle Bürgerinnen und Bürger verteilt. Müßte ich bei meiner<br />

Forderung, schleunigst zum uns vertrauten System zurückzukehren, erst die<br />

fiskalischen Kosten spezifizieren?<br />

Dennoch sollen einige Überlegungen zu den fiskalischen Folgen des intendierten<br />

Erziehungsgeldes nicht verheimlicht werden.<br />

Wissen müßte man zunächst, wie hoch das Erziehungsgeld zu bemessen und wie<br />

lange es zu zahlen wäre. Nach den Vorstellungen des Verfassers sollte das Erziehungsgeld<br />

für drei Kinder sich auf ungefähr ein durchschnittliches Facharbeitereinkommen<br />

belaufen. Das Erziehungsgeld sollte auslaufen, wenn die Schulpflicht<br />

endet.<br />

Auf Anhieb werden die Kosten des Erziehungsgeldes ganz sicher überschätzt.<br />

Man darf nicht vergessen, daß eine Reihe von Wirkungen entstünden, die aus<br />

fiskalischer Sicht positiv sind. Das Aufkommen der Einkommensteuer würde<br />

direkt steigen; dazu kämen die indirekten Wirkungen bei der Einkommen-<br />

/Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer durch zusätzliche Käufe der Begünstigten.<br />

Transferzahlungen würden abnehmen. Dazu gehören die direkten Wirkungen<br />

auf Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslosenhilfe; auch einschlägige indirekte<br />

Wirkungen wären zu berücksichtigen. Befragungen haben nämlich gezeigt,<br />

daß ein „handfestes“ Erziehungsentgelt durchaus auf die Bereitschaft stößt, Arbeitsplätze<br />

(Halbtagsstellen) aufzugeben und also für bislang Arbeitslose zu<br />

räumen.<br />

Es soll indes nichts schöngeredet werden. Das Erziehungsentgelt kostet. Wer<br />

sich darauf nicht einlassen will, riskiert den Tod der deutschen Gesellschaft.


Was von der Gesellschaft zugunsten der Familien zu fordern ist, ist hier unter<br />

einem einzigen, dem Aspekt der Ökonomen behandelt worden. Freilich gibt es<br />

weitere Sichtweisen, die bei diesem schwierigen Thema zu berücksichtigen sind.<br />

Doch die Betonung des allokationspolitischen Kalküls wird damit motiviert, daß<br />

es sonst kaum zum Zuge kommt.<br />

Manche mögen es nicht, so über Familie und Kinder zu sprechen. 17 Das mag<br />

damit zusammenhängen, daß im deutschen Sprachraum mit dem Begriff „Wirtschaften“<br />

allerlei Vorstellungen über Verabscheuungswürdiges verbunden werden,<br />

die bestenfalls frei von Kriminalität, auf jeden Fall moralisch minor sind.<br />

Wirtschaft ist im Deutschen eine Sammelbezeichnung. Am wenigsten wird damit<br />

das begriffen, was der Ökonom meint, nämlich die Suche nach einer guten<br />

Antwort auf die Frage, wie die knappen Ressourcen einzusetzen seien, damit die<br />

Menschen insgesamt möglichst glücklich werden können – glücklich nicht nach<br />

der Auffassung von Besserwissern dieser oder jener Couleur, sondern nach ihrem<br />

eigenen Dafürhalten. Das ist der Ansatz, der die Überlegungen in diesem<br />

Beitrag geleitet hat.<br />

Anmerkungen<br />

1) Das BVG-Urteil erzeugt Erwartungen. Man vgl. auch Jahn, Joachim (2001): Eltern und<br />

Kinderlose, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 80 vom 04.04.2001, Seite 1.<br />

2) Ähnlich ders., ähnlich wiederum Zastrow, Volker (2001): Dynamisierte Sozialstaatsverfassung,<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung, a. a. O.<br />

3) Sie haben den Vorgang anders genannt, nämlich Abschaffung einer Diskriminierung,<br />

der die gleichgeschlechtlichen Paare gegenüber Eheleuten ausgesetzt seien. Dabei sollte<br />

klar sein: Wenn innerhalb einer Gruppe von Menschen die A-Menschen ein allgemeines<br />

Privileg erhalten, so ist das gleichbedeutend mit Diskriminierung der Nicht-A-Menschen.<br />

Abschaffung dieser Diskriminierung für einen Teil der Nicht-A-Menschen ist identisch<br />

mit Ausdehnung des Privilegs auf dieselben. Übrigens: Umfaßt dieser Teil der „Neuprivilegierten“<br />

die Gesamtheit der Nicht-A-Menschen, sind am Ende alle privilegiert - in<br />

Wahrheit niemand mehr; es werden dann ja alle gleich behandelt. Zu behaupten, das alles<br />

sei ganz anders, nannte man, als Wahrhaftigkeit noch eine Tugend war, schlicht Demagogie.<br />

4) Der die Bundesregierung beratende Kollege Oberndörfer verlangt, daß ganztägig Betreuungsleistungen<br />

zur Verfügung gestellt werden – auf Kosten der öffentlichen Hand.<br />

5) Der Ökonom kann sich nicht die Bemerkung verkneifen: Und dafür benötigen wir ein<br />

ganzes Bundesfamilienministerium – mit allem was dazu gehört, auch den Kosten.<br />

6) Daß denen, die diese Forderungen mit dem Hinweis auf den bevölkerungsstrukturbedingt<br />

notleidend werdenden Arbeitskräftebedarf untermauern, ein volkswirtschaftlicher<br />

Grundtatbestand noch nicht ins Blickfeld geraten ist, sei nur am Rande erwähnt: Wenn<br />

nämlich Eltern für ihre Kinder Betreuungsleistungen am Markt einkaufen können, gibt es<br />

Leute, die ein entsprechendes Angebot bereit halten; die stehen dann für „sinnvollere“<br />

Tätigkeiten in den Unternehmen nicht zur Verfügung.<br />

7) Zum Glück gibt es parallel ähnliche Forderungen. Man vgl. Geisler, Hans (1998):<br />

Diskussionspapier zum Modell eines Erziehungsgehaltes. Dr. Hans Geisler, Sächsischer<br />

Staatsminister für Soziales, Gesundheit und Familie, Albertstraße 10, 01097 Dresden.<br />

Hatzhold, Otfried und Christian Leipert (1996): Erziehungsgehalt. Wirtschaftliche und<br />

soziale Wirkungen bezahlter Erziehungsarbeit der Eltern. Gutachten, erstellt im Auftrag<br />

445


des Deutschen Arbeitskreises für Familienhilfe e.V., Freiburg/Br.; Leipert, Christian und<br />

Michael Opielka (1998): Erziehungsgehalt 2000. Ein Weg zur Aufwertung der Erziehungsarbeit.<br />

Deutscher Arbeitskreis für Familienhilfe e.V., Freiburg/Br. Leipert, Christian<br />

(Hrsg.) (1999): Aufwertung der Erziehungsarbeit. Europäische Perspektiven einer Strukturreform<br />

der Familien- und Gesellschaftspolitik. Opladen: ISBN 3-8100-2341-8. Ders.<br />

(2000): Familie als Beruf, in: Die politische Meinung Nr. 367, Juni 2000, S. 83-88.<br />

Milbradt, Georg (1999): Ökonomische Überlegungen für einen zukunftsorientierten Finanzausgleich.<br />

Rede von Staatsminister Prof. Dr. Georg Milbradt auf dem Bundeskongreß<br />

„Familienpolitik 2000“ der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU und CSU<br />

Deutschlands am 16. April 1999 in Dresden. Nicht vergessen werden dürfen die Beiträge<br />

des Heidelberger Büro für Familienfragen und Soziale Sicherheit e.V., Träger: Deutscher<br />

Arbeitskreis für Familienhilfe e.V., Freiburg/Br., insbesondere seines engagierten Pressesprechers<br />

Kostas Petropulos. Man vgl. aber auch die einschlägigen Schriften des Sozialrichters<br />

Jürgen Borchers sowie des Bundesverfassungsrichters a. D. Paul Kirchhof, z. B.<br />

in der Wochenschrift ZEIT Nr. 03/2001.<br />

8) Mildtätigkeit allgemein zu diffamieren, darum kann es überhaupt nicht gehen. Staatliche<br />

und kommunale Mildtätigkeit ist notwendig (Not wendend), weil die private, individuelle<br />

Barmherzigkeit bei weitem nicht ausreicht oder sonstwie versagt, obwohl sie besser<br />

wäre (durch Gesetze fließt kein Herzblut). Doch öffentliche Mildtätigkeit trieft, und nicht<br />

zu selten stinkt sie auch – dann nämlich, wenn mit ihr andere als die vorgegebenen Ziele<br />

verfolgt werden, zum Beispiel die eigene Karriere der professionell Mildtätigen.<br />

9) Andere Kollektivgüter sind zum Beispiel die Straßenbeleuchtung und der Schutz der<br />

Küstengebiete vor Hochwasser.<br />

10) Musgrave, Richard. A. (1966): Finanztheorie, übersetzt von Lore Kullmer unter Mitarbeit<br />

von Hans Fecher. J.C.B. Mohr, Tübingen.<br />

11) Arbeitseinkommen gehört dazu, indes auch jedes Einkommen anderer Art, das aus<br />

transitiver Tätigkeit, also unter Einsatz von Humankapital, entsteht.<br />

12) Das ist holzschnittartig gezeigt worden in Nachtkamp, Hans Heinrich (2000): Plädoyer<br />

für eine staatliches Erziehungsentgelt, in: ifo Schnelldienst, März 2000.<br />

13) Handgreiflich ad oculos demonstriert dies das System der gesetzlichen Rentenversicherung;<br />

das Problem ist freilich umfassender.<br />

14) Wer beklagt, daß Kinderfreibeträge zu um so höheren Steuerersparnissen führen, je<br />

höher das Einkommen ist, hat das System der deutschen Einkommensteuer nicht verstanden.<br />

Im übrigen ist erstaunlich, daß im Hinblick auf die Wirkung des Grundfreibetrags<br />

nicht dieselbe Argumentation geführt wird, wirken diese doch nicht anders und haben sie<br />

in der Besteuerung doch dieselbe Funktion. Erklären könnte man sich die Diskrepanz,<br />

wenn die Argumentation vorwiegend von Kinderlosen mit vergleichsweise hohem Einkommen<br />

geführt würde.<br />

15) Deswegen plädiere ich auch dafür, von Erziehungsentgelt zu sprechen, nicht von<br />

Erziehungsgehalt. Mit diesem Wort werden zu leicht Vorstellungen verbunden, die zu<br />

Einkünften aus unselbständiger Tätigkeit gehören.<br />

16) So gibt es Veröffentlichungen des ifo Instituts. Man vgl. zusätzlich Hatzold, Otfried,<br />

und Christian Leipert (1996), a. a. O., sowie Leipert, Christian, und Michael Opielka<br />

(1998), a. a. O.; außerdem gibt es ausländische Erfahrungen.<br />

17) so Blüm, Norbert (2001): In einer Kosten-Nutzen-Analyse haben es Kinder schwer,<br />

FAZ Nr. 85 vom 10.04.2001, S. 3.<br />

Prof. Dr. Hans Heinrich Nachtkamp lehrt Volkswirtschaftslehre, insbesondere<br />

Finanzwissenschaft an der Universität Mannheim.<br />

446


Cornelius G. Fetsch<br />

Vermögensbeteiligung<br />

Grundlage moderner Wirtschafts- und Sozialpolitik<br />

I. Die Ausgangssituation: 3-Säulen-Plattform in Schieflage<br />

Die Vermögensbildung ist in Deutschland traditionell von 3 Säulen getragen: Der<br />

Anspruch an die gesetzliche Rentenversicherung für das Alter ist die 1. Säule. Eine<br />

lange Geschichte hat als 2. Säule die betriebliche Altersvorsorge. Sie beruht auf<br />

freiwilliger Vereinbarung zwischen den Betrieben und den Mitarbeitern. Die 3.<br />

Säule ist die private Vermögensbildung. Durch politische Unwetter wurden diese<br />

Säulen in den letzten Jahrzehnten z. T. stark angegriffen und unterschiedlich entwickelt,<br />

so daß von einer aktuellen Schieflage gesprochen werden muß.<br />

Vermögensbildung ist kein isolierter Vorgang in der Gesellschaft. Sie ist Teil der<br />

jeweiligen Steuer-, Sozial- und Gesellschaftspolitik. Mit dem Wandel, den die<br />

Globalisierung auslöste, erhöht sich die Bedeutung der Vermögensbildung. Die<br />

von den Kirchen und der Politik eingeforderte Beteiligungsgerechtigkeit für alle<br />

Bürger führt zu neuen Formen der Vermögensbeteiligung. Materielle und immaterielle<br />

Vermögensbeteiligung in Bildung werden zunehmend in ihrer Bedeutung<br />

anerkannt sowohl für die Abdeckung der Risiken des beruflichen Lebens wie auch<br />

der Altersvorsorge. Vielfach unbekannt ist der aktuelle Stand der Vermögensbildung<br />

in Deutschland; sie ist gekennzeichnet durch drei bedeutende Trends: die<br />

nachlassende Sparneigung, das steigende Renditebewußtsein und die zunehmende<br />

Risikobereitschaft der Bürger.<br />

1. Das Sparen der privaten Haushalte ist seit 1992 von DM 265 Mrd. p. a. auf DM<br />

241 Mrd. im Jahre 1999 gesunken. Im gleichen Zeitraum ging die Sparquote, d.h.<br />

der Anteil der Ersparnisse am verfügbaren Einkommen, von 12,9% auf 9,7% zurück.<br />

Das war knapp jede zehnte Mark des verfügbaren Einkommens der Privathaushalte.<br />

Die laufenden Ersparnisse, zu denen die Leistungen im Rahmen der<br />

staatlichen Sparförderung noch hinzukommen, sind mit einem Anteil von rund<br />

zwei Dritteln die Hauptfinanzierungsquelle der privaten Vermögensbildung. Das<br />

restliche Drittel - für 1999 waren dies schätzungsweise DM 144 Mrd. - wird durch<br />

Kreditaufnahmen zur Finanzierung von Wohneigentum, gewerblicher Aktivitäten<br />

und sonstiger Zwecke gedeckt. Insgesamt haben die Privathaushalte der Geldvermögensbildung<br />

1999 DM 277 Mrd. zugeführt.<br />

2. Die Deutschen sind seit Mitte der 90er Jahre wesentlich renditebewußter geworden.<br />

Spareinlagen, Sparbriefe und Termineinlagen entwickeln sich tendenziell<br />

rückläufig. Wurden in den 5 Jahren von 1992 bis 1996 noch durchschnittlich DM<br />

101 Mrd. p. a. bei Banken und Bausparkassen angelegt, so waren es 1999 nicht<br />

einmal mehr DM 20 Mrd. Hingegen nahm die Anlage in Wertpapieren im vergangenen<br />

Jahrzehnt kräftig zu. Anlagefavoriten waren zunächst Rentenwerte 1994/95,<br />

447


später vor allem Investmentzertifikate und seit 1999 auch Aktien. Kräftig zulegt<br />

hat zudem das Versicherungssparen von DM 72,6 Mrd. in 1992 auf DM 128 Mrd.<br />

in 1999. Dies dürfte zum einen das gestiegene Bewußtsein der Notwendigkeit, die<br />

private Altersvorsorge zu verstärken, reflektieren, zum anderen aus steuerlichen<br />

Vorteilen dieser Sparform (u. a. steuerfreie Erträge) resultieren.<br />

3. Die Deutschen sind risikobereiter bei der Auswahl ihrer Geldanlagen geworden,<br />

Seit dem Börsengang der Telekom im November 1996 erfreuen sich Aktien wachsender<br />

Beliebtheit. Die Zahl der Aktionäre, die von 1992 bis 1996 auf 3,75 Mio.<br />

leicht rückläufig war, ist seither auf 6,23 Mio. im 1. Halbjahr 2000 kräftig gestiegen.<br />

Bezieht man Aktienfonds in die Betrachtung mit ein, so ergibt sich sogar eine<br />

Zahl von 11,32 Mio. Besitzern von Aktien und Aktienfondsanteilen; das sind mehr<br />

als doppelt so viele wie 1997 (5,6 Mio.). Zu diesem positiven Trend haben zuletzt<br />

auch die zeitweise starken Kurssteigerungen am Neuen Markt („TMT-Fieber“ =<br />

Telekommunikation, Medien, Technologie) erheblich beigetragen. Von den rund<br />

6,2 Mio. Aktionären in Deutschland besaßen im Durchschnitt des ersten Halbjahres<br />

2000 1,17 Mio. ausschließlich Belegschaftsaktien und 535.000 sowohl Belegschaftsaktien<br />

als auch andere Aktien. 4,5 Mio. Anleger besaßen ausschließlich<br />

andere Aktien.<br />

Das unterschiedlich reale Wachstum der einzelnen Anlegergruppen seit 1992 spiegelt<br />

das in den letzten Jahren deutlich gestiegene Interesse der deutschen Privatanleger<br />

an der Anlageform Aktie wider. Die Zahl der reinen Belegschaftsaktionäre<br />

sank von 1992 bis 2000 um über 11,3%, die Zahl der Aktionäre mit anderen Aktien<br />

hingegen stieg um 85,9%. Die Zahl der Belegschaftsaktionäre, die gleichzeitig<br />

auch andere Aktien besaßen, stieg mit 133,6% am stärksten - ein deutlicher Beleg<br />

dafür, daß die Förderung der Mitarbeiterbeteiligung langfristig zur Entwicklung<br />

der Aktienakzeptanz bei den Arbeitnehmern beiträgt und deshalb wieder stärker als<br />

Instrument der Vermögenspolitik genutzt werden sollte.<br />

In den alten Bundesländern nahm die Aktionärszahl von 1992 bis 2000 um 45,5%<br />

zu, in den neuen Bundesländern von einer viel geringeren Ausgangsbasis aus um<br />

548,8%. Das wesentlich stärkere Wachstum der Aktionärszahlen in den neuen<br />

Bundesländern läßt erwarten, daß sich auf diesem Gebiet die Unterschiede in den<br />

nächsten Jahren deutlich vermindern werden.<br />

Noch stärker als der direkte Aktienbesitz hat in den letzten Jahren der indirekte<br />

Besitz in Form von Anteilen an Aktienfonds und gemischten Fonds zugenommen.<br />

Von 1997 bis zum ersten Halbjahr 2000 stieg die Zahl der Aktienfondssparer von<br />

2,3 auf 4,7 Mio. Die Zahl der Anleger, die ausschließlich Aktienfondsanteile besitzen,<br />

stieg von 1,59 auf 5,63 Mio., d. h. um fast 254%. Die Zahl der Besitzer von<br />

ausschließlich gemischten Fonds nahm von 557.000 auf 1,43 Mio. zu; die der<br />

Besitzer von Aktienfondsanteilen und Anteilen an gemischten Fonds stieg relativ<br />

am stärksten von 180.000 auf 888.000. (= 455%). Dies zeigt, daß die Privatanleger<br />

auch im Bereich der Fondsanlage zunehmend die Möglichkeiten wahrnehmen,<br />

durch Nutzung verschiedener Fonds eine Ris ikodiversifikation herbeizuführen.<br />

Die verbesserte Aktienkultur dürfte trotz zwischenzeitlicher Kursrückschläge ein<br />

dauerhaftes Phänomen sein, zumal die Bedeutung der Aktienanlage gerade auch<br />

448


für die Altersvorsorge zunehmend erkannt wird. Mit der Einführung des Euro<br />

haben private Haushalte begonnen, ihre Aktienanlagen stärker in andere Euroländer<br />

zu diversifizieren.<br />

4. Die Portfolioumschichtungen zugunsten von Aktien und Aktienfonds dürften<br />

nicht nur durch die gute Performance der Aktienmärkte sondern zu einem beachtlichen<br />

Teil auch durch Steuerrechtsänderungen verursacht sein. Die Halbierung des<br />

Sparerfreibetrages ab 1.1.2000 hat zu größeren Umschichtungen von zinstragenden<br />

und zinsorientierten Wertpapieren zu Aktien und aktienbasierten Investmentfonds<br />

geführt, deren Kursgewinne - nach Ablauf der auf ein Jahr verlängerten Spekulationsfrist<br />

- steuerfrei vereinnahmt werden können.<br />

5. Alles in allem haben Kapitaleinkommen in den 90er Jahren im Vergleich zu den<br />

Arbeitseinkommen gewonnen.<br />

6. Die Einzelheiten des Spar- und Anlageverhaltens der privaten Haushalte sowie<br />

der verschiedenen Formen der Vermögensbildung in den Jahren 1992 bis 1999<br />

gehen aus der Übersicht der Deutschen Bundesbank vom Juni 2000 hervor.<br />

II. Ziel: Die Existenz des Einzelnen für alle Lebensstufen sichern<br />

Moderne Vermögensbildung ist keine isolierte Einzelmaßnahme des Arbeitnehmers<br />

oder des Unternehmers, sondern Teil der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie<br />

ist eine doppelte Partnerschaft zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber<br />

wie auch zwischen dem Bürger und dem Staat. Sie gliedert sich in 3 Zielbereiche:<br />

1. Bildung<br />

Die wirtschaftliche Globalisierung hat zu einer Neubewertung gesellschaftlicher<br />

Faktoren und Werte geführt. Begriffe wie Familie, Nation, Heimat und Bildung<br />

werden zugleich vermißt wie auch neu erkannt und diskutiert. Die ökonomische<br />

Entwicklung in Verbindung mit dem technischen Fortschritt, der Beschleunigung<br />

der Informations- und Kommunikationstechnik sowie der politischen Entwicklung<br />

aller Länder zu einer „ersten Welt“ haben in der Gesellschaft deutlich gemacht,<br />

daß eine breite Bildung Grundlage und Baustoff für die Weiterentwicklung auf<br />

allen Gebieten ist. Wissen und Können werden als Voraussetzung für jede Fortentwicklung<br />

in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mehr denn je erkannt. Keine<br />

Gemeinschaft kann sich nicht-mobilisiertes Können und vernachlässigte Eliten<br />

mehr erlauben. Richtige Entfaltung intellektueller Veranlagungen führt zur Entwicklung<br />

neuer Fähigkeiten und dem Verständnis von Zusammenhängen. Fähigkeiten<br />

ohne humane Einbindung und gesellschaftliche Zusammenhänge sind gefährlich.<br />

Die Entwicklung von Motivation führt zu der Frage nach den Lebenszielen. Die<br />

wesentlichen Anreize hierzu erfolgen in der Familie. Die Förderung der vielfältigen<br />

Ve ranlagungen der Menschen steigert nicht nur die individuellen Chancen<br />

vieler, sondern macht auch die Verpflichtung zur Selbstverantwortung klar. Diese<br />

auf den einzelnen bezogenen Aussagen haben ihren Grund in der Katholischen<br />

Soziallehre, die „die Person als Ursprung, Träger und Ziel der Gesellschaft“ sieht<br />

(GS 63).<br />

449


Übertragen auf den ökonomischen Sektor bedeuten diese Aussagen und Erkenntnis,<br />

daß jede Volkswirtschaft und darin jeder einzelne Bürger nur dann eine Zukunft<br />

haben, wenn alle Wissensressourcen gezielt ausgenutzt werden. Dies führt zu<br />

den klaren Forderungen und Notwendigkeiten auf dem Bildungssektor. Für den<br />

einzelnen bedeutet dies die Verpflichtung zu einer ständigen (Weiter-) Bildung.<br />

Bei abhängig Beschäftigten kann dies nur in Absprache mit „seinem“ Betrieb<br />

erfolgen. Auch der Staat muß daran interessiert sein, einen Rahmen zu schaffen,<br />

innerhalb dessen die employability des einzelnen und die Wettbewerbsfähigkeit der<br />

Unternehmen ermöglicht wird.<br />

Für Eltern werden Investitionen in die Ausbildung ihrer Kinder immer wichtiger.<br />

Wissen in den Köpfen kann nicht enteignet und gestohlen werden. Bildung ist<br />

somit zugleich das notwendige Startkapital und der Überlebensfaktor in der sich<br />

abzeichnenden Wissensgesellschaft. Für alle drei Zielbereiche gilt: Vermögensbeteiligung<br />

ist ein Prozeß. Sie bedeutet gleichzeitig Vermögensbildung von Konsum-<br />

und Produktivkapital, von Altersvorsorge wie auch wachendes Engagement in<br />

(Weiter-) Bildung und Wissen. Wissen schafft Zukunft.<br />

2. Geld, Wohneigentum, Produktivkapital<br />

Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte die bisherige politische kirchliche<br />

und steuerliche Debatte der Nachkriegszeit alleine die Vermögensbildung des<br />

Arbeitnehmers zum Ziel. Die Sparvorschläge dieser Jahre: Zwangssparen in Form<br />

paritätisch besetzter (Branchen-) Fonds zeigen auf, daß die Politik den Arbeiter/Arbeitnehmer<br />

im Grunde genommen als unfähig ansah, seine wirtschaftlichen<br />

Interessen selber zu regeln und zu entscheiden. Erst die Fortentwicklung der gesellschaftspolitischen<br />

Debatte führte zu der Erkenntnis, daß eine zeitgemäße Ve rmögensbildung<br />

möglichst alle Bürger einschließen sollte und die Sparmittel auch<br />

in Form von Produktivkapital angelegt werden sollte. Hierin spiegelte sich die<br />

Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft wider. Der einzelne Bürger ist in<br />

vielen Bereichen freier, selbständiger und fähiger geworden; er will und kann als<br />

Wirtschaftsbürger selber Rechte und Pflichten wahrnehmen. Die Wirtschaft. ist im<br />

Zuge der Industrialisierung heute global tätig und damit einem verstärkten Konkurrenzdruck<br />

ausgesetzt. In den letzten Jahren hat es Deutschland akzeptieren müssen,<br />

daß die wachsende Arbeitslosigkeit nicht konjunkturell, sondern strukturell begründet<br />

ist. Ein Mittel, moderne und zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen, sind<br />

Investitionen im Produktiv-Bereich. Hier möglichst breite Schichten der Bevölkerung<br />

zu beteiligen, ist das Anliegen der verstärkten Bildung von Produktivvermögen.<br />

Diese Form des Engagements des Wirtschaftsbürgers führt mittelfris tig zu<br />

zwei Arten von Einkommen aus: Lohn/Gehalt aus einer Beschäftigung oder eigenen<br />

Tüchtigkeit - sowie Einkommen aus Vermögen.<br />

Der sozialethische und ökonomische Angelpunkt bei dem Problem der Vermögensverteilung<br />

ist (lt. Prof. L. Roos) die Frage, in welchem ursächlichen Verhältnis<br />

das Produktivkapital zu den anderen Vermögensarten steht. Zusammen mit der<br />

ausführenden Tätigkeit der Arbeitnehmer und der dispositiven Tätigkeit der Unternehmer<br />

ist das Produktivkapital die Voraussetzung jeglicher marktfähiger Produktion<br />

und insoweit die Quelle sämtlicher anderer Vermögensarten. Nur in dem Masse,<br />

wie das Produktivkapital so eingesetzt wird, daß daraus auf dem Markt mit<br />

450


Gewinn, mindestens aber kostendeckend absetzbare Produkte entstehen, können<br />

Arbeitsentgelte gezahlt werden, aus denen sich das Verbrauchs- und Gebrauchseigentum<br />

bildet sowie Spargelder zurückgelegt und Grundstücke erworben werden.<br />

Nur so sind die nötigen Steuern und Abgaben zu erwirtschaften, die das System<br />

der sozialen Sicherung, insbesondere die Rentenzahlungen und der unentgeltlich<br />

angebotenen öffentlichen wirtschaftlichen Leistungen „speisen“. Alle Leistungsentgelte<br />

bzw. sozialen Transferleistungen einer Gesellschaft entstehen aus der<br />

ökonomischen Effizienz der Produktionsfaktoren Arbeit, dis positive Tätigkeit und<br />

Produktionskapital (einschließlich „Boden“). Ist das Produktivkapital ökonomisch<br />

effizient eingesetzt, schaffen es also die hinter den „Produktionsfaktoren“ stehenden<br />

Menschen, nämlich die Arbeitnehmer, die Kapitalgeber und die beiden miteinander<br />

verbundenen Inhaber unternehmerischer Kompetenz (Unternehmer und<br />

Manager) gemeinsam nicht, die „Produktionsfaktoren“ zu marktgängiger Produktion<br />

gewinnbringend zu nutzen, versiegen die Quellen des Wohlstandes und die<br />

damit gekoppelte wirtschaftliche Sicherheit sämtlicher Vermögensformen. Die<br />

jahrzehntelange Kapital-Fehlleitung und Kapitalvernichtung in den kommunistischen<br />

Ländern liefert hierfür bis heute einen traurigen Beweis.<br />

Der Nutzen des Produktivkapitals für alle hängt also zunächst nicht von seiner<br />

Verteilung ab, sondern von seinem ökonomisch erfolgreichen Einsatz. Nur dann<br />

können sowohl die gerechten Leistungsentgelte wie auch die erforderlichen Transferzahlungen<br />

erwirtschaftet werden, aus denen sich sämtliche Vermögensformen<br />

bilden. Ob aber vom wirtschaftlichen Erfolg des Produktivkapitals tatsächlich alle<br />

Bürger genügend „profitieren“ hängt in einer rechts- und sozialstaatlichen Demokratie<br />

von der Wirtschafts- und Sozialordnung insgesamt ab: vom Tarifrecht und<br />

der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften; vom Betriebsverfassungs- und Unternehmensverfassungsrecht<br />

und den darin verankerten Rechten der Nichteigentümer;<br />

vom Steuer- und Sozialversicherungsrecht und der dadurch bewirkten Verteilung<br />

des Einkommens. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, daß die dem<br />

Produktivkapital aufgebürdeten Soziallasten dazu führen, daß es sich nicht mehr<br />

angemessen verzinst und woandershin auswandert. Dieses ist angesichts der Mobilität<br />

der Produktionsfaktoren im vereinten Europa und in der globalisierten Wirtschaft<br />

nicht zu verhindern, ja sogar notwendig, wenn sich die Unternehmen auf<br />

dem Weltmarkt behaupten wollen.<br />

War es in der Nachkriegszeit verständlich, daß auf Grund des Aufholbedarfs das<br />

Sparen in Geld für Konsumgüter und den Abschluß von Bausparverträgen im<br />

Vordergrund des Interesses stand, so gewinnt heute das Sparen von Geld für die<br />

Direktanlage in neue Vorsorgeformen für die Altersversorgung und in Produktivkapital<br />

zum Aufbau einer zweiten Einkommensquelle eine ganz neue und stark<br />

wachsende Bedeutung. Hier zeigt sich die zunehmende Verbindung und gegenseitige<br />

Abhängigkeit moderner Wirtschafts- und Sozialpolitik. Daraus leiten sich zwei<br />

Forderungen ab:<br />

a) Das Steuerrecht, das Sozialrecht und die Vermögenspolitik mü ssen aufeinander<br />

abgestimmt werden. Nur ein solches ordnungspolitisches Gesamtkonzept kann die<br />

aktuellen und sich abzeichnenden Probleme: Arbeitslosigkeit, Beschäftigung in der<br />

Wissensgesellschaft, Globalisierung sowie die Reform der Sozialsysteme lösen.<br />

451


) Barrieren in der Vermögensbildung für den einzelnen Bürger sind weiter abzubauen,<br />

und die freiwillige Entwicklung zum individuellen Sparen ist zu fördern.<br />

Transparenz ist gerade auf diesem Gebiet von besonderer Bedeutung.<br />

3. Altersvorsorge<br />

In den Jahren der dynamischen Wohlstandsentwicklung nach dem II. Weltkrieg<br />

stand der Gedanke der ständigen Ausweitung der öffentlichen Sozialleistungen im<br />

Mittelpunkt der Politik. Die demographische Entwicklung in Deutschland führte zu<br />

der Ausuferung des „Sozialstaates“ heutigen Ausmaßes, der finanziell nicht mehr<br />

darstellbar und sozialethisch unvertretbar geworden ist. Parallel zu dem stetigen<br />

Aufbau der Staatsverschuldung ist der (Wirtschafts-)Bürger immer mündiger und<br />

selbstbewußter geworden. Heute ist es für die jüngere und mittlere Generation<br />

erstaunlich, wie lange die Gesellschaft der politischen Parole „Die Rente ist sicher“<br />

Glauben schenkte mit der Folge, neben der gesetzlichen Rente keine private Altersversorgung<br />

eigenen Rechtes separat aufzubauen.<br />

Daß Rechtsansprüche an das gesetzliche System der Versicherung wie auch an<br />

privat abgeschlossene Lebensversicherungen und andere Altersvorsorge-Instrumente<br />

Vermögenswerte darstellen, ist erst sehr spät in der breiten Öffentlichkeit<br />

bewußt geworden. Die Diskussion um die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung<br />

(GRV) hat u. a. verdeutlicht, daß die privat finanzierte Altersvorsorge ein<br />

wesentlich höheres finanzielles Ergebnis aufweist. Privat finanzierte Altersversorgung<br />

neben der GRV als Sockelversorgung wird heute zunehmend als zeitgemäße<br />

und notwendige Form der Vermögensbildung akzeptiert. Dies ist mehr eine Frage<br />

der Einstellung der Menschen geworden, in welchem Ausmaß sie den Staat brauchen<br />

und auch im Alter von ihm abhängig sein wollen. Sparkapital ist grundsätzlich<br />

vorhanden; auch die Umschichtung von Vermögen in neue Spezialfonds für<br />

Altervorsorge wird mehr und mehr wahrgenommen.<br />

Entscheidend für diese neue Form der Vermögensbildung ist der selbständig agierende<br />

Bürger; er ist verantwortungsfähig und willig, als „vernünftiger Hausvater“<br />

wesentliche Entscheidungen selber zu treffen. Vermehrter Durchblick und Transparenz<br />

sowie Wissensvermittlung spielen eine entscheidende Rolle, den notwendigen<br />

Handlungsspielraum zu schaffen.<br />

452<br />

III. Der Aktionsplan: Eine Gesellschaft von Teilhabern<br />

1. Lebensstandardsicherung auf drei Säulen<br />

1.1. Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV)<br />

In Deutschland ist die Reform der gesetzlichen Altersversorgung angesichts der<br />

sinkenden Zahl von Beitragszahlern, der wachsenden Zahl von Rentnern und der<br />

zunehmend länger werdenden Lebenserwartung in Verbindung mit der Arbeitslosigkeit<br />

das größte gesellschaftspolitische Problem.<br />

Die in der politischen Diskussion in diesem Zusammenhang häufig geforderte<br />

„Solidarität“ kann nicht von einer Generation eingefordert werden, die ihrer eigenen<br />

Verpflichtung, für eine natürliche Fortführung des Drei-Generationen-Vertrages<br />

zu sorgen, nicht nachgekommen ist. Werden weniger Kinder geboren, entsteht


ein Gerechtigkeitsproblem: Eine Generation mit einer relativ geringen Nachkommenschaft<br />

kann Renten nicht in gleicher Höhe beziehen wie eine Generation mit<br />

zahlreicher Nachkommenschaft, vor allem dann nicht, wenn eben diese nachfolgende<br />

Generation nicht unverhältnismäßig hohe Beiträge zur Sicherung der nicht<br />

mehr erwerbstätigen Generation aufbringen soll.<br />

Spätestens die Quersubventionierung der gesetzlichen Rentenversicherung durch<br />

die gesonderte Erhöhung der Mineralölsteuer im Jahre 1999 zur Vermeidung eines<br />

weiteren Anstieges der Lohnzusatzkosten und des Beitragssatzes in der GRV hat<br />

dem Bürger und Steuerzahler die Bedingtheit von Beschäftigung, Investitionen und<br />

sozialer Sicherheit vor Augen geführt. Die Diskussion um eine mittelfristige GRV-<br />

Reform zeigt unabhängig vom politischen Standpunkt des Betrachters auf, daß die<br />

gesetzliche Rentenversicherung (1. Säule) auf Dauer nur noch eine Kern-/ Sockelversorgung<br />

auf der Basis des Umlageverfahrens im Sinne einer „Lebensgrundsicherung“<br />

oberhalb des Sozialhilfeniveaus bieten kann, während eine „Lebensstandardsicherung“<br />

auf der Basis von ca. 70%des letzten Nettoeinkommens bei mindesten<br />

40 Berufs-/Beitragsjahren nur noch zusammen mit der 2. Säule (betriebliche)<br />

und der 3. Säule (private Altersvorsorge) durch Kapitaldeckung möglich ist.<br />

Der Bund Katholischer Unternehmer (BKU) hat im Juni 1999 ein Rentenreform-<br />

Modell veröffentlicht. Der BKU-Vorschlag nimmt Abschied von der Illusion, trotz<br />

der demographischen Entwicklung, der steigenden Lebenserwartung, der daraus<br />

abgeleiteten verlängerten Rentenbezugsdauer sowie des medizinischen Fortschritts<br />

den Rentnern weiterhin einen festen Prozentsatz von ca. 70% des Nettolohns vor<br />

Renteneintritt durch zu GRV zusagen und sichern zu können. Fachleute weisen seit<br />

Jahren darauf hin, daß für solche Rentenleistungen Beitragssätze von weit über<br />

30% nötig wären, ohne dabei die sich ebenfalls abzeichnende Krise in der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung und der Pflegeversicherung zu berücksichtigen. Der<br />

BKU befürwortet daher eine umlagefinanzierte Sockelrente oberhalb des Sozialhilfeniveaus<br />

nach seinem Rentenmodell im Rahmen der GRV mit ergänzenden Leistungen<br />

aus der betrieblichen (2. Säule) und teilweise obligatorischen Leistungen<br />

der privat finanzierten Altersvorsorge (3. Säule).<br />

1.2 Betriebliche Altersversorgung<br />

Somit kommen der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge eine ganz neue<br />

Bedeutung zu. Bisher hat hierfür in Deutschland im Gegensatz zu den angelsächsischen<br />

Ländern die Anlage in Beteiligungswerten kaum eine Rolle gespielt. Die<br />

Bürger nutzten überwiegend das Versicherungssparen. Den Lebensversicherungen<br />

war es vom Gesetzgeber nur gestattet, maximal 35% ihres Vermögens in Aktien<br />

anzulegen. Tatsächlich waren im 4. Quartal 1997 lediglich 3,3 Prozent in Aktien<br />

und 13,5 Prozent in Investmentzertifikaten investiert. Die Systeme der 2. Säule<br />

legten ihr Geld vorwiegend in zinsbringenden Darlehen in den Trägerunternehmen<br />

an. Diese restriktiven Anlagevorschriften wurden mit dem Sicherheitsbedürfnis<br />

und der Notwendigkeit gleichbleibender Erträge zur Erfüllung der laufenden Ve rpflichtungen<br />

begründet.<br />

Die 2. (betriebliche) Säule ist seit Jahren im Aufkommen rückläufig, weil der Staat<br />

und die Arbeitsrechtsprechung den Trägern ständig höhere Verpflichtungen mit<br />

unkalkulierbaren Risiken auferlegt haben. Auch die von Unternehmen durch eige-<br />

453


ne Leistung und/oder Umwandlung von Einkommensbestandteilen finanzierte Direktversicherung<br />

verlor aufgrund wiederholter steuerlicher Einschränkungen, zuletzt<br />

vom 1. April 1999, erheblich an Attraktivität.<br />

Durch einen Umstieg in der Anlagepolitik auf Beteiligungspapiere und Änderung<br />

der vertraglichen Gestaltung kann die betriebliche Altersversorgung einen neuen<br />

Auftrieb erhalten: Bisher wurde dem Arbeitnehmer eine feste monatliche Auszahlung<br />

zugesagt („defined benefit“), was zu den bekannten negativen Folgen für die<br />

Unternehmen, der Schließung zahlreicher Versorgungswerke und dem Ausbleiben<br />

neuer Einrichtungen, darüber hinaus, soweit noch nicht unverfallbar, zu Einbußen<br />

beim Arbeitsplatzwechsel führen und damit mobilitätshindernd wirken konnte.<br />

Daher sollte auch in Deutschland von dem in anderen Ländern verbreiteten „defined<br />

contributions“-System Gebrauch gemacht werden, bei dem den Arbeitnehmern<br />

nicht eine feste Rente, sondern eine Zusage für einen zweckbestimmten regelmäßigen<br />

oder ergebnisorientierten Beitrag gegeben wird, dessen Anlage in Aktien<br />

oder anderen Beteiligungswerten in freier Wahl dem Arbeitnehmer selbst überlassen<br />

bleibt. Er wird auf diese Weise nicht - wie bisher - Gläubiger eines Unternehmens,<br />

sondern Anteilseigner, wobei er auch die bestehenden staatlichen Zulagen<br />

nach dem Vermögensbildungsgesetz nutzen kann.<br />

Der notwendige Aufbau einer kapitalgedeckten betrieblichen Altersvorsorge muß<br />

auf freiwilliger Basis erfolgen. Zur Erzielung eines zufriedenstellenden Verbreitungsgrades<br />

können die Tarifvertragsparteien einen entscheidenden Beitrag leisten,<br />

indem sie auf freiwilliger Grundlage individuelle und flexible Lösungen finden, die<br />

der wirtschaftlichen Lage der Betriebe wie auch dem Versorgungsbedürfnis der<br />

Mitarbeiter gerecht werden. Dieser Weg muß durch eine deutliche Verbesserung<br />

der gesetzlichen Rahmenbedingungen gestützt werden, um die betriebliche Altersversorgung<br />

vor allem auch für kleinere und mittlere Unternehmen attraktiv zu<br />

machen.<br />

1.3 Private Altersvorsorge<br />

Nachdem mehrere Untersuchungen in den angelsächsischen Ländern nachgewiesen<br />

haben, daß über längere Zeiträume die Rendite von Aktien derjenigen von<br />

festverzinslichen Werten erheblich überlegen ist, beginnt erfreulicherweise auch in<br />

Deutschland ein Umdenken in Richtung einer breiteren Anlage in<br />

Beteiligungswerten. Schon bisher haben Investmentfonds durch „Auszahlpläne“<br />

mit und ohne Kapitalverzehr einen Weg gesucht, insbesondere für die<br />

Altersversorgung ein zusätzliches regelmäßiges Einkommen zu sichern. Dem<br />

Zusammenhang von privater Altersvorsorge und Bereitstellung von Risikokapital<br />

widmet der „Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft“ in<br />

seinem Gutachten besonderes Augenmerk; so auch die Deutsche Bundesbank in<br />

ihrem Monatsbericht vom Dezember 1999: „Möglichkeiten und Grenzen einer<br />

verstärkten Kapitaldeckung der gesetzlichen Alterssicherung in Deutschland“.<br />

Das seit dem 1. April 1998 geltende 3. Finanzmarktförderungsgesetz ermöglicht<br />

neben den bestehenden eine weitere Art von Investmentfonds: „Altersvorsorge-<br />

Sondervermögen (AS)“ mit besonderen, am Altersvorsorgeziel der Sparer ausgerichteten<br />

Bestimmungen. Der Bürger, der zusätzlich zur gesetzlichen Rente für<br />

454


sein Alter in Wertpapieren vorsorgen will, ist somit nicht mehr darauf angewiesen<br />

- wozu er häufig überfordert ist - sich sein eigenes Portefeuille zusammenzustellen,<br />

sondern kann sich hierzu spezieller AS-Fonds bedienen, die im Wettbewerb um<br />

den Kunden untereinander und mit den Lebensversicherungen stehen.<br />

In vielen Ländern haben private Formen der Eigenvorsorge bereits einen beachtlichen<br />

Anteil an der gesamten Altersversorgung erreicht und dabei neue Formen der<br />

Anlagemöglichkeiten entwickelt, die eine Einkommenssicherung im Alter zum<br />

Ziel haben. Hinsichtlich der Möglichkeiten, weitere Mittel für die private Finanzierung<br />

von Altersvorsorge zu erbringen, gibt es bereits von den Tarifparteien vereinbarte<br />

Modelle, betriebliche Sozialleistungen und/oder Lohn- und Gehaltszahlungen<br />

in Beteiligungskomponenten umzuwandeln sowie Zeitguthaben in Produktivkapital<br />

und Renten einzubringen.<br />

Bezüglich des Umfangs kapitalfinanzierter privater Vorsorgeleistungen der dritten<br />

Säule ist eine obligatorische Vorgabe des Gesetzgebers notwendig - vergleichbar<br />

den bestehenden gesetzlichen Vorschriften zum Abschluß von KFZ- und Brandversicherungen<br />

bei Häusern. Der BKU schlägt für die obligatorische Prämien-<br />

Höchstgrenze 4% des sozialversicherungspflichtigen Einkommens vor.<br />

Eine private kapitalgedeckte Altersvorsorge trägt in besonderer Weise dem demographischen<br />

Wandel in Deutschland Rechnung, weil dieser zukünftig zu einem<br />

Rückgang des Wirtschaftswachstums führt. Eine sinkende Bevölkerungszahl verringert<br />

die Menge an Arbeit, die zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen<br />

zur Verfügung steht. Zugleich bewirkt eine veränderte Arbeitsstruktur eine sinkende<br />

Produktivität. Ein solcher demographisch bedingter künftiger Rückgang des<br />

Wirtschaftswachstums verringert auch die Wachstumsrate der Lohnsumme. Zum<br />

Ausgleich müßte die jeweils arbeitende Generation höhere Beiträge zahlen, damit<br />

der heutige Lebensstandard auch in Zukunft sichergestellt werden könnte. Eine<br />

obligatorische Eigenvorsorge würde wie die bekannten, gesetzlich festgelegten<br />

Abgaben zu den Sozialsystemen die Nettolöhne verringern bzw. deren Anstieg<br />

dämpfen.<br />

Die bewußte Stärkung von privater, kapitalgedeckter Vorsorge der zweiten und<br />

dritten Säule ist ohne steuerliche Förderung nicht möglich. Steuerbefreite Höchstbeträge<br />

als Vorgabe des Gesetzgebers müssen einen festen Rahmen für alle Bürger<br />

schaffen. Innerhalb dieser staatlichen Vorgabe soll der Bürger seine Entscheidung<br />

treffen können, für welche der am Markt angebotenen Anlageformen kapitalfinanzierter<br />

Möglichkeiten er sich entscheidet.<br />

Diese staatliche Förderung ist auf die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze in der<br />

GRV zu beschränken. Diese Maßnahme sichert in besonderer Weise gegen unabsehbare<br />

Wechselfälle in der Berufsvita des Bürgers ab. Dieser steuerlichen Förderung<br />

bei dem Aufbau privater Altersvorsorge entspricht eine generelle Versteuerung<br />

aller zufließenden Einkünfte im Rentenstatus. Die Einführung dieser nachgelagerten<br />

Besteuerung ist schrittweise erforderlich.<br />

Dieser Vorschlag bedeutet eine Kurskorrektur in Richtung auf mehr persönliche<br />

Selbstverantwortung, aber auch mehr Selbstgestaltung. Mehr als zwei Drittel der<br />

Deutschen können sich lt. einer Veröffentlichung des Instituts der deutschen Wirt-<br />

455


schaft (IW) vom August 2000 eine private Absicherung für das Alter vorstellen;<br />

knapp jeder Sechste sorgt schon heute privat vor. Bei der Absicherung ist Zeit das<br />

größte Kapital. Nicht auf die Rendite kommt es in erster Linie an, sondern auf den<br />

langfristigen Vermögensaufbau und die Kapitalanlage. Deswegen muß besonders<br />

die junge Generation die Zeichen der Zeit erkennen. Offensichtlich ist dies der<br />

Fall, denn lt. FAZ vom 5.8.2000 stieg der Anteil der Aktionäre in der Bevölkerung<br />

über 14 Jahre im ersten Halbjahr von 12,9 auf 17,7 Prozent. Ein Kennzeichen<br />

besonderer Art ist auch die Tatsache, daß die Anzahl der Aktionäre in Deutschland<br />

die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder weit überschritten hat.<br />

2. Betriebliche und private Vorsorge in jedem Betrieb ist möglich: win-win-Situation<br />

für Arbeitnehmer und Unternehmen<br />

Es ist eine weit verbreitete Meinung, daß alle wirtschaftlichen Entscheidungen für<br />

die Beteiligten im Total immer nur ein Null-Summen-Spiel sein könne. Der Verlierer<br />

fühlt sich dementsprechend „über den Tisch gezogen“. Diese Ansicht ist falsch,<br />

denn sie kann nicht den wachsenden Wohlstand der Bürger in den demokratischen<br />

Volkswirtschaften erklären.<br />

Dieser Wohlstand beruht im wesentlichen auf der Erkenntnis, daß die in der Wirtschaft<br />

Tätigen durch ihr zunehmendes Wissen und selbständiges Handeln mehr<br />

und mehr partnerschaftlich zusammenarbeiten. Daraus entsteht eine win-win-<br />

Situation für alle Beteiligten. Maßgeblich tragen dazu innovative Vereinbarungen<br />

bei, von denen nachstehend einige aufgeführt sind:<br />

2.1 Direktversicherungen für kleinere und mittlere Firmen<br />

Bei der Möglichkeit, eine betriebliche Altersversorgung aufzubauen, wird gewöhnlich<br />

auf die großen Unternehmen verwiesen. Kleinere und mittlere Unternehmen<br />

fürchten feste Zusagen sowie den Verwaltungsaufwand eigener Versorgungssysteme.<br />

Auch hier gibt es inzwischen zahlreiche innovative Beispiele: So<br />

können Betriebe, die keine Mitarbeiterbeteiligung am eigenen Unternehmen<br />

einräumen wollen oder können, einen Beitrag leisten, indem sie im Rahmen<br />

einer ergebnisorientierten Lohnpolitik Anreize schaffen, daß Zusatzzahlungen<br />

nicht ausgezahlt werden, sondern am Kapitalmarkt unmittelbar oder in Aktien-<br />

bzw. gemischte Investmentfonds angelegt werden. Das „Altersvorsorgekonzept<br />

Handwerk“ ermöglicht eine spätere monatliche Rente über eine Direktversicherung,<br />

die in Form von Vorsorgearbeit (z. B. 1 Stunde Mehrarbeit pro Woche),<br />

Urlaubsgeld (z. B. 1 Tag pro Jahr), hälftiger Verwendung des Weihnachtsgeldes<br />

und Einbringung der vermögenswirksamen Leistungen erfolgen kann.<br />

Auch die Tarifpartner vereinbaren z. T. bereits entsprechende neue Lösungen in<br />

neuen Branchen und im Hinblick auf kleine und mittlere Firmen: so sieht z. B. der<br />

Tarifvertrag zwischen dem Unternehmerverband Industrieservice+Dienstleistungen<br />

e.V., Duisburg, und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Frankfurt/Main,<br />

vom 1.8.2000 eine entsprechende private Altersvorsorge vor. Diese wird<br />

jedoch nur wirksam in Form eines gesonderten Zuschusses von Seiten der Unternehmen<br />

wenn der Arbeitnehmer einen zusätzlichen Eigenbeitrag zu dieser privaten<br />

Altersvorsorge leistet.<br />

456


2.2 Betriebliche Altersversorgung als „Kombi-Pakt“-Vereinbarung bei ThyssenKrupp<br />

Zum 1. Januar 1999 ist die Novellierung des Betriebsrentengesetzes in Kraft getreten.<br />

Dieses Gesetz sieht als Neuerung leistungsorientierte Zulagen sowie die Entgeltumwandlung<br />

(etwa künftiges Gehalt, Urlaubsgeld, Tantiemen oder Gratifikationen)<br />

in „wertgleiche Anwartschaften auf Versorgungsleistungen“ vor. Ein Beispiel<br />

innovativer Nutzung ist der sogenannte „Kombi-Pakt“, die betriebliche Altersversorgung<br />

im ThyssenKrupp Konzern. Dieses neue Modell ist beitrags- und<br />

vergütungsorientiert; es sichert Risikofälle in jungen Jahren ab für den Fall der<br />

Invalidität bzw. Erwerbsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall und schafft zugleich<br />

Kapital für das Alter. Es eröffnet die Möglichkeit, durch eigene Beiträge<br />

selbstverantwortlich vorzusorgen unter Nutzung steuerlicher Vorteile. Jedes Mitglied<br />

kann anhand einer Beitragstabelle jederzeit ersehen, wie hoch der Umfang<br />

der Leistungen ist. Jährlich erhält jedes Mitglied einen Kontoauszug, der den aktuellen<br />

Stand seines Vermögenskontos wiedergibt.<br />

2.3 „Zeit-Wert-Papier“ von VW<br />

Beim Aufbau von Vorsorgekapital ist die Beteiligung der Arbeitnehmer über die<br />

Entgeltumwandlung und die Zusage von Versorgungsbausteinen im Wege der<br />

beitragsorientierten Leistungszusage ein wesentliches Element. Der Tarifvertrag<br />

der Chemischen Industrie zeichnet sich durch die Flexibilität tarifvertraglicher<br />

Lösungen am Beispiel der Nutzung vermögenswirksamer Leistungen zum Aufbau<br />

von Betriebsrentenanwartschaften aus.<br />

VW hat durch das „Zeit-Wert-Papier“ eine Verbindung der betrieblichen Altersversorgung<br />

mit der Nutzung von Arbeitszeitwertguthaben kombiniert. Dieses Konzept<br />

bietet dem Arbeitnehmer die Lösung zur individuellen und eigenverantwortlichen<br />

Gestaltung der Lebensarbeitszeit, dem Unternehmen eine flexible Beschäftigungssteuerung<br />

im Sinne eines „atmenden Unternehmens“ ohne daß dem Staat<br />

zusätzliche Belastungen der Rentenkasse entsteht.<br />

Bei dem Zeit-Wert-Papier erbringt der Arbeitnehmer Beiträge in Form von Geld<br />

oder Zeitanteilen. Die Wertsteigerung erfolgt durch ein professionelles Management,<br />

auch unter Nutzung aller steuerlichen Möglichkeiten. Die Entnahme erfolgt<br />

wahlweise als Verkürzung der Lebensarbeitszeit, als Altersteilzeit oder als Erhöhung<br />

der Altersversorgung. Die Teilnahme ist freiwillig. Die Einlagen sind insolvenzgesichert.<br />

Das Zeit-Wert-Papier wird in Publikumsfonds umgesetzt. Sie werden<br />

im Laufe der Zeit strukturell angepaßt, indem sukzessive Aktien in Renten<br />

umgeschichtet werden.<br />

Das Handling erfolgt durch marktgängige Banken, z. Z. durch die Bayerische<br />

Hypotheken und Wechselbank. Dadurch gehen die persönlichen Ansprüche auch<br />

bei einem Firmenwechsel mit dem Sparer mit. Dies und die Marktgängigkeit sind<br />

ein großer Fortschritt gegenüber der bisherigen Situation, in der die Ansprüche an<br />

betriebliche Versorgungssysteme generell an die Beschäftigung in dem Unternehmen<br />

der Erstzusage gebunden war. Das neue Modell bietet zusätzlich dritten Firmen<br />

die Möglichkeit der Nutzung dieser Publikumsfonds für ihre Mitarbeiter, ohne<br />

dafür eine eigene Organisation aufbauen zu müssen.<br />

457


3. Die atmende Gesellschaft: Rücknahme des Staates zum Wohle aller<br />

Unternehmen können letztlich nur in einem freien Umfeld erfolgreich sein. Ein zu<br />

mächtiger Staat engt sowohl die Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen wie<br />

auch durch zu hohe Steuern und Abgaben den Handlungsspielraum des einzelnen<br />

ein. Es liegt in der Natur der Sache, daß kein Staat alle Wünsche und Ansprüche,<br />

die an ihn gerichtet werden, erfüllen kann. Bei einem Staatsanteil von über 50%<br />

am Bruttoinlandsprodukt (BIP) kann nicht von einer marktwirtschaftlichen Ordnung<br />

gesprochen werden.<br />

Der wohl schwerwiegendste Vorwurf, der gegen die heutige gesellschaftliche<br />

Situation erhoben wird, ist die sogenannte Gerechtigkeitslücke. Nach Aristoteles<br />

bedeutet Gerechtigkeit, „jedem jederzeit das Seine gewähren zu wollen“. In dieser<br />

Definition ist angelegt, daß es sich bei der Gerechtigkeit nicht um einen einmal<br />

erreichten Zustand handelt, sondern um ein ständiges Bemühen und Tun. Dies<br />

bedeutet, daß wir keine gesellschaftliche Situation und Konditionen festschreiben<br />

können, sondern daß es gilt, eine einsichtige und verständliche Zielsetzung aufzuzeigen.<br />

Zu jeder wirklichen Zielsetzung gehört eine ethische sowie eine reale/ökonomische<br />

Aufgabenstellung. Übertragen auf unsere Situation erfordert dies<br />

die Schaffung einer Rahmenordnung, die dem Bürger positive Handlungsmöglichkeiten<br />

über die heutigen Grauzonen, die Schwarzarbeit und die Verweigerung<br />

gegenüber dem Staat, hinaus eröffnen. Es gilt, die Umgestaltung und Anpassung<br />

der Gesellschaft als Ziel zu erkennen, statt einer stetigen Ausweitung des Staates<br />

das Wort zu reden. Dazu zählt besonders, die Rahmenordnung neu zu definieren<br />

durch eine Begrenzung der Staatsquote auf maximal 40% und die gesetzliche Ve rpflichtung,<br />

daß nur ausgeglichene Budgets staatlicherseits auf allen drei Ebenen<br />

von Bund, Ländern und Gemeinden eingebracht werden dürfen. Diese Maßnahmen,<br />

die in verschiedenen Formen bereits in zahlreichen Ländern angewendet<br />

werden, schaffen mehr Freiraum für den einzelnen, ohne die solidarische Hilfe für<br />

wirklich Bedürftige auszuschließen. Ein solches Konzept, das ethische und ökonomische<br />

Ziele miteinander verbindet und vertritt, kann vom Bürger verstanden<br />

und akzeptiert werden als Zugang zu einer wirklichen Beteiligungsgerechtigkeit.<br />

Eine „atmende Gesellschaft“ ermöglicht die späte Umsetzung von Ludwig Erhards<br />

Idee: Ein Volk von Teilhabern - Wohlstand für alle. Zugleich wird der Staat selber<br />

wieder handlungsfähiger und verläßlich.<br />

Cornelius G. Fetsch ist Ehrenvorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer<br />

(BKU) und lebt in Düsseldorf-Angermund.<br />

458


Bericht und Gespräch<br />

Peter Schallenberg<br />

Ethik und Rationierung<br />

Theologisch-ethische Probleme im ökonomisch organisierten<br />

Gesundheitswesen<br />

I. Vorüberlegungen.<br />

Öffentlich organisierte Gesundheitssysteme, wie sie die Moderne und insbesondere<br />

der moderne Sozialstaat kennt, verbinden in aller Regel eine Ethik der Solidarität<br />

und Gleichheit mit der Ökonomie des Wettbewerbs und der Ungleichheit.<br />

Das schafft ein geradezu chronisches Spannungsverhältnis: Das grundsätzlich<br />

nur technisch-medizinisch begrenzte öffentliche Gut der Gesundheit – öffentliches<br />

Gut verstanden als sozialstaatlich organisiertes Bürgerrecht – wird ökonomisch-künstlich<br />

verknappt – jedoch nach welchen Kriterien?<br />

Schuf einst die medizinische Technik eine natürliche Grenze knapper öffentlicher<br />

Gesundheit, so hat sich diese Grenze postmodern schier unendlich geweitet:<br />

Wer bestimmt nun wie und für wen über die wünschenswerte, da solidarisch zu<br />

bezahlende Effektivität und Effizienz? Und dies zumal auf dem Hintergrund<br />

einer entschieden säkularen Gesellschaft, die Tod und Krankheit als zutiefst<br />

ärgerliche, ja dysfunktionale Grundstörung erlebt, so daß hier der Grundsatz der<br />

prinzipiellen Gleichheit geradezu dogmatisch-säkularen Charakter annimmt.<br />

Denn wenn die bis zur Schwelle der Moderne sichere Realität des Jenseits diffus<br />

verschwimmt, erhält das Diesseits und dessen sozialstaatliche Garantie in Form<br />

von Lebensquantität und Lebensqualität eine nicht hintergehbare und der politischen<br />

Diskussion scheinbar grundsätzlich entzogene Basisfunktion. Gesundheit<br />

erscheint geradezu als einklagbares Recht, zumindest die gleich-gerechte optimale<br />

Gesundheitsförderung und Krankheitsfürsorge.<br />

Schon vor Jahren analysierte Hans Jonas mit wünschenswerter Präzision: „Die<br />

moderne Medizin leidet nicht an ihren Mängeln. Sie kann nicht zu wenig, sondern<br />

zu viel. Sie krankt nicht an ihrem Ve rsagen, sondern am Übermaß ihrer<br />

Macht. Ihre Krise ist kein Zeichen von Schwäche, sondern allein das Fieber<br />

eines nie dagewesenen technischen Erfolges . (...) Der moderne Arzt muß sich<br />

heute fühlen wenn nicht wie Gott selbst, dann zumindest wie ein Erzengel.“ 1<br />

Wer aber kennt sich aus im Denken von Erzengeln? Und vor allem und weniger<br />

abstrakt: Wer bezahlt eigentlich Erzengel?<br />

Ethik ist typisch menschlich: Das nicht festgestellte Tier braucht reflektierte<br />

Feststellungen der Haltung und des Verhaltens. Es geht also um Begründungen<br />

und Anwendungen normativer Einsichten. Die theologische Ethik reflektiert auf<br />

459


dem Hintergrund des biblisch-christlichen Gottesbegriffs auf das Nicht-Notwendige,<br />

mithin auf die Strukturen und Konditionen menschlicher Freiheit. Es<br />

braucht demnach im eigentlichen Sinn keine Ethik der Nahrungsaufnahme, wohl<br />

aber eine Ethik der Technik und der Medizin. Dies gilt verschärft für eine sozialethisch<br />

interessierte theologische Ethik, die Bedingungen und Institutionen eines<br />

sozialen Rechtsstaates reflektiert: Wo liegen stillschweigende Voraussetzungen,<br />

wie z. B. das Tötungsverbot für menschliche Personen, wo stehen Grundwerte<br />

und Grundrechte an der Basis des menschlichen Zusammenlebens, wie werden<br />

Grundrechte anerkannt oder zugeteilt?<br />

Ohne Zweifel bildet das Leben zwar nicht den höchsten, wohl aber den fundamentalsten<br />

menschlichen Wert als Prämisse jeglichen Verhaltens. Das gute Leben<br />

ist seit Aristoteles stillschweigend und mit gutem Recht zur nicht hinterfragten<br />

ethischen Grundnorm aufgestiegen. Mithin gehört auch der Wert der Gesundheit<br />

zu den fundamentalen Grundrechten, denn physische und psychische<br />

Gesundheit bilden eine Möglichkeitsbedingung des guten Lebens. Es gehört zu<br />

den Grundforderungen der Gerechtigkeit, jedem das Seine zu geben, und das<br />

heißt zunächst: jedem die Möglichkeit zu geben, in Gesundheit ein gutes Leben<br />

zu führen. Die Medizin erkennt das traditionell im hippokratischen Eid an mit<br />

dem klassischen Formalprinzip: salus et voluntas aegroti suprema lex – Das Heil<br />

und der Wille des Kranken ist oberstes Gesetz.<br />

Wohlgemerkt: Ursprünglich ist hier vom umfassenden Heil, nicht von einem<br />

Gesundheitsstatus die Rede. Dieser war in Zeiten der vortechnischen Medizin<br />

ohnehin eine Chimäre. Seit der rasanten Entwicklung der Medizintechnik aber<br />

verwandelt sich der Arzt zunehmend in das bloß ausführende Organ der technisch<br />

möglichen optimalen Medizin. In postmoderner Fassung findet sich das<br />

klassische Axiom wieder in der Erklärung der WHO von 1976 zum Grundrecht<br />

der größtmöglichen Gesundheit. Damit aber ist nicht nur der ursprünglich weitgefaßte<br />

Begriff „salus“ endgültig auf Gesundheit zurückgeschrumpft, sondern<br />

hinzu kommt das quantifizierende Adjektiv „größtmöglich“.<br />

Bereits hier stellt sich die schon angedeutete Frage nach der Lebensqualität, die<br />

sich aus Lebenslänge und Lebensstandard zusammensetzt und nicht einfach auf<br />

Quantität reduziert werden kann. Geschieht dies aber, so scheint endgültig der<br />

Medizintechnik alle Definitionshoheit über optimale Gesundheit zuzukommen,<br />

und der Sozialstaat sieht sich in die Rolle des bloßen Erfüllungsgehilfen gedrängt,<br />

ohne indes zugleich über genügende finanzielle Souveränität zu verfügen.<br />

Demgegenüber ist in der Tat zu unterstreichen, daß moralische Notwendigkeit<br />

und ökonomische Vertretbarkeit sozialethisch kongruent gehen in der Frage<br />

nach Kriterien der Güterabwägung – immer freilich den fundamentalen und<br />

unverfügbaren Wert menschlichen Lebens vorausgesetzt. Medizin ist in dieser<br />

Sicht der kostspielige Versuch, das menschliche Leben zu verlängern, krankheitsbedingtes<br />

Leid zu mindern und die „salus aegroti“ zu fördern. Geschieht<br />

dies in Form einer Solidarversicherung, so ist ethisch und ökonomisch ein effizientes<br />

Verfahren geboten. Gerechtigkeit und Effizienz verschränken sich. Das<br />

aber heißt auch: Rationierung ist ein Mittel der Güterabwägung also der Abwä-<br />

460


gung zwischen Lebensgüte und Lebenslänge, Abwägung von finanziellen Solidaraufwendungen<br />

und individuellen Eigeninteressen.<br />

II. Prämissen zukünftiger Gesundheitsfürsorge<br />

Die Morbiditätsentwicklung der Zukunft wird entscheidend von der Altersentwicklung<br />

und Alterstruktur der Bevölkerung geprägt. Die anfallenden Kosten der<br />

Pflege und der Intensivmedizin steigen rasant an. 2 Der medizinisch-technische<br />

Fortschritt zielt auf Vermeidung, Heilung und Linderung von Krankheiten, auf<br />

die Wiederherstellung physischer und psychischer Funktionsfähigkeit und somit<br />

auf die Verminderung des vermeidbaren Todes. Daraus folgt – als „Januskopf“<br />

des medizinischen Fortschritts 3 – ein grundsätzlich ungedeckter immenser Bedarf<br />

an Gesundheitsleistungen, denn der technische Fortschritt der Medizin<br />

schafft Bedarf, der zunächst nach Deckung verlangt. Dieser Bedarf schafft sich –<br />

anders als in der Planwirtschaft – in einer marktwirtschaftlich strukturierten<br />

Gesellschaft ein parallel unendlich anwachsendes Angebot. Wird nun diese<br />

marktwirtschaftliche Komponente von Angebot und Nachfrage mit planwirtschaftlichen<br />

Elementen verknüpft – allgemeines Recht auf Gesundheit als Recht<br />

auf optimale Angebotsnutzung –, so kann das System finanziell implodieren.<br />

Insbesondere die Verknüpfung von medizinischem Fortschritt und Altersanstieg<br />

läßt den Gesundheitsbedarf ansteigen. Daraus entsteht die ethische Frage nach<br />

gleicher und gerechter Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen einer liberalen<br />

Gesellschaft. 4 Es steht zu vermuten, daß diese Frage entweder marktwirtschaftlich<br />

(mit subsidiären Solidarleistungen) oder planwirtschaftlich gelöst<br />

werden kann, nicht aber in einem gemischten System. Hinzu kommt verschärfend<br />

in der postmodernen westlichen Gesellschaft ein soziologischer Strukturwandel,<br />

der unbemerkt einen Paradigmenwechsel nach sich zieht: Eine wachsende<br />

Singularisierung 5 geht mit einer Vergesellschaftlichung der Ansprüche im<br />

Gewand des Solidarismus einher. Man könnte auch anders formulieren: Aus der<br />

christlichen Ethik der Nächstenliebe wird die säkulare Pflicht der Fernstensolidarität.<br />

Oder noch schärfer und in Erinnerung an das biblische Gleichnis vom<br />

barmherzigen Samariter ausgedrückt: Wenn jeder das Recht hat, sich in den<br />

Straßengraben solidarischer Ansprüche zu legen, gerät der institutionalisierte<br />

Sozialstaatssamariter an die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit.<br />

Singlehaushalte haben im Krankheitsfall keine Familienunterstützung und fordern<br />

einen massiven Ausbau professioneller Hilfen, die wiederum höhere Kosten<br />

verursachen. Zugleich wächst die strukturelle Ungerechtigkeit zwischen Familien<br />

und Single-Haushalten. Hier ist aus Sicht der theologischen Ethik zwar nicht<br />

ein Werteverfall zu beklagen, wohl aber ein Wertewandel zu unterstreichen:<br />

Dieser Wandel setzt in der Postmoderne unter dem Signum des Wohlfahrtstaates<br />

klassischer Tradition ein, so daß die Vorteile des Individualismus genutzt, die<br />

Nachteile hingegen stillschweigend solidarisiert werden. Riskante Lebensweisen<br />

werden zunehmend auf die Solidarsysteme abgewälzt; eine strukturell wachsende<br />

Ungleichheit der Lebensentwürfe wird durch solidarsystemische Gleichheit<br />

kaschiert. Dem voraus geht die Verwandlung des barmherzigen Samariters zum<br />

461


ezahlten Krankenpfleger im Zuge der Industrialisierung: Konnte diese Ve rwandlung<br />

zunächst noch infolge der Gründung christlich inspirierter (und chris tlich<br />

unterbezahlter!) Ordensgemeinschaften verborgen bleiben, so zeigt sie wiederum<br />

in säkularen, nationalen und arbeitsteilig-komplexen Gesellschaften ihr<br />

kostenexplosives Gesicht: Das Recht auf Gesundheit korrespondiert mit der<br />

Pflicht zur Arbeit. Statt Haftung, wie noch in den Anfängen einer Krankheitsversicherung<br />

im 18. Jahrhundert, gilt nun die schrankenlose Solidarität des 19. Jahrhunderts<br />

mit der Ausweitung der Sicherung auf Invalidität und Rentenalter:<br />

„Ursprung und Grundlagen der Verantwortung verlagern sich vom Individuum<br />

auf die Gesellschaft!“ 6 Zudem expandiert in entwickelten Volkswirtschaften der<br />

Bedarf an Gesundheitsfürsorge weitaus schneller als das Bruttoinlandsprodukt<br />

wächst. 7 Hinzu kommt infolge der Ablösung einer klassischen Industriegesellschaft:<br />

Die Sozialversicherungen, und damit auch die Gesetzliche Krankenversicherung,<br />

werden kontinentaleuropäisch nahezu ganz aus dem zunehmend schwächer<br />

werdenden Arbeitseinkommen finanziert. Dadurch entstehen erhebliche<br />

finanzielle und standortökonomische Nachteile, insbesondere in Zeiten globalisierten<br />

Wettbewerbs. Insgesamt kann zusammenfassend von vier Schockwellen<br />

im Feld der öffentlichen Gesundheit gesprochen werden: demographisch, ökonomisch,<br />

technologisch, ökologisch. 8<br />

462<br />

III. Ethische Organisation des sozialstaatlichen Gesundheitswesens<br />

Jede Sozialpolitik gilt zunächst – und parallel zur Forderung einer ethischen<br />

Reflexion – als eine vernünftige Investition, und zwar sowohl politisch wie auch<br />

ökonomisch. Ein solidarisches Gesundheitssystem wird als notwendig auch in<br />

postmodernen und postindustriellen Gesellschaften angesehen, soll eine Gesellschaft<br />

nicht in unverbundene und sozial höchst ungleiche Segmente zerfallen.<br />

Sozialer Friede und leistungsfähige Menschen sind unerläßliche Voraussetzung<br />

jeder komplexen Wirtschaft; der Sozialstaat bildet in dieser Sicht ein unerläßliches<br />

„Sicherheitsnetz“ für individuelle Wagnisse: „Politisch gesehen hängt die<br />

Unterzeichnung des demokratischen Gesellschaftsvertrags davon ab, daß mit der<br />

Etablierung einer Marktwirtschaft auch die Einrichtung eines Sozialstaates vorgesehen<br />

wird.“ 9 Ein Umbau des Gesundheitssystems ist desungeachtet notwendig,<br />

und zwar zur Korrektur systemimmanenter Mängel.<br />

Es geht mithin um eine optimale Verbindung von Solidarcharakter (als Gleichheit)<br />

und Wettbewerb (als Freiheit) im modernen Gesellschaftsvertrag. Dies<br />

entspricht durchaus dem Modell einer „weichen“ Rationierung expliziter Fassung.<br />

Auf der Seite der Nachfrage heißt dies: Zur Abwehr der latenten Gefahr<br />

einer „Vollkasko-Mentalität“ braucht es eine stärkere Differenzierung des Leistungskataloges<br />

in solidarsystemische Regel- oder Grundleistungen und wettbewerbliche<br />

Wahlleistungen mit Kriterien der Lebensquantität, Lebensqualität,<br />

Freiheit der Kunden. Nichterwerbstätige Ehepartner, die weder Kinder noch<br />

Pflegebedürftige betreuen, sollten ab einem gewissen Einkommen eigene Krankenversicherungsbeiträge<br />

zahlen. Dadurch gelänge eine Schärfung des individuellen<br />

Kostenbewußtseins und zugleich eine individuelle Wahl unterschiedlicher


Optionen im Feld der Gesundheit. Dazu sollte zur besseren Transparenz der<br />

tatsächlichen Kosten ein Aufschlag der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung<br />

auf die Bruttolöhne der Arbeitnehmer erfolgen. Auf der Seite des Angebots<br />

hingegen stellt sich grundlegend das „moral-hazard-Problem“, die Gefahr der<br />

Verschwendung knapper Ressourcen. Eine Reduzierung des kassenärztlichen<br />

Monopols auf Rahmenleistungen, ein ethisch abgefedertes Krankenhausmanagement<br />

und bessere Vernetzung von Patientendaten scheinen erste Lösungsansätze<br />

zu bieten. Ein solcher Lösungsansatz wird in der Tat den Rahmen solidarischer<br />

Zuteilung mit wettbewerblicher Rationierung verbinden. Dazu braucht es<br />

freilich eine explizite Definition der medizinischen Grundversorgung von seiten<br />

der Politik und nicht einfach vonseiten des freien Marktes, und dies als Antwort<br />

auf das Grundrecht der Gesundheit, das jedoch nicht als Maximalrecht definiert<br />

werden kann. Somit bleibt der solidarische Finanzierungsmodus der Gesetzlichen<br />

Krankenversicherung für die medizinische Regelversorgung erhalten.<br />

Freilich muß auch die Solidarität ihrerseits nochmals in Gleichheit organisiert<br />

sein: Eine Ausweitung der Pflichtmitgliedschaft in der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />

für alle Bürger erscheint konsequent. 10 Zur Förderung des Wettbewerbs<br />

braucht es eine Wahlfreiheit der gesetzlichen Kassen. Mit Hinblick auf die<br />

Krise der klassisch-industriellen Erwerbsarbeit wird man freilich auch über eine<br />

neue Bemessungsgrundlage über Erwerbsarbeit hinaus nachdenken müssen, etwa<br />

auf Mieteinkommen oder Kapitaleinkommen, sofern keine steuerfinanzierte<br />

Krankenversicherung gewollt ist. Eine sozialstaatliche Rationierung im Gesundheitswesen<br />

kann es weder im monetären Klassensystem, noch im sozialen Wertesystem,<br />

noch im utilitaristischen Kosten-Nutzen-Kalkül geben, sondern ethisch<br />

gerecht nur von der Planungsebene absteigend. Die einzige Möglichkeit, komplexe<br />

soziale Gerechtigkeit zu erhalten, ist die „statistische statt individuelle<br />

Rationierung“ 11 . Damit muß dann allerdings auch, wie bei der Reform des<br />

schwedischen Gesundheitssystems, 12 die Unterscheidung zwischen ethischer,<br />

politischer und klinischer Verantwortung und auf dieser Grundlage die Verteilung<br />

knapper Ressourcen einhergehen. Die eigentliche Schwierigkeit freilich<br />

dürfte in der Ausgestaltung eines Kataloges der Ausgrenzung pflichtversicherter<br />

Leistungsbereiche liegen, und hier nochmals im Feld der gentechnischen und<br />

prädiktiven Medizin. Die zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer hat<br />

auf die Notwendigkeit transparenter Verfahren und die Einrichtung kompetenter<br />

Institutionen hingewiesen, zugleich aber auch die Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips<br />

in der Krankenversicherung als Hilfe zur Selbsthilfe gefordert. 13<br />

In der Tat scheint das gerühmte Prinzip der Subsidiarität im Bereich der Solidarversicherungen<br />

bislang noch ein Schattendasein zu fristen.<br />

IV. Gesundheitsversicherung statt Krankenversicherung?<br />

Die moderne Medizin kann nicht nur mehr, als sich ein funktionierender Sozialstaat<br />

in Zukunft in Form solidarischer Pflichtversicherung wird leisten können,<br />

sie kann auch mehr, als derzeit vorstellbar ist. Insbesondere kommt es im Bereich<br />

der gentechnischen Medizin derzeit zu einem Paradigmenwechsel: Nicht<br />

463


nur entsprechen etwa für die Präimplantationsdiagnostik und die pränatale Diagnostik<br />

der Analyse kaum Therapiemöglichkeiten – außer der Abtreibung –,<br />

sondern auch die prädiktive Diagnostik führt zur unbemerkten Neufassung des<br />

Begriffes von Gesundheit. Gesund im Sinn der neuen Technologie könnte „genetisch<br />

ohne Befund“ heißen. Demnach wäre gesund, wer in den genetisch festgelegten<br />

Eigenschaften der Norm entspricht oder sie überbietet. Wie verhält es sich<br />

bei genetisch Nicht-Gesunden mit der gesetzlichen Pflichtversicherung? Und<br />

weiter: Es steht zu befürchten, daß als Folge von pränatalen Diagnostikprogrammen<br />

Eltern zunehmend unter Druck geraten, eine optimale genetische Gesundheit<br />

des Kindes zu gewährleisten. Die Medizin geriete gänzlich in den Sog<br />

einer umfassenden Gesundheitsversicherung.<br />

Dem ist aus theologisch-ethischer Sicht entschieden zu widersprechen: Eine<br />

Krankenversicherung rechnet immer mit der Krankheit einer lebenden menschlichen<br />

Person. Eine Vermeidung jedweder Krankheit um den Preis des Lebens<br />

einer Person, einen Zwang zur optimalen Gesundheit durch Abtreibung, therapeutisches<br />

Klonen oder Keimbahntherapie darf um der Würde der menschlichen<br />

Person willen nicht zum Paradigma werden. Oder schärfer ausgedrückt: Medizin<br />

und Krankenversicherung kurieren am Symptom „Mängelwesen Mensch“ – die<br />

Ursache zu beheben, nämlich das Mängelwesen vorgängig zu vermeiden oder<br />

auf Kosten von menschlichen Individuen zu verbessern, ist ihnen verwehrt. Der<br />

Mensch darf nicht zur technischen Verfügungseinheit einer genetischen Verbesserung<br />

der Menschheit werden. Die Unverfügbarkeit menschlicher Existenz und<br />

ihrer Personwürde ist daher der nicht hintergehbare Referenzpunkt für den demokratischen<br />

Rechtsstaat. Dies aber wirft auch die ethische Frage nach der<br />

Zwangsfinanzierung pränataldiagnostischer Verfahren auf, die „keine sinnvollen<br />

therapeutischen Interventionen zulassen.“ 14<br />

464<br />

V. Theologisch-ethische Nachüberlegung<br />

Eindeutig verschiebt sich in säkularen Gesellschaften der Wert der Gesundheit<br />

deutlich hin zum Ideal der Leidfreiheit, ja bis hin zur weitgehenden Verdrängung<br />

des öffentlichen Todes. Die moderne Hospizbewegung ist auch eine Antwort auf<br />

diese Entwicklung. Ethisch inspirierte Politik, die mehr sein will als billige Tagespragmatik,<br />

darf ein öffentliches Gesundheitssystem nicht in den Ruch endloser<br />

Lebenserhaltung um den Preis ständiger Todesverdrängung bringen. 15 Jenseits<br />

gleicher Grundrechte gilt es auch hier den weitsichtigen Gedanken Odo<br />

Marquards vom heilenden Charakter des „kompensatorischen Glücks“ in den<br />

öffentlichen Diskurs zu bringen; freilich gilt auch: „zuweilen verdecken Kompensationen,<br />

statt zu heilen, nur, daß geheilt werden müßte: das ist dann selber<br />

ein Unglück.“ 16 Jedoch bleibt stets zu fragen nach den ökonomischen und ethischen<br />

Kosten des Heilens, und dies nicht zuletzt im Blick auf die Möglichkeiten<br />

moderner Gentechnik. Vor der ökonomischen Frage steht das ethische Problem<br />

der Bewältigung von Endlichkeit, mithin das fundamentalethische Problem von<br />

absoluter Gesundheit und absolutem Glück: „Es ist nötig, die Medizin von solch<br />

pseudokritischem Absolutheitsdruck zu entlasten, und es ist – auch dafür – wich-


tig, daß die Menschen auf absolute Ansprüche verzichten und – wieder – endlichkeitsfähig<br />

werden.“ 17 Diese vorgängige Entlastung von Medizin und Ökonomie<br />

von falschen Erwartungen ist auch eine Frage der Gerechtigkeit und ist<br />

nicht zuletzt eine Aufgabe kirchlich-theologischer Ethik.<br />

Weit davon entfernt, einem unseligen Dolorismus im Namen des Kreuzes das<br />

Wort reden zu wollen, gilt es doch daran zu erinnern, daß Gesundheit vom lateinischen<br />

Begriff „salus“ hergeleitet ist, und somit zu verstehen „nicht als das<br />

Fehlen von Krankheiten, sondern vielmehr als die Kraft und Fähigkeit, mit<br />

Krankheiten und Behinderungen zu leben.“ 18 Erst infolge solcher Lebensfähigkeit<br />

gewinnt ein Leben seine innere unverwechselbare Qualität, die weit mehr<br />

umgreift als eine bloße Quantität des Überlebens. 19 Es ist eine zentrale Aufgabe<br />

der theologischen Ethik, auf der Grundlage des christlichen Gottesbegriffs auf<br />

diese umfassende Sicht menschlichen Lebens aufmerksam zu machen und damit<br />

einer schleichenden Immanentisierung von Bedürfnisansprüchen zu wehren. Auf<br />

Dauer wird kein Finanzierungssystem ein prinzipiell unbegrenztes Bedürfnis<br />

nach umfassender Gesundheit befriedigen können. In dieser Sicht fordert die<br />

Ethik eine Rationierung um des Menschenbildes willen: kompensatorisches<br />

Glück und kompensatorische Gesundheit gehen mit einer rationierten Krankenversicherung<br />

einher. Nicht jeder Anspruch des Individuums ist solidarsystemisch<br />

abzusichern. Wo dieses Bewußtsein dauerhaft schwindet, zerfällt ein wesentlicher<br />

Grundkonsens der Gesellschaft – lange bevor eine wesentliche Grundfinanzierung<br />

zerfällt.<br />

Literatur<br />

Arnold, M. (1998): Die Janusköpfigkeit des medizinischen Fortschritts, in: Universitas 53,<br />

S. 308–318.<br />

Arntz, K. (1996): Unbegrenzte Lebensqualität?, Münster.<br />

Bischofberger, E. (1995), Prioritätensetzung im schwedischen Gesundheitssystem, in:<br />

Zeitschrift für medizinische Ethik 41, 242–246.<br />

Charlesworth, M. (1997): Leben und Sterben lassen. Bioethik in der liberalen Gesellschaft,<br />

Hamburg.<br />

Dokumentation der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zu Prioritäten<br />

in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />

(2000): in: Sozialer Fortschritt 49, S. 143–146.<br />

Ewald, F. (1998): Die Rückkehr des genius malignus: Entwurf zu einer Philosophie der<br />

Vorbeugung, in: Soziale Welt 49, 5–24.<br />

Giertler, R. (1998): Medizin im Umbruch der Sozialstruktur, in: Renovatio 1–2, S. 30–31<br />

Halbfas, M. (2000): Die Zukunft der Medizin – Anlaß zu Hoffnung?, in: Orientierung 64,<br />

S. 162–168.<br />

Hradil, S. (1995): Die „Single-Gesellschaft“, München.<br />

Jonas, H. (1985): Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt/M.<br />

Kliemt, H. (1996): Pränataldiagnostik und genetisches Screening im freiheitlichdemokratischen<br />

Rechtsstaat, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 4, S. 99–111.<br />

465


Krämer, W. (1996) Leben um jeden Preis? Rationierung im Gesundheitswesen, in: Universitas<br />

51, 647–657.<br />

Marquard, O. (1994): Medizinerfolg und Medizinkritik, in: Ders. (1994): Skepsis und<br />

Zustimmung, Stuttgart, S. 99–109.<br />

Marquard, O. (1995): Glück und Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen<br />

Theodizee und Geschichtsphilosophie, in: Ders. (1995): Glück im Unglück, München, S.<br />

11–38.<br />

Neubauer, G. (1993): Wie krank ist das Gesundheitswesen?, in: Rauscher, A. (Hrsg.),<br />

Probleme der sozialen Sicherungssysteme, Köln, S. 111–128.<br />

Oberender, P. / Herborn, A. (1994), Wachstumsmarkt Gesundheit. Therapie des Kosteninfarkts,<br />

Frankfurt/M.<br />

Salomon, F. (1991): Leben und Sterben in der Intensivmedizin. Eine Herausforderung an<br />

die ärztliche Ethik, Lengerich.<br />

Salomon F. (1996): Dem Tod keinen Raum geben? Ärztliches Handeln zwischen Lebenserhaltung<br />

und Todesverdrängung, in: Stimmen der Zeit 214, 315–327.<br />

Schramm, M. (1997): Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems, in: Zeitschrift für<br />

medizinische Ethik 43, S. 233–244.<br />

Anmerkungen<br />

1) Jonas (1985), S. 47.<br />

2) Salomon (1991).<br />

3) Arnold (1998), S. 308-318.<br />

4) Charlesworth (1997), S. 131-197.<br />

5) Hradil (1995).<br />

6) Ewald (1998), S. 9.<br />

7) Neubauer (1993), S. 111-128.<br />

8) Halbfas (2000), S. 162.<br />

9) Schramm (1997), S. 234.<br />

10) Oberender (1994), S. 144.<br />

11) Krämer (1996), S. 656.<br />

12) Bischofberger (1995), S. 242-246.<br />

13) Dokumentation (2000), S. 143-146.<br />

14) Kliemt (1996), S. 104.<br />

15) Salomon (1996), S. 315-327.<br />

16) Marquard (1995), S. 36.<br />

17) Marquard (1994), S. 108.<br />

18) Giertler (1998), S. 31.<br />

19) Arntz (1996).<br />

Dr. Peter Schallenberg ist Direktor der „Kommende“, des Sozialinstituts des<br />

Erzbistums Paderborn.<br />

466


Manfred Spieker<br />

„Gerechter Friede“<br />

Kritische Anmerkungen zum Hirtenbrief der<br />

deutschen Bischöfe vom 27. September 2000<br />

Zwischen dem großen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe „Gerechtigkeit schafft<br />

Frieden“ vom 18. April 1983 und dem zweiten Hirtenbrief zum gleichen Thema<br />

„Gerechter Friede“ vom 27. September 2000 hat sich die Welt gründlich verändert.<br />

Der Kalte Krieg ging zu Ende und mit ihm der bipolare Ost-West-Konflikt.<br />

Aber die Freude und die Hoffnung, die der Zusammenbruch des Kommunismus<br />

und der Fall der Mauer auslösten und die in der Pariser KSZE-Charta für ein<br />

neues Europa vom 21. November 1990 ihren schönsten Niederschlag fanden 1 ,<br />

wichen schnell neuer Angst, Trauer und Ratlosigkeit – Angst vor ethnischen und<br />

religiösen Konflikten, einem Kampf der Kulturen und einem globalen Terrorismus,<br />

Trauer über neue Kriege am Golf und in Afrika, im Kaukasus, auf dem<br />

Balkan und nun in Afghanistan und Ratlosigkeit ob der Ineffizienz diplomatischer<br />

Bemühungen und ökonomischer Sanktionen.<br />

Für einen neuen Hirtenbrief zum Frieden gab es also mannigfaltige Gründe: Die<br />

Frage nach der Vergangenheitsbewältigung in gespaltenen Gesellschaften wie in<br />

den postkommunistischen Staaten oder in Südafrika stellte sich ebenso wie die<br />

nach den legitimen Mitteln zur Verhinderung oder Beendigung der Massaker in<br />

den neuen, meist ethnisch bedingten Bürgerkriegen, nach der Durchsetzung der<br />

Menschenrechte, der Gewaltprävention und dem Kampf um soziale Gerechtigkeit<br />

unter den Bedingungen einer beschleunigten Globalisierung. Keiner dieser<br />

Fragen weicht der neue Hirtenbrief aus. Er beantwortet sie mit plausiblen, klaren<br />

und in der Tradition der Friedensethik der katholischen Soziallehre stehenden<br />

Argumenten.<br />

In einer adäquaten Vergangenheitsbewältigung sehen die Bischöfe mit Recht<br />

einen Schlüssel zur Sicherung des neu gewonnenen Friedens. Einfach einen<br />

Schlußstrich unter das Vergangene ziehen, „beleidigt die Opfer. Es ist daher gut,<br />

nach Erfahrungen massenhafter und systematischer Gewalt sogenannte Wahrheitskommissionen<br />

einzurichten“. 2 Man müsse versuchen, die Opfer zu rehabilitieren<br />

und „das ihnen Angetane wenigstens ein Stück weit wieder gutzumachen“<br />

(119). Dadurch werde Konfliktnachsorge zur Konfliktvorbeugung. 3<br />

Ein Herzstück des neuen Hirtenbriefes ist der Abschnitt „Zur Problematik bewaffneter<br />

Interventionen“. Es geht hier um die Legitimität militärischen Eingreifens<br />

fremder Staaten oder Staatenbündnisse zur Verhinderung oder Beendigung<br />

von Ve rtreibungen und Massakern an der Zivilbevölkerung in ethnisch und/oder<br />

religiös bedingten Bürgerkriegen. Der Hirtenbrief meistert diese Frage mit einer<br />

plausiblen Übertragung der Kriterien der bellum-iustum-Lehre auf die Problematik<br />

humanitärer Interventionen. 4 Das Ziel, Gewaltanwendung aus der internatio-<br />

467


nalen Politik zu verbannen, könne „auch in Zukunft mit der Pflicht kollidieren,<br />

Menschen vor fremder Willkür und Gewalt wirksam zu schützen. Dies gilt nicht<br />

nur in herkömmlichen zwischenstaatlichen Konflikten, sondern auch bei systematischer<br />

Gewaltanwendung gegen verfolgte Minderheiten innerhalb bestehender<br />

Staaten oder in Fällen terroristischer Geiselnahme und Erpressung“ (150).<br />

Die Anwendung von Gegengewalt komme „überhaupt nur als ultima ratio in<br />

Betracht“. Auch als „geringeres Übel“ bleibe sie ein Übel (151), aber sie ist<br />

keine Aggression, sondern eine Art Notwehr der internationalen Gemeinschaft,<br />

um „den schutzlosen Opfern schwerwiegender und systematischer Verletzung<br />

der Menschenrechte innerhalb eines Staates durch eine gewaltsame Intervention<br />

zu Hilfe zu kommen“ (152).<br />

Der Einsatz der Gewalt müsse „sich auf jenes Maß beschränken, das zur Einlösung<br />

von Solidaritätspflichten unabdingbar ist“. Er müsse die Zivilbevölkerung<br />

„soweit wie nur möglich“ verschonen (155). Es müsse eine hinreichende Wahrscheinlichkeit<br />

bestehen, daß die Gewaltanwendung ihr Ziel tatsächlich erreichen<br />

kann und die Lage nicht etwa noch verschlimmert wird“, das heißt der Einsatz<br />

militärischer Mittel muß den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (156).<br />

Er muß das ius in bello einhalten (157 und 151), Maßnahmen zur Linderung der<br />

Flüchtlingsnot vorsehen (158) und „mit einer politischen Perspektive verbunden<br />

sein, die grundsätzlich mehr beinhaltet als die Rückkehr zum status quo ante“<br />

(159-161). Die kompetenten Erörterungen des Hirtenbriefes lassen sich auch auf<br />

die aktuelle Problematik militärischer Bekämpfung des globalen Terrorismus<br />

übertragen. Sie bieten einen Maßstab zur sittlichen Bewertung der Intervention<br />

der internationalen Anti-Terror-Koalition in Afghanistan.<br />

Auch auf die Frage nach Bausteinen für einen gerechten Frieden und für eine<br />

Zivilis ation der Liebe bietet der Hirtenbrief eine Fülle von Antworten, die in der<br />

Tradition der Friedensethik der katholischen Soziallehre stehen. Er will kein<br />

politisches Programm anbieten, das die Kompetenzen der Bischöfe überschreiten<br />

würde (57). Die Leitprinzipien eines gerechten Friedens seien Gerechtigkeit und<br />

Solidarität. Ihre Realisierung bedürfe an erster Stelle des Schutzes der Menschenwürde<br />

und der Menschenrechte, die „nicht nur universal, sondern auch<br />

unteilbar (sind). Nicht nur stehen sie jedem Menschen zu, sondern jeder hat<br />

Anspruch auf alle Menschenrechte“ (73). Ihre Sicherung bedürfe in vielen Entwicklungsländern<br />

der Reform der Strukturen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.<br />

„Menschenrechte und Demokratie, wirtschaftliche und soziale Entwicklung<br />

und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen stehen also in engem<br />

Zusammenhang“ (71).<br />

Zum Minderheitenschutz, zur Stärkung internationaler Organisationen, zur weiteren<br />

Rüstungskontrolle und zur politischen und sozialen Flankierung der ökonomischen<br />

Globalisierung weiß der Hirtenbrief ebenfalls viele bedenkenswerte<br />

und orientierende Überlegungen anzubieten. Schließlich versteht er es in einem<br />

abschließenden Kapitel, die vielen Dienste der Kirche für die Versöhnung, die<br />

Erziehung der Jugend, den Frieden, die Solidarität und die Entwicklungszusammenarbeit,<br />

den ökumenischen Dialog und den Dialog mit anderen Religionen<br />

und nicht zuletzt die Liturgie, die Sakramente und die franziskanische Spirituali-<br />

468


tät des Friedens als Bausteine einer Zivilisation der Liebe zu präsentieren. Die<br />

Feststellung, daß „Christen oft ein bemerkenswertes Vertrauen in Situationen<br />

(genießen), in denen Mißtrauen und Feindseligkeit vorherrschen“, ist durchaus<br />

nicht eitel. „Ob bei Geiselnahmen, Bürgerkriegen oder militärischen Konfrontationen,<br />

immer wieder werden Geistliche und überzeugende Christen gebeten, zu<br />

vermitteln“ (178).<br />

Neben den Bausteinen für eine Zivilisation der Liebe bietet der Hirtenbrief aber<br />

auch eine Reihe von Stolpersteinen, die früheren Stellungnahmen der deutschen<br />

Bischöfe fremd waren und auch heute befremdlich wirken. Zum ersten Mal stolpert<br />

der Leser bereits in der Einleitung, die ein Zitat aus der 1989 beendeten<br />

Ökumenischen Versammlung „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“<br />

der DDR enthält. Darin hatten die Kirchen behauptet: „Mit der notwendigen<br />

Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten<br />

Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein<br />

Ende“ (1). Ob sie die „notwendige“ Überwindung des Krieges auch für möglich<br />

halten, darüber sagen die Bischöfe nichts. Im Text der Ökumenischen Versammlung<br />

der DDR war die Hoffnung auf eine Überwindung des Krieges keine eschatologische,<br />

sondern eine politische Vision, die mit den modernen Massenvernichtungsmitteln<br />

und dem Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ begründet<br />

wurde. 5 Mit christlichem Realismus, der bis zum Ende aller Tage mit dem Bösen<br />

rechnen muß, hatte diese Vision nichts zu tun. Sie gründete vielmehr im Blockdenken<br />

des damaligen Ost-West-Konflikts.<br />

Daß die Lehre vom gerechten Krieg nicht an ein Ende gekommen ist, demonstriert<br />

der Hirtenbrief selbst in seiner schon erwähnten Erörterung der Problematik<br />

bewaffneter Interventionen, in der er diese Interventionen an den klassischen<br />

Kriterien eben dieser Lehre mißt. Auch wenn er die Begriffe „bellum iustum“<br />

und „gerechter Krieg“ vermeidet, so steht er doch in deren Tradition und damit<br />

in der Tradition des Hirtenbriefes „Gerechtigkeit schafft Frieden“ von 1983 und<br />

des Katechismus der katholischen Kirche von 1993, die diese Lehre ausdrücklich<br />

bestätigten. Da Gewaltanwendung im Zusammenleben der Völker nie ausgeschlossen<br />

werden könne, schrieben die Bischöfe 1983, „behält der ethisch-normative<br />

Kerngehalt der Lehre ‚gerechter Verteidigung’ innerhalb einer umfassenden<br />

Friedensethik der Kirche eine beschränkte, im konkreten Fall schwierige,<br />

dennoch für die ethische Orientierung bis jetzt unersetzliche Funktion, nämlich<br />

im Hinblick auf den Grenzfall einer fundamentalen Verteidigung des Lebens und<br />

der Freiheit der Völker, wenn diese in ihrer elementaren physischen und geistigen<br />

Substanz bedroht oder gar verletzt werden“. 6 Der Weltkatechismus schließlich<br />

listet die klassischen Bedingungen auf, unter denen es einem Volk gestattet<br />

sei, sich in Notwehr militärisch zu verteidigen und stellt dann fest: „Dies sind die<br />

herkömmlichen Elemente, die in der sogenannten Lehre vom ‚gerechten Krieg’<br />

angeführt werden.“ 7 Die Feststellung des Hirtenbriefes von 1983, daß die Theorie<br />

vom bellum iustum, die besser mit Lehre von der „gerechten Ve rteidigung“<br />

übersetzt werde 8 , nicht allein Grundlage sein könne für ein Gesamtkonzept<br />

kirchlicher Friedensethik 9 , ist eine Mahnung, deren Sinn nicht leicht einsehbar<br />

ist, da niemand je behauptet hat, sie sei die alleinige Grundlage kirchlicher Frie-<br />

469


densethik. Sie scheint eine Reverenz an jene Kräfte der Friedensbewegung zu<br />

sein, die gegen die bellum iustum-Lehre opponierten.<br />

Ein zweiter Stolperstein des Hirtenbriefes „Gerechter Friede“ ist sein Begriff der<br />

Gewalt. Die Welt stecke „auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt.<br />

Verhältnisse fortdauernder schwerer Ungerechtigkeit sind in sich gewaltgeladen<br />

und gewaltträchtig“ (59). Kein Zweifel, es gibt viel Ungerechtigkeit, auch große,<br />

himmelschreiende Ungerechtigkeit in der Welt. Aber alle Verhältnisse schwerer<br />

Ungerechtigkeit unter den Begriff der Gewalt zu subsummieren und damit die<br />

Legitimität jeder „Gegengewalt“ zu suggerieren, bedeutet eine Entgrenzung des<br />

Gewaltbegriffs, die – wie Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“<br />

Ende der 60er Jahre – fatale Folgen für eine Gesellschaft und ihre Fähigkeit,<br />

Konflikte gewaltlos auszutragen, haben kann. Die Identifizierung von Unrecht<br />

und Gewalt erlaubt darüber hinaus keine Unterscheidung mehr zwischen legitimer<br />

Gewalt zur Durchsetzung des Rechts und illegitimer Gewalt, die das Recht<br />

mißachtet. 10<br />

Daß das Recht und seine Durchsetzung eine wesentliche Voraussetzung eines<br />

gerechten Friedens ist, diese Erkenntnis hat seit Platon nichts von ihrer Gültigkeit<br />

verloren. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist die jüngste<br />

institutionelle Frucht dieser Erkenntnis. Nicht daß der Hirtenbrief sich von dieser<br />

Erkenntnis distanziert. Aber er verrät an einer Stelle einen Rechtsbegriff, der den<br />

Leser nicht nur stolpern, sondern straucheln läßt. Nachdem er die Solidarität ein<br />

Leitprinzip auf der Suche nach einem gerechten Frieden genannt hat, behauptet<br />

er, Solidarität beginne, „wo die Gewalt der Waffen und die Macht des Rechts<br />

enden und das eigene Interesse, so berechtigt es auch sein mag, freiwillig zugunsten<br />

anderer zurückgestellt wird“ (65). Diese Gleichsetzung der Macht des<br />

Rechts mit der Gewalt der Waffen verschlägt einem den Atem. Man liest die<br />

Stelle zweimal, dreimal, fragt nach ausgelassenen Zeilen, Druckfehlern, es bleibt<br />

dabei: Der Macht des Rechts scheint der Hirtenbrief nichts Gutes abgewinnen zu<br />

können. Dabei ist, es sei wiederholt, die Durchsetzung des Rechts, insbesondere<br />

der Menschenrechte, doch der Anfang der Solidarität. Gewiß geht Solidarität<br />

dann über die Regelung von Rechtsverhältnissen hinaus, aber sie wird die Macht<br />

des Rechts niemals mißachten.<br />

Ein weiteres Mal ins Stolpern gerät der Leser bei der Erwähnung der Ursachen<br />

der Wende von 1989/90 und bei der Erörterung der Instrumente kollektiver Friedenssicherung.<br />

Allein das Konzept der Entspannung habe, so der Hirtenbrief,<br />

„subversive Energie“ entwickelt, „die dazu beitrug den Eisernen Vorhang zu<br />

sprengen“ (60). Das ist – zurückhaltend formuliert – doch eine sehr verkürzte<br />

Darstellung der Geschichte der 70er und 80er Jahre. Nach der Konferenz für<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 in Helsinki, mit der das<br />

Entspannungskonzept zum Leitmotiv der Ost-West-Politik hätte werden sollen,<br />

hatte sich über mehr als zehn Jahre nichts geändert: Der Kalte Krieg ging weiter,<br />

die Rüstung expandierte, die Sowjetunion erstarrte und an der Mauer wurden<br />

weiter Flüchtlinge von den Grenzpatrouillen der DDR erschossen. Ohne den<br />

Nachrüstungsbeschluß der NATO von 1979, die Entschlossenheit der Regierungen<br />

Reagans und Kohls, diesen Beschluß 1983 umzusetzen, ohne die Flexibilität<br />

470


des 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählten Gorbatschow und ohne die<br />

Polenreisen Papst Johannes Pauls II. 1979 und in den 80er Jahren wäre der Eiserne<br />

Vorhang nicht gefallen.<br />

Mit der NATO tut sich der Hirtenbrief überaus schwer. Ihre Bedeutung für die<br />

Erhaltung des Friedens von 1949 bis 1989 wird an keiner Stelle in den Blick<br />

gerückt. Als friedenssichernde internationale Organisationen kennt er nur die<br />

UNO und die OSZE (106, 107). Erst mit der Auflösung des Warschauer Paktes<br />

und dem Beitritt der mitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechien und Ungarn<br />

1999 sei die NATO zu einem Instrument kooperativer Sicherheit in Europa geworden<br />

(137). Dies war sie aber seit 1949. Papst Paul VI. hat diese Funktion<br />

1972 gewürdigt, als er erklärte, die NATO diene der Verteidigung einer Kultur,<br />

deren Geist „aus echter christlicher Tradition erwuchs“ und „der wir uns alle zu<br />

Recht verbunden fühlen“. 11<br />

Die selektive Erinnerung des Hirtenbriefes an die Geschichte des Kalten Krieges<br />

und die Systeme kollektiver Sicherheit, die in dieser Form heute nicht einmal<br />

mehr von den Grünen geteilt wird, verrät eine politische Weltsicht, die den deutschen<br />

Bischöfen bisher fremd war und die sich auch in einigen Beurteilungen der<br />

Weltlage an der Jahrhundertwende niederschlägt. Der Hirtenbrief zitiert aus der<br />

Sozialenzyklika Centesimus Annus die Ziffer 42, in der Johannes Paul II. von<br />

der Gefahr spricht, daß sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in<br />

der Welt eine kapitalistische Ideologie ausbreite, die es ablehnt, Probleme der<br />

sozialen Gerechtigkeit insbesondere in der Dritten Welt auch nur zu erörtern.<br />

An das Zitat schließt der Brief die Behauptung an: „Nach fast zehn Jahren wissen<br />

wir, daß sich diese Prognose leider bewahrheitet hat. Die Folgen sind nicht<br />

zu übersehen: weitreichende Entsolidarisierung im Zeichen wachsender Ungerechtigkeit<br />

in der sich unaufhaltsam globalisierenden Welt. Wir halten es deswegen<br />

für abwegig, auf reine Deregulierung als Allheilmittel zu setzen“ (63). Aus<br />

der päpstlichen Warnung wird hier unter der Hand eine Prognose. Wer die an<br />

vielen Stellen notwendige Deregulierung, die noch an weiteren Stellen des Hirtenbriefes<br />

beklagt wird (95, 99), als „Allheilmittel“ (wofür?) anbot, wird nicht<br />

gesagt. Belege für diesen Kassandra-Ruf werden für überflüssig gehalten. Daß<br />

sich viele internationale Organisationen – UNO-Konferenzen, EU-Gipfel, selbst<br />

der IWF, die WTO und der G8-Gipfel von Köln 1999 – mit Problemen der Dritten<br />

Welt befaßt haben und immer wieder befassen, wird übergangen. Es scheint<br />

nicht in ein wenig differenziertes Weltbild zu passen.<br />

Eine Schlüsselrolle bei der Friedensarbeit mißt der Hirtenbrief mit Recht der<br />

Zivilgesellschaft zu. Ihr widmet er fünf Ziffern (122-126). Doch der Begriff der<br />

Zivilgesellschaft, auf den sich der Hirtenbrief stützt, birgt den sechsten Stolperstein.<br />

Für die Autoren zählen allein jene informellen und formellen Gruppen,<br />

Verbände, Vereinigungen und Initiativen zur Zivilgesellschaft, die „weder dem<br />

Bereich des Staates noch dem der Wirtschaft zugehören“ (122). Die Parteien<br />

kommen in diesem Konzept nicht vor. Mit dieser in der Diskussion über die<br />

Zivilgesellschaft durchaus umstrittenen Ausgrenzung der Parteien folgt der Hirtenbrief<br />

einem Konzept, das eher basisdemokratisch orientiert ist und zum Beispiel<br />

von Andrew Arato und Ulrich Preuß vertreten wird. In diesem Konzept<br />

471


wird die Zivilgesellschaft in Stellung gebracht gegen den Staat. 12 Wenn aber die<br />

Zivilgesellschaft eine Gesellschaft freier, selbstbewußter und aktiver Bürger ist,<br />

die sich in einer relativ staatsfreien Sphäre selbst organisieren, dann gehören die<br />

Parteien als gesellschaftliche Organisationen, in denen politische Meinungen und<br />

Optionen aggregiert und artikuliert werden, zur Zivilgesellschaft. Sie sind nicht<br />

Teil des Staates. Für die politische Willensbildung und für die Rekrutierung der<br />

Mandatsträger in einer Demokratie sind sie unverzichtbar. Mit seinem defizitären<br />

Begriff der Zivilgesellschaft leistet der Hirtenbrief weder der Entwicklung des<br />

politischen Bewußtseins in der Demokratie noch der Friedensarbeit, die auf die<br />

Politik und damit auch die Parteien angewiesen bleibt, einen Dienst.<br />

Genug der kritischen Anmerkungen. Vielleicht war der Hirtenbrief mit seinen<br />

115 Seiten den meisten Bischöfen zu lang, um ihn einer vollständigen und genauen<br />

Lektüre zu unterziehen. Aber wenigstens von der zuständigen Kommission<br />

VI für gesellschaftliche und soziale Fragen hätte man diese Lektüre erwarten<br />

können. Ob bewußt oder im Gang der Geschäfte en passant, er wurde verabschiedet<br />

und der Öffentlichkeit übergeben. Seine Stolpersteine markieren eine<br />

deutliche Kursänderung der Deutschen Bischofskonferenz in gesellschaftlichen<br />

und politischen Fragen. Von einer Annäherung der Bischöfe an die rot-grüne<br />

Bundesregierung läßt sich dabei kaum noch sprechen, stehen Schröder und Schily,<br />

Fischer und Wieczorek-Zeul in den Themen, die stolpern lassen, dem früheren<br />

Kurs der Bischöfe doch viel näher als der neue Hirtenbrief. Die Stolpersteine<br />

erschweren die Rezeption der wichtigen Orientierungen, die der Hirtenbrief im<br />

Licht der Friedensethik der katholischen Soziallehre auch anbietet und die eingangs<br />

skizziert wurden.<br />

Anmerkungen<br />

1) Charta für ein neues Europa. Erklärung des KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs<br />

in Paris vom 21.11.1990, in: Manfred Spieker, Hrsg., Friedenssicherung Bd. 4,<br />

Die Neuordnung Europas, Münster 1991, S. 133ff. „Das Zeitalter der Konfrontation und<br />

der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, daß sich unsere Beziehungen<br />

künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe<br />

der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker<br />

und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter<br />

der Demokratie, des Friedens und der Einheit an. Nun ist die Zeit gekommen, in der<br />

sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen:<br />

Unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden<br />

Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit<br />

und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.“<br />

2) Gerechter Friede, Ziffer 118; die im Folgenden im Text in Klammern genannten Ziffern<br />

beziehen sich auf den Hirtenbrief „Gerechter Friede“.<br />

3) Vgl. dazu auch Werner Wertgen, Vergangenheitsbewältigung: Interpretation und Verantwortung.<br />

Ein ethischer Beitrag zu ihrer theoretischen Grundlegung, Paderborn 2001.<br />

4) Vgl. dazu auch M. Spieker, Zur Aktualität der Lehre vom „gerechten Krieg“. Von<br />

nuklearer Abschreckung zur humanitären Intervention, in: Die Neue Ordnung, 54. Jg.<br />

(2000), S. 4-18.<br />

472


5) Gerechtigkeit – Frieden – Bewahrung der Schöpfung. Die Ergebnisse der Ökumenischen<br />

Versammlung von Dresden-Magdeburg und Basel, hrsg. von der Arbeitsgruppe<br />

„Justitia et Pax“ der Berliner Bischofskonferenz, Leipzig 1990, S. 30.<br />

6) Gerechtigkeit schafft Frieden, in: Die Deutschen Bischöfe 34, hrsg. vom Sekretariat der<br />

Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1983, S. 41.<br />

7) Katechismus der Katholischen Kirche 2309.<br />

8) Gerechtigkeit schafft Frieden, a.a.O., S. 33.<br />

9) A.a.O., S. 37.<br />

10) Vgl. auch Ulrich Matz, Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates<br />

und der Revolution, Freiburg/München 1975, S. 70ff.<br />

11) Paul VI, Ansprache an die Teilnehmer des 39. Lehrgangs des NATO-<br />

Verteidigungsrates am 3.2.1972, in: Dienst am Frieden. Stellungnahmen der Päpste, des<br />

II. Vatikanischen Konzils und der Bischofssynode, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen<br />

Bischofskonferenz, 2. Aufl. Bonn 1982, S. 125f. Vgl. auch Samuel P. Huntington, Der<br />

Kampf der Kulturen, 2. Aufl. München/Wien 1997, S. 203f. und 256.<br />

12) Vgl. M. Spieker, Herrschaft und Subsidiarität: Die Rolle der Zivilgesellschaft, in:<br />

Wolfgang J. Mückl, Hrsg., Subsidiarität. Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung<br />

in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn 1999, S. 49-61.<br />

Prof. Dr. Manfred Spieker lehrt Christliche Sozialwissenschaften an der Universität<br />

Osnabrück.<br />

<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong> <strong>ORDNUNG</strong><br />

Einbanddecken<br />

für den 55. Jahrgang 2001<br />

für 15,- Euro ab sofort zu bestellen bei:<br />

Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg<br />

Simrockstraße 19 53113 Bonn<br />

473


474<br />

Joseph Cardinal Ratzinger<br />

Zum Tode von Arthur F. Utz O.P.<br />

Geboren am 15. April 1908 – gestorben am 18. Oktober 2001<br />

Nun ist also der gute Pater Utz heimgegangen. Über Jahrzehnte war er ein Meister,<br />

dessen Kompetenz unerreichbar blieb. In den Stürmen der Zeit war er wie<br />

eine Eiche. Unbeirrbar hat er am Glauben und an seiner Treue zum Apostolischen<br />

Stuhl festgehalten und gerade damit der Stimme der Vernunft Gehör verschafft.<br />

Er wird auch weiterhin ein Meister und ein Vorbild bleiben.<br />

Joseph Cardinal Ratzinger ist Präfekt der Glaubenskongregation in Rom.


Besprechungen<br />

Grundlagen der Ökonomie<br />

Ein Buch, das zunächst für ausgebildete<br />

Fachleute der Volks- und der<br />

Betriebswirtschaft gedacht ist, sollte<br />

auch die Aufmerksamkeit der Sozialethiker<br />

und Sozialphilosophen finden.<br />

Es diagnostiziert scharfsinnig einen<br />

Grundfehler wirtschaftwissenschaftlichen<br />

Denkens, der auch verantwortlich<br />

zeichnet für wirtschaftethische<br />

und sozialpolitische Fehlurteile:<br />

Karl-Heinz Brodbeck: Die fragwürdigen<br />

Grundlagen der Ökonomie.<br />

Eine philosophische Kritik der<br />

modernen Wirtschaftswissenschaften.<br />

Wissenschaftliche Buchgesellschaft<br />

Darmstadt, 2. Aufl. 2000,<br />

298 S.<br />

Der Verfasser, selbst Professor für<br />

Volkswirtschaftslehre, greift die<br />

modernen Wirtschaftswissenschaften<br />

nicht, wie so manche Zeitgenossen<br />

es heute gerne tun, wegen ihrer<br />

neoliberalen Ausrichtung und deren<br />

vermeintlichen sozialen Folgen an,<br />

sondern setzt viel tiefer an. Er attakkiert<br />

nicht eine spezielle Schule,<br />

sondern eine Voraussetzung, die<br />

verwandten Richtungen gemeinsam<br />

ist. Grenznutzen, Nutzenmaximierung,<br />

Grenzproduktivitätstheorie,<br />

rationale Wahl, Gleichgewichtstheorie<br />

und anderes spielen in den<br />

Facetten der Neoklassik wichtige, ja<br />

entscheidende Rollen, beruhen aber<br />

auf einem Grundirrtum, der ihnen<br />

gemeinsam ist und das Interesse der<br />

Philosophen beansprucht. Dieser<br />

Irrtum ist letztlich anthropologischer<br />

Art und betrifft sowohl das<br />

Individuum als auch die Gesellschaft<br />

mit ihren Institutionen. Der<br />

Autor argumentiert bei aller Detail-<br />

kenntnis der Ökonomie genuin philosophisch<br />

mit profundem Wissen<br />

aus der systematischen und historischen<br />

Philosophie.<br />

Was den naturrechtlich denkenden<br />

Sozialethiker besonders vertraut ist,<br />

zeigt Brodbeck bereits zu Beginn:<br />

„Der antimetaphysische Gestus (...)<br />

im Namen von Logik und Empirie<br />

vergaß, daß die Ablehnung der Metaphysik<br />

selbst eine metaphysische<br />

Aussage ist.“ (S. 9) In den Wirtschaftswissenschaften<br />

wird eine verborgene,<br />

heimliche Metaphysik als<br />

Basis benutzt, nämlich eine klassische<br />

Physik, die soziale Realität mit<br />

der physischen gleichsetzt und somit<br />

durch und durch mathematisierbar<br />

erscheint. „Soziale Physik“ nennt<br />

Brodbeck diese Denkweise, welche<br />

die Resultate der menschlichen Handlungen<br />

als Lösung von Gleichungen<br />

betrachtet (S. 41) Das Individuum<br />

und seine Freiheit – der Autor nennt<br />

sie Kreativität – werden ausgeklammert.<br />

An den Phänomenen Natur,<br />

Zeit und Rationalität wird diese Reduktion<br />

auf das Quantitative in den<br />

Wirtschaftswissenschaften dargestellt<br />

und als unzureichende Beschreibung<br />

der Wirklichkeit kritisiert. Der Autor<br />

kommt zu dem Schluß, daß der neoklassische<br />

Versuch, „die Entwicklung<br />

einer Volkswirtschaft unter der Vo raussetzung<br />

zu beschreiben, daß zwischen<br />

Faktorgruppen und Produkten<br />

eine mechanische Kausalität besteht“<br />

(S. 168), gescheitert ist; denn das<br />

Handeln von Subjekten ist kein einliniger<br />

kausaler Prozeß, schon gar nicht<br />

der Geist und die Ideen des Menschen<br />

ein dem Kausalgesetz unterworfenes<br />

Naturding. „Zum Begriff des Handelns,<br />

der Praxis selbst gehört ein<br />

Bezug auf Theorie, auf die Idee oder<br />

den Begriff“ (S. 199). Brodbeck<br />

beruft sich auf Schumpeter, der mit<br />

seiner Betonung des schöpferischen,<br />

475


zugleich auch zerstörerischen Handelns<br />

„einen wirklichen Schritt über<br />

die mechanische Beschreibung hinaus<br />

auf eine postmechanische Ökonomie<br />

zu getan hat“ (S. 245). Auch Hayeks<br />

Ablehnung einer zentralen Planwirtschaft<br />

ist begründet in der Feststellung,<br />

daß menschliche Freiheit nicht<br />

rein rational berechenbar ist. Brodbeck<br />

spricht vom „Dunkel“ der<br />

menschlichen Freiheit, die sich nicht<br />

der Rationalität einfach fügt, und zitiert<br />

Hayek: „Der Gebrauch der Ve rnunft<br />

zielt auf Kontrolle und Vorhersagbarkeit.<br />

Dagegen beruht aber der<br />

Prozeß des Fortschreitens der Ve rnunft<br />

auf der Freiheit und Unvorhersagbarkeit<br />

der menschlichen Handlungen.“<br />

(S. 255) Die hier vorgelegte<br />

Analyse besticht und bestätigt Grundauffassungen<br />

christlicher Anthropologie.<br />

Was die gewonnenen Einsichten<br />

für sozial- und wirtschaftspolitische<br />

Folgerungen zeitigt, das bleibt<br />

uns der Autor leider noch schuldig.<br />

476<br />

Hans Joachim Türk<br />

Soziale Marktwirtschaft<br />

In einer Zeit geschickt instrumentalisierter<br />

Emotionen tut es gut, den Terminus<br />

der „Leitidee“ als einen Kernbegriff<br />

im Lebenswerk des großen<br />

Vordenkers der Sozialen Marktwirtschaft,<br />

Alfred Müller-Armack, behandelt<br />

zu sehen, eine Idee, die Wohlstand<br />

und soziale Ve rnetzung in<br />

unserem Land maßgeblich gefördert<br />

hat. In der etwas verkürzten Fassung<br />

seiner von Trutz Rendtorff begleiteten<br />

Dissertation bringt Daniel Dietzfelbinger<br />

diese Idee systematisiert in die<br />

aktuelle Diskussion um eine wirtschaftsethische<br />

Standortbestimmung<br />

mit ein.<br />

Daniel Dietzfelbinger: Soziale<br />

Marktwirtschaft als Wirtschafts-<br />

stil. Alfred Müller-Armacks Lebenswerk,<br />

Chr. Kaiser/Gütersloher<br />

Verlagshaus 1998, 336 S.<br />

Die drei Hauptabschnitte, in denen es<br />

um Leben und Werk Müller-Armacks,<br />

die von ihm geprägte Stiltheorie<br />

sowie die Anwendung derselben<br />

auf die Wirtschaftsethik geht, sind gerahmt<br />

von einer kurzen Darstellung<br />

der wirtschaftsethischen Motivation<br />

wie einem abschließenden Ausblick,<br />

der den roten Faden der anfangs gestellten<br />

Fragen aufnimmt. Die zahlreichen<br />

Exkurse behindern dabei<br />

manchmal den Leseduktus. Vor allem<br />

macht sich Dietzfelbinger sehr treffend<br />

die Frage nach einem gemeinsamen<br />

Sprachcode der unterschiedlichen<br />

Rationalitäten von Ethik und<br />

Ökonomik zu eigen. Die Lösung<br />

sucht er in einem metaethischen Dis -<br />

kurs, der bei Alfred Müller-Armack<br />

mit seiner christlich-verwurzelten<br />

Stiltheorie bereits vorgedacht wurde.<br />

So entdeckt er in dem Mitbegründer<br />

der Sozialen Marktwirtschaft den Religions-<br />

und Kultursoziologen wieder<br />

neu für den aktuellen Rationalitätenkonflikt,<br />

mit dem sich die Wirtschaftsethik<br />

der Gegenwart zur Zeit<br />

schwertut. Die biographischen Anmerkungen<br />

beschränken sich auf die<br />

für eine geistige Zuordnung des Werkes<br />

Müller-Armacks notwendigen<br />

Schlaglichter. Die zunehmende Abkehr<br />

von einem zwiespältigen Verhältnis<br />

zur NS-Ideologie wird ebenso<br />

beleuchtet wie die starken Anlehnungen<br />

an Max Weber, Heinrich Bechtel<br />

und Ludwig von Wiese. Vor diesem<br />

Hintergrund ist die Idee der Stiltheorie<br />

ebenso systematisch wie anschaulich<br />

entfaltet. Der Begriff des Stils als<br />

universale Geschichtsschau ist danach<br />

von Müller-Armack bewußt mit<br />

seinem kulturellen Blick in die Nationalökonomie<br />

hineingeholt worden<br />

und könnte so als Matrix gegen einen


einseitigen ökonomischen Rationalis -<br />

mus Anwendung finden. Die Legitimationsfrage<br />

für dieses Kriterium ist<br />

für Dietzfelbinger hier religiös-anthropologisch<br />

angegangen. Metaphysik<br />

und Sozialökonomie finden danach<br />

zu einer gemeinsamen Rationalität<br />

aus der Überwindung des<br />

menschlichen Dualismus von Geist<br />

und Natur. Diese Matrix sieht Dietzfelbinger<br />

bei Müller-Armack im<br />

„Leitbild“ der Sozialen Marktwirtschaft<br />

realisiert. Die Symbiose oder<br />

Komplementarität der christlichen<br />

Wurzeln von Freiheit und sozialer<br />

Gerechtigkeit überwindet in seiner<br />

praktischen Ausgestaltung danach<br />

auch die Dualismen von ökonomischen<br />

und sozialen, von statischem<br />

und dynamischen Argumentationen.<br />

Dieser so verstandene Stil der sozialen<br />

Marktwirtschaft sei das antizipierte<br />

Leitbild für die Gestaltung einer<br />

ebenso sozialen wie freien Wirtschafts-<br />

und Kulturordnung.<br />

Da deutlich die Herleitung des Wirtschafts-<br />

aus dem Lebensstil herausgestellt<br />

wird, leistet Dietzfelbinger<br />

einen wichtigen Beitrag dazu, mit<br />

Müller-Armack die Anthropologie<br />

und Metaphysik wieder mehr in die<br />

Mitte der Legitimationsversuche moderner<br />

Wirtschaftsethik zu rücken.<br />

Parallelen des Denkens von Müller-<br />

Armack zum naturrechtlichen Analogiemodell<br />

treten offen zutage, werden<br />

aber nicht benannt. Wie nun der<br />

Hoffnungsträger „Wirtschaftsstil“ die<br />

konkurrierenden Rationalitäten zusammenführen<br />

will, so daß sie sich<br />

gegenseitig akzeptieren, diese Frage<br />

bleibt letztlich ungeklärt. Die Dringlichkeit<br />

aber, sich dieser Herausforderung<br />

von christlicher Seite zu stellen,<br />

hat Dietzfelbinger mit seinem prägnanten<br />

Grundlagenwerk neu angestoßen.<br />

Das macht Geschmack da-<br />

rauf, mit Müller-Armack in diese<br />

Richtung weiterzudenken.<br />

Elmar Nass<br />

Christliche Sozialethik<br />

Was einst als Opium für das Volk in<br />

Bausch und Bogen abgekanzelt wurde,<br />

dem wird in seiner sozialethischen<br />

Facette heute zumindest das „Odium<br />

des Überholten“ angedichtet, wie es<br />

Joachim Kardinal Meisner in seinem<br />

Geleitwort sehr treffend mit Blick auf<br />

die kirchliche Sozialverkündigung<br />

beschreibt. Dem entgegenzutreten in<br />

einem Werk, das nach der eigenen<br />

Präsentation den im „Blick auf die<br />

Humanität und Zukunftsfähigkeit von<br />

Wirtschaft, Politik und Gesellschaft<br />

notwendigen Dialog nicht nur dokumentiert,<br />

sondern auch voranbringt“,<br />

ist Anspruch der Festschrift für den<br />

jetzt emeritierten Bonner Sozialethiker<br />

Lothar Roos, der durch sein Denken<br />

und Wirken schon seit langen<br />

Jahren selbst diesen Dialog maßgeblich<br />

vorlebt und mitgestaltet.<br />

Ursula Nothelle-Wildfeuer/Norbert<br />

Glatzel [Hrsg.] (2000): Christliche<br />

Sozialethik im Dialog. Zur Zukunftsfähigkeit<br />

von Wirtschaft, Politik<br />

und Gesellschaft. Festschrift<br />

zum 65. Geburtstag von Lothar<br />

Roos, Vektor-Verlag, Grafschaft,<br />

672 S.<br />

Die breit angelegte Auswahl der<br />

Themen wie der 39 hochkarätigen<br />

Autoren aus Kirche, Wissenschaft<br />

und Wirtschaft spiegelt – thematisch<br />

in acht Abschnitten übersichtlich<br />

zusammengestellt – das weite Spektrum<br />

der Wissensgebiete treffend<br />

wider, die Lothar Roos in seinem<br />

bisherigen Lebenswerk nachhaltig geprägt<br />

hat und auch sicher noch weiter<br />

prägen wird. Dies Anliegen von Roos<br />

fassen die Herausgeber in ihrem<br />

477


Vorwort mit dem Ansatz in der<br />

chris tlichen Anthropologie zusammen,<br />

nach der der Mensch verstanden<br />

wird als „Person, die als Einheit von<br />

Individualität und Sozialität ‚Träger,<br />

Schöpfer und ... Ziel aller gesellschaftlichen<br />

Einrichtungen’ (MM<br />

219)“ ist. Dieser Grundlegung folgt<br />

die thematische Gliederung in die<br />

Bereiche: Grundlagen der Sozialethik,<br />

Aktuelle Fragen der Gesellschaft,<br />

Politische Ethik, Ethik der<br />

Völkergemeinschaft, Wirtschaftsethik,<br />

Umweltethik, Medizinische<br />

Ethik und Sozialgeschichtliche Konkretionen.<br />

Abschließend findet sich<br />

eine umfassende chronologische<br />

Übersicht der Publikationen von<br />

Lothar Roos. Die Festschrift vermittelt<br />

den Eindruck eines ausgereiften<br />

Kompendiums, in dem Grundsatzfragen<br />

wie aktuelle Anwendungen in<br />

einer gesunden Mischung entfaltet<br />

sind. Den dialogischen Anspruch voll<br />

zur Geltung bringen die unterschiedlich<br />

gefärbten Beiträge, die zwar alle<br />

im Fundament des christlichen Menschenbildes<br />

verwurzelt sind, dabei<br />

aber ihre je eigene Originalität nicht<br />

vermissen lassen.<br />

Im ersten Abschnitt stehen vor allem<br />

biblische und dogmatische Argumente<br />

im Mittelpunkt. Wilhelm Breuning<br />

sucht auf der Basis des II. Vaticanums<br />

(LG 9, GS 32) aufzuzeigen, daß<br />

der universale Rettungswille Gottes<br />

sich auf die Individualität und Sozialität<br />

des Menschen gleichermaßen<br />

bezieht. André Habischs Versuch,<br />

Jesus im Gegensatz zu Johannes dem<br />

Täufer als Wegbereiter der sogenannten<br />

Institutionsethik Karl Homanns<br />

vorzustellen, das sollte tatsächlich<br />

zum kontroversen Dialog anregen.<br />

Norbert Glatzels These einer Abkehr<br />

vom Naturrecht zur Begründung des<br />

Begriffs „Soziale Gerechtigkeit“<br />

gründet in einer behaupteten Kontra-<br />

478<br />

stierung eines vermeintlich statischen<br />

Rechts zu einem dynamischen Menschenbild.<br />

Damit folgt Glatzel der<br />

gängigen Naturrechtskritik, was die<br />

Vertreter dieser Schule auf den Plan<br />

rufen sollte.<br />

Im zweiten Abschnitt zieht Michael<br />

Schramm aus seiner Abwendung von<br />

naturrechtlichem Denken daraus die<br />

konsequente These der universalen<br />

Substituierbarkeit kirchlicher Caritas.<br />

Die Frage nach einer alternativen<br />

Begründungsebene bleibt offen. Zum<br />

Nachdenken über die Neudefinition<br />

des Ehrenamtes regt der frisch wie<br />

schlüssig konzipierte Beitrag der<br />

Mitherausgeberin Ursula Nothelle-<br />

Wildfeuer an. Sie bringt die Korrelation<br />

von zivilgesellschaftlichem Wertebewußtsein<br />

und ehrenamtlichem<br />

Engagement, von in Freiheit übernommener<br />

Verantwortung für die<br />

Gesellschaft und Solidarität auf den<br />

Punkt. In diesem Zusammenspiel<br />

begründet sie die im Titel thematisierte<br />

Zukunftsfähigkeit. Gedanken<br />

zum Caritasverband trägt Konrad<br />

Hilpert vor. Heinrich Pompey entfaltet<br />

mithilfe zahlreicher empirischer<br />

Belege eine treffende Problemanalyse<br />

zum Stellenwert der caritativen Diakonie<br />

in christlichen Gemeinden.<br />

Gemeinden und Familien gemeinsam<br />

sollen subsidiär von der Versorgungsmentalität<br />

zu einem solidarischen<br />

Mitsorgen geführt werden.<br />

Über eine für möglich gehaltene Bergung<br />

der vorhandenen Schätze an<br />

Humankapital entwickelt Pompey die<br />

Vision eines sozialen Profils: einer<br />

Gemeinde als Ort des Lebens. Vielschichtige<br />

Argumente und die Ermutigung<br />

zum öffentlichen Bekenntnis<br />

für die Beibehaltung der Sonntagsruhe<br />

sind im Beitrag von Elisabeth<br />

Jünemann zu finden. Das „heiße<br />

Eisen“ der emotionalen Diskussion<br />

um Elitenförderung schreckt Andreas


Püttmann nicht ab, ein überzeugendes<br />

Bekenntnis für eine christlich-motivierte<br />

Führungsschulung abzulegen.<br />

Besonders fordert er Professionalität<br />

in PR-Bereichen ein, um der christlichen<br />

Grundhaltung in ihrem herausgehobenen<br />

Beitrag für das Ge meinwohl<br />

eine qualifizierte, meinungsbildende<br />

Stimme zu verleihen.<br />

In dem knappen dritten Abschnitt zur<br />

politischen Ethik will Bernhard Sutor<br />

anhand des Sozialwortes der Kirchen<br />

von 1997 auf die Defizite der kirchlichen<br />

politischen Ethik hinweisen.<br />

Strukturell fordert er dabei eine intensive<br />

Koordination von Räten und<br />

Verbänden, theoretisch und praktisch<br />

vor allem einen Ausbau an politischer<br />

Klugheit und Kompromißbereitschaft<br />

im Gespräch mit der Politik. Sein<br />

Anriß einer „beratenden Mitwirkung“<br />

wird sicher noch Gegenstand grundlagenkritischer<br />

pragmatischer Diskurse<br />

sein. Den staatlichen Erziehungsauftrag<br />

sieht Armin Wildfeuer nicht<br />

als Appendix, sondern als gleichberechtigte<br />

Stütze der elterlichen Ve rantwortung<br />

zum Schutz von Demokratie,<br />

Freiheit und Gerechtigkeit.<br />

Die Beiträge zur Ethik der Völkergemeinschaft<br />

im vierten Kapitel leitet<br />

Anton Rauscher ein mit einem Bekenntnis<br />

für die europäische Idee. Er<br />

erinnert an die ersten Schritte zur<br />

Union über demokratische Parteigrenzen<br />

hinweg, warnt aber gleichermaßen<br />

vor den Gefahren rechter<br />

wie linker Scharfmacher. Die Besinnung<br />

auf gemeinsame Grundlagen hin<br />

zu einer „Sozialen Moral“ (Helmut<br />

Schmidt) wünscht Rauscher sich in<br />

Gott als dem verpflichtenden Grund<br />

der Freiheit. Damit weist er einen<br />

zunehmend steiniger werdenden Weg<br />

auf, der verantwortungsbewußte Christen<br />

zum Zeugnis ermu ntern sollte.<br />

Eine positive Auseinandersetzung mit<br />

den Gedanken der Aufklärung und<br />

Reformation hält Walter Fürst im<br />

Sinne seiner Vision eines communialdialogischen<br />

Pastoralkonzepts in Europa<br />

für unverzichtbar. In einem<br />

englischsprachigen Beitrag nimmt<br />

Obiora F. Ike den Leser exemplarisch<br />

mit auf die Reise in die sozialen<br />

Realitäten seiner Heimat Nigeria.<br />

Einheit und Kontinuität der katholischen<br />

Soziallehre wie das einheitliche<br />

Bild von Mensch und Geschichte<br />

vermitteln dort eine glaubwürdige<br />

Antwort für die praktische Umsetzung.<br />

Manch ein europäischer Sozialethiker<br />

christlicher Provenienz mag<br />

ob solchem Enthusiasmus neidisch<br />

erblassen.<br />

Der fünfte Abschnitt zur Wirtschaftsethik<br />

setzt den letzten thematischen<br />

Hauptschwerpunkt der facettenreichen<br />

Festschrift. Das Profil christlicher<br />

Wirtschaftsethik sucht Hans-<br />

Joachim Höhn in einem grundlegenden<br />

Artikel auf einem Weg zwischen<br />

Dämonisierung und Vergötterung des<br />

Marktes zu erschließen. Ethische<br />

Vernunft darf dabei nicht – wie im<br />

Ökonomismus – „zu Markte getragen“<br />

werden, denn reine Marktgesetze<br />

erkennt Höhn als Machtgesetze.<br />

Sehr treffend erinnert Höhn an die<br />

ursprünglichen Ziele eines Adam<br />

Smith, der die Effizienz nicht zum<br />

Selbstzweck erklärte, sondern sie<br />

rückband an die Ziele der Freiheit<br />

und der sozialen Gerechtigkeit. Regeln<br />

sind vonnöten für den Dialog<br />

zwischen Ethik und Ökonomik, der<br />

zum Ziel sozialen wie kulturellen<br />

Fortschritt haben soll. Effizienz bedarf<br />

deshalb stets der Legitimität.<br />

Diese Forderung sieht Höhn in einer<br />

kulturellen Sinnwelt als „Widerlager“<br />

zur ökonomischen Rationalität verwirklicht.<br />

Globalisierung und Ve rmögensbildung<br />

finden sich in weiteren<br />

Artikeln behandelt. Etwas anders<br />

479


als etwa Arthur F. Utz entfaltet der<br />

Paderborner Weihbischof Reinhard<br />

Marx anhand der Begriffe von System-,<br />

Unternehmens- und Führungsethik<br />

sein Drei-Ebenen-Schema der<br />

Wirtschaftsethik. Es dient ihm zur<br />

Begründung eines Plädoyers für eine<br />

Stärkung des stakeholder-values, das<br />

es in einer Korrelation von primärer<br />

(individueller) und sekundärer (korporativer)<br />

Verantwortung vermittels<br />

ausgebauter Teilhabe und Teilnahme<br />

der Mitarbeiter zu verwirklichen<br />

gelte. Die oft unterschätze integrierende<br />

Kraft christlicher Gewerkschaften<br />

als Avantgarde gegen Klassenkampf<br />

ruft Wolfgang Ockenfels in<br />

Erinnerung. In einem Zusammenspiel<br />

des zunehmenden Übergangs von der<br />

Tarif- zur Betriebsautonomie und<br />

einem wachsenden Bewußtsein einer<br />

Synthese von Freiheit und Bindung<br />

sowie der Solidarität der Arbeitsplatzinhaber<br />

mit den Arbeitslosen hält<br />

Ockenfels eine notwendige Profilierung<br />

christlicher Gewerkschaften für<br />

möglich.<br />

Die Heterogenität der Artikel im<br />

Abschnitt sechs zur Umweltethik fällt<br />

ins Auge. Der Bonner Alttestamentler<br />

Frank-Lothar Hossfeld sucht die<br />

nicht unumstrittene Eigenständigkeit<br />

des Prinzips der Nachhaltigkeit in der<br />

Analogie der Selbstbeschränkung von<br />

jüdischer Sabbatruhe und aktuell gebotener<br />

Zurückhaltung im Umgang<br />

mit den natürlichen Ressourcen herzuleiten.<br />

Der nicht unzutreffende<br />

Vergleich des biblischen Schöpfungsfriedens<br />

mit den Idealen der Friedensbewegung<br />

gibt sicher Raum für<br />

kontroverse Auslegungen. Weiterhin<br />

bieten zahlreiche biblische Belege<br />

eine lohnende Fundgrube für die<br />

alttestamentliche Hochschätzung der<br />

Natur. Martin Honecker hinterfragt<br />

eine ethische Berufung aus dem<br />

Schöpfungsgedanken aus evangeli-<br />

480<br />

scher Sicht. Demzufolge können zwar<br />

Richtungshinweise und Grundorientierungen<br />

eine entsprechende Ve rantwortung<br />

für die Schöpfung evozieren,<br />

nicht aber ließen sich absolute<br />

Handlungsmaximen begründen. Eine<br />

erfrischende Neubesinnung auf das<br />

Naturrecht fordert entgegen anderslautender<br />

Artikel in diesem Buch der<br />

alte Bonner Philosophenkönig Wolfgang<br />

Kluxen ein. Er entkräftet die<br />

Vorwürfe des naturalistischen Fehlschlusses<br />

und der Statik mit einem<br />

Hinweis auf die meist nicht erkannte<br />

Unterscheidung von Naturgesetz und<br />

Naturrecht. Kluxen wünscht sich eine<br />

Belebung des vernunftbestimmten<br />

klassischen Naturrechtsgedankens hin<br />

auf eine stärkere Integration anthropologischer<br />

Erkenntnisse. Er möchte<br />

einen „vollen Naturbegriff“ den reinen<br />

Empirikern entgegensetzen.<br />

Abgerundet wird die Festschrift durch<br />

die letzten beiden kleinen Kapitel, in<br />

denen im Rahmen der medizinischen<br />

Ethik die aktuellen Probleme von<br />

Pränataldiagnostik, Abtreibung und<br />

Organtransplantationen intensiv behandelt<br />

sind. Die sozialgeschichtlichen<br />

Konkretionen lohnen sich besonders<br />

für biographisch interessierte<br />

Leser.<br />

Die umfangreiche Schrift wird nahezu<br />

den Ansprüchen eines Handbuches<br />

gerecht. Die Herausgeber bieten dem<br />

Leser nicht nur einen Querschnitt<br />

über verschiedene Positionen und<br />

Fachbereiche, sondern auch vielfältigen<br />

Diskussionsstoff. Jeder, der auf<br />

die Zukunft einer im christlichen<br />

Menschenbild begründeten Ethik<br />

setzt, wird sich an diesem Buch freuen.<br />

Es lädt ein zu vielen Dialogen um<br />

Zukunftsfähigkeit und Zukunftswürdigkeit<br />

unserer Wirtschaft, Politik<br />

und Gesellschaft.<br />

Elmar Nass


481

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