Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />
<strong>ORDNUNG</strong><br />
begründet von Laurentius Siemer OP<br />
und Eberhard Welty OP<br />
Nr. 6/2001 Dezember 55. Jahrgang<br />
Wirtschaft und Soziales<br />
Editorial<br />
Wolfgang Ockenfels, Scharpings Kartoffeln<br />
und die Mediendemokratie<br />
Rainer Kreuzhof, Marktwirtschaft und Christentum<br />
– Widerspruch oder Notwendigkeit?<br />
Stephan Wirz, Unternehmensethik in einer<br />
liberalisierten und deregulierten Wirtschaft<br />
Detlef Grieswelle, Generationengerechtigkeit<br />
und Generationenpolitik<br />
Hans Heinrich Nachtkamp, Für ein Erziehungsentgelt<br />
Cornelius G. Fetsch, Vermögensbeteiligung.<br />
Grundlage moderner Wirtschafts- und Sozialpolitik<br />
Bericht und Gespräch<br />
Peter Schallenberg, Ethik und Rationierung.<br />
Probleme im Gesundheitswesen<br />
Manfred Spieker, „Gerechter Friede“. Zum<br />
Hirtenbrief der deutschen Bischöfe<br />
Joseph Cardinal Ratzinger, Zum Tode von<br />
Arthur F. Utz O.P.<br />
Besprechungen<br />
401<br />
404<br />
414<br />
424<br />
437<br />
447<br />
459<br />
467<br />
474<br />
475<br />
Herausgeber:<br />
Institut für<br />
Gesellschaftswissenschaften<br />
Walberberg e.V.<br />
Redaktion:<br />
Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />
Heinrich Basilius Streithofen OP<br />
Bernd Kettern<br />
Redaktionsbeirat:<br />
Stefan Heid<br />
Martin Lohmann<br />
Edgar Nawroth OP<br />
Herbert B. Schmidt<br />
Günter Triesch<br />
Rüdiger von Voss<br />
Redaktionsassistenz:<br />
Andrea und Hildegard Schramm<br />
Druck und Vertrieb:<br />
Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />
53708 Siegburg<br />
Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />
Die Neue Ordnung erscheint alle<br />
2 Monate<br />
Bezug direkt vom Institut<br />
oder durch alle Buchhandlungen<br />
Jahresabonnement: 49,- DM<br />
Einzelheft 10,- DM<br />
zzgl. Versandkosten<br />
ISSN 09 32 – 76 65<br />
Bankverbindungen:<br />
Sparkasse Bonn<br />
Konto-Nr.: 11704533<br />
(BLZ 380 500 00)<br />
Postbank Köln<br />
Konto-Nr.: 13104 505<br />
(BLZ 370 100 50)<br />
Anschrift der<br />
Redaktion und des Instituts:<br />
Simrockstr. 19<br />
53113 Bonn<br />
Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323<br />
Tel. Institut: 0228/21 68 52<br />
Fax Institut: 0228/22 02 44<br />
Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />
Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />
Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />
Haftung<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />
geben nicht unbedingt<br />
die Meinung der Redaktion wieder.<br />
Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />
Vervielfältigung nur mit<br />
besonderer<br />
Genehmigung der Redaktion<br />
401
Editorial<br />
Scharpings Kartoffeln und die Mediendemokratie<br />
Es war vor jenem 11. September, als Rudolf Scharping über seine Partnerschaft<br />
mit Gräfin Pilati verbreiten ließ: „Es wird keiner von uns beiden zu Hause sitzen,<br />
Kartoffeln schälen, Wäsche waschen und darauf warten, daß der andere<br />
endlich kommt.“ Zum Glück für den Verteidigungsminister, der Mallorca unterbrechen<br />
und in den Krieg ziehen mußte, ist keines der Medien auf diese familienfeindliche<br />
Entgleisung zurückgekommen: Nicht auf die Flugbereitschaft, die ihn<br />
nicht zu Hause sitzen ließ, sondern direkt in das Liebesnest beförderte; nicht auf<br />
das Kartoffelschälen seiner Ehefrau, die ihm drei Kinder geboren und aufgezogen<br />
hat; nicht auf die schmutzige Wäsche, die ungewaschen blieb, weil die Öffentlichkeit<br />
darauf wartete, daß endlich etwas anderes kommt.<br />
Es kam der 11. September (der nebenbei auch noch die sozialpolitische „Faulenzer“-Debatte<br />
überschattete und damit beendete) nicht nur als Macht der Ereignisse<br />
über uns, sondern als Übermacht der Medien und der Bilder. Wir und die<br />
Terroristen haben vielleicht nur zu viele apokalyptische Hollywood-Filme konsumiert.<br />
Einerlei ob im wirklichen Leben oder in der Fiktion, wir sehnen uns<br />
nach starken und immer stärkeren Reizen. Gegen internetbewaffnete terroristische<br />
Schwarmgeister hilft schließlich nur noch das Militär. Die ultima ratio wird<br />
zum ersten Gedanken. Und die moderne Aufklärung unter der Patronage der<br />
elektronischen Massenmedien ist kaum mehr in der Lage, sich an die Errungenschaften<br />
der mittelalterlichen Lehre vom „gerechten Krieg“ zu erinnern.<br />
Seit Erfindung der Buchdruckerkunst gehört freilich die Klage über den Machtmißbrauch<br />
und die Unmoral der Medien zu den Pflichtübungen jeder Kulturkritik.<br />
Bekannt sind vor allem die Wehklagen der Päpste über den von der Presse<br />
besorgten Verfall von Religion und Sitte. Weniger bekannt hingegen sind die<br />
radikalen pressekritischen Äußerungen, die aus dem 19. Jahrhundert von Arthur<br />
Schopenhauer, Richard Wagner und Sören Kierkegaard überliefert sind. Im letzten<br />
Jahrhundert war es vor allem Karl Kraus, der der Presse einen unerbittlichen<br />
Kampf ansagte. Seine polemisch-satirischen Abrechnungen mit der liberalen, zu<br />
allen Schandtaten fähigen „Journaille“ durchziehen sein gesamtes Lebenswerk,<br />
haben literarisch Schule gemacht und ihre reinigende Wirkung auf den journalistischen<br />
Sprachstil und Anstand nicht ganz verfehlt. Aus heutiger Sicht erscheint<br />
es allerdings reichlich übertrieben, in der Presse den Inbegriff des Kulturverfalls<br />
zu erblicken - oder sie sogar für die Entstehung von Kriegen verantwortlich zu<br />
machen, wie es Kraus mit Blick auf den ersten Weltkrieg und die „Letzten Tage<br />
der Menschheit“ getan hatte.<br />
Im elektronischen Zeitalter hat Kraus keinen ebenbürtigen Nachfolger gefunden.<br />
Aber seinen Spuren folgt auf soziologischen Wegen Neil Postman, der im Umgang<br />
mit der amerikanischen Fernsehwirklichkeit zu einer äußerst kulturpessimistischen<br />
Einschätzung der Medienwirkung gekommen ist. Schon die Titel<br />
402
seiner bekanntesten Bücher („Das Verschwinden der Kindheit“, „Wir amüsieren<br />
uns zu Tode“) sprechen aus, für wie böse er die Macht des Fernsehens hält. Kritiker<br />
werfen ihm maßlose Übertreibung vor und verweisen auf die ambivalenten<br />
Ergebnisse der empirischen Medienwirkungsforschung, die noch in den Kinderschuhen<br />
steckt.<br />
Inzwischen wird darüber gerätselt, wie stark die Bild-Medien in Form und Inhalt<br />
auf die Politik abfärben. Für Gerhard Schröder entscheidend sind „Glotze und<br />
Bild-Zeitung“. Als Repräsentant der Mediendemokratie weiß er, daß es nicht<br />
mehr auf Kirchen, Wirtschaftsverbände und soziale Bewegungen ankommt, sondern<br />
diese nur dann politisches Gewicht erhalten, wenn sie sich von den Massenmedien<br />
ins rechte Bild setzen lassen und dabei eine gute Figur machen.<br />
Noch vor jeder Prüfung inhaltlicher Botschaften, die das Fernsehen verbreitet,<br />
muß in Frageform angenommen werden: Wird durch das Prinzip „Bild vor<br />
Wort“ ein neuer Analphabetismus gefördert? Lähmt die suggestiv-faszinierende<br />
Kraft sich bewegender farbiger Bilder die kritische Rationalität? Hängt die gefühlsgeladene,<br />
mythenüberfrachtete, magiesüchtige Harry-Potter-New-Age-Bewegung<br />
mit einem übersteigerten Fernsehkonsum zusammen? Überlagert das<br />
kurzweilig Unterhaltende die Information? Wird Sachbezogenheit durch Personalisierung<br />
ersetzt, Gründlichkeit durch Schnelligkeit zunichte gemacht? Führt<br />
es zu einer oberflächlichen Ästhetisierung der Politik, wenn nur telegene Politiker<br />
zum Zuge kommen, die in wenigen Schlagworten sekundenschnell sagen<br />
können, worauf es ihnen ankommt? Wird dabei die Nüchternheit dem Zwang<br />
zum Dramatisieren geopfert? Geraten Tradition und Geschichtsbewußtsein unter<br />
die Räder einer sensationellen Aktualität?<br />
Immer mehr wird die Politik auf Fernsehformat zugeschnitten und heruntergebogen:<br />
Inszenierung statt Sache, Design statt Sein, Theater statt Textbuch. Die<br />
Talkshow wird wichtiger als die Kabinettssitzung. Die Mediendemokratie verheißt<br />
Spannung und Spaß und fürchtet nur einen Vorwurf, nämlich langweilig zu<br />
sein. Zweifellos eignet sich das Fernsehen bestens zur entmündigenden Manipulation<br />
und zur gefühlsduseligen Propaganda. Daß dieses Medium eine gesellschaftliche,<br />
ökonomische und politische Macht darstellt, ist kaum zu bestreiten,<br />
am wenigsten von denen, die sie organisatorisch und journalistisch handhaben.<br />
Aber die Macht- und Moralfrage darf nicht nur an die Medienproduzenten gestellt<br />
werden. Ebenso angesprochen ist das verantwortliche Handeln der Medienkonsumenten.<br />
Denn das Publikum muß sich nicht alles gefallen lassen. Vor<br />
allem aber bedarf es der Medienpädagogik in Kirche, Familie und Schule, damit<br />
die Bürger schon von Kindsbeinen an lernen, wie man abschalten und dann auch<br />
erfahren kann, daß es jenseits der Fernsehwirklichkeit noch eine andere gibt.<br />
Der größte Angriff auf die westliche Zivilisation ist ihre Selbstzerstörung durch<br />
Demontage von Ehe und Familie, befördert durch die Medien. Scharping bleibt<br />
leider nicht zu Hause sitzen, meinethalben vor dem Fernsehen, sondern sorgt<br />
weiter für Spannung. Seine Kartoffeln bleiben ungeschält, seine schmutzige Wäsche<br />
ungewaschen. Und wir warten darauf, daß es endlich anders kommt.<br />
Wolfgang Ockenfels<br />
403
404<br />
Rainer Kreuzhof<br />
Marktwirtschaft und Christentum –<br />
Widerspruch oder Notwendigkeit?<br />
I. Zur Notwendigkeit einer Berufs- und Arbeitsethik<br />
Im Bericht des Club of Rome wurde Anfang der 70er Jahre zum ersten Mal in<br />
vernehmbarer Form auf die sich entwickelnde Wirtschafts-, Umwelt und Gesellschaftskrise<br />
unserer Zeit hingewiesen. 1 In vielen Industrieländern haben wir seither<br />
mit einer dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Parallel dazu kommt<br />
es immer wieder zu Hungerkatastrophen in der Dritten Welt. Auch Fragen permanenter<br />
Umweltzerstörung und immer knapper werdender Ressourcen sind<br />
kennzeichnend für die Zeit, in der wir leben. Und schließlich zeigen sich auch<br />
große Probleme in der Gesellschaft, wie Drogenkonsum, Zerfall der Familie und<br />
vieles andere mehr. Mit diesem Einschnitt hat sich quasi unser gesamtes Weltbild,<br />
von dem bisher optimistischen Fortschrittsglauben zu einem eher pessimistischen<br />
Weltverständnis gewandelt. Wie konnte es dazu kommen? Bis dahin<br />
war doch unser westliches Wirtschaftssystem so außerordentlich erfolgreich.<br />
Wie ist also einerseits der enorme wirtschaftliche Erfolg der Vergangenheit und<br />
andererseits das Marktversagen in der Moderne zu erklären? Bei genauerer Betrachtung<br />
wird deutlich, daß bei aller Veränderung in der Neuzeit und Aufklärung<br />
die christliche Kultur mit ihren moralischen Werten bis in die Nachkriegszeit<br />
fortwirkte. Beispiele dafür sind kaufmännische Verhaltensregeln oder das<br />
Eigentumsrecht des Grundgesetzes. 2 Der Wettbewerbsgedanke konnte demzufolge<br />
seine positiven Konsequenzen voll entfalten, da im Hintergrund die chris tliche<br />
Moral und Moralität für ein faires Verhalten sorgte. Das Eigentumsrecht, so<br />
wie es im Grundgesetz verankert ist, basiert dabei im wesentlichen auf den Vo rstellungen<br />
des Thomas von Aquin. Zwar ist auch hier das Eigennutzdenken Ausgangspunkt<br />
für die Rechtfertigung des Privateigentums, anders aber als bei Adam<br />
Smith sind hier nicht natürliche Wirtschaftsgesetze der Ausgangspunkt, denen<br />
der vernunftbegabte und autonome Mensch (Freiheit) unterworfen ist (Determinismus),<br />
vielmehr wird einem verantwortungslosen Gebrauch die Sozialverpflichtung<br />
des Eigentums gegenübergestellt.<br />
In neuerer Zeit erleben wir eine zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche.<br />
Dabei wird ökonomisches Nutzendenken auf immer neue Felder wie Bildung,<br />
Kultur, Gesundheit und sogar Kirche übertragen. Der Lebensvollzug verengt<br />
sich zunehmend auf die ökonomischen Kategorien Arbeit und Konsum. 3<br />
Dementsprechend brechen traditionelle kirchliche Bindungen im Zuge eines<br />
extremen Individualismus bzw. Hedonismus ab und christliche Werte werden<br />
sukzessiv aus der Öffentlichkeit verdrängt. In der Folge pervertiert schließlich<br />
der Wettbewerbsgedanke, und weder staatliche Wirtschaftssteuerung noch neoliberale<br />
Konzepte der Stärkung des Wettbewerbs können die wachsende Krisen-
entwicklung verhindern. Auch die seit einiger Zeit diskutierten humanistischen<br />
Wirtschaftsethiken sind aufgrund ihres individualistischen Menschenbildes und<br />
der mangelhaften Berücksichtigung der Moralität außerstande, wirksam zu werden.<br />
Beispielsweise in der sogenannten „Anreizethik“ des Wirtschaftsethikers Karl<br />
Homann soll das Marktversagen dadurch überwunden werden, daß Anreize für<br />
gute Zwecke gesetzt werden. 4 Hierzu gehören Anreizsysteme wie die Ausbildungsplatzabgabe<br />
und die ökologische Steuerreform. Aufgrund mangelnder<br />
inhaltlicher Bestimmung der Anreizziele kann es dabei allerdings auch zu einer<br />
Pervertierung der Moral kommen, wenn z.B. der Schwangerschaftsabbruch<br />
durch die Krankenkasse bezahlt, die Pflege des behinderten Kindes jedoch entsprechend<br />
der Kostenlage mit höheren Beiträgen belegt wird. Außerdem besteht<br />
in diesem Zusammenhang auch immer die Gefahr des Mißbrauchs von Anreizen,<br />
da die Frage der Moralität nicht gestellt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Förderung<br />
strukturschwacher Regionen, bei der Firmen wiederholt und systematisch<br />
Fördermittel für immer neue Standorte abfordern, ohne sich dauerhaft an einen<br />
dieser Orte zu binden. Von Karl Homann ist aber sicherlich zu lernen, daß es<br />
einen Zusammenhang zwischen Handlungs- und Gesellschaftstheorie dergestalt<br />
gibt, daß die Handlungen der Personen Einfluß auf gesellschaftliche Ereignisse<br />
haben und daß umgekehrt gesellschaftliche Regeln oder Institutionen als Bedingung<br />
des Handelns zu berücksichtigen sind. Statt einen Gegensatz von Gesinnungsethik<br />
und Anreizethik zu konstruieren, sollte auf betriebswirtschaftlicher<br />
Ebene die Unternehmensethik als Sozialethik eher um eine Berufs- und Arbeitsethik<br />
als Individualethik ergänzt werden, denn nur so kann ein Mißbrauch von<br />
Institutionen vermieden werden.<br />
Wenn hier bisher eher kritisch auf die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
eingegangen wurde, so soll damit keineswegs der freie Wettbewerb in Frage<br />
gestellt werden. Im Gegenteil, es gilt die positiven Kräfte der Marktwirtschaft zu<br />
stärken. 5 Wettbewerb und Nutzendenken werden aber zunehmend zur Grundlage<br />
eines ökonomistischen Weltbildes, das totalitäre Züge annimmt und einen missionarischen<br />
Charakter entfaltet. Ähnlich wie in der Vergangenheit das Weltbild<br />
der modernen Naturwissenschaften den christlichen Glauben in Frage stellte, so<br />
muß das Christentum heute eine Antwort auf diese Ökonomisierung aller Lebensbereiche<br />
finden. 6<br />
II. Einstellungen zu Beruf und Arbeit in der Moderne<br />
Welche Folgen hat nun aber die Ökonomisierung aller Lebensbereiche für die<br />
Einstellungen der Betroffenen zu Beruf und Arbeit im einzelnen? Die Beantwortung<br />
dieser Frage war Gegenstand eines gemeinsam mit Studierenden des Fachgebiets<br />
Personalwesen und Organisation der Fachhochschule Flensburg durchgeführten<br />
Lehr- und Forschungsprojektes. In einer explorativen Untersuchung<br />
wurden Einzelpersonen in ausgewählten Städten der Bundesrepublik Deutschland<br />
zu ihrem Berufs- und Arbeitsethos befragt. 7 Da die Betroffenen über Internet<br />
angesprochen wurden, liegt der Schwerpunkt der Antworten bei den jünge-<br />
405
en, männlichen und akademisch ausgebildeten Personen aus der Privatwirtschaft.<br />
Frauen, ältere Teilnehmer und solche mit Berufsausbildung bilden ebenso<br />
wie Selbständige und Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst eine beachtenswerte<br />
Minderheit.<br />
Die Untersuchungsergebnisse zeigen zunächst einmal ein durchaus positives<br />
Bild: So steht bei der Berufswahl die Eignung an erster Stelle und der Sinn der<br />
Arbeit wird vorzugsweise in der Selbstverwirklichung gesehen. Den Entscheidungsspielraum<br />
im Beruf schätzen die Teilnehmer eher hoch ein und die Übernahme<br />
von Verantwortung wird überwiegend als Alltäglichkeit und Freude<br />
wahrgenommen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß soziales Engagement<br />
und der Einsatz für die Ziele des Unternehmens oder der Kunden kaum<br />
eine Bedeutung haben. Auch bei den außerberuflichen Aktivitäten hat das Ehrenamt<br />
nur einen geringen Stellenwert. Diese Untersuchungsergebnisse spiegeln<br />
im wesentlichen den bereits seit längerem bekannten Wertewandel in Richtung<br />
Individualismus und Hedonismus wieder.<br />
Wie wirkt sich diese Entwicklung aber auf die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft<br />
aus? Hier zeigen die Ergebnisse der Befragung, daß die Leistung<br />
der Befragten sehr stark von der Anerkennung durch andere abhängt und<br />
die Betroffenen vielfach schnelle berufliche Erfolge benötigen, um die Motivation<br />
nicht zu verlieren. Als negative Einflußfaktoren wirken sich nach eigenen<br />
Angaben vor allem Mobbing und störende Einflüsse aus dem privaten Bereich<br />
aus. Hier zeigt sich die ganze Zwiespältigkeit des sogenannten Wertewandels.<br />
Obwohl die Betroffenen sich vorzugsweise als Individuum betrachten, sind sie<br />
sehr stark von sozialen Beziehungen abhängig. Die Folgen sind häufig mangelnde<br />
Ausdauer und Belastbarkeit.<br />
Entscheidend für die Bewältigung anstehender Probleme im Berufs- und Arbeitsleben<br />
sind aber vor allem die Einstellungen zu Moral und Moralität. Aus den<br />
Untersuchungsergebnissen wird deutlich, daß die Verantwortungsübernahme in<br />
besonderem Maße von der Nähe zur jeweiligen Person bzw. Institution abhängig<br />
ist. Verantwortung übernehmen die Befragten also in erster Linie für sich selbst<br />
und für die Familie. Bei Wertverletzung durch Vorgesetzte gelten öffentlich<br />
diskutierte Verhaltensweisen wie Ausländerfeindlichkeit und sexuelle Belästigung<br />
am wenigsten als tolerabel. Und bei der Frage nach den Gründen für verantwortungsloses<br />
Handeln im Beruf wurde überwiegend die humanistische Variante<br />
gewählt, nach der Verantwortungsbewußtsein eine Frage der Aufklärung ist.<br />
Bei genauerer Betrachtung lassen diese Ergebnisse Schwächen in der Gewissensbildung<br />
vermuten. So spricht einiges dafür, daß die Wertorientierung entweder<br />
von der sozialen Nähe oder der öffentlichen Meinung, und weniger von einer<br />
konsequenten Gewissensbildung abhängig ist. Die Vorstellung, daß Verantwortungsbewußtsein<br />
lediglich eine Frage der Aufklärung sei, ist naiv und unterstützt<br />
die These von der mangelhaften Gewissensbildung. Gerade bei Phänomenen wie<br />
Mobbing, die von den Befragten als besonders problematisch eingeschätzt werden,<br />
zeigen Rückfragen, daß dem Menschen durchaus eine Neigung zur Verantwortungslosigkeit<br />
zugeordnet wird.<br />
406
Abschließend sei noch auf das Verhältnis von Familie und Beruf sowie das Leben<br />
ohne Arbeit eingegangen. Hier zeigen die Befragungsergebnisse erneut den<br />
hohen Stellenwert der Familie, wobei diese nach Auffassung der meisten Befragten<br />
durch berufliches Verhalten beeinflußt wird. Die meisten jüngeren Teilnehmer<br />
haben darüber hinaus natürlich noch wenig über ein Leben ohne Arbeit<br />
nachgedacht. Wenn überhaupt werden bei Arbeitslosigkeit finanzielle Probleme<br />
gefürchtet, während der Ruhestand eher positiv besetzt ist. Diese Sichtweise<br />
bestätigt noch einmal das Bild von einer Berufs- und Arbeitswelt, die es zu konsumieren<br />
gilt. Für Orientierungsmuster wie Mühsal und Pflichterfüllung ist in<br />
dieser Welt kein Platz.<br />
III. Chancen einer christlichen Berufs- und Arbeitsethik<br />
Kann in dieser Situation eine christliche Berufs- und Arbeitsethik helfen, vorhandene<br />
Probleme aufzufangen, oder hat sie sich nicht längst überlebt? Bevor<br />
auf diese Frage eingegangen wird, muß noch einmal der Zusammenhang von<br />
Handlungs- und Gesellschaftstheorie angesprochen werden.<br />
Wenn wir uns hier einer Berufs- und Arbeitsethik als Individualethik zuwenden,<br />
so bedeutet dies nicht, daß der Wert der Sozialethik geleugnet wird. Im Gegenteil,<br />
die vorherigen Ausführungen sollten zeigen, daß beide Ansatzpunkte einander<br />
geradezu bedingen. Einerseits überfordern wir den einzelnen ohne sozialethisch<br />
begründete Rahmenbedingungen hoffnungslos und andererseits führt die<br />
fehlende individualethische Orientierung zu einer Perversion der zuvor genannten<br />
Rahmenbedingungen und auch des Wettbewerbs. Eine Berufs- und Arbeitsethik<br />
soll also den Wettbewerb mit seinen Anreizen nicht ersetzen, sondern liegt<br />
diesem voraus. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wer denn die sozialethisch<br />
begründeten Rahmenbedingungen durchsetzen soll bzw. was der einzelne Arbeitnehmer<br />
oder Arbeitgeber tun kann. Ohne veränderte Einstellungen und<br />
Handlungsweisen des einzelnen sind hier sicherlich keine Veränderungen zu<br />
erwarten. Wenn wir immer nur auf die politischen Handlungsträger warten wollen,<br />
sind die Zukunftsaussichten nicht allzu hoffnungsvoll.<br />
Wenden wir uns nun aber wieder den bestehenden Problemen zu, wie sie in der<br />
vorliegenden Untersuchung deutlich wurden. Ist die dieser Situation zugrunde<br />
liegende Entwicklung eigentlich nur negativ zu bewerten? Bei genauerem Hinsehen<br />
muß diese Frage mit nein beantwortet werden. Die Orientierung der Berufswahl<br />
an der Eignung und das Streben nach Selbstverwirklichung in der Arbeit<br />
stellen doch zunächst einmal eine Befreiung von Fremdbestimmung dar, und<br />
dies ist nicht nur positiv für den einzelnen, sondern ist auch notwendige Voraussetzung<br />
dafür, daß der Mitarbeiter sich vom Aufgabenerfüller zum Problemlöser<br />
entwickeln kann. Eine dynamische Wirtschaft aber, die die bestehende Krise<br />
überwinden will, benötigt verstärkt Problemlöser auf allen Ebenen. 8<br />
Ist aber andererseits die vorliegende Entwicklung nur positiv zu bewerten? Auch<br />
diese Frage muß – wie bereits bei der Darstellung der Untersuchungsergebnisse<br />
angedeutet – mit nein beantwortet werden. Wenn die Selbstverwirklichung nur<br />
individualistisch und hedonistisch verstanden wird, führt dies nicht nur zu per-<br />
407
manenten Frustrationen in Beruf und Arbeit, sondern der Wettbewerbsgedanke<br />
pervertiert und das Marktversagen ist vorprogrammiert. Arbeit ist nun einmal<br />
auch mit Mühsal verbunden, und Erfolge können nicht ohne Leistung erreicht<br />
werden. Mitarbeiter und Führungskräfte denken zwar ökonomisch konsequent,<br />
wenn sie letztlich auch die Arbeit als Konsumgut ansehen und nicht mehr den<br />
Unternehmenserfolg, sondern nur noch den persönlichen Erfolg anstreben, aber<br />
diese Strategie zahlt sich langfristig für keinen von uns aus. 9<br />
Wie ist aber nun die christliche Sicht von der Arbeit bzw. vom Beruf, und kann<br />
uns diese helfen, die bestehenden Probleme zu bewältigen? Papst Johannes Paul<br />
II. weist in der Enzyklika über die menschliche Arbeit „Laborem exercens“ darauf<br />
hin, daß Arbeit Teilnahme am Schöpfungswerk Gottes bedeutet. Im Schöpfungsbericht<br />
der Bibel wird der Mensch als Ebenbild Gottes beauftragt, die Welt<br />
in Heiligkeit und Gerechtigkeit zu regieren, um so das Schöpfungswerk Gottes<br />
im Rahmen seiner menschlichen Möglichkeiten weiterzuführen und zu vollenden.<br />
Der Mensch soll dabei Gott sowohl in der Arbeit als auch in der Ruhe nachahmen<br />
und damit alle Dinge, sich selbst und die gesamte Wirklichkeit in Beziehung<br />
zu Gott bringen. Diese Wahrheit hat besonders leuchtend Jesus Christus<br />
selbst herausgestellt, der einen großen Teil seines Lebens als Zimmermann arbeitete<br />
und auch seine Frohbotschaft nicht nur verkündet, sondern vor allem durch<br />
sein Wirken vollbracht hat. Schließlich bedeutet Arbeit unvermeidlich auch<br />
Mühsal, wie uns der Schöpfungsbericht lehrt. Vor dem Hintergrund von Kreuz<br />
und Auferstehung kann aber der Christ in seiner Arbeit einen kleinen Teil des<br />
Kreuzes Christi auf sich nehmen, um so im Licht der Auferstehung einen Schimmer<br />
des „neuen Himmels und der neuen Erde“ zu entdecken. 10<br />
Was bedeutet aber das bisher Gesagte ganz konkret für eine christliche Berufs-<br />
und Arbeitsethik? Besonders eindrucksvoll hat diese Sichtweise der Gründer des<br />
Opus Dei Josemaría Escrivá in seinem Programm der Heilung der Arbeit entfaltet.<br />
Ein christliches Leben vollziehen wir demnach nicht dadurch, daß wir der<br />
Arbeit den Rücken kehren, sondern indem wir sie in Beziehung zu Gott bringen.<br />
Dies bedeutet als erstes, daß wir unsere Arbeit heiligen, das heißt in diesem Fall,<br />
sie sachgerecht leisten, um so die Wirklichkeit im Sinne Gottes weiter zu gestalten<br />
und zu vollenden. Ein zweiter Aspekt ist der der persönlichen Heiligung in<br />
der Arbeit. In der Gegenwart Gottes arbeiten heißt also ständig „mit den Händen“<br />
beten. Damit ist der Beruf und die Arbeit vor allem auch ein Bewährungsort<br />
für Tugenden. Und schließlich können wir die Welt mit christlichem Geist<br />
durchdringen und somit heiligen. Diese Sicht führt zu einem Geflecht von aufrichtigen,<br />
uneigennützigen persönlichen Kontakten und Freundschaften. 11<br />
Nachdem wir eine Grundvorstellung von einer christlichen Berufs- und Arbeitsethik<br />
erhalten haben, gilt es nun, diese auf verschiedene Anwendungsbereiche zu<br />
übertragen. Hierzu können unsere Untersuchungsergebnisse noch einmal Ansatzpunkte<br />
bieten. Wie bereits gesagt, ist in Hinblick auf die Berufswahl positiv<br />
hervorzuheben, daß sich die meisten Befragten an der Eignung orientieren und<br />
nach Selbstverwirklichung in der Arbeit streben. Diese Einstellungen können die<br />
Basis für sachgerechtes Handeln und damit für die Heiligung der Arbeit bilden.<br />
Interessanterweise fehlt aber eine angemessene Orientierung darüber, mit wel-<br />
408
chem Ziel gearbeitet werden soll, denn bei der Berufswahl steht das soziale Engagement<br />
auf dem letzten Platz und es wird weder für die Ziele des Unternehmens,<br />
noch für die Kunden gearbeitet. Lediglich eine Minderheit arbeitet für das<br />
eher abstrakte Ziel einer „lebenswerten Welt“. Hat uns nicht die extreme Nutzorientierung<br />
in der Wirtschaft den Blick dafür versperrt, was denn sinnvolle<br />
Unternehmensziele sein können und daß Arbeit auch Dienst am Kunden bedeutet?<br />
Sachgerechtigkeit muß also auch danach fragen, was der Sinn meines Handelns<br />
als Arbeiter am Fließband einer Automobilfabrik, als Versicherungsvertreter<br />
oder als Manager ist. Wenn wir so fragen, werden wir in der Maschinenfabrik<br />
möglichst gute Arbeit leisten und Montagefehler vermeiden, auch ohne daß wir<br />
unmittelbar einen persönlichen Vorteil haben. Oder als Versicherungsvertreter<br />
werden wir dem Kunden die Versicherungen anbieten, die seiner Risikolage tatsächlich<br />
entsprechen, auch wenn wir den Betroffenen leicht zu mehr überreden<br />
könnten. Und schließlich werden wir als Manager nicht versuchen, den Mitarbeiter<br />
zu instrumentalisieren, sondern werden die Voraussetzungen schaffen, die<br />
notwendig sind, damit der Mitarbeiter optimale Leistung erbringen kann. Insgesamt<br />
stellt sich vor dem Hintergrund einer solch veränderten Sichtweise verstärkt<br />
die Frage, wozu jeder einzelne von uns berufen ist. Dies gilt sowohl für den<br />
Lebenstand als auch für den Beruf. Auch innerhalb einer dauerhaften Berufung<br />
können Neuorientierungen als „Berufung in der Berufung“ gefragt sein. So kann<br />
uns eine Unternehmenskrise ungewollt entweder zu einem besonderen Engagement<br />
als Betriebsrat oder als selbständiger Unternehmer herausfordern. In der<br />
Beantwortung dieser Fragen können wir den Sinn unseres Lebens auch in einer<br />
sich ständig ändernden Berufs- und Arbeitswelt immer wieder neu entdecken.<br />
Ist aber ein solches Berufs- und Arbeitsethos angesichts der ständigen Umbrüche<br />
in der Berufs- und Arbeitswelt nicht naiv? Der amerikanische Soziologe Richard<br />
Sennett zeigt doch gerade auf, daß die heutigen Flexibilitätsanforderungen langfris<br />
tige Zielorientierungen verhindern und in der Folge freundschaftliche bzw.<br />
familiäre Bindungen zerstören, so daß wir immer weniger einen Sinn in unserem<br />
Leben und in unserer Arbeit entdecken können. 12 Wenn wir uns die vorliegenden<br />
Untersuchungsergebnisse noch einmal anschauen, so erkennen wir aber, daß für<br />
die meisten Befragten Familie und Beruf gleichwertig sind, in fast der Hälfte der<br />
Fälle ist die Familie sogar wichtiger. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, daß<br />
sich bei der überwiegenden Zahl der Betroffenen das berufliche Verhalten<br />
durchaus auf das Familienleben auswirkt. Hier sollten wir bei allen Verständnis<br />
für die Wünsche der Unternehmen nach flexiblen Mitarbeitern nicht die Wechselwirkung<br />
zwischen Familie und Beruf aus dem Auge verlieren. Eine zu extreme<br />
und kurzfristige Nutzenorientierung bei den Unternehmen könnte uns in eine<br />
Situation bringen, in der letztlich sowohl die Unternehmen als auch die Mitarbeiter<br />
auf der Verliererseite stehen, da dann auch die Mitarbeiter nicht mehr den<br />
Unternehmenserfolg, sondern nur noch den persönlichen Erfolg anstreben. Woher<br />
sollen denn die Werthaltungen kommen, aus denen eine Unternehmenskultur<br />
entsteht, mit der sich die Mitarbeiter identifizieren können und in der die Personenwürde<br />
respektiert wird? Die Familie kann sich nur dann als Ort zur Vermittlung<br />
eines Berufs- und Arbeitsethos verstehen, wenn sie nicht durch die Verän-<br />
409
derungen in der Berufs- und Arbeitswelt in Frage gestellt wird. 13 Auch im Zusammenhang<br />
mit einem Leben ohne Erwerbsarbeit, also bei Arbeitslosigkeit und<br />
Ruhestand, ist nach einer angemessenen Sinnorientierung zu fragen. Zwar verweisen<br />
hier die Befragungsergebnisse nicht auf besondere Probleme, dies liegt<br />
jedoch daran, daß vorzugsweise jüngere Arbeitnehmer in gesicherter beruflicher<br />
Situation geantwortet haben. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen<br />
sollte jedoch deutlich geworden sein, daß Arbeit mehr ist als nur Broterwerb und<br />
daß wir alle gesellschaftlichen Anstrengungen unternehmen sollten, um Menschen<br />
die Möglichkeit zur Arbeit bieten zu können. Wenn wir dabei Arbeit nicht<br />
nur auf Erwerbsarbeit reduzieren und die soziale Sicherung im Auge behalten,<br />
bestehen vielleicht anderweitige Möglichkeiten, mehr Menschen eine sinnvolle<br />
Tätigkeit zu bieten. Lohnenswerte Aufgaben gibt es in unserer Gesellschaft sicherlich<br />
genügend. Die negativen Befragungsergebnisse bezüglich ehrenamtlicher<br />
Tätigkeiten fordern hier allerdings zu einer Neuorientierung auf.<br />
Als letztes ist schließlich noch nach dem Berufs- und Arbeitsleben als Bewährungsort<br />
für menschliche Tugenden zu fragen. Dabei gelten Klugheit, Gerechtigkeit,<br />
Tapferkeit und Mäßigung als grundlegende Kardinaltugenden. Die Klugheit<br />
versetzt uns vor diesem Hintergrund in die Lage, zu erkennen, was sinnvoll ist<br />
und wie wir es erreichen können, sie lenkt also unser Gewissensurteil. So können<br />
beispielsweise schlechte Arbeitsbedingungen zwar kurzfristig Kostenvorteile<br />
verschaffen, sind aber unklug, weil die Mitarbeiter letztlich ihre Leistungsbereitschaft<br />
bzw. Leistungsfähigkeit verlieren. Die Gerechtigkeit umfaßt demgegenüber<br />
den Willen, jedem das zu geben, was ihm zusteht. Hier zeigen die Ergebnisse<br />
der Internet-Befragung, daß insgesamt durchaus ein hohes Maß an Sensibilität<br />
gegenüber Wertverletzungen verschiedenster Art besteht. Bei der Tapferkeit als<br />
Fähigkeit, in Schwierigkeiten standzuhalten und im Erstreben des Guten durchzuhalten,<br />
bestehen bei den Befragten allerdings Probleme. So zeigen die Ergebnisse<br />
– wie bereits berichtet –, daß die Leistung sehr stark von der Anerkennung<br />
durch andere abhängt, und daß die Betroffenen vielfach schnelle berufliche Erfolge<br />
benötigen, um die Motivation nicht zu verlieren. Die Mäßigung schließlich<br />
sichert die Herrschaft des Willens über die Begierden. Ohne diese Tugend würde<br />
sich beispielsweise bei Managern das Streben nach Macht, Karriere und Gewinn<br />
im Falle von Unternehmenszusammenschlüssen grenzenlos und damit zerstörerisch<br />
auswirken.<br />
410<br />
IV. Spiritualität des Alltags<br />
Die bisherigen Überlegungen zur modernen Berufs- und Arbeitswelt mögen ja<br />
durchaus zutreffen, und die Hinweise zur christlichen Berufs- und Arbeitsethik<br />
vielleicht auch erbaulich sein, aber können sie uns im Alltag wirklich helfen? Im<br />
Kern fehlt es uns an einer individuellen moralischen Orientierung und einer<br />
Motivation, moralisch zu handeln. Sind aber individuelle Zielorientierung und<br />
Motivation nicht Gegenstand einer Vielzahl von Erfolgstrainingsangeboten mit<br />
und ohne esoterischer Ausrichtung? 14 Allerdings steht bei dieser Form der säkularen<br />
Spiritualität der Selbsterlösergedanke Pate, der letztlich zum Scheitern<br />
verurteilt ist. Aus christlicher Sicht sollten wir in einer solchen Situation daher
eher nach unserem geistlichen Leben fragen. Schon Benedikt wußte, daß „Beten<br />
und Arbeiten“ zusammengehören. Dabei geht es aber nicht um eine geistliche<br />
Technik, sondern um eine lebendige Beziehung zu Gott.<br />
Wie können wir aber ein geistliches Leben führen, das uns zu einem christlichen<br />
Berufs- und Arbeitsethos befähigt? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen<br />
hier einige Anregungen gegeben werden.<br />
An erster Stelle ist hier natürlich auf den Erfahrungswert der 3500 Jahre alten<br />
jüdischen Sabbat- und frühchristlichen Sonntagskultur hinzuweisen. Dabei haben<br />
wir schon aus dem Schöpfungsbericht und Dekalog erfahren, daß wir nicht nur<br />
an seinem Schöpfungswerk, sondern auch an seiner Arbeitsruhe teilhaben dürfen.<br />
Diese Zeit befreit uns auch aus der „Sklaverei“ jedweder Fremdbestimmung<br />
im Wirtschaftsleben und kann uns so geistige Quelle für ein christliches Berufs-<br />
und Arbeitsethos sein. Gerade durch den Gottesbezug entsteht eine Unverfügbarkeit,<br />
die uns davor schützt, uns selbst und unsere „Freizeit“ zu verzwecken<br />
und wirtschaftlichen Zielen zu opfern. 15 Die Vorstellung, daß dieser Freiraum<br />
uns geistige Quelle sein kann, erfahren wir aber nicht nur durch die Möglichkeit<br />
zur Erholung, zum Nachdenken und zur Gemeinschaft. In der Liturgie zur Gabenbereitung<br />
bei der Eucharistiefeier wird das Brot als Frucht der Erde und der<br />
menschlichen Arbeit dargebracht, das uns zum Brot des Lebens wird. Hier wird<br />
auf faszinierende Weise das wechselseitige Durchdringen von göttlicher Allmacht<br />
und freiem menschlichen Tun deutlich, das uns auch zur Quelle eines<br />
erfüllten Arbeitslebens werden kann. 16 Können nicht auch wir unsere Arbeitsergebnisse<br />
in all ihrer Bruchstückhaftigkeit und Unvollkommenheit bei dieser<br />
Gelegenheit in Gedanken vor Gott bringen und sie uns verwandelt wieder schenken<br />
lassen?<br />
Neben der gemeinschaftlichen Feier der Liturgie brauchen wir aber auch immer<br />
wieder Zeiten der Besinnung und des persönlichen Gebetes. So schlägt beispiels<br />
weise der Benediktinermönch Anselm Grün vor, daß wir vor allem schwierige<br />
Situationen des Berufslebens in einer Zeit der Stille vor Arbeitsbeginn<br />
durchbeten und damit vor Gott tragen können. Oft erfahren wir dabei, daß uns<br />
eine veränderte Sicht der Dinge geschenkt wird, die uns befähigt, neue Wege zu<br />
gehen. Dabei sind feste Zeiten und Rituale besonders hilfreich, weil sie Ordnung<br />
schaffen, Sinn stiften, Freude bringen und damit insgesamt eine heilende Wirkung<br />
erzeugen. Ebenso können wir Arbeitserlebnisse, die uns belasten, weil wir<br />
durch andere verletzt wurden oder andere verletzt haben, am Ende eines Arbeitstages<br />
oder einer Arbeitswoche Gott anvertrauen und ihn um Heilung und<br />
Vergebung bitten. In diesem Zusammenhang bietet vor allem die Buße und Ve rsöhnung<br />
als Sakrament der Heilung Chancen für eine Umkehr und Neuorientierung<br />
auch unseres Handelns in Arbeit und Beruf. 17<br />
Schließlich ist nicht zuletzt auch das Bibelstudium als geistliche Quelle für das<br />
Berufs- und Arbeitsethos zu nennen. Gerade durch das Wort Gottes können wir<br />
Kraft, Trost und Inspiration für den beruflichen Alltag bekommen. Wie oft wird<br />
hier von der Erfahrung menschlichen Scheiterns und göttlicher Gnade berichtet.<br />
Heute sprechen wir häufig von einer Zeit mit mangelnder moralischer Orientierung<br />
und Rückgang der christlichen Lebensführung. In Jesaja 58,12 finden wir<br />
411
eispielsweise vor einem ähnlichen geschichtlichen Hintergrund wie heute im<br />
Zusammenhang mit der Sabbatheiligung die folgende Aussage: „Deine Leute<br />
bauen die uralten Trümmerstätten wieder auf, die Grundmauern aus der Zeit<br />
vergangener Generationen stellst du wieder her.“ Können wir nicht auch ein<br />
christliches Berufs- und Arbeitsethos mit Gottes Hilfe wieder herstellen? Der<br />
Weg der Kirche durch die Zeit ist zwar immer wieder ein Auf und Ab gewesen,<br />
wir sollten heutige Krisen aber nicht als Niedergang begreifen, wie es manche<br />
Geschichtsideologie gerne glauben machen möchte. Wir müssen dabei nicht<br />
immer das Rad neu erfinden, wir dürfen auch von den Erfahrungen vergangener<br />
Generationen von Mitchristen lernen und somit in einer gemeinsamen Tradition<br />
leben.<br />
Für den Christen geht es aber nicht darum, trotz seiner Arbeit im beruflichen<br />
Alltag und in der Familie ein christliches Leben zu führen. Im Gegenteil, Beten<br />
und Arbeiten bedingen einander und beide gehören gleichermaßen zum christlichen<br />
Lebensvollzug. 18 Ohne unseren christlichen Glauben verzwecken zu wollen,<br />
können wir sagen, daß ohne Religion als Rückbindung auch unser Wirtschaftssystem<br />
nicht funktioniert.<br />
So plausibel die bisherigen Überlegungen auch sein mögen, die Schwierigkeit<br />
besteht heute darin, die vorherrschende anthropozentrische Orientierung zu überwinden<br />
und den Menschen zu einer christozentrischen Existenz zu befähigen und<br />
zu ermutigen. Streng genommen ist dies nichts anderes als die Beschreibung<br />
eines Bußaktes, ja einer Bekehrung im Sinne des Apostels Paulus. Damit ist<br />
auch die Frage nach einer „Evangelisation der Wirtschaft“ angesprochen. 19<br />
Ohne eine hinreichende Antwort auf diese Frage geben zu können, sollen hier<br />
noch folgende Ansatzpunkte genannt werden: Zunächst einmal verweisen beispielsweise<br />
Arbeitslosigkeit und Armut als Konsequenz des Marktversagens auf<br />
ein mangelhaftes Wirtschaften. Der hierbei entstandene Leidensdruck bietet<br />
wiederum die Möglichkeit – keineswegs aber die Sicherheit – zur Neuorientierung.<br />
Die Suche nach einer Wirtschaftsethik ist ein Beispiel dafür.<br />
Als nächstes können wir Christen im Sinne Pestalozzis durch Vorbild und Liebe<br />
zu einer Umkehr und Neuorientierung beitragen. Viele Fach- und Führungskräfte<br />
versuchen dies bereits in der Stille. Wir sollten diesen Weg – auch wenn unsere<br />
Erfolge immer nur bruchstückhaft sein können – nicht schamhaft verschweigen,<br />
sondern auch in der Wirtschaft unseren christlichen Standpunkt vertreten.<br />
Schließlich muß alle Hoffnung auf „Evangelisation“ angesichts der fortschreitenden<br />
Entchristlichung scheitern, wenn wir nicht auf das Handeln Gottes vertrauen.<br />
Deshalb ist beispielsweise das kleine Dorf Medjugorje in der Herzegowina<br />
so erstaunlich. Viele Menschen haben dort neu zum Glauben gefunden und<br />
wirken nun in den Gemeinden bzw. in der Gesellschaft.<br />
Anmerkungen<br />
1) Meadows, D. et. Al. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome<br />
zur Lage der Menschheit. Stuttgart.<br />
412
2) Steinhausen, G. (1912): Der Kaufmann in der deutschen Vergangenheit. Leipzig, S.<br />
114 f.; Grundgesetz Art. 14 und 15; Thomas von Aquin. (1985): „Summa Theologiae“<br />
(1266-1273), dt. Übersetzung (J. Bernhardt): Summe der Theologie, 3. Bd.: Der Mensch<br />
und das Heil, 3. Aufl. Stuttgart.<br />
3) Scheuch, E. K. (1999): Wider die Ökonomisierung aller Lebensbereich, in: Beckers, E.<br />
u.a. (Hrsg.): Hochschulausbildung im Aus? 2. Symposium des Professorenforums, Gießen,<br />
S. 141 ff.<br />
4) Homann, K. (1997): Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament<br />
aller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 21, S. 13 ff.<br />
5) Novak, M. (1998): Die katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 2. Aufl.<br />
Trier.<br />
6) Scheuch, E. K. (1999): a.a.O. und Tenbruck, F. H. (1984): Die Unbewältigten Sozialwissenschaften<br />
oder Die Abschaffung des Menschen, Graz/Wien/Köln, S. 52 ff.<br />
7) Befragungszeitraum 28.3. bis 2.4.2000, Antworten N = 118, E-Mail-Anfragen in den<br />
Städten: Kempten, Aachen, Kiel, Brandenburg, Rücklaufquote ca. 16%.<br />
8) Kreuzhof, R. (2000): Personalwirtschaft, in: Arens-Fischer, W.; Steinkamp, Th.<br />
(Hrsg.).: Betriebswirtschaftslehre, München/Wien, S. 234 ff.<br />
9) Kreuzhof, R. (1999a): Jenseits von Arbeit und Konsum. Ladenöffnungszeiten und die<br />
Arbeit an Sonn- und Feiertagen, in: Die Neue Ordnung, Heft 5, S. 377.<br />
10) Papst Johannes Paul II (1981): Enzyklika Laborem exercens über die menschliche<br />
Arbeit zum neunzigsten Jahrestag der Enzyklika „Rerum Novarum“, Castel Gandolfo,<br />
Rand-Nr. 25,26,27.<br />
11) Le Tourneau, D. (1988): Das Opus Dei. Kurzporträt seiner Entwicklung, Spiritualität<br />
und Tätigkeit, 2. Aufl. Stein am Rhein, S. 49 ff.<br />
12) Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, (dt.) 8.<br />
Aufl. Berlin 1998.<br />
13) Kreuzhof, R. (1999b): Ethische Grundlagen für ein erfolgreiches Personalmanagement,<br />
in: Beckers, E. u.a. (Hrsg.): Hochschulausbildung im Aus? 2. Symposium des Professorenforums,<br />
Gießen, S. 185 ff.<br />
14) Seiwert, L.J. (1999): Selbstmanagement. Persönlicher Erfolg, Zielbewußtsein, Zukunftsgestaltung,<br />
2. Aufl. Landsberg am Lech.<br />
15) Kreuzhof, R. (1999a): a.a.O. S. 378 f.<br />
16) Puhl, St. (1998): Zur Spiritualität der Arbeit, in: Die Neue Ordnung, Heft 6 1998,<br />
(Internet-Dokument) S. 3 f.<br />
17) Grün, A.: Mit Benediktus Christ sein, Radio Vatikan (Audio-Kassette); Derselbe<br />
(1997): Geborgenheit finden – Rituale feiern. Wege zu mehr Lebensfreude, Stuttgart S.<br />
145 ff.; Derselbe (1999): Vergib Dir selbst. Versöhnung – Vergebung. Münsterschwarzach.<br />
18) Puhl, St. (1998): a.a.O. S. 4 ff.<br />
19) Mein Dank für den Hinweis auf die Evangelisation der Wirtschaft gilt Pastor Bernhard<br />
Müller, Schleswig.<br />
Prof. Dr. Rainer Kreuzhof lehrt Personalwesen, Organisation und Wirtschaftsethik<br />
an der Fachhochschule Flensburg.<br />
413
414<br />
Stephan Wirz<br />
Unternehmensethik in einer liberalisierten und<br />
deregulierten Wirtschaft<br />
1. Das Unternehmen als eigener moralischer Akteur<br />
In den letzten 20 bis 30 Jahren ist innerhalb der Wirtschaftsethik eine Akzentverschiebung<br />
festzustellen: Dominierten im 19. Jahrhundert und über weite Strecken des<br />
20. Jahrhunderts volkswirtschaftliche Fragestellungen, z.B. die Auseinandersetzung<br />
um Kapital und Arbeit, Privat- und Kollektiveigentum (der Produktionsmittel) sowie<br />
Markt- und Zentralverwaltungswirtschaft, den wirtschaftsethischen Diskurs, so rükken<br />
seit den siebziger (USA) und achtziger Jahren (Europa) betriebswirtschaftliche<br />
Probleme in den Blickpunkt des wirtschaftsethischen Interesses. 1 Wohl nicht ganz<br />
zufällig ist bei dieser ethischen Akzentverlagerung eine gewisse Gleichzeitigkeit<br />
festzustellen sowohl mit der Ende der siebziger Jahre beginnenden „neoliberalen“<br />
Wende in der Wirtschaftspolitik der (westlichen) Industriestaaten als auch mit dem<br />
Niedergang des „real existierenden Sozialismus“: Ausgehend von den USA („Reaganomics“)<br />
und Großbritannien („Thatcherismus“) setzt sich in den achtziger und<br />
neunziger Jahren global eine Wirtschaftspolitik durch, die die Liberalisierung, Privatisierung<br />
und Deregulierung der Wirtschaft auf ihr Banner geschrieben hat, um damit<br />
den Staatseinfluß in der Wirtschaft zurückzubinden, die Wettbewerbsintensität zu<br />
steigern und die Handlungsspielräume der Unternehmen zu erweitern.<br />
Damit aber wächst den Unternehmen auch mehr Verantwortung zu – ein Umstand,<br />
der durchaus korrespondiert mit der stärker betriebswirtschaftlich, auf das Unternehmen<br />
fokussierten Wirtschaftsethik der letzten zwei, drei Jahrzehnte. Entsprechend<br />
der amerikanisch-angelsächsischen Herkunft dieser Business und Corporate Ethics-<br />
Ansätze steht die Wahrnehmung der Eigenverantwortung der Unternehmen im Zentrum<br />
der ethischen Überlegungen und nicht – wie es europäisch-kontinentaler Tradition<br />
entspricht – die Bändigung der neu hinzugewonnenen Handlungsspielräume<br />
durch staatliche Regulierungen. Angesichts dieser neueren wirtschaftlichen Entwicklung<br />
ist es daher fraglich, ob wirtschaftsethische Ansätze noch genügen können, die<br />
das Moralische in der Wirtschaft ausschließlich oder doch überwiegend über die<br />
Rahmenordnung sichern wollen. 2 Die Wirtschaftsethik muß zusätzlich das Unternehmen<br />
als eigenen moralischen Akteur anerkennen, 3 und von ihrem Selbstverständnis<br />
her es als eine ihrer vornehmen Aufgaben ansehen, die Unternehmen, insbesondere<br />
deren Management, bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung zu unterstützen.<br />
Auf die Herausforderungen, die sich daraus für die theologischen Ethik-Institute<br />
ergeben können, wird das letzte Kapitel dieses Aufsatzes noch näher eingehen.
Die strukturethische Ausgestaltung der Rahmenordnung ist trotz Deregulierung und<br />
Liberalisierung der Wirtschaft selbstverständlich weiterhin notwendig, 4 aber sie ist<br />
nicht hinreichend: Notwendig, weil die Rahmenordnung nicht zuletzt die ethischen<br />
Mindeststandards für die Unternehmen definiert und damit für alle Unternehmen die<br />
gleiche ethische Ausgangslage schafft. Ethisches Verhalten, soweit es von diesen<br />
Mindeststandards abgedeckt wird, erweist sich folglich als kostenneutral: Keiner<br />
kann sich legal durch Unterbieten dieser Standards einen Kostenvorteil verschaffen.<br />
Die strukturethische Ausgestaltung der Rahmenordnung allein ist aber nicht hinreichend:<br />
Dies wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, daß eine marktwirtschaftliche<br />
Rahmenordnung letztlich auf die Gewährleistung der wirtschaftlichen<br />
Handlungsfreiheit der Produzenten und Konsumenten abzielt, wie die Liberalisierungs-<br />
und Deregulierungspolitik der letzten Jahre nachdrücklich zeigt. Das heißt<br />
aber doch, daß eine auch unter den Prämissen der Ethik noch so gute Rahmenordnung<br />
gerade diese Handlungsfreiräume nicht einfangen kann und auch gar nicht<br />
einfangen will. Diese Handlungsfreiräume sind aber keineswegs ethisch indifferent.<br />
Zugespitzt formuliert: Nicht von der staatlichen Rahmenordnung, sondern von der<br />
unterschiedlichen (auch ethischen) Qualität der wahrgenommenen Handlungsfreiheit<br />
hängt z.B. das Innenleben eines Unternehmens ab: das kollegiale oder mißgünstige<br />
Klima einer Abteilung (Stichwort: Mobbing), das egozentrische oder den Mitarbeitern<br />
angemessene Führungsverhalten eines Vorgesetzten, das ethischen Gesichtspunkten<br />
Rechnung tragende oder aber sie vernachlässigende Beförderungs- oder<br />
Bonussystem eines Unternehmens. Mit diesen Problemstellungen sind die Menschen<br />
tagtäglich konfrontiert; hier ergeben sich auch für sie wichtige Anknüpfungspunkte,<br />
sich mit Ethik auseinanderzusetzen.<br />
2. Unternehmensethik als integraler Teil der Wirtschaftsethik<br />
Die Wirtschaftsethik kann in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung daher nicht<br />
ausschließlich auf eine Strukturenethik reduziert werden, sondern sie muß den verschiedenen<br />
Handlungsebenen Rechnung tragen und sie in ihren Ansatz integrieren.<br />
Hilfreich ist dabei die von Georges Enderle Mitte der achtziger Jahre getroffene<br />
Unterscheidung der Handlungsebenen in eine Mikro-, Meso- und Makro-Ebene, 5<br />
womit nicht nur die sehr differenzierten Anforderungen an eine Wirtschaftsethik,<br />
sondern auch die unterschiedlichen ethischen Verpflichtungen der Akteure zum<br />
Ausdruck kommen:<br />
- Die Makro-Ebene ist die Handlungsebene des Staates und der zunehmend bedeutend<br />
werdenden supranationalen Institutionen. Sie schaffen die nationalen bzw. internationalen<br />
Rahmenordnungen. Hier setzt die Strukturenethik an. Hier ist auch der<br />
richtige Ort, den Diskurs über die ethische Rechtfertigungsfähigkeit eines Wirtschaftssystems<br />
oder einer (supra)nationalen Wirtschaftsordnung zu führen. 6<br />
- Die Meso-Ebene ist u.a. die Handlungsebene der Unternehmen, die durch entsprechendes<br />
normatives, strategis ches und operatives Management ihrer Unternehmensbereiche<br />
ihre Wettbewerbsposition sichern bzw. ausbauen wollen. Hier liegt das<br />
primäre Aufgabengebiet der Unternehmens-(Organisationen-)ethik.<br />
415
- Die Mikro-Ebene ist die individuelle menschliche Handlungsebene. Wenn das<br />
Unternehmen auch als eigener moralischer Akteur aufgefaßt werden kann, wie<br />
Georges Enderle meines Erachtens zu Recht feststellt, 7 so darf doch auch nicht übersehen<br />
werden, daß die einzelnen Mitarbeiter nicht nur Funktionsträger des Unternehmens<br />
sind, die Entscheidungen des Unternehmens nach innen und außen loyal<br />
vertreten und durchsetzen, sondern auch im Unternehmen Individuen bleiben, die<br />
trotz der Einschränkung durch staatliche und firmeneigene Handlungsbedingungen<br />
noch über eigene Handlungsfreiräume verfügen. Ihre ethische Ausgestaltung interessiert<br />
die Individual-/Tugendethik.<br />
Auf jeder Ebene gibt es also Handlungsbedingungen (z.B. in Form von gesetzlichen<br />
Bestimmungen, einer vorgefundenen Marktsituation oder von persönlichen Charaktereigenschaften),<br />
aber auch Handlungsfreiheit, die es nun ethisch und ökonomisch<br />
sinnvoll zu nutzen gilt. Diese Handlungsfreiräume existieren auch auf der Ebene der<br />
Unternehmen, sonst wäre das Leitbild der Marktwirtschaft, das freie Unternehmertum,<br />
Makulatur, und es bräuchte – wenn alles dem Sachzwang unterliegen würde –<br />
auch keine betriebswirtschaftlichen Lehrgänge, vor allem nicht im Hinblick auf<br />
Unternehmensführung und Strategie. Ebenso wären dann all die Managementliteratur<br />
und die Unternehmensberater, die mehr oder weniger erfolgreiche neue unternehmerische<br />
Lösungen anbieten, obsolet. 8 Auf der anderen Seite überspielt dieser<br />
ethische Ansatz aber auch nicht die zweifellos vorhandenen (betriebswirtschaftlichen)<br />
Sachzwänge, deshalb geht er davon aus, daß für die Realisierung tragfähiger<br />
wirtschaftsethischer Lösungen meistens alle Handlungsebenen (nicht zuletzt auch die<br />
Makro-Ebene) miteinbezogen werden müssen. Weder die Strukturen-, noch die<br />
Unternehmensethik dürfen in den Fehler verfallen, sich zu verabsolutieren und alle<br />
wirtschaftsethischen Probleme nur noch via Rahmenordnung bzw. nur noch via<br />
Unternehmen lösen zu wollen. Es braucht also – wie es Thomas Hausmanninger in<br />
einem vergleichbaren Kontext einmal genannt hat – eine „konzertierte Aktion“ 9 , das<br />
Zusammenwirken aller drei genannten Ebenen. Im folgenden werden sich aber die<br />
Ausführungen auf die Meso-Ebene, die Handlungsebene der Unternehmen, beschränken.<br />
416<br />
3. Inhalte der Unternehmensethik<br />
Welche sittlichen Forderungen sind an die Unternehmen zu stellen? Die Bandbreite<br />
der unternehmensethischen Antworten auf diese Frage ist erheblich, wie die Ansätze<br />
von Karl Homann (als Vertreter einer ethischen Minimalposition) und Peter Ulrich<br />
(als Vertreter einer Maximalposition) exemplarisch zeigen. So komprimiert Karl<br />
Homann seine ethischen „Handlungsempfehlungen“ für die Unternehmen, unter der<br />
Voraussetzung einer funktionierenden Rahmenordnung, in die eine Forderung: „Die<br />
Akteure sollen sich systemkonform verhalten.“ 10 Das bedeutet für ihn ein Zweifaches:<br />
Erstens, „die Akteure sollen die Regeln der Rahmenordnung, die allgemeinen<br />
staatsbürgerlichen Regeln und die Regeln der Wettbewerbsordnung, befolgen“ und<br />
zweitens, „innerhalb dieser Regeln sollen die Unternehmen langfristige Gewinnmaximierung<br />
betreiben.“ 11 Dieser Minimalposition Homanns steht die Forderung Peter<br />
Ulrichs diametral gegenüber, Unternehmensentscheidungen und deren Durchführung
vom Konsens der davon betroffenen Anspruchsgruppen abhängig zu machen. Alle<br />
„stakeholders“ haben das „moralische Recht“ „zur Einmischung in die Unternehmenspolitik“.<br />
„Die Unzumutbarkeit dieser Ansprüche muß von der Unternehmensleitung<br />
vor der Öffentlichkeit begründet werden.“ 12<br />
Stellt sich bei Homann die bereits eingangs angesprochene Frage, ob die Moral in der<br />
Wirtschaft sich wirklich allein durch eine (noch so ideale) Rahmenordnung garantieren<br />
läßt, rufen bei Ulrich die intensiv zu führenden Begründungs- und Konsensdiskurse<br />
zwischen Unternehmen und ihren Anspruchsgruppen Zweifel an ihrer Durchführbarkeit<br />
innerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems hervor. Für den unternehmerischen<br />
Alltag muß ein tragfähigerer, d.h. ein „gemäßigter Anspruchsgruppen-<br />
Ansatz“ entwickelt werden. 13 Entsprechend den ethischen Kriterien der individuellen<br />
Angemessenheit, Sozial- und Umweltverträglichkeit (Nachhaltigkeit) wird zwar auch<br />
die Verantwortung der Unternehmen gegenüber Einzelpersonen (z.B. Konsument,<br />
Mitarbeiter), Unternehmen (z.B. Lieferanten-, Kundenfirma), der Gesellschaft und<br />
der Natur einzufordern sein, doch unter Berücksichtigung der originären Unternehmenszwecke<br />
(Bedarfsdeckung und Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit), der grundsätzlichen<br />
Entscheidungskompetenz der Unternehmen und der Fragmentierung unternehmerischer<br />
Macht und Verantwortung innerhalb eines dezentral wirkenden<br />
marktwirtschaftlichen Systems.<br />
4. Implementierung der Unternehmensethik<br />
Die Inhalte der Unternehmensethik müssen dort implementiert werden, wo Unternehmensentscheidungen<br />
gefällt und in konkrete Handlungen umgesetzt werden. Wie<br />
kann der „ethische Anwendungsfall“ systematisiert werden angesichts der fast unüberschaubaren<br />
Vielzahl und auch Vielfalt der getroffenen unternehmerischen Entscheidungen<br />
und Handlungen? Ein taugliches Mittel dazu ist die horizontale und<br />
vertikale Strukturierung dieser Entscheidungs- und Handlungsorte:<br />
Die horizontale Strukturierung orientiert sich an der Wertschöpfungskette. Jede unternehmerische<br />
Entscheidung und Handlung hat dort ihren bestimmten Platz. Jede<br />
läßt sich einem der Bereiche Forschung und Entwicklung, Einkauf, Produktion,<br />
Verkauf oder Verwaltung (Controlling, Personal, Öffentlichkeitsarbeit) zuordnen. Je<br />
nach Ort in der Wertschöpfungskette (ob im gentechnologischen Forschungslabor<br />
oder in der Werbeabteilung eines Pharma-Konzerns) ergeben sich bei der Einlösung<br />
ethischer Kriterien je eigene unternehmensethische Fragestellungen mit Schnittstellen<br />
zu anderen ethischen Forschungsgebieten und anderen Wissenschaften.<br />
- Die Entscheidung sowie die Auslösung von Handlungen sind Management-<br />
Aufgaben. Deshalb lassen sich unternehmerische Entscheidungen und Handlungen<br />
nicht nur nach ihrem Ort in der Wertschöpfungskette unterscheiden, sie gehören auch<br />
(im Sinne einer vertikalen Strukturierung) einer der drei verschiedenen Dimensionen<br />
des Managements an: der normativen, der strategischen oder der operativen Dimension.<br />
Normatives Management beschäftigt sich mit den generellen Zielen der Unternehmung,<br />
mit Prinzipien, Normen, Spielregeln, die die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit<br />
des Unternehmens ermöglichen sollen und sich in Unternehmensverfassung,<br />
-politik und -kultur niederschlagen. Strategisches Management zielt auf den Aufbau,<br />
417
die Pflege und die Ausbeutung von Erfolgspotentialen mittels Einsatz entsprechender<br />
Ressourcen. Operatives Management befaßt sich mit der praktischen Umsetzung der<br />
normativen und strategischen Vorgaben mittels zielführender Operationen. 14<br />
Verbindet man nun die horizontale und vertikale Struktur miteinander, lassen sich die<br />
Entscheidungs- und Handlungsorte des Unternehmens in Form einer Matrix-Struktur<br />
darstellen:<br />
Gesamtunternehmen<br />
F&E<br />
Einkauf<br />
Produktion<br />
Verkauf<br />
Verwaltung<br />
418<br />
normatives Mgt strategis ches Mgt operatives Mgt<br />
Für eine systematische Implementierung der Unternehmensethik heißt dies: Unternehmensethik<br />
muß in alle Bereiche und Management-Dimensionen hineinwirken,<br />
damit die gesamten Unternehmensprozesse ethisch ausgestaltet werden können. 15 In<br />
der technischen Qualitätssicherung ist seit längerem die „end-of-the-pipe“- Nachbesserung<br />
zugunsten einer stetigen Qualität der Herstellungsprozesse in den Hintergrund<br />
gedrängt. Genauso muß es auch bei der Unternehmensethik der Fall sein: weg von<br />
punktuellen Korrekturmaßnahmen, hin zu einer ethischen Gesamtqualität der Prozesse.<br />
Das Beispiel der technischen Qualitätssicherung zeigt übrigens sehr schön, wie<br />
unternehmerische Handlungsbedingungen (Übernahme staatlicher technischer Normen)<br />
und unternehmerische Handlungsfreiheit (Aufbau eines Qualitätsmanagements<br />
als Summe aller qualitätssichernden Maßnahmen des Managements) sich positiv<br />
ergänzen können. Entsprechendes gilt für die Strukturen- und Unternehmensethik.<br />
Neben der strukturethisch ausgestalteten staatlichen bzw. supranationalen Rahmenordnung<br />
muß die Unternehmensethik zu einem Element des normativen, strategischen<br />
und operativen Managements entfaltet werden, sowohl im Hinblick auf das<br />
Gesamtunternehmen als auch im Hinblick auf die einzelnen Bereiche. Dies ist kein<br />
leichtes Unterfangen: Während die Unternehmensethik sich beim normativen Management,<br />
also beim Aufstellen von Unternehmensverfassungen, Leitbildern und Ve rhaltenskodizes,<br />
16 in vertrauter Umg ebung befindet und sich aufgrund der begrenzten<br />
betriebswirtschaftlichen Auswirkungen auch noch im „geschützten Gelände“ aufhält,<br />
muß sie innerhalb des strategischen und operativen Managements Lösungen entwickeln,<br />
die das Gute mit dem ökonomischen Erfolg verknüpfen. 17<br />
Die Unternehmensethik wird nur Element dieser beiden wichtigsten Management-<br />
Dimensionen, wenn es ihr gelingt, die Chefetage der Unternehmen von der betriebswirtschaftlichen<br />
Plausibilität ihrer Argumentation zu überzeugen. Daß das keineswegs<br />
unter dem Anspruch des Ethischen liegen muß, wird im Verweis auf die Scholastik<br />
deutlich, die das Nützliche (utile) nebst dem Ehrbaren (honestum) und Erfreu-
lichen (delectabile) zu den drei Eigentümlichkeiten des Guten zählt. 18 Zwei Beispiele<br />
mögen dies illustrieren:<br />
- Im Rahmen des strategischen Managements eines Unternehmens kann ein unter<br />
ethischen Gesichtspunkten hochwertiges Produkt bzw. Produktionsverfahren gezielt<br />
zu einer – wie es im Marketing heißt – „unique selling proposition“ aufgebaut werden,<br />
d.h. der Konsument weiß um diesen ethischen Bestandteil und fragt daher bewußt<br />
dieses Produkt nach. Eventuell ist er auch dazu bereit, dafür einen höheren<br />
Preis aufzuwenden. Durch dieses Produkt bzw. Produktionsverfahren kann das<br />
ethisch innovative Unternehmen sich gegenüber seinen Konkurrenten deutlich abheben.<br />
Sein ethisches Verhalten generiert nicht Mehrkosten, sondern Mehrertrag. In<br />
diese Kategorie fallen nicht nur Bioprodukte, sondern z.B. auch ressourcenschonende<br />
High-Tech-Fabrikate.<br />
- Im Rahmen des operativen Managements können ethischen Verhaltensstandards,<br />
die zuvor im Leitbild (normatives Management) definiert wurden (z.B. soziale Kompetenz<br />
der Führungskräfte und Mitarbeiter, Kundenorientierung, fairer Umgang mit<br />
Lieferanten), 19 in der Praxis Geltung und Nachdruck verschafft werden, wenn sie in<br />
die vorhandenen oder neu zu schaffenden Anreizsysteme integriert werden: Existiert<br />
in einem Unternehmen Management by Objectives, führt man also zu Beginn eines<br />
Jahres Zielvereinbarungsgespräche mit den Mitarbeitern durch, müssen die vereinbarten<br />
Ziele – wenn die Unternehmensethik wirklich zu einem Element des operativen<br />
Managements geworden ist – jetzt auch einen entsprechenden ethischen Gehalt<br />
aufweisen: Am Schluß des Gesprächs zwischen dem Vorgesetzten und dem Mitarbeiter<br />
stehen dann nicht nur die zu erreichenden Budgetzahlen bezüglich Umsatz<br />
oder Gewinn fest, sondern beispielsweise auch – im Sinne einer ethischen Transformation<br />
– der anzustrebende (und am Jahresende durch Befragungen zu kontrollierende)<br />
Zufriedenheitsgrad der Kunden, Mitarbeiter und Lieferanten. Durch das betriebswirtschaftliche<br />
Instrument der „Balanced Scorecard“ gibt es die Möglichkeit,<br />
diese ethischen Gesichtspunkte in die Sprache der Ökonomie umzuschreiben, sprich<br />
sie zu quantifizieren, wodurch auch die Zielerreichung „durch eine systematische<br />
und konsequente Leistungsmessung“ überprüft werden kann. 20 Solche Zielvereinbarungen<br />
sind auf Führungsebene im Erfolgsfall meistens mit Bonuszahlungen verbunden.<br />
Ein Bonus wird also bei einem Anreizsystem, das auch ethische Überlegungen<br />
integriert, nur ausbezahlt, wenn im Geschäftsjahr auch die ethischen Anforderungen<br />
erfüllt wurden. Ein Anliegen der Unternehmensethik muß es also sein, daß die Anreizsysteme<br />
in den Unternehmen so ausgestaltet werden, daß ethische und ökonomische<br />
Kriterien gleichberechtigt sind, damit ethisches Verhalten nicht diskriminiert<br />
wird.<br />
5. Bedeutung des persönlichen Ethos für die Unternehmensethik<br />
Die Mikro-Ebene, die individuelle menschliche Handlungsebene, wurde in diesen<br />
Ausführungen bisher nur kurz angesprochen. Das hat mit dem gewählten Schwerpunkt<br />
dieses Artikels zu tun, der Fokussierung der Wirtschaftsethik auf die Meso-<br />
Ebene, und ist keineswegs damit zu erklären, daß die Mikro-Ebene etwa von geringerer<br />
Wichtigkeit wäre. Im Gegenteil: Um Unternehmensethik als Element des nor-<br />
419
mativen, strategischen und operativen Managements in alle Unternehmensbereiche<br />
integrieren zu können, bedarf es maßgeblicher Führungskräfte, denen Ethik ein Anliegen<br />
is t und die ihr Gewicht und ihr persönliches Ansehen für solche unternehmensethischen<br />
Lösungsansätze einsetzen und mit gutem Beispiel vorangehen. Es ist<br />
daher wichtig, diese Multiplikatoren auch entsprechend in Wirtschafts- und Unternehmensethik<br />
auszubilden. Hier kommt eine wachsende Aufgabe auf die Ethik-<br />
Institute an Universitäten und Fachhochschulen zu. Zusätzlich zum bestehenden<br />
Aufgabengebiet zeichnen sich deshalb für die Zukunft vier neue Tätigkeitsfelder ab:<br />
- Ausbau der wirtschafts- und unternehmensethischen Lehrangebote in den wirtschafts-<br />
und ingenieurwissenschaftlichen Diplom- und Nachdiplom-Studiengängen 21<br />
- Entwicklung spezifischer Ethik-Nachdiplomstudien bzw. Ethik-Seminare für Führungskräfte<br />
in der Wirtschaft durch (theologische) Ethik-Institute 22<br />
- Entwicklung modularer Ethik-Angebote für die unternehmensinterne Aus- und<br />
Weiterbildung 23<br />
- Entwicklung eines Angebots ethischer Beratungsdienstleistungen für Unternehmen<br />
24<br />
Ein Engagement der theologischen Ethik-Institute in diese Richtung ist nicht nur in<br />
hochschulpolitischer Hinsicht 25 , sondern auch aus theologisch-kirchlichen Gründen<br />
sinnvoll, markieren doch die theologischen Ethik-Institute durch ein verstärktes<br />
öffentliches Engagement Präsenz in einer säkularisierten Gesellschaft, in einem<br />
Bereich (Wirtschaft, Unternehmen), wo rein kirchliche (diözesane) Stellen immer<br />
weniger Zugang finden werden. Für theologische wie für andere Ethik-Institute an<br />
Universitäten und an Fachhochschulen gilt: Wenn sie kein entsprechendes Angebot<br />
lancieren, wird ihr Platz von anderen – auch von dubiosen Anbietern – eingenommen.<br />
Literatur<br />
Anzenbacher, Arno: Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992.<br />
Bleicher, Knut: Das Konzept Integriertes Management, Frankfurt am Main/New York 2 1992.<br />
Degenhardt, Johannes Joachim: Der Unternehmer in katholischer Sicht, in: Lothar Roos/ Christian<br />
Watrin (Hg.), Das Ethos des Unternehmers (Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Nr. 30),<br />
Trier 1989, S. 11-24.<br />
Enderle, Georges: Corporate Ethics at the Beginning of the 21 st Century (bisher unveröffentlichtes<br />
Manuskript eines Referates anläßlich der Konferenz der Inter-American Development<br />
Bank im Dezember 2000).<br />
Enderle, Georges: Ethik als unternehmerische Herausforderung, in: Schweizerische Zeitschrift<br />
für betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, Heft 6 (1987), S. 433-450.<br />
Gäbler, Ulrich: Wissenschaft als Dialog. Rektoratsrede, Heft 98, Basel 2000.<br />
Hausmanninger, Thomas: Sozialethik als Strukturenethik, in: Hans-Joachim Höhn (Hg.),<br />
Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn/München/Wien/ Zürich 1997, S. 59-88.<br />
Homann, Karl/Blome-Drees, Franz: Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992.<br />
Michel, Uwe/Renz, Reto T.: Die Steuerung des Erfolgs von Beteiligungen. Value Based Management<br />
und Balanced Scorecard, in: NZZ, 5.8.2000, Nr. 180, S. 23.<br />
420
Staffelbach, Bruno: Management-Ethik. Ansätze und Konzepte aus betriebswirtschaftlicher<br />
Sicht, Bern/Stuttgart/Wien 1994.<br />
Steinmann, Horst/Löhr, Albert: Grundlagen der Unternehmensethik, Stuttgart 1992.<br />
Ulrich, Peter: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie,<br />
Bern/Stuttgart/Wien 2 1998.<br />
Utz, Arthur F.: Das Schicksal der Marktwirtschaft. Grundsätzliche Überlegungen zur Wirtschaftsordnung,<br />
in: Arthur F. Utz, Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983-1997<br />
(hg. von Wolfgang Ockenfels im Auftrag der Internationalen Stiftung HUMANUM), Paderborn/München/Wien/Zürich<br />
1998, S. 463-467.<br />
Anmerkungen<br />
1) Die katholische Soziallehre hat sich bisher eingehend mit den volkswirtschaftlichen Fragestellungen<br />
befaßt. Bezüglich der unternehmensethischen Aspekte läßt sich mit dem Erzbischof<br />
von Paderborn, Kardinal Johannes Joachim Degenhardt, konstatieren: „Wenn wir die bald<br />
einhundertjährige päpstliche und lehramtliche katholische Sozialverkündigung ... durchsehen,<br />
so können wir einen überraschenden Mangel schnell feststellen: die Gestalt des Unternehmers<br />
und die Aufgabe des freien Unternehmertums in einer marktorientierten Wettbewerbswirtschaft<br />
kommen kaum vor.“ Vgl. Johannes Joachim Degenhardt, Der Unternehmer in katholischer<br />
Sicht, in: Lothar Roos/Christian Watrin (Hg.), Das Ethos des Unternehmers (Beiträge zur<br />
Gesellschaftspolitik, Nr. 30), Trier 1989, S.11.<br />
2) So Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen<br />
1992, S. 35: „... die Effizienz in den Spielzügen, die Moral in den Spielregeln. Gerade dadurch,<br />
daß man die Spielzüge von moralischen Forderungen entlastet und lediglich die Einhaltung der<br />
Spielregeln verbindlich macht, wird es möglich, die Wettbewerbshandlungen allein an der<br />
Effizienz auszurichten und die Moral in den Spielregeln, in den für alle Spieler verbindlichen<br />
Rahmenbedingungen, abzugelten.“ Allerdings weisen Homann und Blome-Drees (a.a.O., S.<br />
114-118) (wie auch Horst Steinmann/Albert Löhr, Grundlagen der Unternehmensethik, Stuttgart<br />
1992, S. 104f) auf die Unvollkommenheit bzw. auf die Steuerungsgrenzen der Rahmenordnung<br />
hin (Time lag, Vollzugs- und Kontrolldefizite). Aus dem daraus sich ergebenden<br />
„Verantwortungsvakuum“ leitet sich nach Homann/ Blome-Drees wieder ein Auftrag an die<br />
Unternehmen ab, „die im Normalfall an die Ordnungsebene abgegebene moralische Verantwortung<br />
wieder auszuüben“ (a.a.O., S. 117).<br />
3) Vgl. Georges Enderle, Corporate Ethics at the Beginning of the 21 st Century (bisher unveröffentlichtes<br />
Manuskript eines Referates anläßlich der Konferenz der Inter-American Development<br />
Bank im Dezember 2000): „A crucial feature of corporate ethics is the understanding of<br />
the business organization as a moral actor. This implies that the company has a certain unity<br />
and identity with an explicit or implicit mission and culture. It has a certain autonomy with a<br />
more or less extended space of freedom. It can choose among different courses of action and<br />
therefore necessarily involves an ethical or „values“ dimension.“<br />
4) Treffend faßt Arthur F. Utz die grundlegende Aufgabe der wirtschaftlichen Rahmenordnung<br />
in den Satz zusammen: „Jegliche Wirtschaftsordnung muß dem Ziel dienen, die materielle<br />
Wohlfahrt der gesamten Gesellschaft zu verwirklichen, und zwar so, daß zugleich die echt<br />
humanen, d.h. sozialen und kulturellen Anliegen mitberücksichtigt werden.“ Vgl. Arthur F.<br />
Utz, Das Schicksal der Marktwirtschaft. Grundsätzliche Überlegungen zur Wirtschaftsordnung,<br />
in: Arthur F. Utz, Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983-1997 (hg. von Wolfgang<br />
Ockenfels), Paderborn u.a. 1998, S. 463.<br />
5) Georges Enderle, Ethik als unternehmerische Herausforderung, in: Schweizerische Zeitschrift<br />
für betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, Heft 6 (1987), S. 438.<br />
421
6) Peter Ulrich mahnt zu Recht diesen Diskurs an, auch in einer Zeit ohne wirtschaftlichen<br />
Gegenmodells. Vgl. Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen<br />
Ökonomie, Bern/Stuttgart/Wien 2 1998 – Zu bezweifeln ist aber, ob dieser Diskurs permanent,<br />
vor jeder unternehmerischen Entscheidung, geführt werden muß. Logische Gründe (die<br />
Zustimmung zu einem Wirtschaftssystem schließt auch die Zustimmung zu systembedingten<br />
Konsequenzen mit ein) und Praktikabilitätsgründe (Konsistenz einer Wirtschaftsordnung und -<br />
politik) sprechen dagegen.<br />
7) Siehe Fußnote 3; vgl. dazu auch Georges Enderle, Ethik als unternehmerische Herausforderung,<br />
S. 439; Bruno Staffelbach, Management-Ethik. Ansätze und Konzepte aus betriebswirtschaftlicher<br />
Sicht, Bern/Stuttgart/Wien 1994, S. 262f mit Hinweisen auf Peter French, Thomas<br />
Donaldson, K. E. Goodpaster.<br />
8) Nach Horst Steinmann/Albert Löhr, Grundlagen der Unternehmensethik, S. 100-102, erstreckt<br />
sich die „unternehmerische Gestaltungsfreiheit“ sowohl auf die Wahl der gewinnträchtigen<br />
Strategie („Entscheidungsautonomie für das spezifische unternehmerische Handlungsprogramm“)<br />
als auch auf die Realisierung dieser Strategie im Managementprozeß („Gesamtheit<br />
der Maßnahmen zur Ausgestaltung der Managementprozesse“).<br />
9) Er spricht von einer „konzertierten Aktion“ im Zusammenhang mit „Rahmenethos“, „institutionalisierter<br />
Selbstbindung“ und „Ethos“. Vgl. Thomas Hausmanninger, Sozialethik als<br />
Strukturenethik, in: Hans-Joachim Höhn (Hg.), Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn/München/Wien/Zürich<br />
1997, S. 85.<br />
10) Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 51.<br />
11) Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 51.<br />
12) Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, S. 449.<br />
13) Dies ist eine der Aufgaben, die sich mir im Rahmen meines Habilitationsprojekts „Erfolg<br />
und Ethik in der Unternehmensführung. Eine ethische Auseinandersetzung mit modernen<br />
Managementtheorien“ (Arbeitstitel) stellen.<br />
14) Knut Bleicher, Das Konzept Integriertes Management, Frankfurt am Main/New York<br />
2 1992, v.a. S. 68-78.<br />
15) Angesichts mancher Trends in der „angewandten Ethik“: Eine insuläre Abdrängung der<br />
Ethik in Leitbilder oder in die Personalabteilungen ist kontraproduktiv; bei einer solchen lokalen<br />
Beschränkung besteht immer die Gefahr, daß die Ethik zu einem – vielleicht öffentlichkeitswirksamen<br />
– Feigenblatt mißbraucht wird. Selbstverständlich ist die ethische Durchdringung<br />
der Unternehmensvisionen, Leitbilder und Unternehmensphilosophien an sich nicht<br />
negativ, sondern ein Teil ihres Aufgabengebietes, aber die Unternehmensethik muß auch „Biß“<br />
erhalten, indem sie in die Ziele und Maßnahmen des strategischen Managements bzw. in die<br />
Durchführung und Kontrolle des operativen Managements einfließt.<br />
16) Aufgrund des amerikanischen Strafrechts, der 1991 in Kraft getretenen „Federal Sentencing<br />
Guidelines for Organizations“, beschäftigt sich ein umfangreicher Teil der unternehmensethischen<br />
Literatur mit diesem Thema.<br />
17) Man beachte die Reihenfolge, denn hier soll keiner plumpen Erfolgsethik das Wort geredet<br />
werden.<br />
18) Vgl. Arno Anzenbacher, Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, S. 268.<br />
19) Dies geschieht übrigens auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen! Nicht nur das Ethische<br />
hat eine nützliche Komponente, auch das Nützlichkeitsdenken der Betriebswirtschaft kommt<br />
ohne ethische Dimension nicht ganz aus: Die Unternehmen leben von moralischen Voraussetzungen,<br />
die sie nicht selbst herstellen können: z.B. von Sekundärtugenden wie dem Fleiß, der<br />
Pünktlichkeit, der Genauigkeit ihrer Mitarbeiter; von der Vertragstreue, Verläßlichkeit, Wahrhaftigkeit<br />
ihrer Geschäftspartner; von der Anerkennung und Befolgung der staatlichen Ordnung<br />
durch die Bürger und überhaupt von Freiheit, Wohlstand, Recht und sozialer Sicherheit.<br />
Erst in Staaten, wo diese ethischen Voraussetzungen auf allen Ebenen fehlen (z.B. in manchen<br />
Staaten Osteuropas oder jüngst in Venezuela, wo große Kapitalbeträge wegen politischen und<br />
422
echtlichen Unsicherheiten aus dem Lande abgezogen wurden), erkennt man die Bedeutung<br />
der Ethik als eines der Fundamente der Wirtschaft.<br />
20) Vgl. Uwe Michel/Reto T. Renz, Die Steuerung des Erfolgs von Beteiligungen. Value<br />
Based Management und Balanced Scorecard, in: NZZ, 5.8.2000, S. 23: „Das Konzept der<br />
Balanced Scorecard beruht ... darauf, den Fokus der rein finanziellen Steuerung zu erweitern<br />
und die Leistung eines Unternehmens als Gleichgewicht – balanced – aus mehreren Perspektiven<br />
zu betrachten. Diese Perspektiven – Kunden, Geschäftsprozesse, Potenziale, Innovationen,<br />
Mitarbeiterentwicklung und Finanzen – werden als wesentliche Handlungsfelder für den zukünftigen<br />
wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens explizit zum Gegenstand der Strategie<br />
gemacht. ... Die Zielerreichung wird bottom-up durch eine systematische und konsequente<br />
Leistungsmessung mit strategiebezogenen Steuerungsgrößen – der Scorecard – transparent.“<br />
21) Wenn die wirtschafts- und ingenieurswissenschaftlichen Hochschul-Institutionen über<br />
keine Lehrkräfte für Ethik verfügen, können in Zukunft vermehrt bestehende universitäre und<br />
FH-Ethik-Institute als Lehrkräfte-Pool fungieren, sofern dort entsprechende Ressourcen vorhanden<br />
sind. Angesichts rückläufiger Studentenzahlen an den theologischen Fakultäten in den<br />
deutschsprachigen Ländern könnte sich hier für die theologischen Ethik-Institute eine interessante<br />
Entwicklung abzeichnen.<br />
22) An der Universität Luzern entsteht unter der Federführung der Geisteswissenschaftlichen<br />
Fakultät und unter Mitwirkung des theologischen Instituts für Sozialethik ein Nachdiplomkurs<br />
(NDK) „Philosophische Unternehmensführung“, der sich an etablierte Führungskräfte richtet.<br />
Die acht Module (Lehreinheiten) bestehen jeweils aus einer vierstündigen Abendveranstaltung<br />
und einem zweitägigen Blockseminar. Es kommen nicht nur unterschiedliche Lehr- und Lernformen<br />
zum Tragen (Vorlesungen, Selbststudium, Gruppenarbeiten, Diskussion), einen wichtigen<br />
Stellenwert nimmt auch der Praxisbezug ein: Die Modulverantwortlichen werden unterstützt<br />
von einem Praxispool, dem Unternehmerpersönlichkeiten aus der Zentralschweiz angehören,<br />
die diese Lehrveranstaltungen z.B. durch Gastreferate, Statements, Coaching der Gruppenarbeiten<br />
begleiten.<br />
23) Im Zuge von lean management, lean production und outsourcing gliederten eine Reihe von<br />
Unternehmen, die bislang über eine eigene Fort- und Weiterbildungsabteilung verfügten, ihre<br />
Ressourcen aus. Sie kaufen nun Ausbildungs-Paketlösungen bei Externen ein. Vorstellbar ist,<br />
daß Ethik-Institute bedarfsgerechte Angebote zum Thema „Wirtschafts- und Unternehmensethik“<br />
ausarbeiten und auch für die Durchführung der Schulung bei Firmen besorgt sind.<br />
24) Zur Illustration mögen einige Beispiele dienen: Begleitung von Leitbild- und Veränderungsprozessen,<br />
Aufstellen von Kriterien für Ethik-Anlagefonds, Aufstellen von Ethik-<br />
Programmen (Ethik-Audits, -Hotline, Ausbildung von Business Ethics Officern).<br />
25) Die Analyse des Rektors der Universität Basel, Ulrich Gäbler, daß die Wissenschaft ihre<br />
„Sozialgestalt“ verändert, daß „neue Kooperationen und Netzwerke entstehen“, Wissenschaft<br />
an „sozialer Nähe“ gewinnt und ihr Ort „nahe bei Interessierten oder Betroffenen“ ist, gibt<br />
wohl den momentanen hochschulpolitischen Trend treffend wieder. Vgl. Ulrich Gäbler, Wissenschaft<br />
als Dialog. Rektoratsrede, Heft 98, Basel 2000, S.9. Die theologischen Ethik-Institute<br />
können sich durch die neuen Tätigkeitsfelder neue Studentenkreise (außerhalb der theologischen<br />
Fakultät) erschließen. Außerdem werden sie durch eine (maßvolle und wissenschaftlich<br />
zu rechtfertigende) Hinwendung zu praxisnahen Aktivitäten und Dienstleistungen gegenüber<br />
staatlichen Geldern finanziell unabhängiger.<br />
Prof. Dr. Stephan Wirz lehrt Wirtschaftsethik an der Fachhochschule Aargau<br />
(Schweiz) und ist freier Mitarbeiter und Habilitand an der Kath.-Theol. Fakultät<br />
der Universität Luzern.<br />
423
424<br />
Detlef Grieswelle<br />
Generationengerechtigkeit<br />
und Generationenpolitik<br />
I. Leitbegriff der Generationengerechtigkeit<br />
Eine zentrale Vokabel unserer Zeit, ein Leitbegriff zum Selbstverständnis der<br />
Gesellschaft, ist die Generationengerechtigkeit. Dieser Begriff hat andere Termini<br />
in den Hintergrund treten lassen. Das gilt für Philosophie und Ethik, Kirchen,<br />
Gewerkschaften und Arbeitgeber, vor allem auch für die Politik. Viele Handlungsbereiche<br />
werden unter dem Begriff der Generationengerechtigkeit durchdekliniert,<br />
beispielsweise die sozialen Sicherungssysteme, die Arbeitslosigkeit, die<br />
Vermögensbildung, Randständigkeit und Armut, das Steuersystem, die Staatsverschuldung.<br />
Die Norm der Generationengerechtigkeit bezieht sich auf Orientierungen<br />
für das eigene Handeln von Personen, auf den institutionellen Rahmen<br />
der Gesellschaft und die kulturellen Werte, auch auf unterschiedliche räumliche<br />
Perspektiven, seien diese regional, national, supranational oder global, auch auf<br />
verschiedene Ebenen der Abstraktion. Die Generationengerechtigkeit gehört<br />
sicherlich ganz allgemein zu den Leitbildern einer guten Ordnung, wie sie jede<br />
Gesellschaft entwirft; heute ist aber in besonderem Maße ein Kampf darüber<br />
entbrannt, was als generationengerecht zu gelten hat.<br />
Generationengerechtigkeit: Um kaum einen Begriff wird derzeit so hart gerungen<br />
wie um das schillernde Wortpaar, das viele gesellschaftliche Gruppen für<br />
sich reklamieren. Nur wer die Deutungshoheit erobert, was als generationengerecht<br />
zu gelten hat, hat Aussicht auf Politik- und Gestaltungsfähigkeit. Spätestens<br />
seit der Diskurs-Theorie Foucaults wissen wir ja, daß Diskurse nicht nur<br />
beschreiben und analysieren, sondern auch vorschreiben, bestimmen, festlegen<br />
und so Einfluß und Macht ausüben wollen. Wer sich in Diskursen durchsetzt,<br />
verfügt über die Definitionsmacht der Sicht der Dinge und dominiert mit seinem<br />
Zeichensystem jenes des politischen Gegners.<br />
Generationengerechtigkeit wird das Schlüsselwort der Gesellschaft in den nächsten<br />
Jahren, meinte der bekannte Freizeitforscher Opaschowski zu Beginn des<br />
neuen Jahrtausends. Aber bereits in den letzten Jahren wurden wirtschaftspolitische<br />
und sozialpolitische Themen in öffentlichen Diskursen zunehmend in der<br />
Perspektive der Generationen erörtert. Die Frage der Gerechtigkeit zwischen den<br />
Generationen und der Verantwortung für künftige Generationen gehörte zu jenen<br />
Themen, die vor allem in der Sozialpolitik „Karriere machten“ und andere Formen,<br />
über den Sozialstaat zu sprechen, etwas in den Hintergrund drängten.<br />
Christoph Conrad hat in einem größeren Aufsatz dargelegt, wie nach der Sprache<br />
der Klassen und des Klassenkampfes, der Sprache von Staat und Untertan,<br />
der Geschlechter, Geschlechterdifferenzen und -beziehungen, der Abstammung<br />
und Ethnien (Einwanderer!) als letzte Version die Rhetorik der Generationen an
Einfluß gewann. Die Aufzählung der verschiedenen Sichtweisen und Rhetoriken,<br />
um über den Sozialstaat zu streiten, ist sicherlich unvollständig und läßt sich<br />
erweitern. Eine Analyse des „Sozialen“ bedarf des Rückgriffs auf alle Sichtweisen<br />
und Rhetoriken, vor allem aber auch auf den Generationenansatz. Die Sprache<br />
der Generationen gibt der Diskussion um die Krise des Sozialstaats besondere<br />
Impulse, die andere Rhetoriken ihr nicht geben können. Dabei gilt es allerdings<br />
zu beachten, daß die öffentliche Sprache der Generationen wie auch anderer<br />
Rhetoriken weniger zur exakten Beschreibung und Analyse und sachlichen<br />
Argumentation geschaffen wurde, sondern vielfach entstanden ist als ideologisches,<br />
wertendes Programm, um gegnerische Sichtweisen in Frage zu stellen und<br />
eigene politisch durchzusetzen. Eingängige Metaphorik (z.B. Übertragung des<br />
Familienmodells auf die Gesamtgesellschaft), Anspielungen (z.B. an biologische<br />
Vorstellungen) und ethische Implikationen zeichnen die Benennung von Spannungslinien<br />
aus, so auch bei der Verteilung von Rechten und Pflichten unter den<br />
Generationen. Oft erfolgt der Diskurs der Generationen in recht menschenverachtender,<br />
aggressiver oder gar martialischer Sprache, wenn Konflikte zwischen<br />
den Generationen festgestellt bzw. prognostiziert werden: Die Slogans reichen<br />
von „Überalterung“, „Altenlast“, „Altenberge“, „Unproduktivität des Alters“,<br />
„Vergreisung der Gesellschaft“ über „Zerstörung des Generationenvertrages“ bis<br />
hin zum „Aufstand der Jüngeren gegen die Älteren“ und „Kampf der Generationen“.<br />
Bei aller Emotionalisierung des öffentlichen Diskurses ist die Generationenbetrachtung<br />
ein guter Ansatz für einen aufgeklärten Diskurs, wie Conrad ganz<br />
richtig schreibt: „Zum einen ist die Betrachtung von Wohlfahrtsbilanzen über<br />
den Lebenslauf ganzer Generationen eine außerordentlich fruchtbare, dynamisierte<br />
Betrachtung gesellschaftspolitischen Wandels. Bei solchen Längsschnitten<br />
nimmt die Generationenperspektive im Idealfall keine Rücksicht auf die herkömmlichen<br />
Einteilungen und Abgrenzungen der Sozialpolitik; sie interessiert<br />
sich nicht für Ressortgrenzen zwischen Familien- und Rentenpolitik, zwischen<br />
Versicherung und Sozialhilfe oder zwischen staatlichen und privaten Sicherungssystemen.<br />
Auch wenn dieser Ansatz empirisch schwer einzulösen ist, stellt<br />
er doch ein wichtiges Korrektiv gegenüber herkömmlichen Umverteilungsanalysen<br />
dar. Es zeigen sich strukturelle Bruchlinien, die anders beschaffen sind als<br />
frühere Konflikte. Daß die existierenden Formen politischer Repräsentation solche<br />
Konfliktlinien kaum abbilden, sollte nicht zu dem Schluß verleiten, daß sie<br />
weniger virulent wären. Das Sprechen von Generationen ersetzt nicht das von<br />
Klassen oder Geschlechtern, aber die Frage nach der Gerechtigkeit zwischen den<br />
Generationen muß sich keiner der anderen Spannungslinien als ‚Nebenwiderspruch’<br />
unterordnen. Wenn die künftige Debatte um die Reform des Sozialstaats<br />
nicht mehrsprachig geführt wird, sollte man sich nicht wundern, wenn die Jungen<br />
die Kündigungsklauseln im Generationenvertrag aufmerksamer lesen und<br />
andere Verlierer gar nicht mehr glauben, in einen Sozialvertrag eingebunden zu<br />
sein.“<br />
Eine der entscheidenden Zukunftsfragen ist also die politische Gestaltung in<br />
Generationengerechtigkeit. Die Perspektive der Verantwortung zwischen den<br />
425
Generationen zielt, will man das einmal ganz grundlegend beschreiben, auf die<br />
gesellschaftliche Zuordnung und wechselseitige Beziehung der Lebensphasen<br />
zueinander, speziell des sog. mittleren Lebensalters, das durch ausgeprägte Ve rpflichtungen<br />
wie Erwerbstätigkeit, Haushaltsführung, Ehe/Familie und Erziehung<br />
gekennzeichnet ist, zu dem mehr rezeptiven Lebensalter der heranwachsenden<br />
Kinder und Jugendlichen einerseits und zu den aus verschiedenen sozialen<br />
Zusammenhängen partiell ausgegliederten bzw. sich zurückziehenden älteren<br />
Menschen andererseits. Die Frage der Generationen, ihrer gesellschaftlichen<br />
Stellung, ihrer Rechte und Pflichten sowie ihres Zusammen- und Auseinanderlebens<br />
ist sicherlich ein zeitloses Problem. Allerdings gewinnt sie mit dem Rückgang<br />
der Geburtenzahlen und dem Altersstrukturwandel unserer Bevölkerung an<br />
Bedeutung, besonders für die Gestaltung des Sozialstaats.<br />
Hondrich/Arzberger schreiben ganz richtig: „Sozialstaatliche Probleme sind<br />
heute zum großen Teil Probleme der Solidarität zwischen den Generationen: Wie<br />
gewährleisten die aktiven mittleren und jüngeren Jahrgänge die materielle Absicherung,<br />
aber auch die persönliche Pflege und Zuwendung, deren die Älteren<br />
bedürfen? Und wie finanzieren sie, nach der anderen Richtung, die immer längeren<br />
Ausbildungszeiten der Kinder und statten sie mit der Stärke und Stabilität der<br />
Gefühle und Motive aus, aus denen Bildungs- und Leistungsfähigkeit, also Lebenstüchtigkeit<br />
erwächst? Die Probleme haben also eine materielle und eine<br />
persönliche Seite, und sie stellen sich in zwei Richtungen, wobei die jeweils<br />
mittleren Kohorten im Zentrum der Probleme stehen, weil die Solidaritätsanforderungen<br />
sich auf sie konzentrieren. Nicht nur in den zur Dramatisierung neigenden<br />
Massenmedien, sondern auch in wissenschaftlichen Abhandlungen verdichtet<br />
sich die These, finanzielle und persönliche Belastungen des intergenerationellen<br />
Ausgleichs überforderten die beruflichen aktiven Jahrgänge, so daß sie<br />
den Generationenvertrag aufkündigen würden.“<br />
Das Wort „Generationengerechtigkeit“ zielt auf folgende Bedeutungsinhalte:<br />
Zusammengehörigkeit, Verbundenheit, Gemeinschaftsbewußtsein der Generationen.<br />
Das menschliche Zusammenleben bedarf der Eingrenzung von Individualismus<br />
und Einzel- und Gruppeninteressen durch Orientierungs- und Verhaltensprinzipien<br />
nach der Maßgabe wechselseitiger Rücksichtnahme. Stärke und Überlegenheit<br />
einzelner Menschen und Gruppen erfordern Solidarität als Gegenkraft,<br />
damit soziale Harmonie und Stabilität nicht gefährdet werden. Dabei kann sich<br />
Generationengerechtigkeit nicht in Einstellungen, also moralischen Überzeugungen<br />
und angemessenem Bewußtsein, erschöpfen. Sie verweist auch auf die Notwendigkeit<br />
von Anreizsystemen, um Verhalten in die gewünschte Richtung zu<br />
lenken, sowie von günstigen Rahmenbedingungen und vor allem auf die notwendige<br />
Institutionalisierung von Verhalten in Normen, Rollen und Ordnungsmaximen.<br />
Es geht also wesentlich auch um verbindliche Verhaltensregeln, die<br />
auf das Handeln orientierend, ordnend und lenkend einwirken und Menschen<br />
bereit machen, als soziale Wesen - in Rücksicht auf die anderen Mitglieder - zu<br />
handeln. Natürlich ist ein erwünschtes Handeln am ehesten dann zu erreichen,<br />
wenn verschiedene Methoden ineinander greifen.<br />
426
Generationengerechtigkeit als Verhaltensprinzip kann in bezug auf ganz verschiedene<br />
Institutionen und Handlungsfelder realisiert werden. Zu nennen sind<br />
hier vor allem Familie, Erziehung, Wirtschaft, Arbeit, soziale Sicherung, Wohnen<br />
und natürliche Umwelt. Ebenso sind die sozialen Gebilde, in denen sich<br />
Solidarität unter Umständen entfaltet, recht mannigfaltig. Das Spektrum reicht<br />
von Kleingruppen wie Familien und Freundeskreisen über Organisationen wie<br />
Betriebe, Schulen, Universitäten und Verbände bis hin zu Staat und Gesellschaft.<br />
In Kleingruppen handelt es sich um ein Verhalten, das wesentlich auf Gefühlen<br />
wie Zuneigung, Liebe, Sympathie und Vertrauen beruht. Solche Verhaltenswiesen<br />
und Verhaltensmuster sind nur hier praktikabel und sinnvoll, aber nicht ohne<br />
weiteres übertragbar auf unpersönliche, unorganisierte, funktional-spezifische<br />
und stark von Leistung und Interessen bestimmte Zweckgebilde. Hier haben<br />
Egoismus, Durchsetzungs- und Machtwille sowie Streben nach Erfolg viel grössere<br />
Bedeutung, ja sie sind geradezu Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit<br />
solcher Gruppen. Diese Verhaltensweisen bedürfen der Zügelung durch eine<br />
gesellschaftliche Ethik der Generationengerechtigkeit und der sozialen Verantwortung<br />
sowie vor allem einer Eingrenzung durch die Schaffung einer gerechten<br />
Ordnung von seiten der hierzu verpflichteten Instanzen legitimer Herrschaft.<br />
Generationengerechtigkeit zielt in der Regel auf verschiedene Dimensionen der<br />
Lebensführung und Ordnungsgestaltung. An Handlungsbereichen zu erwähnen<br />
sind die Verteilung von Gütern wie Einkommen, Konsum, freier Zeit, Aufstiegsmöglichkeiten,<br />
Statussymbolen, sozialer Sicherung; die Teilhabe an Willensbildungsprozessen<br />
und an der Ausübung und Kontrolle von Herrschaft; die<br />
Erziehung und sozio-kulturelle Eingliederung des Nachwuchses, aber auch die<br />
Aufgabenbestimmung für ältere Menschen und deren Betreuung und Pflege.<br />
Jede Gesellschaft steht vor den angesprochenen grundsätzlichen Problemen: Wie<br />
die Antworten im einzelnen konkret aussehen müssen, darüber gibt das Postulat<br />
der Generationengerechtigkeit keine präzise Auskunft. Generationengerechtigkeit<br />
beinhaltet ja kein Programm, sondern stellt eine Heuristik dar, um über<br />
Rechte und Pflichten nachzudenken und Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Befriedigende<br />
Lösungen der Probleme tragen bei zur sozialen Identität in einem<br />
Gemeinwesen, d.h. zu einem positiven Gefühl der Zugehörigkeit, und zur Legitimität<br />
von Ordnung.<br />
II. Differenzierung sozialer Gerechtigkeit<br />
In einem Diskurs über Generationengerechtigkeit sind alle Deutungen der sozialen<br />
Gerechtigkeit einzubeziehen wie formale Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit,<br />
Leistungs- und Chancengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit.<br />
Die formale Gerechtigkeit soll allen am Gesellschafts- und Wirtschaftsprozeß<br />
Beteiligten gleiche Behandlung sichern. Sie fußt auf der Einsicht, daß die Menschen<br />
von Geburt aus gleich sind und grundsätzlich die gleichen Entfaltungsrechte<br />
haben sollen. Hierzu gehört vor allem der gleiche rechtliche Zugang zu<br />
jenen Faktoren, die den sozialen Status des einzelnen bestimmen wie Einkommen,<br />
Eigentum, Ausbildung etc. Formale Freiheit bedeutet nicht gleiches Kön-<br />
427
nen, sondern nur gleiches rechtliches Dürfen. Es geht um gleiche Freiheitsrechte<br />
für jeden Bürger, in dem Sinne, daß es - rechtlich gesehen - keine Privilegien<br />
und keine Diskriminierungen gibt und dem Gebot der Fairneß auch entsprochen<br />
wird durch Verfahrensgerechtigkeit in der Rechtsfindung und im Rechtsvollzug.<br />
Umstritten im gesellschaftspolitischen Diskurs war in der Vergangenheit der<br />
Begriff der Verteilungsgerechtigkeit, häufig distributive Gerechtigkeit genannt.<br />
Bezog sich der Begriff ursprünglich, so bei Aristoteles, auf Tugendbelohnung<br />
und Anerkennung von Sittlichkeit und gutem Leben, später, in der Aufklärung,<br />
auf die staatliche Sicherung der Privatrechtsordnung, vor allem der Eigentumsordnung,<br />
geht es hier um ausgleichende Gerechtigkeit in Form stärkerer materieller<br />
Gleichheit, um eine gerechtere Verteilung von Gütern wie beispielsweise<br />
Einkommen und Vermögen. Gerechtigkeit gebietet hiernach ausgleichende Maßnahmen<br />
zugunsten jener, die sonst allzu sehr zurückbleiben. Der Begriff der<br />
distributiven Gerechtigkeit bezieht sich vor allem auch auf die Gewährung sozialer<br />
Sicherheit durch Absicherung grundlegender Risiken und auf die vielfältigen<br />
Solidarkomponenten in den einzelnen Systemen. Im Rahmen der austeilenden<br />
Gerechtigkeit wurde unter der Formel „Jedem das Seine“ die sog. Bedarfsgerechtigkeit<br />
herausgehoben. Hierunter wurde in ferner Vergangenheit eine Verteilung<br />
der Güter nach den jeweiligen Bedürfnissen verstanden, wobei es in der<br />
Regel an einem plausiblen Maßstab fehlte, um den Umfang und die Intensität der<br />
individuellen Bedürfnisse zu messen und interpersonell zu vergleichen. Deshalb<br />
behalfen sich die Vertreter der Bedarfsgerechtigkeit häufig mit der Fiktion, daß<br />
alle Menschen gleiche Bedürfnisse hätten und folglich ein gleich hoher Anteil<br />
der Menschen an den Gütern zu fordern wäre. Heute bezieht sich das Postulat der<br />
Bedarfsgerechtigkeit fast nur noch auf die Sicherung elementarer Grundbedürfnisse;<br />
jedem Gesellschaftsmitglied, unabhängig von seinem Beitrag zum wirtschaftlichen<br />
Wertschöpfungsprozeß, ist ein soziokultureller Mindeststandard zu<br />
gewähren.<br />
Bei beträchtlich gewachsenen Ungleichheiten in der Bundesrepublik Deutschland<br />
durch begrenzte reale Einkommenszuwächse der Lohnempfänger, hohe<br />
Arbeitslosigkeit und Reduktion der „Normalarbeitsverhältnisse“, Zunahme der<br />
Abgaben der Arbeitnehmer an die Sozialkassen, hohe Steuern der Beschäftigten,<br />
geringen Anteil der Lohnempfänger an Vermögen, Zinsen und Dividenden bleibt<br />
die Frage der Verteilungsgerechtigkeit auf der politischen Tagesordnung, fordert<br />
auf alle Fälle Konsequenzen in anderen Bereichen der sozialen Gerechtigkeit.<br />
Wächst mit der Wirtschaftsentwicklung die soziale Ungleichheit und kann die<br />
Politik das nicht ändern, dann müssen die Bürger - um dies zu akzeptieren -<br />
wenigstens das Gefühl haben, gerechte Chancen auf Aufstieg und den Erwerb<br />
von Wohlstand zu besitzen. Ob allerdings in einer relativ homogenen Nation wie<br />
der deutschen sich eine die USA kennzeichnende Hochschätzung der Aufstiegschancen<br />
gegenüber der Einkommensgleichheit durchsetzt, ist zu bezweifeln.<br />
Eine stärkere Zustimmung zu Phänomenen der Ungleichheit wird vor allem<br />
davon abhängen, inwieweit der Staat dem Gebot der Fairneß entspricht, z.B.<br />
durch Beseitigung ungerechter Steuerpraktiken, Abschaffung von Subventionen<br />
in traditionellen Industrien, durch Förderung des sozialen Engagements der öko-<br />
428
nomischen Gewinner (Stiftungen!), durch Reduktion gigantischer Abfindungen<br />
für Topmanager, durch stärkere Besteuerung von Erbschaften.<br />
In der Debatte um die soziale Gerechtigkeit wird heute vor allem betont, daß<br />
diese nicht zuvorderst den sozialen Ausgleich zu beachten habe, sondern die<br />
Leistungsgerechtigkeit, also die Anerkennung der personalen Leistung. Gerechtigkeit<br />
verpflichte zwar die Starken zum Eintreten für die Schwachen, aber dies<br />
dürfe Leistungsanreize und Leistungsbereitschaft der Starken nicht gefährden. Es<br />
ist durchaus richtig: Die eigene Leistung gehört zur freien Entfaltung der Person<br />
und stellt einen wesentlichen Antrieb dar für persönliche Anstrengungen. Das<br />
Postulat der Leistungsgerechtigkeit zielt vor allem auf die sog. Tauschgerechtigkeit<br />
als Fairneß der Vertrags- und Austauschbedingungen zwischen einzelnen<br />
und sozialen Gruppen, also auf das „richtige“, „angemessene“ Verhältnis von<br />
Leistung und Gegenleistung, was beispielsweise den gerechten Preis für Güter,<br />
die gerechte Entlohnung von Arbeitnehmern und die gerechte Zuordnung von<br />
Beiträgen und Sozialleistungen angeht. Leistung ist unabdingbar in einer Gesellschaft,<br />
die auf Selbstverantwortung setzt. Leistung sichert die materiellen Bedingungen<br />
der Freiheit. In der Konstruktion unserer Gesellschaft besteht heute vor<br />
allem die Gefahr überzogener Solidaritätsanforderungen, verteilungspolitische<br />
Ansprüche dürfen Staat und Wirtschaft nicht überfordern und den Wohlstand<br />
nicht untergraben. Es könnte sehr schnell bei vielen Bürgern der Argwohn erwachsen,<br />
im Spiel der Verteilungspolitik zu den übermäßig geschröpften Zahlmeistern<br />
zu gehören, was die Solidaritätspolitik gefährdet.<br />
Gerechtigkeit darf nicht mehr vorherrschend mehr Gleichheit im Sinne von mehr<br />
Verteilungs- und Ergebnisgleichheit bedeuten. Wer allzu sehr auf die Sphäre der<br />
Verteilung schaut und jene der Produktion des Wohlstandes außer acht läßt, läuft<br />
in die Irre. In Reformdiskussionen (z.B. zur Steuerpolitik) dürfen nicht Umverteilungsaspekte<br />
im Vordergrund stehen, schon allein deshalb, weil scheinbare<br />
Ungerechtigkeiten zu mehr Wohlstand und zum Abbau von Arbeitslosigkeit und<br />
damit zu mehr Gleichheit führen können. Nach der Theorie der Gerechtigkeit<br />
von Rawls sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu gestalten, daß<br />
a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vo rteil dienen und b)<br />
sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedermann offen stehen.<br />
Im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit ist heute insbesondere auf eine gerechte<br />
Verteilung von Lebenschancen und auf ähnliche Ausgangsbedingungen und<br />
gleichmäßigere materielle Chancen im Hinblick auf tatsächlich realisierbare<br />
Möglichkeiten abzustellen. Dazu gehört z.B. ein gerechterer Zugang zu Bildungseinrichtungen<br />
und Berufs- und Arbeitsplätzen durch den Ausgleich nachteiliger<br />
Vorbedingungen (z.B. Leistungen für Familien, für Bildungszwecke).<br />
Man spricht häufig von Startgerechtigkeit im Sinne der Schaffung von mehr<br />
Gleichheit der Startbedingungen, vor allem durch Gewährung gleicher Ausbildungschancen.<br />
Chancengerechtigkeit ist eine notwendige Ergänzung der Gleichheit<br />
vor dem Recht. Bundeskanzler Schröder postuliert: „Gerade weil aber die<br />
Herstellung und Bewahrung sozialer Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinne<br />
oberstes Ziel sozialdemokratischer Politik ist und bleibt, können wir uns nicht<br />
mehr auf Verteilungsgerechtigkeit beschränken. Dies geht schon deshalb nicht,<br />
429
weil eine Ausweitung der Sozialhaushalte nicht zu erwarten und übrigens auch<br />
nicht erstrebenswert ist. Für die soziale Gerechtigkeit in der Wissens- und Informationsgesellschaft<br />
ist vor allem die Herstellung von Chancengerechtigkeit<br />
entscheidend.“<br />
Die Menschen wollen ihren Anteil an Wohlstand und Vermögen nicht durch<br />
„Segnungen“ erhalten, sondern durch eigene Leistung, staatliche Politik hat<br />
entsprechend nicht zu allererst eine gerechte Verteilung zu organisieren, sondern<br />
die Eröffnung von Zugangschancen für alle zu ermöglichen.<br />
In der gegenwärtigen Diskussion, vor allem in Sozialethik, in den Kirchen und<br />
der Politik, dominiert - im Kontext der Betonung von Leistungs- und Startgerechtigkeit<br />
- das Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit, eine Perspektive, die für<br />
die heutige Orientierung und die Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme<br />
neue Akzente beinhaltet. „Beteiligungsgerechtigkeit“ zielt sowohl auf das<br />
Menschenbild, auf gesellschaftliche Werte, aber auch auf die Gestaltung von<br />
Ordnung. Leitideen sind die Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe und die Ve rbesserung<br />
der Entfaltungschancen durch institutionelle Innovationen in verschiedenen<br />
Handlungsfeldern wie vor allem Erwerbsarbeit, Bildung und berufliche<br />
Qualifikation, Vermögensbildung, Arbeitsbeziehungen, Familie und Erziehungsarbeit,<br />
ehrenamtliches Engagement. Als Motto für die Erneuerung gilt die Förderung<br />
aktiver Beteiligung an grundlegenden Rollen einer Bürgergesellschaft der<br />
Inklusion, also der Wahrnehmung von Verantwortung und Engagement. Teilhabe<br />
dürfe keinesfalls nur in einer lediglich finanziellen Absicherung bestehen,<br />
sondern in der Befähigung der Menschen, gesellschaftliche Prozesse aktiv mitzugestalten;<br />
ein Abgleiten in ausschließlich materielles Verteilungsdenken gelte<br />
es zu vermeiden.<br />
Das Leitbild der Teilhabegerechtigkeit umfaßt wie das des aktivierenden Sozialstaats<br />
eine weitgehende Loslösung vom inaktiven Versorgungsprinzip hin zur<br />
schnellstmöglichen Reintegration in den Arbeitsmarkt, die Verhinderung von<br />
sozialer Not vor Sozialhilfe, die Rehabilitation vor Rente, verschiedene Maßnahmen<br />
der Arbeitsförderung vor Arbeitslosenunterstützung.<br />
Das Menschenbild ist mit Eigenschaften wie Unabhängigkeit, Aktivität, Entfaltung<br />
von Fähigkeiten, Eigeninitiative zu beschreiben, die Einbeziehung, Bindung,<br />
Inklusion ermöglichen. Die Werte und Ordnungsprinzipien für soziale<br />
Gestaltung sind zu bezeichnen mit Termini wie Freiheit, Subsidiarität, Leistung,<br />
Eigenverantwortung, Entfaltung der Humanressourcen, Mitbestimmung, Prävention<br />
und Rehabilitation, Integration in Kommunikation und Information.<br />
Die katholischen Bischöfe in den USA hatten in ihrem Hirtenbrief von 1986 für<br />
diese Aspekte den Begriff der kontributiven Gerechtigkeit verwendet. Diese<br />
bezieht sich darauf, daß jedes Gesellschaftsmitglied die Pflicht, aber auch das<br />
Recht habe, das Seine zum Wohl der Gesellschaft im Ga nzen beizutragen. „Soziale<br />
Gerechtigkeit bedeutet, daß Menschen verpflichtet sind, sich aktiv und<br />
produktiv am Leben der Gesellschaft zu beteiligen, und daß es der Gesellschaft<br />
obliegt, ihnen die Möglichkeit einer solchen Beteiligung zu schaffen“, hieß es im<br />
Wirtschaftshirtenbrief der nordamerikanischen Bischöfe. „Also müssen Struktu-<br />
430
en geschaffen, ausgebaut und gesichert werden, die die verantwortliche Teilnahme<br />
am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben ermöglichen“,<br />
schreibt die Ethikerin Heimbach-Steins. Und eine Beschränkung der Gerechtigkeitsverpflichtung<br />
auf die gegenwärtig Lebenden sei nicht vertretbar angesichts<br />
des Wissens um die langfristigen Konsequenzen gegenwärtigen ökonomischen,<br />
sozialen und ökologischen Handelns. Insofern sei auch das Kriterium der Beteiligungsgerechtigkeit<br />
mit einem Zeitindex zu versehen. Denn das ethische Ve rständnis<br />
von Gesellschaft, in der und für die solche Gerechtigkeit realisiert werden<br />
solle, schließe die nachfolgenden Generationen und deren Lebens- und Beteiligungsrechte<br />
zwingend ein. Leistungs-, Chancen- und Teilhabegerechtigkeit<br />
sowie der aktivierende Sozialstaat sind Leitbilder für die Gestaltung der Zukunft<br />
in Generationenverantwortung.<br />
III. Merkmale eines aufgeklärten Diskurses<br />
Die Verschiebung im Altersaufbau wird in Zukunft das Erscheinungsbild der<br />
Gesellschaft beträchtlich verändern und vielfältige Auswirkungen auf Wirtschaft<br />
und soziale Sicherungssysteme haben. Angesichts der für die nächsten Jahrzehnte<br />
absehbaren demographisch bedingten Gewichtsverlagerung zwischen den jeweils<br />
aktiv Erwerbstätigen und der älteren Bevölkerung kann es nicht ausgeschlossen<br />
werden, daß die Solidarität zwischen den Generationen tendenziell ihre<br />
bisherige mehr oder weniger fraglose Selbstverständlichkeit einbüßt.<br />
Es geht im Zusammenhang der Generationengerechtigkeit um eine ausgewogene<br />
Berücksichtigung der Interessen der verschiedenen Generationen, um einen gerechten<br />
Ausgleich. Einerseits ist es Aufgabe, den älteren Generationen und ihren<br />
Leistungen gerecht zu werden, andererseits die im Erwerbsleben stehenden Generationen<br />
nicht übermäßig zu belasten. Die Frage der Generationengerechtigkeit<br />
darf aber nicht auf die Lastenverteilung innerhalb der Sozialversicherung, vor<br />
allem im System der gesetzlichen Rentenversicherung, beschränkt werden, die<br />
jüngeren Generationen geraten dann weitgehend in die Rolle der Verlierer. Die<br />
gute ökonomische Situation der jüngeren Generationen, ihr materieller Wohlstand,<br />
ihre Bildung und Ausbildung, ihre Lebenslage insgesamt, ist wesentlich<br />
auch das Ergebnis ökonomischer Prozesse über Generationen hinweg, also einer<br />
produktiven Volkswirtschaft aufgrund des Sparens und Investierens der früheren<br />
Generationen. Die Jungen sind auch die Erben dessen, was die Älteren jetzt und<br />
in den nächsten Jahren hinterlassen.<br />
Zur Bewahrung des Generationenvertrages bzw. zur Gestaltung von Generationenverantwortung<br />
gehört jedoch nicht nur eine angemessene Verteilung von<br />
ökonomischen und sozialen Ansprüchen und Pflichten, sondern auch die Solidarität<br />
in unserer Gesellschaft gegenüber den Familien, wo Kinder erzogen und<br />
damit wesentliche Leistungen für das Gemeinwesen erbracht werden. Familienpolitik<br />
muß ein zentraler Bereich für die Gestaltung in Generationenverantwortung<br />
sein. Familien brauchen zur Bewältigung ihrer Aufgaben, auch angesichts<br />
gestiegener Anforderungen und gesellschaftlicher Veränderungen, vielfältige<br />
Formen der Entlastung, Unterstützung und Ermutigung. Und Solidarität mit äl-<br />
431
teren Menschen bedeutet nicht nur sozialen Schutz für diese, sondern auch, deren<br />
Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten zu verstärken, weil ältere Menschen<br />
nicht nur als Abhängige und Betreuungsbedürftige gesehen werden, sondern<br />
eigene gesellschaftliche Beiträge leisten wollen, auf die übrigens unsere Ge -<br />
sellschaft in ferner Zukunft vermehrt angewiesen sein wird.<br />
Weiterhin erfordert eine Gestaltung in Generationenperspektive und –verantwortung<br />
langfristiges Denken und Handeln zur Sicherung des zukünftigen Zusammenhalts<br />
der Generationen und frühzeitige Vorsorge, um das Ziel zu erreichen.<br />
Und nicht zuletzt meint der Begriff des Generationenvertrages, wenn man ihn<br />
weit genug faßt, ganz allgemein die Verantwortung für nachwachsende Generationen<br />
in dem Sinne, daß heute kein Leben zu deren Lasten und auf deren Kosten<br />
erfolgen darf.<br />
Das Postulat der Generationengerechtigkeit zielt also auch auf die Lebensbedingungen<br />
der noch nicht lebenden Generationen. Welche Chance haben sie aufgrund<br />
der Entscheidungen der heute lebenden Generationen? Ist es zulässig,<br />
durch hohe Staatsverschuldung, unzureichenden Umweltschutz und unzulängliche<br />
Reformen der sozialen Sicherungssysteme die Lebensbedingungen der nachfolgenden<br />
Generationen gegenüber jenen der heute lebenden gravierend zu verschlechtern?<br />
Soziale Verantwortung und Gerechtigkeit haben immer auch die<br />
Bedürfnisse zukünftiger Generationen einzubeziehen und ihnen einen angemessenen<br />
Stellenwert einzuräumen.<br />
Die zentrale Frage dieser Zukunftsverantwortung ist, welche Probleme für das<br />
Verhältnis der Generationen im Jahre 2010, 2020, 2030 erwachsen und ob die<br />
Generationenverantwortung dann noch funktioniert sowie was zu tun ist, mö glichst<br />
jetzt oder bald, um die Grundlagen für den zukünftigen Zusammenhalt der<br />
Generationen zu schaffen. Aufgabe der Politik und wichtiger gesellschaftlicher<br />
Gruppen ist es, in langfristigen Zeithorizonten zu denken und zu handeln und<br />
durch grundlegende Reformen und Vorsorgemaßnahmen die Voraussetzungen<br />
für die Bewältigung der Aufgaben der Zukunft zu legen. Allzu sehr dominiert in<br />
der Regel die Gegenwartsorientierung gegenüber einer Verantwortung für die<br />
Lebenschancen der heute jungen, die Zukunft der noch nicht geborenen Menschen.<br />
Unbestreitbar sind in den Bereichen Umwelt, Bevölkerung, Familie, soziale<br />
Sicherung, Schulden und Subventionen langfristige Zeithorizonte vonnöten.<br />
Die Aufgabe ist es, rechtzeitig zu handeln und nicht erst, wenn die Probleme<br />
durch Reformen überhaupt nicht mehr zu lösen sind. Allerdings ist es schwer,<br />
den vorherrschenden kurzfristigen Zielsetzungen der Bürger, Verbände und Politiker<br />
langfristige Ziele entgegenzusetzen und dafür Akzeptanz zu finden.<br />
Das Bewußtsein, in langen Zeitperspektiven zu denken, zu planen und präventiv<br />
zu handeln, ist in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung nur sehr partiell<br />
vorhanden. Bei schon in der Gegenwart wirksam werdendem Problemdruck<br />
schaut es besser aus, in vielen anderen, erst in späterer Zukunft virulenten Fragen<br />
bedenklich schlechter. Häufig bekennt man sich in Politik, Wissenschaft, in<br />
Verbänden und Medien zu der grundlegenden Verpflichtung der Zukunftsorientierung,<br />
aber man zieht nicht die entsprechenden Konsequenzen. Werte werden<br />
recht abstrakt artikuliert, steuern aber nicht die Motivation und führen nicht zur<br />
432
Formulierung von Handlungsbedarf und zur Einleitung konkreter Maßnahmen.<br />
Vieles wird kollektiv verdrängt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Staatsverschuldung,<br />
wo es ja keine nennenswerte Gruppe in unserer Gesellschaft gab, die dieses<br />
Thema zum öffentlichen Ärgernis erhob. Eine andere Unzulänglichkeit besteht<br />
darin, Reformen, die nur heute und kurzfristig Probleme bewältigen, als<br />
wirksame Langfristlösungen zu bezeichnen, wobei in der Regel sehr schwer<br />
festzustellen ist, ob die sog. Strukturreformer das glauben oder nur werbewirksamen<br />
Optimismus verbreiten wollen. Erfolgt gar die Zustimmung aller gesellschaftlich<br />
bedeutsamen Gruppen zu solchen Reformen, rücken deren Kritiker<br />
geradezu in die Ecke der ewig Unbelehrbaren, Besserwisser, bestenfalls noch<br />
Querdenker, die die Wahlchancen beeinträchtigen. Im politischen Entscheidungsfeld<br />
werden mit dem Anwachsen von Widerständen und dem Näherrücken<br />
von Wahlterminen die Zeitperspektiven zumeist immer kürzer und die geforderten<br />
Lasten für gegenwärtige Generationen immer kleiner.<br />
Ein vernünftiger Diskurs zur langfristigen Daseinssicherung hat vor allem folgende<br />
Gesichtspunkte zu beachten:<br />
- Kritik zu üben an vorherrschender Gegenwartsorientierung, Kurzatmigkeit und<br />
Zukunftsvergessenheit und dafür zu plädieren, daß die Folgen von Handlungen<br />
vor Kindern und Kindeskindern verantwortet werden können;<br />
- das Bewußtsein des Einzelnen zu stärken, Teil einer generationenübergreifenden<br />
Gemeinschaft zu sein, die von der Vergangenheit in die Zukunft reicht, und<br />
das Recht der nachwachsenden Generation gegenüber der gegenwärtigen gelten<br />
zu lassen;<br />
- die Bereitschaft zu fördern, für die Nachwelt etwas zu tun, obwohl die Nachwelt<br />
nichts für uns tun kann und wir nicht sicher sein können, ob spätere Generationen<br />
bereit sind, ihrerseits Pflichten der Zukunftsvorsorge anzuerkennen und<br />
zu befolgen;<br />
- die motivationalen Voraussetzungen der Bevölkerung zu verbessern für die<br />
effektive Übernahme von Zukunftsverantwortung im Sinne wechselseitiger Ve rbundenheit<br />
und Zusammengehörigkeit (Solidarität);<br />
- negative Tendenzen zu vermeiden für eine adäquate Zukunftsbewertung (z.B.<br />
Minderschätzung zukünftigen Nutzens und Schadens um ihrer Zukünftigkeit<br />
willen, Abhängigkeit der Einschätzung zukünftigen Nutzens und Schadens von<br />
Präferenzen, die wir heute nicht teilen, Gleichgültigkeit gegenüber Nutzen und<br />
Schaden, der andere und uns Fernstehende trifft, Gefahr, daß Beiträge der heutigen<br />
Generationen ihre Leistungsfähigkeit überschreiten und ungerecht sind);<br />
- die Normen zu erörtern zur intergenerationellen Gerechtigkeit, zur Zumutbarkeit<br />
von Zukunftsrisiken und zur Gegenwartsbewertung zukünftigen Nutzens<br />
und Schadens und ihrer generellen Verteilung zwischen den Generationen;<br />
- sowohl ideale Normen als auch Praxisnormen herauszuarbeiten, da letztere<br />
ohne ideale Normen beliebig, ideale ohne Praxisnormen wirklichkeitsfern wären;<br />
433
- sachgerecht zu differenzieren nach räumlichen und zeitlichen Reichweiten der<br />
notwendigen Generationenpolitik (häufiger Adressat der Norm die ganze<br />
Menschheit);<br />
- die Fähigkeit des politischen Entscheidungssystems zu stärken zur Bewältigung<br />
langfristiger Vorsorgeprobleme, Generationengerechtigkeit gleichermaßen zu<br />
sehen als Wert und Instrument politischer Steuerung.<br />
Es darf auf alle Fälle nicht ausschließlich bei Topoi bleiben wie „Verantwortung<br />
für zukünftige Generationen“ oder „die Welt ist nur von unseren Kindern geborgt“,<br />
sondern aus dem Generationendiskurs müssen Handlungskonsequenzen<br />
erfolgen.<br />
Die Voraussetzungen, in der Pflicht zur Generationenverantwortung zu planen<br />
und zu handeln, sind heute in vielen Bereichen recht günstig. Die Belastungen<br />
durch eine ungünstige Bevölkerungsstruktur werden in den nächsten Jahren<br />
kaum wirksam. Wir haben relativ geringe Ausgaben für Kinder, auch eine relativ<br />
kleine „Altenlast“, die Einkommen und Vermögen der privaten Haushalte sind<br />
beachtlich, die Wissenspotentiale für Selbstvorsorge verbessert. Die Chancen für<br />
mehr Eigeninitiative können also als gut bezeichnet werden. In Zukunft ist eher<br />
mit einer Verschlechterung zu rechnen.<br />
Der Handlungsbedarf für Zukunftsvorsorge wird natürlich nur dann angemessen<br />
wahrgenommen, wenn mit den abgeschlossenen sozialen Reformen keine allzu<br />
hohen Erwartungen auf dauerhafte Lösungen verbunden werden: Maßnahmen,<br />
die keine langfristig tragenden Reformen darstellen, müssen als solche bezeichnet<br />
und weiterreichende Neuerungen vorbereitet werden.<br />
Es ist fraglich, ob unsere Gesellschaft in der Lage ist, die Herausforderungen zu<br />
bestehen und die notwendige Verantwortung gegenüber kommenden Generationen<br />
wahrzunehmen. Hohe Ansprüche und weitere Wachstumserwartungen an<br />
materiellen Wohlstand, soziale Sicherung, Freizeit und ausgeprägte Bequemlichkeit,<br />
Genußmentalität und teilweise sogar Egoismus sind Hindernisse dafür, daß<br />
Ansprüche der Zukunft sich gegenüber jenen der Gegenwart behaupten. Die<br />
Menschen von heute, denen es im allgemeinen recht gut geht, möchten ja das<br />
Wohlergehen künftiger Generationen nicht unbedingt zu einem zentralen Problem<br />
werden lassen, weil ansonsten unangenehme Pflichten zur Einschränkung<br />
erwachsen würden.<br />
Die Führungsgruppen in Politik und Gesellschaft sind gefordert, Generationengerechtigkeit<br />
und Langfristperspektive zu befördern, durch Beeinflussung von<br />
Bewußtsein, Anreizsysteme, günstige Rahmenbedingungen und nicht zuletzt<br />
durch die Schaffung generationengerechter Ordnungen. Dies bedeutet freilich<br />
große Risiken für den Machterhalt. Eventuell sind sogar Führungspersonen gefordert,<br />
die nicht zuvörderst auf ihre Wiederwahl abstellen, sondern ihre Ämter<br />
als zeitlich begrenzte Funktionen verstehen, damit die wichtigen Aufgaben erfüllt<br />
werden können. Falls unsere Gesellschaft erst lern- und handlungsfähig<br />
wird, wenn die Bedrohungen zu großen Gefahren geworden sind, dann haben<br />
sozialverträgliche Lösungen kaum noch Chancen, und die Fundamente unserer<br />
demokratischen und sozialen Ordnung stehen zur Disposition.<br />
434
Der Gedanke, die Legitimität von Ideen und Maßnahmen habe sich wesentlich<br />
aus ihrem Leistungsbeitrag für die Zukunft zu ergeben, hat an Einfluß verloren.<br />
Dies auch deshalb, weil der Glaube an eine bessere Zukunft weitgehend dahin ist<br />
und es eigentlich nur darum geht, den zukünftigen Generationen mit unserer<br />
Situation einigermaßen vergleichbare Bedingungen zu ermöglichen. Über weite<br />
Phasen unserer Geschichte war ein Denken wirksam, das seine Erwartungen in<br />
die Zukunft projizierte, wo die Zukunft der Raum der Erfüllung war. Diese Sinnstiftung<br />
für einen Verzicht in der Gegenwart ist heute nicht oder kaum mehr<br />
möglich, weil die Fortschrittsidee beträchtlich an Kraft verloren hat, im öffentlichen<br />
Bereich sowieso, aber auch im privaten.<br />
Vordergründige Beobachtungen könnten zur Ansicht führen, unsere Gesellschaft<br />
sei geradezu zukunftsbesessen und keineswegs von einer Verweigerungshaltung<br />
bezüglich einer Gestaltung für kommende Generationen bestimmt. Der Zukunftsbegriff<br />
ist ja in aller Munde. Fast jede zweite Partei-, Gewerkschafts- und<br />
Arbeitgeberkonferenz führt ihn im Thema. Das sagt aber noch nicht, daß man<br />
ernsthaft über die Zukunft nachdenkt, d.h. die wirklichen Probleme aufgreift, die<br />
angemessene Zeitperspektive hat, aus den abstrakten Wertbekundungen die praktischen<br />
Konsequenzen zieht, alle wesentlichen Bereiche berücksichtigt, bereit ist,<br />
für sich und seine Gruppe Risiken für die Bewältigung der Langfristaufgaben<br />
einzugehen und Lasten für große Teile der Bevölkerung zu fordern. Summa<br />
summarum wird man, am Maßstab der praktischen Konsequenzen gemessen,<br />
sagen müssen, daß Gleichgültigkeit, Verdrängung und Verharmlosung häufig die<br />
bestimmenden Einstellungen sind.<br />
Solches gilt nicht für die bei uns ja sehr verbreiteten Zukunftspessimismen, Krisenprophezeiungen<br />
und zum Teil auch Untergangsbeschwörungen. Hier ist zwar<br />
die Zukunft im Visier, aber keinesfalls findet ein rationaler Diskurs über die<br />
Probleme und insbesondere nicht über deren Bewältigung statt. Zunächst einmal<br />
fällt auf, daß neben der Umwelt viele andere lösungsbedürftigen Bereiche weitgehend<br />
ausgespart werden. Es fehlt an integrativen Perspektiven für Probleme<br />
und Problemdimensionen. Fragen der Umwelt, der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes,<br />
der Rente, der Gesundheit etc. sind zusammen und in ihren jeweiligen Interdependenzen<br />
zu sehen, und dieser Wechselbezug gilt vor allem für die Perspektive<br />
der Zukunftsgestaltung und des Verhältnisses der Generationen zueinander.<br />
Vorschläge für einen Sektor sind häufig geradezu kontraproduktiv für die Generationengerechtigkeit<br />
in anderen Feldern. Auch wird nur selten aus Wertpostulaten<br />
die Konsequenz gezogen: Wertdeklamation und Wertrealisierung fallen weit<br />
auseinander. Lasten werden vielfach nur anderen zugemutet, nicht sich selbst<br />
und der breiten Bevölkerung. Eine wachsende Staatsverschuldung zu Lasten<br />
nachkommender Generationen war in der Regel die einzige Lösungsperspektive.<br />
Übertriebene Ängstlichkeit und Katastrophenstimmungen, von den Medien zum<br />
Teil regelrecht kultiviert, führen eher zu lähmendem Pessimismus als zu optimistischem<br />
Lösungsengagement oder aber drängen zu radikalen Veränderungen<br />
gesellschaftlicher Ordnung, die keine Akzeptanz in der Bevölkerung finden, weil<br />
sie mit wichtigen gemeinsamen Werten nicht übereinstimmen.<br />
435
Alle wichtigen Dimensionen der Generationengerechtigkeit hat jüngst in einem<br />
Vortrag der Bundesverfassungsrichter a. D. Paul Kirchhof angesprochen. Seine<br />
Darlegungen können als Resümee dienen: „Gerechtigkeit heißt auch und vor<br />
allem Verantwortlichkeit für die nächste Generation. Deshalb muß der Rechtsstaat<br />
einen Generationenvertrag schaffen, der sich nicht in der sozialen Sicherung<br />
im Alter, bei Arbeitslosigkeit und Krankheit erschöpft, sondern im Umweltschutz<br />
der nächsten Generation gute Lebensverhältnisse sichert, im Abbau<br />
der Staatsverschuldung einen belastenden Vorgriff auf die Zukunft vermeidet,<br />
durch Bildung und Ausbildung die nächste Generation zur Freiheit befähigt, in<br />
technischen und wirtschaftlichen Vorkehrungen das kulturelle und technische<br />
Lebensniveau der Zukunft sichert.<br />
Voraussetzung für eine Gerechtigkeit in der Generationenfolge ist zunächst, daß<br />
eine nachfolgende Generation existiert und daß diese dank Erziehung und Bildung<br />
zur Freiheit und Demokratie fähig ist. Sodann muß diese Nachfolgegeneration<br />
lebenswerte Existenzbedingungen in ähnlicher Weise vorfinden, wie wir sie<br />
erleben dürfen. Dieses Postulat betrifft die Umwelt, meint aber auch die Wertordnung<br />
und die kulturellen Standards. Wir alle hoffen, unsere Errungenschaften<br />
des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst und Religion an unsere Kinder weitergeben<br />
zu können.<br />
Jede Generation kann nicht das Auto neu erfinden, auch nicht das Grundgesetz<br />
neu schreiben, sondern baut auf das auf, was die vorausgehenden Generationen<br />
erarbeitet, entwickelt und veredelt haben. Gegenwärtig können wir insbesondere<br />
eine weltoffene Friedensgemeinschaft und damit eine der wichtigsten Prämissen<br />
für Gerechtigkeit an die Zukunft weitergeben.<br />
Die nächste Generation darf auch nicht übermäßig durch die vorausgehende<br />
belastet und ausgebeutet werden. Deswegen ist die Staatsverschuldung strikt<br />
zurückzuführen. Wenn die Gegenwart für den aktuellen Konsum mehr Geld<br />
beansprucht als sie erwirtschaftet, so belastet dieser Vorgriff auf die Zukunft<br />
unserer Kinder, die das Darlehen mit Zins und Zinseszins zurückzahlen müssen.<br />
Das Verbot übermäßiger Belastung gilt gleichermaßen für die Alterssicherung,<br />
die wiederum eine Gleichheit der Last in der Generationenfolge zu wahren hat.<br />
Wenn nunmehr auf die jetzt ins Erwerbsleben eintretende Generation die Doppelbelastung<br />
zukommt, den alten Generationenvertrag bedienen und gleichzeitig<br />
zur Eigenvorsorge einen Kapitalstock bilden zu müssen, dann erscheint dies als<br />
eine Überforderung der nunmehr Erwerbstätigen, die nur mit schonenden Übergängen<br />
eingeleitet werden darf.<br />
Eine wichtige Säule des Generationenvertrages ist die natürliche Bindung der<br />
Kinder zu ihren Eltern, die in der Anonymität der Sozialversicherung nicht verloren<br />
gehen darf. Umgekehrt müssen die Eltern stets die Möglichkeit haben, ihr<br />
Wissen, aber auch das Familiengut an die nächste Generation in familiärer Bindung<br />
weitergeben zu dürfen.“<br />
Dr. Detlef Grieswelle ist wissenschaftlicher Berater im Bundesministerium für<br />
Arbeit und Sozialordnung.<br />
436
Hans Heinrich Nachtkamp<br />
Für ein Erziehungsentgelt<br />
Nun ist es wieder geschehen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden:<br />
Wie mit Familien in Deutschland umgegangen wird, hält einer verfassungsmäßigen<br />
Überprüfung nicht stand. Es ist nicht die erste Strophe dieses Liedes. Die<br />
jüngste bezieht sich auf Verhältnisse bei der Pflegeversicherung. Es bleibt die<br />
Frage, wann der Vers zur Alterssicherung verfaßt wird. 1 Was ist los? Gibt es ein<br />
massives Versagen des Gesetzgebers? Nach weit verbreiteter Meinung ist das<br />
wohl nicht der Fall. Der Anteil der Eltern an der deutschen Bevölkerung schwindet<br />
– schon seit geraumer Zeit. Ihre Repräsentanz in den Stellwerken der Politik<br />
dürfte aus naheliegenden Gründen eher unter ihrem Bevölkerungsanteil liegen.<br />
Und heißt nicht Demokratie: „Wer am Steuer sitzt, bestimmt die Richtung?“ 2<br />
Familien im Aufwind der Politik?<br />
Falsch wäre freilich die Behauptung, Familien hätten keine oder kaum eine politische<br />
Bedeutung in unserem Lande. Zunächst einmal haben sie ein von der Ve rfassung<br />
gewährtes Privileg (Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz). Und deutsche Politiker(innen)<br />
haben beispielsweise im Schweiße ihres Angesichts (und für gutes<br />
Einkommen) darüber gestritten, ob es geboten sei, Rechtsfolgen dieses Privilegs<br />
auf gleichgeschlechtliche Paare auszudehnen. 3 Wohlgemerkt: Paare von leiblichen<br />
Geschwistern, gleichen oder verschiedenen Geschlechts, die jeweils einen<br />
gemeinsamen Haushalt führen, standen nicht zur Debatte, ebenso wenig war von<br />
Freundschaftspaaren die Rede, schon gar nicht von Haushaltsgemeinschaften,<br />
die aus mehr als zwei Personen bestehen. Nein, die Ausdehnung des Eheprivilegs<br />
erstreckt sich ausschließlich auf gleichgeschlechtliche Liebespaare. – Hier<br />
sollte freilich nur demonstriert werden, wozu Familien in Deutschland gut sind:<br />
Sie verschaffen Politiker(inne)n und solchen, die es werden möchten, Karrieremöglichkeiten<br />
und geben ihnen Anhaltspunkte für allerlei Kalkulationen – oft<br />
abstruse.<br />
Neuerdings sieht es so aus, als würde ein weiteres Feld entdeckt, für dessen Bestellung<br />
man Familien – notabene von antiker Façon – benötigt. Manches deutet<br />
auf einen Raumgewinn der Erkenntnis hin, das Debakel mit der Altersstruktur<br />
der Bevölkerung könnte etwas mit den Nachteilen zu tun haben, die ein Elternhaus<br />
sich mit der Erziehung seiner Kinder einhandelt. Und was als Nachteil<br />
gesehen wird, besteht in den allermeisten Fällen darin, daß Kindererziehung –<br />
gute Kindererziehung zumal – Zeit beansprucht. Diese müssen die Eltern selbst<br />
aufbringen, also Erwerbszeitopfer und entsprechende Einkommenseinbußen hinnehmen,<br />
oder aber kaufen – zum Nachteil anderer Ausgaben, an denen ihnen<br />
liegt. Also – so wird messerscharf geschlossen – ist ein reichhaltiges Angebot<br />
bezahlbarer Erziehungsleistungen dringend vonnöten, die den Eltern ermöglichen,<br />
weitestgehend so zu leben, wie sie es auch ohne Kinder tun würden. Ve r-<br />
437
einbarkeit von Beruf und Familie! Das ist der Meeresstern, der Richtungsweiser<br />
schlechthin, auf den die Großkopfeten (selbstverständlich beiderlei Geschlechts)<br />
der im Bundestag agierenden Parteien sowie der politischen Schickeria rundum<br />
vertrauen. Lebhaft wird beklagt, daß der Sozialstaat in Deutschland im Hinblick<br />
auf die Lösung des Problems versagt; in anderen Ländern seien Eltern besser<br />
aufgehoben. In Deutschland „ist der Sozialstaat eine Luftnummer“, hieß es in der<br />
Heute-Sendung des ZDF am 04.04. dieses Jahres. 4 Und die beigezogene Bundes-<br />
Familien-Ministerin beklagte, daß sie ja leider wegen mangelnder Bundeskompetenz<br />
kaum mehr tun könne, als werbend durch die Lande zu reisen, um die –<br />
gemeinsam mit den Kommunen – zuständigen Länder zu einem kinderfreundlichen<br />
Politikkonzept zu bringen. 5<br />
Zwei Botschaften sind in diesen Verlautbarungen zu erkennen. Erstens: Kindererziehung<br />
in der Familie ist kein Beruf; anders ist das Bedauern über die notleidende<br />
Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht erklärbar. Schon dieses zeigt,<br />
daß den Leuten, die darüber große Reden schwingen, auch das geringste Ve rständnis<br />
für Familie und Familienarbeit abgeht. Zweitens: Familienpolitik ist<br />
offenbar Sozialpolitik, also Umverteilungspolitik 6 : Familien mit Kindern sollten<br />
mehr Almosen haben – in Form von Realtransfers (das sind zum Beispiel verbilligte<br />
Kindergartenplätze, vor allem aus öffentlichen Kassen subventionierte<br />
Ganztagsbetreuungen, außerdem Zeitkarten für den öffentlichen Personennahverkehr,<br />
öffentlich subventionierte Mitgliedschaften in Vereinen und dergleichen),<br />
natürlich sind auch Einkommenstransfers und Steuervergünstigungen<br />
gefragt.<br />
Ziel dieses Beitrages ist zu zeigen, daß den Eltern zunächst und vor allem ein<br />
angemessenes öffentliches Leistungsentgelt für die Erziehung ihrer Kinder gebührt.<br />
Und es geht darum, diesen Anspruch aus der Sicht eines Nationalökonomen<br />
zu begründen. 7 Was Eltern für die Gesellschaft leisten und was die Gesellschaft<br />
ihnen dafür schuldet, ist aus dem Dunstkreis triefender Mildtätigkeit 8<br />
herauszulösen und in den Kontext von Leistungsgerechtigkeit zu bringen.<br />
438<br />
Leistungen der Eltern im Dienste der Gesellschaft<br />
Eltern lassen ihre Kinder zu voller Menschenwürde heranreifen und geben ihnen<br />
die Hilfen, deren sie dabei bedürfen. Volle Menschenwürde bedeutet im Kontext<br />
einer freiheitlichen Gesellschaft ganz gewiß das Bewußtsein des eigenen Wertes;<br />
sie heißt indes auch, daß die Würde eines jeden Menschen zu achten ist. In der<br />
Familie lernen Kinder, nicht nur Andersartiges und Andersartige zu ertragen, zu<br />
„tolerieren“, sondern sich zu freuen an der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten.<br />
Als Christ fügt der Autor hinzu, diese Freude ist dadurch motiviert, daß das ganze<br />
Spektrum von Möglichkeiten, Mensch zu sein, einen Abglanz der Unendlichkeit<br />
liefert, über die Gott verfügt. In der Familie eignen die Kinder sich jene<br />
Verhaltensweisen an, deren der pluralistische Verfassungsstaat bei seinen Menschen<br />
bedarf, die er freilich nicht durch Verfassung und Gesetze erzwingen kann.<br />
Wenn Kinder keine Chance haben, in einer Familie aufzuwachsen und dort aufzunehmen,<br />
was an Einstellung zu einer pluralistis chen Gesellschaft und dem
pluralistischen Ve rfassungsstaat notwendig ist, so kann das Defizit anderswo<br />
allenfalls unter Einsatz erheblicher Mühen und teurer Ressourcen aufgefüllt<br />
werden.<br />
Die Leistungen, die Eltern durch die Erziehung ihrer Kinder der Gesellschaft<br />
zukommen lassen, haben unter anderem zwei hervorstechende Merkmale:<br />
Die Produzenten – also hier die Eltern – können kein Mitglied der Gesellschaft<br />
von dem Nutzen aus dem Umstand ausschließen, daß ihre Mitmenschen zu guten<br />
Staatsbürger(inne)n erzogen wurden.<br />
Die Zahl der Nutznießer ist für die Qualität oder Quantität des Vorteils, den<br />
jedes Individuum aus der guten Erziehung seiner Mitmenschen zieht, unerheblich;<br />
es gibt keine „Rivalität im Konsum“.<br />
Das ist anders bei solchen Gütern und Leistungen, die Konsumenten gewöhnlich<br />
am Markt erwerben. Man denke sich als Beispiel ein bestimmtes Nahrungsmittel<br />
oder ein Kleidungsstück. Dabei kann der Produzent sich weigern, einen Nachfrager<br />
zu bedienen; das Ausschlußprinzip gilt. Außerdem bedeutet das Auftreten<br />
eines weiteren Konsumenten die Notwendigkeit, eine höhere Produktion zu<br />
bringen und sich auf die entsprechenden Kosten einzulassen oder aber die Lieferungen<br />
an andere Konsumenten zu mindern; es herrscht also Rivalität im Konsum.<br />
Ausschlußmöglichkeit und Rivalität sind die typischen Kennzeichen der<br />
Individualgüter, bei denen die Steuerung von Produktion und Verteilung optimal<br />
über ein System vollkommener Märkte erfolgt. Fehlen diese Eigenschaften, so<br />
hat man es mit Gütern oder Leistungen zu tun, die von Ökonomen Kollektivgüter<br />
genannt werden. 9 Hier kann der Marktmechanismus im Hinblick auf eine optimale<br />
Bedürfnisbefriedigung nicht funktionieren. Der Grund ist: Die Mitglieder<br />
der Gesellschaft können die Leistung unabhängig von ihrer Zahlungsbereitschaft<br />
konsumieren. Die Produzenten können nämlich keinem Menschen die Belieferung<br />
verweigern. Die Folge ist, daß auch niemand bereit ist, für Nutzen aus Kollektivgütern<br />
(hier: aus dem allgemeinen Wohlverhalten der Menschen) individuell<br />
zu zahlen. Jeder Mensch kann die „Trittbrettfahrerposition“ einnehmen, sich<br />
also vor der Teilhabe an der Finanzierungslast drücken und gleichwohl volle<br />
Teilhabe am Konsum genießen. Daß dabei die betreffende Kollektivgutproduktion<br />
leidet, geht in die individuellen Wirtschaftskalküle nicht ein. Der Staat ist<br />
gefordert, wenn es ein gesellschaftliches Interesse daran gibt, Kollektivgüter auf<br />
einem gesellschaftlich erwünschten Mengen- und Qualitätsniveau herzustellen.<br />
Das gilt auch im Hinblick auf elterliche Erziehungsarbeit.<br />
Der deutsche Verfassungsgeber hat dieses Interesse auch artikuliert. Artikel 6<br />
Absatz (3) GG sagt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht<br />
der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung<br />
wacht die staatliche Gemeinschaft.“ (Hervorhebung vom Verf.). Daß der Kollektivgutcharakter<br />
der Erziehung bei der Entwicklung und späteren Umsetzung des<br />
Grundgesetzes keine Rolle spielte, ist dem Umstand zuzuschreiben, daß man –<br />
auch der Ökonom – noch nicht in der Lage war, über Kollektivgüter und ihre<br />
Integration in ein System der durchdachten Ressourcenallokation klare Aussagen<br />
zu formulieren. Bis zum Ende der vierziger Jahre und danach standen andere<br />
439
Fragen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses derer, die über die<br />
Funktionen öffentlicher Haushalte nachdachten. Musgraves berühmtes Lehrbuch,<br />
das den Kollektivgütern breiten Raum gab, erschien erstmals 1959, die<br />
erste Auflage einer deutschen Ausgabe 1964. 10 Was die Väter unserer Verfassung<br />
im Grunde wohl gesehen haben, ist offenbar noch ökonomisch aufzuarbeiten<br />
– in einer solchen Weise, daß es einer breiteren Öffentlichkeit verständlich<br />
gemacht werden kann. Mindestens genau so wichtig ist, aus den Erkenntnissen<br />
politische Folgerungen zu ziehen.<br />
Im übrigen gibt es in Deutschland zwei Bevölkerungsgruppen, denen die Verfassung<br />
spezifische Aufgaben zuweist. Das sind die Wehrpflichtigen und die Eltern.<br />
Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, daß eine gruppenspezifische Beschwerung<br />
mit einer gesellschaftlichen Aufgabe ohne Entschädigung vor dem Gleichheitsgrundsatz<br />
des Artikels 3 GG standhält Die Wehrpflichtigen und die Zivildienstleistenden<br />
erhalten ein Leistungsentgelt. Die Eltern erhalten Almosen. Leistungsgerechtigkeit<br />
verlangt indes, daß auch den Eltern ihre im öffentlichen<br />
Interesse erbrachten Leistungen angemessen entgolten werden.<br />
440<br />
Humankapital im Dienste der Zukunftsvorsorge<br />
Heute drängt sich zunehmend ein weiteres Argumentationsfeld auf. Auch jene<br />
Sachzwänge, die auf ihm zu behandeln sind, haben nicht immer bestanden. Hier<br />
liegt Begründung eines Erziehungsentgelts im Kontext der Vorsorge, die jeder<br />
mündige Mensch für die Zeit treibt oder doch treiben sollte, in der er nicht<br />
(mehr) produktiv wirken, nicht (mehr) erwerbstätig sein kann.<br />
Die Vorsorge besteht darin, daß die Menschen in ihrer Erwerbsphase jene produktiven<br />
Kräfte aufbauen und bereitstellen, mit denen zukünftig – in ihrer Altersphase<br />
– Güter und Leistungen, auch und gerade zu Konsumzwecken, produziert<br />
werden können. Und eine ökonomisch sinnvolle Vorsorge enthält außerdem<br />
die Maßgabe, daß dem Senior dann der auch Zugriff auf die produktiven Ressourcen<br />
zusteht, die er früher aufgebaut hat.<br />
Diese produktiven Kräfte sind – in grober Einteilung – sächliche Produktionsmittel<br />
(Kapital), unsere Erde (also Boden) und Arbeitskraft (Menschen). Boden<br />
kann man nicht bereitstellen. Man kann mehr oder weniger verantwortungsvoll<br />
mit ihm umgehen. Das breite und tiefe Thema, das sich daran anschließt, ist<br />
nicht Gegenstand der hier dargestellten Überlegungen. Kapital entsteht durch<br />
Investieren. Die bislang in Deutschland durchgeführten Nettoinvestitionen akkumulieren<br />
sich zu dem bei uns vorhandenen Sachkapital. Investitionen werden<br />
alimentiert durch Konsumverzichte, durch Sparen: Es gilt stets – in jedem Wirtschaftssystem<br />
– die Gleichheit von Ersparnis und Investition. Wer zur Akkumulation<br />
von Sachkapital beiträgt, erwirbt in entsprechendem Umfange Eigentumsrechte<br />
an Vermögen. Solche Eigentumsrechte können sich unmittelbar auf Sachen<br />
– etwa Gebäude oder Maschinen – beziehen und dann entsprechende Gewinnbeteiligungsrechte<br />
implizieren. Sie können indes auch für Geld- oder Forderungsvermögen<br />
gelten; sie begründen dann Ansprüche gegenüber den Besitzern/Eigentümern<br />
des damit finanzierten Sachkapitals. Jeder Erwerb von Sach-
oder Forderungsvermögen begründet den Anspruch auf die Früchte dieses Ve rmögens.<br />
Solche Ansprüche können notfalls mit rechtlichen Mitteln durchgesetzt<br />
werden.<br />
Arbeitskräfte entstehen dadurch, daß Kinder zur Welt kommen, aufwachsen und<br />
in sich geeignetes Humankapital akkumulieren. Sie tun dies in der Obhut ihrer<br />
Eltern, die dafür Aufwendungen tragen müssen, soweit nicht andere dafür aufkommen.<br />
Rechtsansprüche der Eltern auf Beteiligung an den Erträgen, die später<br />
aus dem durch ihre Erziehung in ihren Kindern bewirkten Humankapital gezogen<br />
werden 11 , gibt es nicht. Rechtlich durchsetzbare Ansprüche dieser Art haben<br />
Eltern auch nie gehabt.<br />
Doch war früher im allgemeinen ein Vertrauen auf eine bestimmte Art von Familienmoral<br />
gerechtfertigt, kraft derer die herangewachsenen Kinder ihre alt gewordenen<br />
Eltern versorgen. Es gab sogar Zeiten, in denen auch in Europa die<br />
Kinder eine wichtige, vielfach die einzige Quelle der Altersversorgung waren.<br />
Die individuelle Vorsorge mit ihnen gestaltete sich allerdings als höchst risikoreiches<br />
Unterfangen. Wem Kinder versagt blieben oder wer sie frühzeitig durch<br />
Tod verlor, verfiel im Alter der Armut, wenn nicht Eigentum an Kapitalgütern<br />
für hinreichenden Einkommenszufluß sorgte.<br />
Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung, nicht nur in Europa, konnten die<br />
Senioren sich von ihren Kindern emanzipieren. Wohl hat die Industrialisierung<br />
zum Zerfall der familialen Bindungen in erheblichem Maße beigetragen. Sie war<br />
indes auch von enormem Vermögenswachstum und entsprechender Steigerung<br />
der Vermögenserträge begleitet. Das Bewußtsein schwand, für den Lebensunterhalt<br />
der alt gewordenen Eltern verantwortlich zu sein; gleichzeitig nahm – im<br />
ganzen gesehen – das Sachvermögen der Senioren zu. Die gesetzliche Rentenversicherung<br />
– in Deutschland durch Bismarck eingeführt – sorgte dafür, daß der<br />
Prozeß der Umschichtung, von der Altersversorgung durch Kinder hin zur Altersversorgung<br />
auf der Basis von Sachvermögen, auch die einkommensschwächeren<br />
Menschen einbezog. War der Lebensunterhalt im Alter immer weniger<br />
gut bei den eigenen Kindern aufgehoben, so gelang seine Fundierung – schon<br />
wegen der rechtlichen Absicherung mit geringeren Risiken behaftet – immer<br />
besser durch Vermögensbildung während der Erwerbsphase.<br />
War der Produktionsfaktor „menschliche Arbeit“ für den Lebensunterhalt im<br />
Alter schließlich bedeutungslos geworden? Das zu behaupten, wäre falsch. Nach<br />
wie vor bedarf die Produktion von Nahrung, Kleidung, Behausung, von Kultur-<br />
und Luxusgütern, die Senioren konsumieren möchten, des Einsatzes von Arbeit.<br />
Diese gibt es nur in dem Maße, wie Humankapital gebildet worden ist. Das geschieht<br />
immer noch auf die alte Weise – unter Konsumverzichten der Eltern.<br />
Deren Ansprüche indes, die zwar nicht einklagbar, doch vorhanden waren, sind<br />
als individuelle Rechte weitgehend untergegangen. Man kann sagen, sie sind<br />
unversehens kollektiviert worden. Das hat durchaus Vorteile. Mit der Kollektivierung<br />
der Ansprüche ging nämlich auf natürliche Weise die Kollektivierung<br />
einiger Risiken einher. Wer keine Kinder bekommen kann, wessen Kinder früh<br />
sterben, der ist im Alter nicht unversorgt; die Gemeinschaft läßt ihn nicht fallen.<br />
So mag man, wenn man unbedingt will, die Kollektivierung der Versorgungsan-<br />
441
sprüche gegen die Kinder als einen Akt der Solidarität deuten. In Wahrheit ist sie<br />
– mindestes auch – ein Akt ökonomischer Klugheit, sogar in dem ach so<br />
schrecklichen neoklassischen Sinne. 12<br />
Allerdings gilt dieses nur, solange es zum Lebensplan praktisch jedes Menschen<br />
gehört, eigene Kinder zu haben. Sobald Menschen bewußt und willentlich das<br />
Risiko herbeiführen, dessen nachteilige Folgen quasi kollektiviert sind, bricht<br />
das System zusammen. 13 Wie kann der Zusammenbruch vermieden werden? –<br />
Der eine Weg besteht darin, die Ansprüche auf die Früchte der Nachkommenschaft<br />
zu entkollektivieren und sie nur den Eltern zu geben. Das würde die „natürlichen“<br />
Anreize, Kinder zu haben, insoweit nicht behindern oder verkümmern<br />
lassen. Doch entstünde dabei wiederum das Problem, daß diejenigen, die ungewollt<br />
kinderlos bleiben, verlassen sind. Zu berücksichtigen ist auch, daß unter<br />
den Bedingungen einer in hohem Grade arbeitsteiligen Volkswirtschaft deren<br />
Arbeitspotential auch Kollektivgutzüge trägt. Der Leiter einer geschlossenen<br />
Hauswirtschaft im Altertum mußte bei der Erziehung der Nachkommenschaft<br />
nicht berücksichtigen, welche Fähigkeiten bei den Menschen des Umfeldes angesiedelt<br />
waren. Auch für die Erziehung, die der mittelalterliche Handwerksmeister<br />
seinem Sohn und Nachfolger angedeihen ließ, war unerheblich, was<br />
andere konnten oder nicht. Heute sind wir angewiesen auf eine gesamtgesellschaftlich<br />
abgestimmte Bildung. Das Wissen, das andere Menschen beherrschen,<br />
ist maßgeblich für elterliche Empfehlungen, was die Kinder sinnvollerweise<br />
lernen sollten.<br />
Die Re-Individualisierung der durch die eigene Nachkommenschaft bewirkten<br />
Altersversorgung würde also nicht nur die Verteilung der individuellen Reproduktionsmöglichkeiten<br />
in unzuträglicher Weise vernachlässigen. Sie würde auch<br />
dem Kollektivgutcharakter modernen Humankapitals nicht Rechnung tragen. So<br />
braucht man eine andere Maßnahme, die verhindert, daß die Trittbrettfahrerposition<br />
bei der Heranbildung des Produktionsfaktors Arbeit ohne nachteilige wirtschaftliche<br />
Folgen eingenommen werden kann. Diese Maßnahme ist ein Erziehungsentgelt,<br />
mit dem die Gesellschaft den Dienst kompensiert, den Erziehende<br />
ihr leisten. Alle, die sich an dem Aufbau des künftigen Arbeitspotentials nicht<br />
beteiligen mögen oder können, bekommen nichts; dafür haben sie mehr Zeit und<br />
mehr andere Ressourcen, die sie zur Sicherung ihrer Altersversorgung einsetzen<br />
können. Wer alternativ Zeit und andere Ressourcen in den Dienst der Zukunftsvorsorge<br />
durch Heranbildung von Arbeitspotential stellt, erhält ein einkommensmäßiges<br />
Äquivalent von der Gesellschaft, das nach eigener Präferenz verwendet<br />
werden kann.<br />
442<br />
Folgen des Erziehungsentgelts<br />
Ein solches Erziehungsentgelt wäre Einkommen – mit allen Folgerungen, die<br />
sich daraus ergeben.<br />
Es wäre der Einkommensbesteuerung zu unterwerfen. Die soziale Komponente<br />
eines auf Kinder bezogenen Familienlastenausgleichs, die von vielen – freilich
an falscher Stelle – gefordert wird, würde sich bei offen progressivem Steuertarif<br />
auf natürliche Weise entfalten.<br />
Ein Erziehungsentgelt würde allerdings nicht die Kinderfreibeträge der Einkommensteuer<br />
ersetzen. Diesen ist aufgegeben, das Existenzminimum der Kinder<br />
steuerlich zu schonen. Jenes ist ein Leistungsentgelt. Beide haben unterschiedliche<br />
Funktionen. 14<br />
Anders als mit den Kinderfreibeträgen ist es mit einem Freibetrag, der die Kosten<br />
der Kinderbetreuung abdecken soll. Er wäre unter dem Regime eines Erziehungsentgelts<br />
überflüssig. Letzteres soll den Eltern ja gerade ermöglichen zu<br />
entscheiden, ob sie Betreuungsleistungen am Markt einkaufen oder selbst erbringen<br />
wollen. Eltern bekämen mehr Freiheit, und die Allokation von Erziehungsleis<br />
tungen würde insgesamt effizienter. Auch darum geht es: Das Erziehungsentgelt<br />
würde die Eltern in die Lage versetzen, jene Nachfrage nach Betreuung ihrer<br />
Kinder von der besonderen Art zu entfalten, die ihren Vorstellungen am besten<br />
entspricht, oder alternativ die Erziehung ihrer Kinder vollständig in der eigenen<br />
Hand und das Erziehungsentgelt in der eigenen Tasche zu behalten. In Wahrheit<br />
würden sie einen Markt aufspannen, durch den die Produktion und Verteilung<br />
von Betreuungsleistungen viel besser gesteuert würde, als ein noch so ausgefeiltes<br />
System von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungseinrichtungen es könnte.<br />
Das Angebot würde differenzierter, als wir es uns heute ausmalen können,<br />
und besser auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten.<br />
Das Erziehungsentgelt würde freilich die Bemessungsgrundlage der gesetzlichen<br />
Versicherungen unberührt lassen; es gehörte nicht zu den Einkünften aus unselbständiger<br />
Tätigkeit. 15<br />
Weil das Erziehungsentgelt ein Leistungsentgelt ist, verträgt sich mit seiner<br />
Konzeption keine Einkommensgrenze.<br />
In die Berechnungsgrundlagen für kinderzahlbezogene Einkommenstransferzahlungen<br />
würde hingegen das Erziehungsentgelt eingehen müssen. Bei der Wohngeldberechnung<br />
beispielsweise wäre es dem Haushaltseinkommen zuzurechnen.<br />
Entsprechend müßte bei der Sozialhilfe verfahren werden.<br />
Allerdings müßten mit der Einführung des Erziehungsentgelts alle kinder- und<br />
erziehungsbedingten öffentlichen Leistungen realer wie monetärer Art, die nicht<br />
durch die Taschen der Eltern laufen, sondern Objektförderung darstellen, einer<br />
strengen Prüfung unterzogen werden, inwieweit sie zu rechtfertigen sind. Weder<br />
soll ihrer allgemeinen Abschaffung a limine das Wort geredet werden, noch kann<br />
man sie allesamt beibehalten.<br />
Die familienbezogene Subventionierung des öffentlichen Nahverkehrs, von<br />
Sportstätten, Museen und außerschulischen Bildungseinrichtungen müßte wohl<br />
fallen.<br />
Auch die Subventionierung von Kindergärten und Kindertagesstätten gehört zu<br />
den Todeskandidaten, wenn nicht der Nachweis gelingt, daß die Erziehung im<br />
Kindergarten im Interesse der Gesellschaft liegt. Es reicht nicht zu zeigen, daß es<br />
für Kinder in dieser oder jener Situation doch ganz nützlich sei, auch oder ausschließlich<br />
Kindergartenerziehung zu erfahren. Was öffentliche Zuschüsse zu<br />
443
den Kosten der Kindergärten auch nach Einführung eines Erziehungsentgelts<br />
rechtfertigen würde, wäre die Erkenntnis, daß es allen Menschen in unserem<br />
Lande nützen würde, wenn möglichst viele Kinder auch Kindergartenerziehung<br />
erleben könnten. Ein staatlich abgesicherter Rechtsanspruch auf einen<br />
Kindergartenplatz wäre allerdings überflüssig.<br />
Das Erziehungsentgelt ersetzt freilich kinder- und erziehungsbedingte öffentliche<br />
Sicherungsleistungen zugunsten der Eltern. Dazu gehören vor allem Anrechnungen<br />
der Erziehungszeiten in der GRV. Einmal ganz abgesehen von dem fragwürdigen<br />
Dauerwert der Münze, in der damit bezahlt wird; die Finanzierungslast<br />
wird nicht der Allgemeinheit, sondern nur einem Teil, nämlich dem – grosso<br />
modo – einkommensschwächeren Teil der Bevölkerung aufgebürdet. Im übrigen<br />
soll ein Erziehungsentgelt die Erziehenden auch dazu befähigen, für eine zusätzliche<br />
Altersversorgung Zahlungen zu leisten. Doch bliebe auch dies in ihrer<br />
eigenen Verantwortung.<br />
444<br />
Andeutungen zu den fiskalischen Kosten<br />
Die leidige Frage nach den fiskalischen Kosten eines Erziehungsgeldes steht<br />
auch hier im Raum. Doch muß der Hinweis genügen: Andernorts ist darüber<br />
gesprochen und geschrieben worden. 16 Schließlich stelle man sich vor, in<br />
Deutschland würden sämtliche Kapitalerträge sozialisiert und dann – etwa über<br />
Steuersenkungen – an alle Bürgerinnen und Bürger verteilt. Müßte ich bei meiner<br />
Forderung, schleunigst zum uns vertrauten System zurückzukehren, erst die<br />
fiskalischen Kosten spezifizieren?<br />
Dennoch sollen einige Überlegungen zu den fiskalischen Folgen des intendierten<br />
Erziehungsgeldes nicht verheimlicht werden.<br />
Wissen müßte man zunächst, wie hoch das Erziehungsgeld zu bemessen und wie<br />
lange es zu zahlen wäre. Nach den Vorstellungen des Verfassers sollte das Erziehungsgeld<br />
für drei Kinder sich auf ungefähr ein durchschnittliches Facharbeitereinkommen<br />
belaufen. Das Erziehungsgeld sollte auslaufen, wenn die Schulpflicht<br />
endet.<br />
Auf Anhieb werden die Kosten des Erziehungsgeldes ganz sicher überschätzt.<br />
Man darf nicht vergessen, daß eine Reihe von Wirkungen entstünden, die aus<br />
fiskalischer Sicht positiv sind. Das Aufkommen der Einkommensteuer würde<br />
direkt steigen; dazu kämen die indirekten Wirkungen bei der Einkommen-<br />
/Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer durch zusätzliche Käufe der Begünstigten.<br />
Transferzahlungen würden abnehmen. Dazu gehören die direkten Wirkungen<br />
auf Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslosenhilfe; auch einschlägige indirekte<br />
Wirkungen wären zu berücksichtigen. Befragungen haben nämlich gezeigt,<br />
daß ein „handfestes“ Erziehungsentgelt durchaus auf die Bereitschaft stößt, Arbeitsplätze<br />
(Halbtagsstellen) aufzugeben und also für bislang Arbeitslose zu<br />
räumen.<br />
Es soll indes nichts schöngeredet werden. Das Erziehungsentgelt kostet. Wer<br />
sich darauf nicht einlassen will, riskiert den Tod der deutschen Gesellschaft.
Was von der Gesellschaft zugunsten der Familien zu fordern ist, ist hier unter<br />
einem einzigen, dem Aspekt der Ökonomen behandelt worden. Freilich gibt es<br />
weitere Sichtweisen, die bei diesem schwierigen Thema zu berücksichtigen sind.<br />
Doch die Betonung des allokationspolitischen Kalküls wird damit motiviert, daß<br />
es sonst kaum zum Zuge kommt.<br />
Manche mögen es nicht, so über Familie und Kinder zu sprechen. 17 Das mag<br />
damit zusammenhängen, daß im deutschen Sprachraum mit dem Begriff „Wirtschaften“<br />
allerlei Vorstellungen über Verabscheuungswürdiges verbunden werden,<br />
die bestenfalls frei von Kriminalität, auf jeden Fall moralisch minor sind.<br />
Wirtschaft ist im Deutschen eine Sammelbezeichnung. Am wenigsten wird damit<br />
das begriffen, was der Ökonom meint, nämlich die Suche nach einer guten<br />
Antwort auf die Frage, wie die knappen Ressourcen einzusetzen seien, damit die<br />
Menschen insgesamt möglichst glücklich werden können – glücklich nicht nach<br />
der Auffassung von Besserwissern dieser oder jener Couleur, sondern nach ihrem<br />
eigenen Dafürhalten. Das ist der Ansatz, der die Überlegungen in diesem<br />
Beitrag geleitet hat.<br />
Anmerkungen<br />
1) Das BVG-Urteil erzeugt Erwartungen. Man vgl. auch Jahn, Joachim (2001): Eltern und<br />
Kinderlose, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 80 vom 04.04.2001, Seite 1.<br />
2) Ähnlich ders., ähnlich wiederum Zastrow, Volker (2001): Dynamisierte Sozialstaatsverfassung,<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung, a. a. O.<br />
3) Sie haben den Vorgang anders genannt, nämlich Abschaffung einer Diskriminierung,<br />
der die gleichgeschlechtlichen Paare gegenüber Eheleuten ausgesetzt seien. Dabei sollte<br />
klar sein: Wenn innerhalb einer Gruppe von Menschen die A-Menschen ein allgemeines<br />
Privileg erhalten, so ist das gleichbedeutend mit Diskriminierung der Nicht-A-Menschen.<br />
Abschaffung dieser Diskriminierung für einen Teil der Nicht-A-Menschen ist identisch<br />
mit Ausdehnung des Privilegs auf dieselben. Übrigens: Umfaßt dieser Teil der „Neuprivilegierten“<br />
die Gesamtheit der Nicht-A-Menschen, sind am Ende alle privilegiert - in<br />
Wahrheit niemand mehr; es werden dann ja alle gleich behandelt. Zu behaupten, das alles<br />
sei ganz anders, nannte man, als Wahrhaftigkeit noch eine Tugend war, schlicht Demagogie.<br />
4) Der die Bundesregierung beratende Kollege Oberndörfer verlangt, daß ganztägig Betreuungsleistungen<br />
zur Verfügung gestellt werden – auf Kosten der öffentlichen Hand.<br />
5) Der Ökonom kann sich nicht die Bemerkung verkneifen: Und dafür benötigen wir ein<br />
ganzes Bundesfamilienministerium – mit allem was dazu gehört, auch den Kosten.<br />
6) Daß denen, die diese Forderungen mit dem Hinweis auf den bevölkerungsstrukturbedingt<br />
notleidend werdenden Arbeitskräftebedarf untermauern, ein volkswirtschaftlicher<br />
Grundtatbestand noch nicht ins Blickfeld geraten ist, sei nur am Rande erwähnt: Wenn<br />
nämlich Eltern für ihre Kinder Betreuungsleistungen am Markt einkaufen können, gibt es<br />
Leute, die ein entsprechendes Angebot bereit halten; die stehen dann für „sinnvollere“<br />
Tätigkeiten in den Unternehmen nicht zur Verfügung.<br />
7) Zum Glück gibt es parallel ähnliche Forderungen. Man vgl. Geisler, Hans (1998):<br />
Diskussionspapier zum Modell eines Erziehungsgehaltes. Dr. Hans Geisler, Sächsischer<br />
Staatsminister für Soziales, Gesundheit und Familie, Albertstraße 10, 01097 Dresden.<br />
Hatzhold, Otfried und Christian Leipert (1996): Erziehungsgehalt. Wirtschaftliche und<br />
soziale Wirkungen bezahlter Erziehungsarbeit der Eltern. Gutachten, erstellt im Auftrag<br />
445
des Deutschen Arbeitskreises für Familienhilfe e.V., Freiburg/Br.; Leipert, Christian und<br />
Michael Opielka (1998): Erziehungsgehalt 2000. Ein Weg zur Aufwertung der Erziehungsarbeit.<br />
Deutscher Arbeitskreis für Familienhilfe e.V., Freiburg/Br. Leipert, Christian<br />
(Hrsg.) (1999): Aufwertung der Erziehungsarbeit. Europäische Perspektiven einer Strukturreform<br />
der Familien- und Gesellschaftspolitik. Opladen: ISBN 3-8100-2341-8. Ders.<br />
(2000): Familie als Beruf, in: Die politische Meinung Nr. 367, Juni 2000, S. 83-88.<br />
Milbradt, Georg (1999): Ökonomische Überlegungen für einen zukunftsorientierten Finanzausgleich.<br />
Rede von Staatsminister Prof. Dr. Georg Milbradt auf dem Bundeskongreß<br />
„Familienpolitik 2000“ der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU und CSU<br />
Deutschlands am 16. April 1999 in Dresden. Nicht vergessen werden dürfen die Beiträge<br />
des Heidelberger Büro für Familienfragen und Soziale Sicherheit e.V., Träger: Deutscher<br />
Arbeitskreis für Familienhilfe e.V., Freiburg/Br., insbesondere seines engagierten Pressesprechers<br />
Kostas Petropulos. Man vgl. aber auch die einschlägigen Schriften des Sozialrichters<br />
Jürgen Borchers sowie des Bundesverfassungsrichters a. D. Paul Kirchhof, z. B.<br />
in der Wochenschrift ZEIT Nr. 03/2001.<br />
8) Mildtätigkeit allgemein zu diffamieren, darum kann es überhaupt nicht gehen. Staatliche<br />
und kommunale Mildtätigkeit ist notwendig (Not wendend), weil die private, individuelle<br />
Barmherzigkeit bei weitem nicht ausreicht oder sonstwie versagt, obwohl sie besser<br />
wäre (durch Gesetze fließt kein Herzblut). Doch öffentliche Mildtätigkeit trieft, und nicht<br />
zu selten stinkt sie auch – dann nämlich, wenn mit ihr andere als die vorgegebenen Ziele<br />
verfolgt werden, zum Beispiel die eigene Karriere der professionell Mildtätigen.<br />
9) Andere Kollektivgüter sind zum Beispiel die Straßenbeleuchtung und der Schutz der<br />
Küstengebiete vor Hochwasser.<br />
10) Musgrave, Richard. A. (1966): Finanztheorie, übersetzt von Lore Kullmer unter Mitarbeit<br />
von Hans Fecher. J.C.B. Mohr, Tübingen.<br />
11) Arbeitseinkommen gehört dazu, indes auch jedes Einkommen anderer Art, das aus<br />
transitiver Tätigkeit, also unter Einsatz von Humankapital, entsteht.<br />
12) Das ist holzschnittartig gezeigt worden in Nachtkamp, Hans Heinrich (2000): Plädoyer<br />
für eine staatliches Erziehungsentgelt, in: ifo Schnelldienst, März 2000.<br />
13) Handgreiflich ad oculos demonstriert dies das System der gesetzlichen Rentenversicherung;<br />
das Problem ist freilich umfassender.<br />
14) Wer beklagt, daß Kinderfreibeträge zu um so höheren Steuerersparnissen führen, je<br />
höher das Einkommen ist, hat das System der deutschen Einkommensteuer nicht verstanden.<br />
Im übrigen ist erstaunlich, daß im Hinblick auf die Wirkung des Grundfreibetrags<br />
nicht dieselbe Argumentation geführt wird, wirken diese doch nicht anders und haben sie<br />
in der Besteuerung doch dieselbe Funktion. Erklären könnte man sich die Diskrepanz,<br />
wenn die Argumentation vorwiegend von Kinderlosen mit vergleichsweise hohem Einkommen<br />
geführt würde.<br />
15) Deswegen plädiere ich auch dafür, von Erziehungsentgelt zu sprechen, nicht von<br />
Erziehungsgehalt. Mit diesem Wort werden zu leicht Vorstellungen verbunden, die zu<br />
Einkünften aus unselbständiger Tätigkeit gehören.<br />
16) So gibt es Veröffentlichungen des ifo Instituts. Man vgl. zusätzlich Hatzold, Otfried,<br />
und Christian Leipert (1996), a. a. O., sowie Leipert, Christian, und Michael Opielka<br />
(1998), a. a. O.; außerdem gibt es ausländische Erfahrungen.<br />
17) so Blüm, Norbert (2001): In einer Kosten-Nutzen-Analyse haben es Kinder schwer,<br />
FAZ Nr. 85 vom 10.04.2001, S. 3.<br />
Prof. Dr. Hans Heinrich Nachtkamp lehrt Volkswirtschaftslehre, insbesondere<br />
Finanzwissenschaft an der Universität Mannheim.<br />
446
Cornelius G. Fetsch<br />
Vermögensbeteiligung<br />
Grundlage moderner Wirtschafts- und Sozialpolitik<br />
I. Die Ausgangssituation: 3-Säulen-Plattform in Schieflage<br />
Die Vermögensbildung ist in Deutschland traditionell von 3 Säulen getragen: Der<br />
Anspruch an die gesetzliche Rentenversicherung für das Alter ist die 1. Säule. Eine<br />
lange Geschichte hat als 2. Säule die betriebliche Altersvorsorge. Sie beruht auf<br />
freiwilliger Vereinbarung zwischen den Betrieben und den Mitarbeitern. Die 3.<br />
Säule ist die private Vermögensbildung. Durch politische Unwetter wurden diese<br />
Säulen in den letzten Jahrzehnten z. T. stark angegriffen und unterschiedlich entwickelt,<br />
so daß von einer aktuellen Schieflage gesprochen werden muß.<br />
Vermögensbildung ist kein isolierter Vorgang in der Gesellschaft. Sie ist Teil der<br />
jeweiligen Steuer-, Sozial- und Gesellschaftspolitik. Mit dem Wandel, den die<br />
Globalisierung auslöste, erhöht sich die Bedeutung der Vermögensbildung. Die<br />
von den Kirchen und der Politik eingeforderte Beteiligungsgerechtigkeit für alle<br />
Bürger führt zu neuen Formen der Vermögensbeteiligung. Materielle und immaterielle<br />
Vermögensbeteiligung in Bildung werden zunehmend in ihrer Bedeutung<br />
anerkannt sowohl für die Abdeckung der Risiken des beruflichen Lebens wie auch<br />
der Altersvorsorge. Vielfach unbekannt ist der aktuelle Stand der Vermögensbildung<br />
in Deutschland; sie ist gekennzeichnet durch drei bedeutende Trends: die<br />
nachlassende Sparneigung, das steigende Renditebewußtsein und die zunehmende<br />
Risikobereitschaft der Bürger.<br />
1. Das Sparen der privaten Haushalte ist seit 1992 von DM 265 Mrd. p. a. auf DM<br />
241 Mrd. im Jahre 1999 gesunken. Im gleichen Zeitraum ging die Sparquote, d.h.<br />
der Anteil der Ersparnisse am verfügbaren Einkommen, von 12,9% auf 9,7% zurück.<br />
Das war knapp jede zehnte Mark des verfügbaren Einkommens der Privathaushalte.<br />
Die laufenden Ersparnisse, zu denen die Leistungen im Rahmen der<br />
staatlichen Sparförderung noch hinzukommen, sind mit einem Anteil von rund<br />
zwei Dritteln die Hauptfinanzierungsquelle der privaten Vermögensbildung. Das<br />
restliche Drittel - für 1999 waren dies schätzungsweise DM 144 Mrd. - wird durch<br />
Kreditaufnahmen zur Finanzierung von Wohneigentum, gewerblicher Aktivitäten<br />
und sonstiger Zwecke gedeckt. Insgesamt haben die Privathaushalte der Geldvermögensbildung<br />
1999 DM 277 Mrd. zugeführt.<br />
2. Die Deutschen sind seit Mitte der 90er Jahre wesentlich renditebewußter geworden.<br />
Spareinlagen, Sparbriefe und Termineinlagen entwickeln sich tendenziell<br />
rückläufig. Wurden in den 5 Jahren von 1992 bis 1996 noch durchschnittlich DM<br />
101 Mrd. p. a. bei Banken und Bausparkassen angelegt, so waren es 1999 nicht<br />
einmal mehr DM 20 Mrd. Hingegen nahm die Anlage in Wertpapieren im vergangenen<br />
Jahrzehnt kräftig zu. Anlagefavoriten waren zunächst Rentenwerte 1994/95,<br />
447
später vor allem Investmentzertifikate und seit 1999 auch Aktien. Kräftig zulegt<br />
hat zudem das Versicherungssparen von DM 72,6 Mrd. in 1992 auf DM 128 Mrd.<br />
in 1999. Dies dürfte zum einen das gestiegene Bewußtsein der Notwendigkeit, die<br />
private Altersvorsorge zu verstärken, reflektieren, zum anderen aus steuerlichen<br />
Vorteilen dieser Sparform (u. a. steuerfreie Erträge) resultieren.<br />
3. Die Deutschen sind risikobereiter bei der Auswahl ihrer Geldanlagen geworden,<br />
Seit dem Börsengang der Telekom im November 1996 erfreuen sich Aktien wachsender<br />
Beliebtheit. Die Zahl der Aktionäre, die von 1992 bis 1996 auf 3,75 Mio.<br />
leicht rückläufig war, ist seither auf 6,23 Mio. im 1. Halbjahr 2000 kräftig gestiegen.<br />
Bezieht man Aktienfonds in die Betrachtung mit ein, so ergibt sich sogar eine<br />
Zahl von 11,32 Mio. Besitzern von Aktien und Aktienfondsanteilen; das sind mehr<br />
als doppelt so viele wie 1997 (5,6 Mio.). Zu diesem positiven Trend haben zuletzt<br />
auch die zeitweise starken Kurssteigerungen am Neuen Markt („TMT-Fieber“ =<br />
Telekommunikation, Medien, Technologie) erheblich beigetragen. Von den rund<br />
6,2 Mio. Aktionären in Deutschland besaßen im Durchschnitt des ersten Halbjahres<br />
2000 1,17 Mio. ausschließlich Belegschaftsaktien und 535.000 sowohl Belegschaftsaktien<br />
als auch andere Aktien. 4,5 Mio. Anleger besaßen ausschließlich<br />
andere Aktien.<br />
Das unterschiedlich reale Wachstum der einzelnen Anlegergruppen seit 1992 spiegelt<br />
das in den letzten Jahren deutlich gestiegene Interesse der deutschen Privatanleger<br />
an der Anlageform Aktie wider. Die Zahl der reinen Belegschaftsaktionäre<br />
sank von 1992 bis 2000 um über 11,3%, die Zahl der Aktionäre mit anderen Aktien<br />
hingegen stieg um 85,9%. Die Zahl der Belegschaftsaktionäre, die gleichzeitig<br />
auch andere Aktien besaßen, stieg mit 133,6% am stärksten - ein deutlicher Beleg<br />
dafür, daß die Förderung der Mitarbeiterbeteiligung langfristig zur Entwicklung<br />
der Aktienakzeptanz bei den Arbeitnehmern beiträgt und deshalb wieder stärker als<br />
Instrument der Vermögenspolitik genutzt werden sollte.<br />
In den alten Bundesländern nahm die Aktionärszahl von 1992 bis 2000 um 45,5%<br />
zu, in den neuen Bundesländern von einer viel geringeren Ausgangsbasis aus um<br />
548,8%. Das wesentlich stärkere Wachstum der Aktionärszahlen in den neuen<br />
Bundesländern läßt erwarten, daß sich auf diesem Gebiet die Unterschiede in den<br />
nächsten Jahren deutlich vermindern werden.<br />
Noch stärker als der direkte Aktienbesitz hat in den letzten Jahren der indirekte<br />
Besitz in Form von Anteilen an Aktienfonds und gemischten Fonds zugenommen.<br />
Von 1997 bis zum ersten Halbjahr 2000 stieg die Zahl der Aktienfondssparer von<br />
2,3 auf 4,7 Mio. Die Zahl der Anleger, die ausschließlich Aktienfondsanteile besitzen,<br />
stieg von 1,59 auf 5,63 Mio., d. h. um fast 254%. Die Zahl der Besitzer von<br />
ausschließlich gemischten Fonds nahm von 557.000 auf 1,43 Mio. zu; die der<br />
Besitzer von Aktienfondsanteilen und Anteilen an gemischten Fonds stieg relativ<br />
am stärksten von 180.000 auf 888.000. (= 455%). Dies zeigt, daß die Privatanleger<br />
auch im Bereich der Fondsanlage zunehmend die Möglichkeiten wahrnehmen,<br />
durch Nutzung verschiedener Fonds eine Ris ikodiversifikation herbeizuführen.<br />
Die verbesserte Aktienkultur dürfte trotz zwischenzeitlicher Kursrückschläge ein<br />
dauerhaftes Phänomen sein, zumal die Bedeutung der Aktienanlage gerade auch<br />
448
für die Altersvorsorge zunehmend erkannt wird. Mit der Einführung des Euro<br />
haben private Haushalte begonnen, ihre Aktienanlagen stärker in andere Euroländer<br />
zu diversifizieren.<br />
4. Die Portfolioumschichtungen zugunsten von Aktien und Aktienfonds dürften<br />
nicht nur durch die gute Performance der Aktienmärkte sondern zu einem beachtlichen<br />
Teil auch durch Steuerrechtsänderungen verursacht sein. Die Halbierung des<br />
Sparerfreibetrages ab 1.1.2000 hat zu größeren Umschichtungen von zinstragenden<br />
und zinsorientierten Wertpapieren zu Aktien und aktienbasierten Investmentfonds<br />
geführt, deren Kursgewinne - nach Ablauf der auf ein Jahr verlängerten Spekulationsfrist<br />
- steuerfrei vereinnahmt werden können.<br />
5. Alles in allem haben Kapitaleinkommen in den 90er Jahren im Vergleich zu den<br />
Arbeitseinkommen gewonnen.<br />
6. Die Einzelheiten des Spar- und Anlageverhaltens der privaten Haushalte sowie<br />
der verschiedenen Formen der Vermögensbildung in den Jahren 1992 bis 1999<br />
gehen aus der Übersicht der Deutschen Bundesbank vom Juni 2000 hervor.<br />
II. Ziel: Die Existenz des Einzelnen für alle Lebensstufen sichern<br />
Moderne Vermögensbildung ist keine isolierte Einzelmaßnahme des Arbeitnehmers<br />
oder des Unternehmers, sondern Teil der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie<br />
ist eine doppelte Partnerschaft zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber<br />
wie auch zwischen dem Bürger und dem Staat. Sie gliedert sich in 3 Zielbereiche:<br />
1. Bildung<br />
Die wirtschaftliche Globalisierung hat zu einer Neubewertung gesellschaftlicher<br />
Faktoren und Werte geführt. Begriffe wie Familie, Nation, Heimat und Bildung<br />
werden zugleich vermißt wie auch neu erkannt und diskutiert. Die ökonomische<br />
Entwicklung in Verbindung mit dem technischen Fortschritt, der Beschleunigung<br />
der Informations- und Kommunikationstechnik sowie der politischen Entwicklung<br />
aller Länder zu einer „ersten Welt“ haben in der Gesellschaft deutlich gemacht,<br />
daß eine breite Bildung Grundlage und Baustoff für die Weiterentwicklung auf<br />
allen Gebieten ist. Wissen und Können werden als Voraussetzung für jede Fortentwicklung<br />
in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mehr denn je erkannt. Keine<br />
Gemeinschaft kann sich nicht-mobilisiertes Können und vernachlässigte Eliten<br />
mehr erlauben. Richtige Entfaltung intellektueller Veranlagungen führt zur Entwicklung<br />
neuer Fähigkeiten und dem Verständnis von Zusammenhängen. Fähigkeiten<br />
ohne humane Einbindung und gesellschaftliche Zusammenhänge sind gefährlich.<br />
Die Entwicklung von Motivation führt zu der Frage nach den Lebenszielen. Die<br />
wesentlichen Anreize hierzu erfolgen in der Familie. Die Förderung der vielfältigen<br />
Ve ranlagungen der Menschen steigert nicht nur die individuellen Chancen<br />
vieler, sondern macht auch die Verpflichtung zur Selbstverantwortung klar. Diese<br />
auf den einzelnen bezogenen Aussagen haben ihren Grund in der Katholischen<br />
Soziallehre, die „die Person als Ursprung, Träger und Ziel der Gesellschaft“ sieht<br />
(GS 63).<br />
449
Übertragen auf den ökonomischen Sektor bedeuten diese Aussagen und Erkenntnis,<br />
daß jede Volkswirtschaft und darin jeder einzelne Bürger nur dann eine Zukunft<br />
haben, wenn alle Wissensressourcen gezielt ausgenutzt werden. Dies führt zu<br />
den klaren Forderungen und Notwendigkeiten auf dem Bildungssektor. Für den<br />
einzelnen bedeutet dies die Verpflichtung zu einer ständigen (Weiter-) Bildung.<br />
Bei abhängig Beschäftigten kann dies nur in Absprache mit „seinem“ Betrieb<br />
erfolgen. Auch der Staat muß daran interessiert sein, einen Rahmen zu schaffen,<br />
innerhalb dessen die employability des einzelnen und die Wettbewerbsfähigkeit der<br />
Unternehmen ermöglicht wird.<br />
Für Eltern werden Investitionen in die Ausbildung ihrer Kinder immer wichtiger.<br />
Wissen in den Köpfen kann nicht enteignet und gestohlen werden. Bildung ist<br />
somit zugleich das notwendige Startkapital und der Überlebensfaktor in der sich<br />
abzeichnenden Wissensgesellschaft. Für alle drei Zielbereiche gilt: Vermögensbeteiligung<br />
ist ein Prozeß. Sie bedeutet gleichzeitig Vermögensbildung von Konsum-<br />
und Produktivkapital, von Altersvorsorge wie auch wachendes Engagement in<br />
(Weiter-) Bildung und Wissen. Wissen schafft Zukunft.<br />
2. Geld, Wohneigentum, Produktivkapital<br />
Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte die bisherige politische kirchliche<br />
und steuerliche Debatte der Nachkriegszeit alleine die Vermögensbildung des<br />
Arbeitnehmers zum Ziel. Die Sparvorschläge dieser Jahre: Zwangssparen in Form<br />
paritätisch besetzter (Branchen-) Fonds zeigen auf, daß die Politik den Arbeiter/Arbeitnehmer<br />
im Grunde genommen als unfähig ansah, seine wirtschaftlichen<br />
Interessen selber zu regeln und zu entscheiden. Erst die Fortentwicklung der gesellschaftspolitischen<br />
Debatte führte zu der Erkenntnis, daß eine zeitgemäße Ve rmögensbildung<br />
möglichst alle Bürger einschließen sollte und die Sparmittel auch<br />
in Form von Produktivkapital angelegt werden sollte. Hierin spiegelte sich die<br />
Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft wider. Der einzelne Bürger ist in<br />
vielen Bereichen freier, selbständiger und fähiger geworden; er will und kann als<br />
Wirtschaftsbürger selber Rechte und Pflichten wahrnehmen. Die Wirtschaft. ist im<br />
Zuge der Industrialisierung heute global tätig und damit einem verstärkten Konkurrenzdruck<br />
ausgesetzt. In den letzten Jahren hat es Deutschland akzeptieren müssen,<br />
daß die wachsende Arbeitslosigkeit nicht konjunkturell, sondern strukturell begründet<br />
ist. Ein Mittel, moderne und zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen, sind<br />
Investitionen im Produktiv-Bereich. Hier möglichst breite Schichten der Bevölkerung<br />
zu beteiligen, ist das Anliegen der verstärkten Bildung von Produktivvermögen.<br />
Diese Form des Engagements des Wirtschaftsbürgers führt mittelfris tig zu<br />
zwei Arten von Einkommen aus: Lohn/Gehalt aus einer Beschäftigung oder eigenen<br />
Tüchtigkeit - sowie Einkommen aus Vermögen.<br />
Der sozialethische und ökonomische Angelpunkt bei dem Problem der Vermögensverteilung<br />
ist (lt. Prof. L. Roos) die Frage, in welchem ursächlichen Verhältnis<br />
das Produktivkapital zu den anderen Vermögensarten steht. Zusammen mit der<br />
ausführenden Tätigkeit der Arbeitnehmer und der dispositiven Tätigkeit der Unternehmer<br />
ist das Produktivkapital die Voraussetzung jeglicher marktfähiger Produktion<br />
und insoweit die Quelle sämtlicher anderer Vermögensarten. Nur in dem Masse,<br />
wie das Produktivkapital so eingesetzt wird, daß daraus auf dem Markt mit<br />
450
Gewinn, mindestens aber kostendeckend absetzbare Produkte entstehen, können<br />
Arbeitsentgelte gezahlt werden, aus denen sich das Verbrauchs- und Gebrauchseigentum<br />
bildet sowie Spargelder zurückgelegt und Grundstücke erworben werden.<br />
Nur so sind die nötigen Steuern und Abgaben zu erwirtschaften, die das System<br />
der sozialen Sicherung, insbesondere die Rentenzahlungen und der unentgeltlich<br />
angebotenen öffentlichen wirtschaftlichen Leistungen „speisen“. Alle Leistungsentgelte<br />
bzw. sozialen Transferleistungen einer Gesellschaft entstehen aus der<br />
ökonomischen Effizienz der Produktionsfaktoren Arbeit, dis positive Tätigkeit und<br />
Produktionskapital (einschließlich „Boden“). Ist das Produktivkapital ökonomisch<br />
effizient eingesetzt, schaffen es also die hinter den „Produktionsfaktoren“ stehenden<br />
Menschen, nämlich die Arbeitnehmer, die Kapitalgeber und die beiden miteinander<br />
verbundenen Inhaber unternehmerischer Kompetenz (Unternehmer und<br />
Manager) gemeinsam nicht, die „Produktionsfaktoren“ zu marktgängiger Produktion<br />
gewinnbringend zu nutzen, versiegen die Quellen des Wohlstandes und die<br />
damit gekoppelte wirtschaftliche Sicherheit sämtlicher Vermögensformen. Die<br />
jahrzehntelange Kapital-Fehlleitung und Kapitalvernichtung in den kommunistischen<br />
Ländern liefert hierfür bis heute einen traurigen Beweis.<br />
Der Nutzen des Produktivkapitals für alle hängt also zunächst nicht von seiner<br />
Verteilung ab, sondern von seinem ökonomisch erfolgreichen Einsatz. Nur dann<br />
können sowohl die gerechten Leistungsentgelte wie auch die erforderlichen Transferzahlungen<br />
erwirtschaftet werden, aus denen sich sämtliche Vermögensformen<br />
bilden. Ob aber vom wirtschaftlichen Erfolg des Produktivkapitals tatsächlich alle<br />
Bürger genügend „profitieren“ hängt in einer rechts- und sozialstaatlichen Demokratie<br />
von der Wirtschafts- und Sozialordnung insgesamt ab: vom Tarifrecht und<br />
der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften; vom Betriebsverfassungs- und Unternehmensverfassungsrecht<br />
und den darin verankerten Rechten der Nichteigentümer;<br />
vom Steuer- und Sozialversicherungsrecht und der dadurch bewirkten Verteilung<br />
des Einkommens. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, daß die dem<br />
Produktivkapital aufgebürdeten Soziallasten dazu führen, daß es sich nicht mehr<br />
angemessen verzinst und woandershin auswandert. Dieses ist angesichts der Mobilität<br />
der Produktionsfaktoren im vereinten Europa und in der globalisierten Wirtschaft<br />
nicht zu verhindern, ja sogar notwendig, wenn sich die Unternehmen auf<br />
dem Weltmarkt behaupten wollen.<br />
War es in der Nachkriegszeit verständlich, daß auf Grund des Aufholbedarfs das<br />
Sparen in Geld für Konsumgüter und den Abschluß von Bausparverträgen im<br />
Vordergrund des Interesses stand, so gewinnt heute das Sparen von Geld für die<br />
Direktanlage in neue Vorsorgeformen für die Altersversorgung und in Produktivkapital<br />
zum Aufbau einer zweiten Einkommensquelle eine ganz neue und stark<br />
wachsende Bedeutung. Hier zeigt sich die zunehmende Verbindung und gegenseitige<br />
Abhängigkeit moderner Wirtschafts- und Sozialpolitik. Daraus leiten sich zwei<br />
Forderungen ab:<br />
a) Das Steuerrecht, das Sozialrecht und die Vermögenspolitik mü ssen aufeinander<br />
abgestimmt werden. Nur ein solches ordnungspolitisches Gesamtkonzept kann die<br />
aktuellen und sich abzeichnenden Probleme: Arbeitslosigkeit, Beschäftigung in der<br />
Wissensgesellschaft, Globalisierung sowie die Reform der Sozialsysteme lösen.<br />
451
) Barrieren in der Vermögensbildung für den einzelnen Bürger sind weiter abzubauen,<br />
und die freiwillige Entwicklung zum individuellen Sparen ist zu fördern.<br />
Transparenz ist gerade auf diesem Gebiet von besonderer Bedeutung.<br />
3. Altersvorsorge<br />
In den Jahren der dynamischen Wohlstandsentwicklung nach dem II. Weltkrieg<br />
stand der Gedanke der ständigen Ausweitung der öffentlichen Sozialleistungen im<br />
Mittelpunkt der Politik. Die demographische Entwicklung in Deutschland führte zu<br />
der Ausuferung des „Sozialstaates“ heutigen Ausmaßes, der finanziell nicht mehr<br />
darstellbar und sozialethisch unvertretbar geworden ist. Parallel zu dem stetigen<br />
Aufbau der Staatsverschuldung ist der (Wirtschafts-)Bürger immer mündiger und<br />
selbstbewußter geworden. Heute ist es für die jüngere und mittlere Generation<br />
erstaunlich, wie lange die Gesellschaft der politischen Parole „Die Rente ist sicher“<br />
Glauben schenkte mit der Folge, neben der gesetzlichen Rente keine private Altersversorgung<br />
eigenen Rechtes separat aufzubauen.<br />
Daß Rechtsansprüche an das gesetzliche System der Versicherung wie auch an<br />
privat abgeschlossene Lebensversicherungen und andere Altersvorsorge-Instrumente<br />
Vermögenswerte darstellen, ist erst sehr spät in der breiten Öffentlichkeit<br />
bewußt geworden. Die Diskussion um die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung<br />
(GRV) hat u. a. verdeutlicht, daß die privat finanzierte Altersvorsorge ein<br />
wesentlich höheres finanzielles Ergebnis aufweist. Privat finanzierte Altersversorgung<br />
neben der GRV als Sockelversorgung wird heute zunehmend als zeitgemäße<br />
und notwendige Form der Vermögensbildung akzeptiert. Dies ist mehr eine Frage<br />
der Einstellung der Menschen geworden, in welchem Ausmaß sie den Staat brauchen<br />
und auch im Alter von ihm abhängig sein wollen. Sparkapital ist grundsätzlich<br />
vorhanden; auch die Umschichtung von Vermögen in neue Spezialfonds für<br />
Altervorsorge wird mehr und mehr wahrgenommen.<br />
Entscheidend für diese neue Form der Vermögensbildung ist der selbständig agierende<br />
Bürger; er ist verantwortungsfähig und willig, als „vernünftiger Hausvater“<br />
wesentliche Entscheidungen selber zu treffen. Vermehrter Durchblick und Transparenz<br />
sowie Wissensvermittlung spielen eine entscheidende Rolle, den notwendigen<br />
Handlungsspielraum zu schaffen.<br />
452<br />
III. Der Aktionsplan: Eine Gesellschaft von Teilhabern<br />
1. Lebensstandardsicherung auf drei Säulen<br />
1.1. Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV)<br />
In Deutschland ist die Reform der gesetzlichen Altersversorgung angesichts der<br />
sinkenden Zahl von Beitragszahlern, der wachsenden Zahl von Rentnern und der<br />
zunehmend länger werdenden Lebenserwartung in Verbindung mit der Arbeitslosigkeit<br />
das größte gesellschaftspolitische Problem.<br />
Die in der politischen Diskussion in diesem Zusammenhang häufig geforderte<br />
„Solidarität“ kann nicht von einer Generation eingefordert werden, die ihrer eigenen<br />
Verpflichtung, für eine natürliche Fortführung des Drei-Generationen-Vertrages<br />
zu sorgen, nicht nachgekommen ist. Werden weniger Kinder geboren, entsteht
ein Gerechtigkeitsproblem: Eine Generation mit einer relativ geringen Nachkommenschaft<br />
kann Renten nicht in gleicher Höhe beziehen wie eine Generation mit<br />
zahlreicher Nachkommenschaft, vor allem dann nicht, wenn eben diese nachfolgende<br />
Generation nicht unverhältnismäßig hohe Beiträge zur Sicherung der nicht<br />
mehr erwerbstätigen Generation aufbringen soll.<br />
Spätestens die Quersubventionierung der gesetzlichen Rentenversicherung durch<br />
die gesonderte Erhöhung der Mineralölsteuer im Jahre 1999 zur Vermeidung eines<br />
weiteren Anstieges der Lohnzusatzkosten und des Beitragssatzes in der GRV hat<br />
dem Bürger und Steuerzahler die Bedingtheit von Beschäftigung, Investitionen und<br />
sozialer Sicherheit vor Augen geführt. Die Diskussion um eine mittelfristige GRV-<br />
Reform zeigt unabhängig vom politischen Standpunkt des Betrachters auf, daß die<br />
gesetzliche Rentenversicherung (1. Säule) auf Dauer nur noch eine Kern-/ Sockelversorgung<br />
auf der Basis des Umlageverfahrens im Sinne einer „Lebensgrundsicherung“<br />
oberhalb des Sozialhilfeniveaus bieten kann, während eine „Lebensstandardsicherung“<br />
auf der Basis von ca. 70%des letzten Nettoeinkommens bei mindesten<br />
40 Berufs-/Beitragsjahren nur noch zusammen mit der 2. Säule (betriebliche)<br />
und der 3. Säule (private Altersvorsorge) durch Kapitaldeckung möglich ist.<br />
Der Bund Katholischer Unternehmer (BKU) hat im Juni 1999 ein Rentenreform-<br />
Modell veröffentlicht. Der BKU-Vorschlag nimmt Abschied von der Illusion, trotz<br />
der demographischen Entwicklung, der steigenden Lebenserwartung, der daraus<br />
abgeleiteten verlängerten Rentenbezugsdauer sowie des medizinischen Fortschritts<br />
den Rentnern weiterhin einen festen Prozentsatz von ca. 70% des Nettolohns vor<br />
Renteneintritt durch zu GRV zusagen und sichern zu können. Fachleute weisen seit<br />
Jahren darauf hin, daß für solche Rentenleistungen Beitragssätze von weit über<br />
30% nötig wären, ohne dabei die sich ebenfalls abzeichnende Krise in der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung und der Pflegeversicherung zu berücksichtigen. Der<br />
BKU befürwortet daher eine umlagefinanzierte Sockelrente oberhalb des Sozialhilfeniveaus<br />
nach seinem Rentenmodell im Rahmen der GRV mit ergänzenden Leistungen<br />
aus der betrieblichen (2. Säule) und teilweise obligatorischen Leistungen<br />
der privat finanzierten Altersvorsorge (3. Säule).<br />
1.2 Betriebliche Altersversorgung<br />
Somit kommen der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge eine ganz neue<br />
Bedeutung zu. Bisher hat hierfür in Deutschland im Gegensatz zu den angelsächsischen<br />
Ländern die Anlage in Beteiligungswerten kaum eine Rolle gespielt. Die<br />
Bürger nutzten überwiegend das Versicherungssparen. Den Lebensversicherungen<br />
war es vom Gesetzgeber nur gestattet, maximal 35% ihres Vermögens in Aktien<br />
anzulegen. Tatsächlich waren im 4. Quartal 1997 lediglich 3,3 Prozent in Aktien<br />
und 13,5 Prozent in Investmentzertifikaten investiert. Die Systeme der 2. Säule<br />
legten ihr Geld vorwiegend in zinsbringenden Darlehen in den Trägerunternehmen<br />
an. Diese restriktiven Anlagevorschriften wurden mit dem Sicherheitsbedürfnis<br />
und der Notwendigkeit gleichbleibender Erträge zur Erfüllung der laufenden Ve rpflichtungen<br />
begründet.<br />
Die 2. (betriebliche) Säule ist seit Jahren im Aufkommen rückläufig, weil der Staat<br />
und die Arbeitsrechtsprechung den Trägern ständig höhere Verpflichtungen mit<br />
unkalkulierbaren Risiken auferlegt haben. Auch die von Unternehmen durch eige-<br />
453
ne Leistung und/oder Umwandlung von Einkommensbestandteilen finanzierte Direktversicherung<br />
verlor aufgrund wiederholter steuerlicher Einschränkungen, zuletzt<br />
vom 1. April 1999, erheblich an Attraktivität.<br />
Durch einen Umstieg in der Anlagepolitik auf Beteiligungspapiere und Änderung<br />
der vertraglichen Gestaltung kann die betriebliche Altersversorgung einen neuen<br />
Auftrieb erhalten: Bisher wurde dem Arbeitnehmer eine feste monatliche Auszahlung<br />
zugesagt („defined benefit“), was zu den bekannten negativen Folgen für die<br />
Unternehmen, der Schließung zahlreicher Versorgungswerke und dem Ausbleiben<br />
neuer Einrichtungen, darüber hinaus, soweit noch nicht unverfallbar, zu Einbußen<br />
beim Arbeitsplatzwechsel führen und damit mobilitätshindernd wirken konnte.<br />
Daher sollte auch in Deutschland von dem in anderen Ländern verbreiteten „defined<br />
contributions“-System Gebrauch gemacht werden, bei dem den Arbeitnehmern<br />
nicht eine feste Rente, sondern eine Zusage für einen zweckbestimmten regelmäßigen<br />
oder ergebnisorientierten Beitrag gegeben wird, dessen Anlage in Aktien<br />
oder anderen Beteiligungswerten in freier Wahl dem Arbeitnehmer selbst überlassen<br />
bleibt. Er wird auf diese Weise nicht - wie bisher - Gläubiger eines Unternehmens,<br />
sondern Anteilseigner, wobei er auch die bestehenden staatlichen Zulagen<br />
nach dem Vermögensbildungsgesetz nutzen kann.<br />
Der notwendige Aufbau einer kapitalgedeckten betrieblichen Altersvorsorge muß<br />
auf freiwilliger Basis erfolgen. Zur Erzielung eines zufriedenstellenden Verbreitungsgrades<br />
können die Tarifvertragsparteien einen entscheidenden Beitrag leisten,<br />
indem sie auf freiwilliger Grundlage individuelle und flexible Lösungen finden, die<br />
der wirtschaftlichen Lage der Betriebe wie auch dem Versorgungsbedürfnis der<br />
Mitarbeiter gerecht werden. Dieser Weg muß durch eine deutliche Verbesserung<br />
der gesetzlichen Rahmenbedingungen gestützt werden, um die betriebliche Altersversorgung<br />
vor allem auch für kleinere und mittlere Unternehmen attraktiv zu<br />
machen.<br />
1.3 Private Altersvorsorge<br />
Nachdem mehrere Untersuchungen in den angelsächsischen Ländern nachgewiesen<br />
haben, daß über längere Zeiträume die Rendite von Aktien derjenigen von<br />
festverzinslichen Werten erheblich überlegen ist, beginnt erfreulicherweise auch in<br />
Deutschland ein Umdenken in Richtung einer breiteren Anlage in<br />
Beteiligungswerten. Schon bisher haben Investmentfonds durch „Auszahlpläne“<br />
mit und ohne Kapitalverzehr einen Weg gesucht, insbesondere für die<br />
Altersversorgung ein zusätzliches regelmäßiges Einkommen zu sichern. Dem<br />
Zusammenhang von privater Altersvorsorge und Bereitstellung von Risikokapital<br />
widmet der „Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft“ in<br />
seinem Gutachten besonderes Augenmerk; so auch die Deutsche Bundesbank in<br />
ihrem Monatsbericht vom Dezember 1999: „Möglichkeiten und Grenzen einer<br />
verstärkten Kapitaldeckung der gesetzlichen Alterssicherung in Deutschland“.<br />
Das seit dem 1. April 1998 geltende 3. Finanzmarktförderungsgesetz ermöglicht<br />
neben den bestehenden eine weitere Art von Investmentfonds: „Altersvorsorge-<br />
Sondervermögen (AS)“ mit besonderen, am Altersvorsorgeziel der Sparer ausgerichteten<br />
Bestimmungen. Der Bürger, der zusätzlich zur gesetzlichen Rente für<br />
454
sein Alter in Wertpapieren vorsorgen will, ist somit nicht mehr darauf angewiesen<br />
- wozu er häufig überfordert ist - sich sein eigenes Portefeuille zusammenzustellen,<br />
sondern kann sich hierzu spezieller AS-Fonds bedienen, die im Wettbewerb um<br />
den Kunden untereinander und mit den Lebensversicherungen stehen.<br />
In vielen Ländern haben private Formen der Eigenvorsorge bereits einen beachtlichen<br />
Anteil an der gesamten Altersversorgung erreicht und dabei neue Formen der<br />
Anlagemöglichkeiten entwickelt, die eine Einkommenssicherung im Alter zum<br />
Ziel haben. Hinsichtlich der Möglichkeiten, weitere Mittel für die private Finanzierung<br />
von Altersvorsorge zu erbringen, gibt es bereits von den Tarifparteien vereinbarte<br />
Modelle, betriebliche Sozialleistungen und/oder Lohn- und Gehaltszahlungen<br />
in Beteiligungskomponenten umzuwandeln sowie Zeitguthaben in Produktivkapital<br />
und Renten einzubringen.<br />
Bezüglich des Umfangs kapitalfinanzierter privater Vorsorgeleistungen der dritten<br />
Säule ist eine obligatorische Vorgabe des Gesetzgebers notwendig - vergleichbar<br />
den bestehenden gesetzlichen Vorschriften zum Abschluß von KFZ- und Brandversicherungen<br />
bei Häusern. Der BKU schlägt für die obligatorische Prämien-<br />
Höchstgrenze 4% des sozialversicherungspflichtigen Einkommens vor.<br />
Eine private kapitalgedeckte Altersvorsorge trägt in besonderer Weise dem demographischen<br />
Wandel in Deutschland Rechnung, weil dieser zukünftig zu einem<br />
Rückgang des Wirtschaftswachstums führt. Eine sinkende Bevölkerungszahl verringert<br />
die Menge an Arbeit, die zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen<br />
zur Verfügung steht. Zugleich bewirkt eine veränderte Arbeitsstruktur eine sinkende<br />
Produktivität. Ein solcher demographisch bedingter künftiger Rückgang des<br />
Wirtschaftswachstums verringert auch die Wachstumsrate der Lohnsumme. Zum<br />
Ausgleich müßte die jeweils arbeitende Generation höhere Beiträge zahlen, damit<br />
der heutige Lebensstandard auch in Zukunft sichergestellt werden könnte. Eine<br />
obligatorische Eigenvorsorge würde wie die bekannten, gesetzlich festgelegten<br />
Abgaben zu den Sozialsystemen die Nettolöhne verringern bzw. deren Anstieg<br />
dämpfen.<br />
Die bewußte Stärkung von privater, kapitalgedeckter Vorsorge der zweiten und<br />
dritten Säule ist ohne steuerliche Förderung nicht möglich. Steuerbefreite Höchstbeträge<br />
als Vorgabe des Gesetzgebers müssen einen festen Rahmen für alle Bürger<br />
schaffen. Innerhalb dieser staatlichen Vorgabe soll der Bürger seine Entscheidung<br />
treffen können, für welche der am Markt angebotenen Anlageformen kapitalfinanzierter<br />
Möglichkeiten er sich entscheidet.<br />
Diese staatliche Förderung ist auf die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze in der<br />
GRV zu beschränken. Diese Maßnahme sichert in besonderer Weise gegen unabsehbare<br />
Wechselfälle in der Berufsvita des Bürgers ab. Dieser steuerlichen Förderung<br />
bei dem Aufbau privater Altersvorsorge entspricht eine generelle Versteuerung<br />
aller zufließenden Einkünfte im Rentenstatus. Die Einführung dieser nachgelagerten<br />
Besteuerung ist schrittweise erforderlich.<br />
Dieser Vorschlag bedeutet eine Kurskorrektur in Richtung auf mehr persönliche<br />
Selbstverantwortung, aber auch mehr Selbstgestaltung. Mehr als zwei Drittel der<br />
Deutschen können sich lt. einer Veröffentlichung des Instituts der deutschen Wirt-<br />
455
schaft (IW) vom August 2000 eine private Absicherung für das Alter vorstellen;<br />
knapp jeder Sechste sorgt schon heute privat vor. Bei der Absicherung ist Zeit das<br />
größte Kapital. Nicht auf die Rendite kommt es in erster Linie an, sondern auf den<br />
langfristigen Vermögensaufbau und die Kapitalanlage. Deswegen muß besonders<br />
die junge Generation die Zeichen der Zeit erkennen. Offensichtlich ist dies der<br />
Fall, denn lt. FAZ vom 5.8.2000 stieg der Anteil der Aktionäre in der Bevölkerung<br />
über 14 Jahre im ersten Halbjahr von 12,9 auf 17,7 Prozent. Ein Kennzeichen<br />
besonderer Art ist auch die Tatsache, daß die Anzahl der Aktionäre in Deutschland<br />
die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder weit überschritten hat.<br />
2. Betriebliche und private Vorsorge in jedem Betrieb ist möglich: win-win-Situation<br />
für Arbeitnehmer und Unternehmen<br />
Es ist eine weit verbreitete Meinung, daß alle wirtschaftlichen Entscheidungen für<br />
die Beteiligten im Total immer nur ein Null-Summen-Spiel sein könne. Der Verlierer<br />
fühlt sich dementsprechend „über den Tisch gezogen“. Diese Ansicht ist falsch,<br />
denn sie kann nicht den wachsenden Wohlstand der Bürger in den demokratischen<br />
Volkswirtschaften erklären.<br />
Dieser Wohlstand beruht im wesentlichen auf der Erkenntnis, daß die in der Wirtschaft<br />
Tätigen durch ihr zunehmendes Wissen und selbständiges Handeln mehr<br />
und mehr partnerschaftlich zusammenarbeiten. Daraus entsteht eine win-win-<br />
Situation für alle Beteiligten. Maßgeblich tragen dazu innovative Vereinbarungen<br />
bei, von denen nachstehend einige aufgeführt sind:<br />
2.1 Direktversicherungen für kleinere und mittlere Firmen<br />
Bei der Möglichkeit, eine betriebliche Altersversorgung aufzubauen, wird gewöhnlich<br />
auf die großen Unternehmen verwiesen. Kleinere und mittlere Unternehmen<br />
fürchten feste Zusagen sowie den Verwaltungsaufwand eigener Versorgungssysteme.<br />
Auch hier gibt es inzwischen zahlreiche innovative Beispiele: So<br />
können Betriebe, die keine Mitarbeiterbeteiligung am eigenen Unternehmen<br />
einräumen wollen oder können, einen Beitrag leisten, indem sie im Rahmen<br />
einer ergebnisorientierten Lohnpolitik Anreize schaffen, daß Zusatzzahlungen<br />
nicht ausgezahlt werden, sondern am Kapitalmarkt unmittelbar oder in Aktien-<br />
bzw. gemischte Investmentfonds angelegt werden. Das „Altersvorsorgekonzept<br />
Handwerk“ ermöglicht eine spätere monatliche Rente über eine Direktversicherung,<br />
die in Form von Vorsorgearbeit (z. B. 1 Stunde Mehrarbeit pro Woche),<br />
Urlaubsgeld (z. B. 1 Tag pro Jahr), hälftiger Verwendung des Weihnachtsgeldes<br />
und Einbringung der vermögenswirksamen Leistungen erfolgen kann.<br />
Auch die Tarifpartner vereinbaren z. T. bereits entsprechende neue Lösungen in<br />
neuen Branchen und im Hinblick auf kleine und mittlere Firmen: so sieht z. B. der<br />
Tarifvertrag zwischen dem Unternehmerverband Industrieservice+Dienstleistungen<br />
e.V., Duisburg, und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Frankfurt/Main,<br />
vom 1.8.2000 eine entsprechende private Altersvorsorge vor. Diese wird<br />
jedoch nur wirksam in Form eines gesonderten Zuschusses von Seiten der Unternehmen<br />
wenn der Arbeitnehmer einen zusätzlichen Eigenbeitrag zu dieser privaten<br />
Altersvorsorge leistet.<br />
456
2.2 Betriebliche Altersversorgung als „Kombi-Pakt“-Vereinbarung bei ThyssenKrupp<br />
Zum 1. Januar 1999 ist die Novellierung des Betriebsrentengesetzes in Kraft getreten.<br />
Dieses Gesetz sieht als Neuerung leistungsorientierte Zulagen sowie die Entgeltumwandlung<br />
(etwa künftiges Gehalt, Urlaubsgeld, Tantiemen oder Gratifikationen)<br />
in „wertgleiche Anwartschaften auf Versorgungsleistungen“ vor. Ein Beispiel<br />
innovativer Nutzung ist der sogenannte „Kombi-Pakt“, die betriebliche Altersversorgung<br />
im ThyssenKrupp Konzern. Dieses neue Modell ist beitrags- und<br />
vergütungsorientiert; es sichert Risikofälle in jungen Jahren ab für den Fall der<br />
Invalidität bzw. Erwerbsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall und schafft zugleich<br />
Kapital für das Alter. Es eröffnet die Möglichkeit, durch eigene Beiträge<br />
selbstverantwortlich vorzusorgen unter Nutzung steuerlicher Vorteile. Jedes Mitglied<br />
kann anhand einer Beitragstabelle jederzeit ersehen, wie hoch der Umfang<br />
der Leistungen ist. Jährlich erhält jedes Mitglied einen Kontoauszug, der den aktuellen<br />
Stand seines Vermögenskontos wiedergibt.<br />
2.3 „Zeit-Wert-Papier“ von VW<br />
Beim Aufbau von Vorsorgekapital ist die Beteiligung der Arbeitnehmer über die<br />
Entgeltumwandlung und die Zusage von Versorgungsbausteinen im Wege der<br />
beitragsorientierten Leistungszusage ein wesentliches Element. Der Tarifvertrag<br />
der Chemischen Industrie zeichnet sich durch die Flexibilität tarifvertraglicher<br />
Lösungen am Beispiel der Nutzung vermögenswirksamer Leistungen zum Aufbau<br />
von Betriebsrentenanwartschaften aus.<br />
VW hat durch das „Zeit-Wert-Papier“ eine Verbindung der betrieblichen Altersversorgung<br />
mit der Nutzung von Arbeitszeitwertguthaben kombiniert. Dieses Konzept<br />
bietet dem Arbeitnehmer die Lösung zur individuellen und eigenverantwortlichen<br />
Gestaltung der Lebensarbeitszeit, dem Unternehmen eine flexible Beschäftigungssteuerung<br />
im Sinne eines „atmenden Unternehmens“ ohne daß dem Staat<br />
zusätzliche Belastungen der Rentenkasse entsteht.<br />
Bei dem Zeit-Wert-Papier erbringt der Arbeitnehmer Beiträge in Form von Geld<br />
oder Zeitanteilen. Die Wertsteigerung erfolgt durch ein professionelles Management,<br />
auch unter Nutzung aller steuerlichen Möglichkeiten. Die Entnahme erfolgt<br />
wahlweise als Verkürzung der Lebensarbeitszeit, als Altersteilzeit oder als Erhöhung<br />
der Altersversorgung. Die Teilnahme ist freiwillig. Die Einlagen sind insolvenzgesichert.<br />
Das Zeit-Wert-Papier wird in Publikumsfonds umgesetzt. Sie werden<br />
im Laufe der Zeit strukturell angepaßt, indem sukzessive Aktien in Renten<br />
umgeschichtet werden.<br />
Das Handling erfolgt durch marktgängige Banken, z. Z. durch die Bayerische<br />
Hypotheken und Wechselbank. Dadurch gehen die persönlichen Ansprüche auch<br />
bei einem Firmenwechsel mit dem Sparer mit. Dies und die Marktgängigkeit sind<br />
ein großer Fortschritt gegenüber der bisherigen Situation, in der die Ansprüche an<br />
betriebliche Versorgungssysteme generell an die Beschäftigung in dem Unternehmen<br />
der Erstzusage gebunden war. Das neue Modell bietet zusätzlich dritten Firmen<br />
die Möglichkeit der Nutzung dieser Publikumsfonds für ihre Mitarbeiter, ohne<br />
dafür eine eigene Organisation aufbauen zu müssen.<br />
457
3. Die atmende Gesellschaft: Rücknahme des Staates zum Wohle aller<br />
Unternehmen können letztlich nur in einem freien Umfeld erfolgreich sein. Ein zu<br />
mächtiger Staat engt sowohl die Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen wie<br />
auch durch zu hohe Steuern und Abgaben den Handlungsspielraum des einzelnen<br />
ein. Es liegt in der Natur der Sache, daß kein Staat alle Wünsche und Ansprüche,<br />
die an ihn gerichtet werden, erfüllen kann. Bei einem Staatsanteil von über 50%<br />
am Bruttoinlandsprodukt (BIP) kann nicht von einer marktwirtschaftlichen Ordnung<br />
gesprochen werden.<br />
Der wohl schwerwiegendste Vorwurf, der gegen die heutige gesellschaftliche<br />
Situation erhoben wird, ist die sogenannte Gerechtigkeitslücke. Nach Aristoteles<br />
bedeutet Gerechtigkeit, „jedem jederzeit das Seine gewähren zu wollen“. In dieser<br />
Definition ist angelegt, daß es sich bei der Gerechtigkeit nicht um einen einmal<br />
erreichten Zustand handelt, sondern um ein ständiges Bemühen und Tun. Dies<br />
bedeutet, daß wir keine gesellschaftliche Situation und Konditionen festschreiben<br />
können, sondern daß es gilt, eine einsichtige und verständliche Zielsetzung aufzuzeigen.<br />
Zu jeder wirklichen Zielsetzung gehört eine ethische sowie eine reale/ökonomische<br />
Aufgabenstellung. Übertragen auf unsere Situation erfordert dies<br />
die Schaffung einer Rahmenordnung, die dem Bürger positive Handlungsmöglichkeiten<br />
über die heutigen Grauzonen, die Schwarzarbeit und die Verweigerung<br />
gegenüber dem Staat, hinaus eröffnen. Es gilt, die Umgestaltung und Anpassung<br />
der Gesellschaft als Ziel zu erkennen, statt einer stetigen Ausweitung des Staates<br />
das Wort zu reden. Dazu zählt besonders, die Rahmenordnung neu zu definieren<br />
durch eine Begrenzung der Staatsquote auf maximal 40% und die gesetzliche Ve rpflichtung,<br />
daß nur ausgeglichene Budgets staatlicherseits auf allen drei Ebenen<br />
von Bund, Ländern und Gemeinden eingebracht werden dürfen. Diese Maßnahmen,<br />
die in verschiedenen Formen bereits in zahlreichen Ländern angewendet<br />
werden, schaffen mehr Freiraum für den einzelnen, ohne die solidarische Hilfe für<br />
wirklich Bedürftige auszuschließen. Ein solches Konzept, das ethische und ökonomische<br />
Ziele miteinander verbindet und vertritt, kann vom Bürger verstanden<br />
und akzeptiert werden als Zugang zu einer wirklichen Beteiligungsgerechtigkeit.<br />
Eine „atmende Gesellschaft“ ermöglicht die späte Umsetzung von Ludwig Erhards<br />
Idee: Ein Volk von Teilhabern - Wohlstand für alle. Zugleich wird der Staat selber<br />
wieder handlungsfähiger und verläßlich.<br />
Cornelius G. Fetsch ist Ehrenvorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer<br />
(BKU) und lebt in Düsseldorf-Angermund.<br />
458
Bericht und Gespräch<br />
Peter Schallenberg<br />
Ethik und Rationierung<br />
Theologisch-ethische Probleme im ökonomisch organisierten<br />
Gesundheitswesen<br />
I. Vorüberlegungen.<br />
Öffentlich organisierte Gesundheitssysteme, wie sie die Moderne und insbesondere<br />
der moderne Sozialstaat kennt, verbinden in aller Regel eine Ethik der Solidarität<br />
und Gleichheit mit der Ökonomie des Wettbewerbs und der Ungleichheit.<br />
Das schafft ein geradezu chronisches Spannungsverhältnis: Das grundsätzlich<br />
nur technisch-medizinisch begrenzte öffentliche Gut der Gesundheit – öffentliches<br />
Gut verstanden als sozialstaatlich organisiertes Bürgerrecht – wird ökonomisch-künstlich<br />
verknappt – jedoch nach welchen Kriterien?<br />
Schuf einst die medizinische Technik eine natürliche Grenze knapper öffentlicher<br />
Gesundheit, so hat sich diese Grenze postmodern schier unendlich geweitet:<br />
Wer bestimmt nun wie und für wen über die wünschenswerte, da solidarisch zu<br />
bezahlende Effektivität und Effizienz? Und dies zumal auf dem Hintergrund<br />
einer entschieden säkularen Gesellschaft, die Tod und Krankheit als zutiefst<br />
ärgerliche, ja dysfunktionale Grundstörung erlebt, so daß hier der Grundsatz der<br />
prinzipiellen Gleichheit geradezu dogmatisch-säkularen Charakter annimmt.<br />
Denn wenn die bis zur Schwelle der Moderne sichere Realität des Jenseits diffus<br />
verschwimmt, erhält das Diesseits und dessen sozialstaatliche Garantie in Form<br />
von Lebensquantität und Lebensqualität eine nicht hintergehbare und der politischen<br />
Diskussion scheinbar grundsätzlich entzogene Basisfunktion. Gesundheit<br />
erscheint geradezu als einklagbares Recht, zumindest die gleich-gerechte optimale<br />
Gesundheitsförderung und Krankheitsfürsorge.<br />
Schon vor Jahren analysierte Hans Jonas mit wünschenswerter Präzision: „Die<br />
moderne Medizin leidet nicht an ihren Mängeln. Sie kann nicht zu wenig, sondern<br />
zu viel. Sie krankt nicht an ihrem Ve rsagen, sondern am Übermaß ihrer<br />
Macht. Ihre Krise ist kein Zeichen von Schwäche, sondern allein das Fieber<br />
eines nie dagewesenen technischen Erfolges . (...) Der moderne Arzt muß sich<br />
heute fühlen wenn nicht wie Gott selbst, dann zumindest wie ein Erzengel.“ 1<br />
Wer aber kennt sich aus im Denken von Erzengeln? Und vor allem und weniger<br />
abstrakt: Wer bezahlt eigentlich Erzengel?<br />
Ethik ist typisch menschlich: Das nicht festgestellte Tier braucht reflektierte<br />
Feststellungen der Haltung und des Verhaltens. Es geht also um Begründungen<br />
und Anwendungen normativer Einsichten. Die theologische Ethik reflektiert auf<br />
459
dem Hintergrund des biblisch-christlichen Gottesbegriffs auf das Nicht-Notwendige,<br />
mithin auf die Strukturen und Konditionen menschlicher Freiheit. Es<br />
braucht demnach im eigentlichen Sinn keine Ethik der Nahrungsaufnahme, wohl<br />
aber eine Ethik der Technik und der Medizin. Dies gilt verschärft für eine sozialethisch<br />
interessierte theologische Ethik, die Bedingungen und Institutionen eines<br />
sozialen Rechtsstaates reflektiert: Wo liegen stillschweigende Voraussetzungen,<br />
wie z. B. das Tötungsverbot für menschliche Personen, wo stehen Grundwerte<br />
und Grundrechte an der Basis des menschlichen Zusammenlebens, wie werden<br />
Grundrechte anerkannt oder zugeteilt?<br />
Ohne Zweifel bildet das Leben zwar nicht den höchsten, wohl aber den fundamentalsten<br />
menschlichen Wert als Prämisse jeglichen Verhaltens. Das gute Leben<br />
ist seit Aristoteles stillschweigend und mit gutem Recht zur nicht hinterfragten<br />
ethischen Grundnorm aufgestiegen. Mithin gehört auch der Wert der Gesundheit<br />
zu den fundamentalen Grundrechten, denn physische und psychische<br />
Gesundheit bilden eine Möglichkeitsbedingung des guten Lebens. Es gehört zu<br />
den Grundforderungen der Gerechtigkeit, jedem das Seine zu geben, und das<br />
heißt zunächst: jedem die Möglichkeit zu geben, in Gesundheit ein gutes Leben<br />
zu führen. Die Medizin erkennt das traditionell im hippokratischen Eid an mit<br />
dem klassischen Formalprinzip: salus et voluntas aegroti suprema lex – Das Heil<br />
und der Wille des Kranken ist oberstes Gesetz.<br />
Wohlgemerkt: Ursprünglich ist hier vom umfassenden Heil, nicht von einem<br />
Gesundheitsstatus die Rede. Dieser war in Zeiten der vortechnischen Medizin<br />
ohnehin eine Chimäre. Seit der rasanten Entwicklung der Medizintechnik aber<br />
verwandelt sich der Arzt zunehmend in das bloß ausführende Organ der technisch<br />
möglichen optimalen Medizin. In postmoderner Fassung findet sich das<br />
klassische Axiom wieder in der Erklärung der WHO von 1976 zum Grundrecht<br />
der größtmöglichen Gesundheit. Damit aber ist nicht nur der ursprünglich weitgefaßte<br />
Begriff „salus“ endgültig auf Gesundheit zurückgeschrumpft, sondern<br />
hinzu kommt das quantifizierende Adjektiv „größtmöglich“.<br />
Bereits hier stellt sich die schon angedeutete Frage nach der Lebensqualität, die<br />
sich aus Lebenslänge und Lebensstandard zusammensetzt und nicht einfach auf<br />
Quantität reduziert werden kann. Geschieht dies aber, so scheint endgültig der<br />
Medizintechnik alle Definitionshoheit über optimale Gesundheit zuzukommen,<br />
und der Sozialstaat sieht sich in die Rolle des bloßen Erfüllungsgehilfen gedrängt,<br />
ohne indes zugleich über genügende finanzielle Souveränität zu verfügen.<br />
Demgegenüber ist in der Tat zu unterstreichen, daß moralische Notwendigkeit<br />
und ökonomische Vertretbarkeit sozialethisch kongruent gehen in der Frage<br />
nach Kriterien der Güterabwägung – immer freilich den fundamentalen und<br />
unverfügbaren Wert menschlichen Lebens vorausgesetzt. Medizin ist in dieser<br />
Sicht der kostspielige Versuch, das menschliche Leben zu verlängern, krankheitsbedingtes<br />
Leid zu mindern und die „salus aegroti“ zu fördern. Geschieht<br />
dies in Form einer Solidarversicherung, so ist ethisch und ökonomisch ein effizientes<br />
Verfahren geboten. Gerechtigkeit und Effizienz verschränken sich. Das<br />
aber heißt auch: Rationierung ist ein Mittel der Güterabwägung also der Abwä-<br />
460
gung zwischen Lebensgüte und Lebenslänge, Abwägung von finanziellen Solidaraufwendungen<br />
und individuellen Eigeninteressen.<br />
II. Prämissen zukünftiger Gesundheitsfürsorge<br />
Die Morbiditätsentwicklung der Zukunft wird entscheidend von der Altersentwicklung<br />
und Alterstruktur der Bevölkerung geprägt. Die anfallenden Kosten der<br />
Pflege und der Intensivmedizin steigen rasant an. 2 Der medizinisch-technische<br />
Fortschritt zielt auf Vermeidung, Heilung und Linderung von Krankheiten, auf<br />
die Wiederherstellung physischer und psychischer Funktionsfähigkeit und somit<br />
auf die Verminderung des vermeidbaren Todes. Daraus folgt – als „Januskopf“<br />
des medizinischen Fortschritts 3 – ein grundsätzlich ungedeckter immenser Bedarf<br />
an Gesundheitsleistungen, denn der technische Fortschritt der Medizin<br />
schafft Bedarf, der zunächst nach Deckung verlangt. Dieser Bedarf schafft sich –<br />
anders als in der Planwirtschaft – in einer marktwirtschaftlich strukturierten<br />
Gesellschaft ein parallel unendlich anwachsendes Angebot. Wird nun diese<br />
marktwirtschaftliche Komponente von Angebot und Nachfrage mit planwirtschaftlichen<br />
Elementen verknüpft – allgemeines Recht auf Gesundheit als Recht<br />
auf optimale Angebotsnutzung –, so kann das System finanziell implodieren.<br />
Insbesondere die Verknüpfung von medizinischem Fortschritt und Altersanstieg<br />
läßt den Gesundheitsbedarf ansteigen. Daraus entsteht die ethische Frage nach<br />
gleicher und gerechter Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen einer liberalen<br />
Gesellschaft. 4 Es steht zu vermuten, daß diese Frage entweder marktwirtschaftlich<br />
(mit subsidiären Solidarleistungen) oder planwirtschaftlich gelöst<br />
werden kann, nicht aber in einem gemischten System. Hinzu kommt verschärfend<br />
in der postmodernen westlichen Gesellschaft ein soziologischer Strukturwandel,<br />
der unbemerkt einen Paradigmenwechsel nach sich zieht: Eine wachsende<br />
Singularisierung 5 geht mit einer Vergesellschaftlichung der Ansprüche im<br />
Gewand des Solidarismus einher. Man könnte auch anders formulieren: Aus der<br />
christlichen Ethik der Nächstenliebe wird die säkulare Pflicht der Fernstensolidarität.<br />
Oder noch schärfer und in Erinnerung an das biblische Gleichnis vom<br />
barmherzigen Samariter ausgedrückt: Wenn jeder das Recht hat, sich in den<br />
Straßengraben solidarischer Ansprüche zu legen, gerät der institutionalisierte<br />
Sozialstaatssamariter an die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit.<br />
Singlehaushalte haben im Krankheitsfall keine Familienunterstützung und fordern<br />
einen massiven Ausbau professioneller Hilfen, die wiederum höhere Kosten<br />
verursachen. Zugleich wächst die strukturelle Ungerechtigkeit zwischen Familien<br />
und Single-Haushalten. Hier ist aus Sicht der theologischen Ethik zwar nicht<br />
ein Werteverfall zu beklagen, wohl aber ein Wertewandel zu unterstreichen:<br />
Dieser Wandel setzt in der Postmoderne unter dem Signum des Wohlfahrtstaates<br />
klassischer Tradition ein, so daß die Vorteile des Individualismus genutzt, die<br />
Nachteile hingegen stillschweigend solidarisiert werden. Riskante Lebensweisen<br />
werden zunehmend auf die Solidarsysteme abgewälzt; eine strukturell wachsende<br />
Ungleichheit der Lebensentwürfe wird durch solidarsystemische Gleichheit<br />
kaschiert. Dem voraus geht die Verwandlung des barmherzigen Samariters zum<br />
461
ezahlten Krankenpfleger im Zuge der Industrialisierung: Konnte diese Ve rwandlung<br />
zunächst noch infolge der Gründung christlich inspirierter (und chris tlich<br />
unterbezahlter!) Ordensgemeinschaften verborgen bleiben, so zeigt sie wiederum<br />
in säkularen, nationalen und arbeitsteilig-komplexen Gesellschaften ihr<br />
kostenexplosives Gesicht: Das Recht auf Gesundheit korrespondiert mit der<br />
Pflicht zur Arbeit. Statt Haftung, wie noch in den Anfängen einer Krankheitsversicherung<br />
im 18. Jahrhundert, gilt nun die schrankenlose Solidarität des 19. Jahrhunderts<br />
mit der Ausweitung der Sicherung auf Invalidität und Rentenalter:<br />
„Ursprung und Grundlagen der Verantwortung verlagern sich vom Individuum<br />
auf die Gesellschaft!“ 6 Zudem expandiert in entwickelten Volkswirtschaften der<br />
Bedarf an Gesundheitsfürsorge weitaus schneller als das Bruttoinlandsprodukt<br />
wächst. 7 Hinzu kommt infolge der Ablösung einer klassischen Industriegesellschaft:<br />
Die Sozialversicherungen, und damit auch die Gesetzliche Krankenversicherung,<br />
werden kontinentaleuropäisch nahezu ganz aus dem zunehmend schwächer<br />
werdenden Arbeitseinkommen finanziert. Dadurch entstehen erhebliche<br />
finanzielle und standortökonomische Nachteile, insbesondere in Zeiten globalisierten<br />
Wettbewerbs. Insgesamt kann zusammenfassend von vier Schockwellen<br />
im Feld der öffentlichen Gesundheit gesprochen werden: demographisch, ökonomisch,<br />
technologisch, ökologisch. 8<br />
462<br />
III. Ethische Organisation des sozialstaatlichen Gesundheitswesens<br />
Jede Sozialpolitik gilt zunächst – und parallel zur Forderung einer ethischen<br />
Reflexion – als eine vernünftige Investition, und zwar sowohl politisch wie auch<br />
ökonomisch. Ein solidarisches Gesundheitssystem wird als notwendig auch in<br />
postmodernen und postindustriellen Gesellschaften angesehen, soll eine Gesellschaft<br />
nicht in unverbundene und sozial höchst ungleiche Segmente zerfallen.<br />
Sozialer Friede und leistungsfähige Menschen sind unerläßliche Voraussetzung<br />
jeder komplexen Wirtschaft; der Sozialstaat bildet in dieser Sicht ein unerläßliches<br />
„Sicherheitsnetz“ für individuelle Wagnisse: „Politisch gesehen hängt die<br />
Unterzeichnung des demokratischen Gesellschaftsvertrags davon ab, daß mit der<br />
Etablierung einer Marktwirtschaft auch die Einrichtung eines Sozialstaates vorgesehen<br />
wird.“ 9 Ein Umbau des Gesundheitssystems ist desungeachtet notwendig,<br />
und zwar zur Korrektur systemimmanenter Mängel.<br />
Es geht mithin um eine optimale Verbindung von Solidarcharakter (als Gleichheit)<br />
und Wettbewerb (als Freiheit) im modernen Gesellschaftsvertrag. Dies<br />
entspricht durchaus dem Modell einer „weichen“ Rationierung expliziter Fassung.<br />
Auf der Seite der Nachfrage heißt dies: Zur Abwehr der latenten Gefahr<br />
einer „Vollkasko-Mentalität“ braucht es eine stärkere Differenzierung des Leistungskataloges<br />
in solidarsystemische Regel- oder Grundleistungen und wettbewerbliche<br />
Wahlleistungen mit Kriterien der Lebensquantität, Lebensqualität,<br />
Freiheit der Kunden. Nichterwerbstätige Ehepartner, die weder Kinder noch<br />
Pflegebedürftige betreuen, sollten ab einem gewissen Einkommen eigene Krankenversicherungsbeiträge<br />
zahlen. Dadurch gelänge eine Schärfung des individuellen<br />
Kostenbewußtseins und zugleich eine individuelle Wahl unterschiedlicher
Optionen im Feld der Gesundheit. Dazu sollte zur besseren Transparenz der<br />
tatsächlichen Kosten ein Aufschlag der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung<br />
auf die Bruttolöhne der Arbeitnehmer erfolgen. Auf der Seite des Angebots<br />
hingegen stellt sich grundlegend das „moral-hazard-Problem“, die Gefahr der<br />
Verschwendung knapper Ressourcen. Eine Reduzierung des kassenärztlichen<br />
Monopols auf Rahmenleistungen, ein ethisch abgefedertes Krankenhausmanagement<br />
und bessere Vernetzung von Patientendaten scheinen erste Lösungsansätze<br />
zu bieten. Ein solcher Lösungsansatz wird in der Tat den Rahmen solidarischer<br />
Zuteilung mit wettbewerblicher Rationierung verbinden. Dazu braucht es<br />
freilich eine explizite Definition der medizinischen Grundversorgung von seiten<br />
der Politik und nicht einfach vonseiten des freien Marktes, und dies als Antwort<br />
auf das Grundrecht der Gesundheit, das jedoch nicht als Maximalrecht definiert<br />
werden kann. Somit bleibt der solidarische Finanzierungsmodus der Gesetzlichen<br />
Krankenversicherung für die medizinische Regelversorgung erhalten.<br />
Freilich muß auch die Solidarität ihrerseits nochmals in Gleichheit organisiert<br />
sein: Eine Ausweitung der Pflichtmitgliedschaft in der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />
für alle Bürger erscheint konsequent. 10 Zur Förderung des Wettbewerbs<br />
braucht es eine Wahlfreiheit der gesetzlichen Kassen. Mit Hinblick auf die<br />
Krise der klassisch-industriellen Erwerbsarbeit wird man freilich auch über eine<br />
neue Bemessungsgrundlage über Erwerbsarbeit hinaus nachdenken müssen, etwa<br />
auf Mieteinkommen oder Kapitaleinkommen, sofern keine steuerfinanzierte<br />
Krankenversicherung gewollt ist. Eine sozialstaatliche Rationierung im Gesundheitswesen<br />
kann es weder im monetären Klassensystem, noch im sozialen Wertesystem,<br />
noch im utilitaristischen Kosten-Nutzen-Kalkül geben, sondern ethisch<br />
gerecht nur von der Planungsebene absteigend. Die einzige Möglichkeit, komplexe<br />
soziale Gerechtigkeit zu erhalten, ist die „statistische statt individuelle<br />
Rationierung“ 11 . Damit muß dann allerdings auch, wie bei der Reform des<br />
schwedischen Gesundheitssystems, 12 die Unterscheidung zwischen ethischer,<br />
politischer und klinischer Verantwortung und auf dieser Grundlage die Verteilung<br />
knapper Ressourcen einhergehen. Die eigentliche Schwierigkeit freilich<br />
dürfte in der Ausgestaltung eines Kataloges der Ausgrenzung pflichtversicherter<br />
Leistungsbereiche liegen, und hier nochmals im Feld der gentechnischen und<br />
prädiktiven Medizin. Die zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer hat<br />
auf die Notwendigkeit transparenter Verfahren und die Einrichtung kompetenter<br />
Institutionen hingewiesen, zugleich aber auch die Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips<br />
in der Krankenversicherung als Hilfe zur Selbsthilfe gefordert. 13<br />
In der Tat scheint das gerühmte Prinzip der Subsidiarität im Bereich der Solidarversicherungen<br />
bislang noch ein Schattendasein zu fristen.<br />
IV. Gesundheitsversicherung statt Krankenversicherung?<br />
Die moderne Medizin kann nicht nur mehr, als sich ein funktionierender Sozialstaat<br />
in Zukunft in Form solidarischer Pflichtversicherung wird leisten können,<br />
sie kann auch mehr, als derzeit vorstellbar ist. Insbesondere kommt es im Bereich<br />
der gentechnischen Medizin derzeit zu einem Paradigmenwechsel: Nicht<br />
463
nur entsprechen etwa für die Präimplantationsdiagnostik und die pränatale Diagnostik<br />
der Analyse kaum Therapiemöglichkeiten – außer der Abtreibung –,<br />
sondern auch die prädiktive Diagnostik führt zur unbemerkten Neufassung des<br />
Begriffes von Gesundheit. Gesund im Sinn der neuen Technologie könnte „genetisch<br />
ohne Befund“ heißen. Demnach wäre gesund, wer in den genetisch festgelegten<br />
Eigenschaften der Norm entspricht oder sie überbietet. Wie verhält es sich<br />
bei genetisch Nicht-Gesunden mit der gesetzlichen Pflichtversicherung? Und<br />
weiter: Es steht zu befürchten, daß als Folge von pränatalen Diagnostikprogrammen<br />
Eltern zunehmend unter Druck geraten, eine optimale genetische Gesundheit<br />
des Kindes zu gewährleisten. Die Medizin geriete gänzlich in den Sog<br />
einer umfassenden Gesundheitsversicherung.<br />
Dem ist aus theologisch-ethischer Sicht entschieden zu widersprechen: Eine<br />
Krankenversicherung rechnet immer mit der Krankheit einer lebenden menschlichen<br />
Person. Eine Vermeidung jedweder Krankheit um den Preis des Lebens<br />
einer Person, einen Zwang zur optimalen Gesundheit durch Abtreibung, therapeutisches<br />
Klonen oder Keimbahntherapie darf um der Würde der menschlichen<br />
Person willen nicht zum Paradigma werden. Oder schärfer ausgedrückt: Medizin<br />
und Krankenversicherung kurieren am Symptom „Mängelwesen Mensch“ – die<br />
Ursache zu beheben, nämlich das Mängelwesen vorgängig zu vermeiden oder<br />
auf Kosten von menschlichen Individuen zu verbessern, ist ihnen verwehrt. Der<br />
Mensch darf nicht zur technischen Verfügungseinheit einer genetischen Verbesserung<br />
der Menschheit werden. Die Unverfügbarkeit menschlicher Existenz und<br />
ihrer Personwürde ist daher der nicht hintergehbare Referenzpunkt für den demokratischen<br />
Rechtsstaat. Dies aber wirft auch die ethische Frage nach der<br />
Zwangsfinanzierung pränataldiagnostischer Verfahren auf, die „keine sinnvollen<br />
therapeutischen Interventionen zulassen.“ 14<br />
464<br />
V. Theologisch-ethische Nachüberlegung<br />
Eindeutig verschiebt sich in säkularen Gesellschaften der Wert der Gesundheit<br />
deutlich hin zum Ideal der Leidfreiheit, ja bis hin zur weitgehenden Verdrängung<br />
des öffentlichen Todes. Die moderne Hospizbewegung ist auch eine Antwort auf<br />
diese Entwicklung. Ethisch inspirierte Politik, die mehr sein will als billige Tagespragmatik,<br />
darf ein öffentliches Gesundheitssystem nicht in den Ruch endloser<br />
Lebenserhaltung um den Preis ständiger Todesverdrängung bringen. 15 Jenseits<br />
gleicher Grundrechte gilt es auch hier den weitsichtigen Gedanken Odo<br />
Marquards vom heilenden Charakter des „kompensatorischen Glücks“ in den<br />
öffentlichen Diskurs zu bringen; freilich gilt auch: „zuweilen verdecken Kompensationen,<br />
statt zu heilen, nur, daß geheilt werden müßte: das ist dann selber<br />
ein Unglück.“ 16 Jedoch bleibt stets zu fragen nach den ökonomischen und ethischen<br />
Kosten des Heilens, und dies nicht zuletzt im Blick auf die Möglichkeiten<br />
moderner Gentechnik. Vor der ökonomischen Frage steht das ethische Problem<br />
der Bewältigung von Endlichkeit, mithin das fundamentalethische Problem von<br />
absoluter Gesundheit und absolutem Glück: „Es ist nötig, die Medizin von solch<br />
pseudokritischem Absolutheitsdruck zu entlasten, und es ist – auch dafür – wich-
tig, daß die Menschen auf absolute Ansprüche verzichten und – wieder – endlichkeitsfähig<br />
werden.“ 17 Diese vorgängige Entlastung von Medizin und Ökonomie<br />
von falschen Erwartungen ist auch eine Frage der Gerechtigkeit und ist<br />
nicht zuletzt eine Aufgabe kirchlich-theologischer Ethik.<br />
Weit davon entfernt, einem unseligen Dolorismus im Namen des Kreuzes das<br />
Wort reden zu wollen, gilt es doch daran zu erinnern, daß Gesundheit vom lateinischen<br />
Begriff „salus“ hergeleitet ist, und somit zu verstehen „nicht als das<br />
Fehlen von Krankheiten, sondern vielmehr als die Kraft und Fähigkeit, mit<br />
Krankheiten und Behinderungen zu leben.“ 18 Erst infolge solcher Lebensfähigkeit<br />
gewinnt ein Leben seine innere unverwechselbare Qualität, die weit mehr<br />
umgreift als eine bloße Quantität des Überlebens. 19 Es ist eine zentrale Aufgabe<br />
der theologischen Ethik, auf der Grundlage des christlichen Gottesbegriffs auf<br />
diese umfassende Sicht menschlichen Lebens aufmerksam zu machen und damit<br />
einer schleichenden Immanentisierung von Bedürfnisansprüchen zu wehren. Auf<br />
Dauer wird kein Finanzierungssystem ein prinzipiell unbegrenztes Bedürfnis<br />
nach umfassender Gesundheit befriedigen können. In dieser Sicht fordert die<br />
Ethik eine Rationierung um des Menschenbildes willen: kompensatorisches<br />
Glück und kompensatorische Gesundheit gehen mit einer rationierten Krankenversicherung<br />
einher. Nicht jeder Anspruch des Individuums ist solidarsystemisch<br />
abzusichern. Wo dieses Bewußtsein dauerhaft schwindet, zerfällt ein wesentlicher<br />
Grundkonsens der Gesellschaft – lange bevor eine wesentliche Grundfinanzierung<br />
zerfällt.<br />
Literatur<br />
Arnold, M. (1998): Die Janusköpfigkeit des medizinischen Fortschritts, in: Universitas 53,<br />
S. 308–318.<br />
Arntz, K. (1996): Unbegrenzte Lebensqualität?, Münster.<br />
Bischofberger, E. (1995), Prioritätensetzung im schwedischen Gesundheitssystem, in:<br />
Zeitschrift für medizinische Ethik 41, 242–246.<br />
Charlesworth, M. (1997): Leben und Sterben lassen. Bioethik in der liberalen Gesellschaft,<br />
Hamburg.<br />
Dokumentation der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zu Prioritäten<br />
in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />
(2000): in: Sozialer Fortschritt 49, S. 143–146.<br />
Ewald, F. (1998): Die Rückkehr des genius malignus: Entwurf zu einer Philosophie der<br />
Vorbeugung, in: Soziale Welt 49, 5–24.<br />
Giertler, R. (1998): Medizin im Umbruch der Sozialstruktur, in: Renovatio 1–2, S. 30–31<br />
Halbfas, M. (2000): Die Zukunft der Medizin – Anlaß zu Hoffnung?, in: Orientierung 64,<br />
S. 162–168.<br />
Hradil, S. (1995): Die „Single-Gesellschaft“, München.<br />
Jonas, H. (1985): Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt/M.<br />
Kliemt, H. (1996): Pränataldiagnostik und genetisches Screening im freiheitlichdemokratischen<br />
Rechtsstaat, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 4, S. 99–111.<br />
465
Krämer, W. (1996) Leben um jeden Preis? Rationierung im Gesundheitswesen, in: Universitas<br />
51, 647–657.<br />
Marquard, O. (1994): Medizinerfolg und Medizinkritik, in: Ders. (1994): Skepsis und<br />
Zustimmung, Stuttgart, S. 99–109.<br />
Marquard, O. (1995): Glück und Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen<br />
Theodizee und Geschichtsphilosophie, in: Ders. (1995): Glück im Unglück, München, S.<br />
11–38.<br />
Neubauer, G. (1993): Wie krank ist das Gesundheitswesen?, in: Rauscher, A. (Hrsg.),<br />
Probleme der sozialen Sicherungssysteme, Köln, S. 111–128.<br />
Oberender, P. / Herborn, A. (1994), Wachstumsmarkt Gesundheit. Therapie des Kosteninfarkts,<br />
Frankfurt/M.<br />
Salomon, F. (1991): Leben und Sterben in der Intensivmedizin. Eine Herausforderung an<br />
die ärztliche Ethik, Lengerich.<br />
Salomon F. (1996): Dem Tod keinen Raum geben? Ärztliches Handeln zwischen Lebenserhaltung<br />
und Todesverdrängung, in: Stimmen der Zeit 214, 315–327.<br />
Schramm, M. (1997): Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems, in: Zeitschrift für<br />
medizinische Ethik 43, S. 233–244.<br />
Anmerkungen<br />
1) Jonas (1985), S. 47.<br />
2) Salomon (1991).<br />
3) Arnold (1998), S. 308-318.<br />
4) Charlesworth (1997), S. 131-197.<br />
5) Hradil (1995).<br />
6) Ewald (1998), S. 9.<br />
7) Neubauer (1993), S. 111-128.<br />
8) Halbfas (2000), S. 162.<br />
9) Schramm (1997), S. 234.<br />
10) Oberender (1994), S. 144.<br />
11) Krämer (1996), S. 656.<br />
12) Bischofberger (1995), S. 242-246.<br />
13) Dokumentation (2000), S. 143-146.<br />
14) Kliemt (1996), S. 104.<br />
15) Salomon (1996), S. 315-327.<br />
16) Marquard (1995), S. 36.<br />
17) Marquard (1994), S. 108.<br />
18) Giertler (1998), S. 31.<br />
19) Arntz (1996).<br />
Dr. Peter Schallenberg ist Direktor der „Kommende“, des Sozialinstituts des<br />
Erzbistums Paderborn.<br />
466
Manfred Spieker<br />
„Gerechter Friede“<br />
Kritische Anmerkungen zum Hirtenbrief der<br />
deutschen Bischöfe vom 27. September 2000<br />
Zwischen dem großen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe „Gerechtigkeit schafft<br />
Frieden“ vom 18. April 1983 und dem zweiten Hirtenbrief zum gleichen Thema<br />
„Gerechter Friede“ vom 27. September 2000 hat sich die Welt gründlich verändert.<br />
Der Kalte Krieg ging zu Ende und mit ihm der bipolare Ost-West-Konflikt.<br />
Aber die Freude und die Hoffnung, die der Zusammenbruch des Kommunismus<br />
und der Fall der Mauer auslösten und die in der Pariser KSZE-Charta für ein<br />
neues Europa vom 21. November 1990 ihren schönsten Niederschlag fanden 1 ,<br />
wichen schnell neuer Angst, Trauer und Ratlosigkeit – Angst vor ethnischen und<br />
religiösen Konflikten, einem Kampf der Kulturen und einem globalen Terrorismus,<br />
Trauer über neue Kriege am Golf und in Afrika, im Kaukasus, auf dem<br />
Balkan und nun in Afghanistan und Ratlosigkeit ob der Ineffizienz diplomatischer<br />
Bemühungen und ökonomischer Sanktionen.<br />
Für einen neuen Hirtenbrief zum Frieden gab es also mannigfaltige Gründe: Die<br />
Frage nach der Vergangenheitsbewältigung in gespaltenen Gesellschaften wie in<br />
den postkommunistischen Staaten oder in Südafrika stellte sich ebenso wie die<br />
nach den legitimen Mitteln zur Verhinderung oder Beendigung der Massaker in<br />
den neuen, meist ethnisch bedingten Bürgerkriegen, nach der Durchsetzung der<br />
Menschenrechte, der Gewaltprävention und dem Kampf um soziale Gerechtigkeit<br />
unter den Bedingungen einer beschleunigten Globalisierung. Keiner dieser<br />
Fragen weicht der neue Hirtenbrief aus. Er beantwortet sie mit plausiblen, klaren<br />
und in der Tradition der Friedensethik der katholischen Soziallehre stehenden<br />
Argumenten.<br />
In einer adäquaten Vergangenheitsbewältigung sehen die Bischöfe mit Recht<br />
einen Schlüssel zur Sicherung des neu gewonnenen Friedens. Einfach einen<br />
Schlußstrich unter das Vergangene ziehen, „beleidigt die Opfer. Es ist daher gut,<br />
nach Erfahrungen massenhafter und systematischer Gewalt sogenannte Wahrheitskommissionen<br />
einzurichten“. 2 Man müsse versuchen, die Opfer zu rehabilitieren<br />
und „das ihnen Angetane wenigstens ein Stück weit wieder gutzumachen“<br />
(119). Dadurch werde Konfliktnachsorge zur Konfliktvorbeugung. 3<br />
Ein Herzstück des neuen Hirtenbriefes ist der Abschnitt „Zur Problematik bewaffneter<br />
Interventionen“. Es geht hier um die Legitimität militärischen Eingreifens<br />
fremder Staaten oder Staatenbündnisse zur Verhinderung oder Beendigung<br />
von Ve rtreibungen und Massakern an der Zivilbevölkerung in ethnisch und/oder<br />
religiös bedingten Bürgerkriegen. Der Hirtenbrief meistert diese Frage mit einer<br />
plausiblen Übertragung der Kriterien der bellum-iustum-Lehre auf die Problematik<br />
humanitärer Interventionen. 4 Das Ziel, Gewaltanwendung aus der internatio-<br />
467
nalen Politik zu verbannen, könne „auch in Zukunft mit der Pflicht kollidieren,<br />
Menschen vor fremder Willkür und Gewalt wirksam zu schützen. Dies gilt nicht<br />
nur in herkömmlichen zwischenstaatlichen Konflikten, sondern auch bei systematischer<br />
Gewaltanwendung gegen verfolgte Minderheiten innerhalb bestehender<br />
Staaten oder in Fällen terroristischer Geiselnahme und Erpressung“ (150).<br />
Die Anwendung von Gegengewalt komme „überhaupt nur als ultima ratio in<br />
Betracht“. Auch als „geringeres Übel“ bleibe sie ein Übel (151), aber sie ist<br />
keine Aggression, sondern eine Art Notwehr der internationalen Gemeinschaft,<br />
um „den schutzlosen Opfern schwerwiegender und systematischer Verletzung<br />
der Menschenrechte innerhalb eines Staates durch eine gewaltsame Intervention<br />
zu Hilfe zu kommen“ (152).<br />
Der Einsatz der Gewalt müsse „sich auf jenes Maß beschränken, das zur Einlösung<br />
von Solidaritätspflichten unabdingbar ist“. Er müsse die Zivilbevölkerung<br />
„soweit wie nur möglich“ verschonen (155). Es müsse eine hinreichende Wahrscheinlichkeit<br />
bestehen, daß die Gewaltanwendung ihr Ziel tatsächlich erreichen<br />
kann und die Lage nicht etwa noch verschlimmert wird“, das heißt der Einsatz<br />
militärischer Mittel muß den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (156).<br />
Er muß das ius in bello einhalten (157 und 151), Maßnahmen zur Linderung der<br />
Flüchtlingsnot vorsehen (158) und „mit einer politischen Perspektive verbunden<br />
sein, die grundsätzlich mehr beinhaltet als die Rückkehr zum status quo ante“<br />
(159-161). Die kompetenten Erörterungen des Hirtenbriefes lassen sich auch auf<br />
die aktuelle Problematik militärischer Bekämpfung des globalen Terrorismus<br />
übertragen. Sie bieten einen Maßstab zur sittlichen Bewertung der Intervention<br />
der internationalen Anti-Terror-Koalition in Afghanistan.<br />
Auch auf die Frage nach Bausteinen für einen gerechten Frieden und für eine<br />
Zivilis ation der Liebe bietet der Hirtenbrief eine Fülle von Antworten, die in der<br />
Tradition der Friedensethik der katholischen Soziallehre stehen. Er will kein<br />
politisches Programm anbieten, das die Kompetenzen der Bischöfe überschreiten<br />
würde (57). Die Leitprinzipien eines gerechten Friedens seien Gerechtigkeit und<br />
Solidarität. Ihre Realisierung bedürfe an erster Stelle des Schutzes der Menschenwürde<br />
und der Menschenrechte, die „nicht nur universal, sondern auch<br />
unteilbar (sind). Nicht nur stehen sie jedem Menschen zu, sondern jeder hat<br />
Anspruch auf alle Menschenrechte“ (73). Ihre Sicherung bedürfe in vielen Entwicklungsländern<br />
der Reform der Strukturen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.<br />
„Menschenrechte und Demokratie, wirtschaftliche und soziale Entwicklung<br />
und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen stehen also in engem<br />
Zusammenhang“ (71).<br />
Zum Minderheitenschutz, zur Stärkung internationaler Organisationen, zur weiteren<br />
Rüstungskontrolle und zur politischen und sozialen Flankierung der ökonomischen<br />
Globalisierung weiß der Hirtenbrief ebenfalls viele bedenkenswerte<br />
und orientierende Überlegungen anzubieten. Schließlich versteht er es in einem<br />
abschließenden Kapitel, die vielen Dienste der Kirche für die Versöhnung, die<br />
Erziehung der Jugend, den Frieden, die Solidarität und die Entwicklungszusammenarbeit,<br />
den ökumenischen Dialog und den Dialog mit anderen Religionen<br />
und nicht zuletzt die Liturgie, die Sakramente und die franziskanische Spirituali-<br />
468
tät des Friedens als Bausteine einer Zivilisation der Liebe zu präsentieren. Die<br />
Feststellung, daß „Christen oft ein bemerkenswertes Vertrauen in Situationen<br />
(genießen), in denen Mißtrauen und Feindseligkeit vorherrschen“, ist durchaus<br />
nicht eitel. „Ob bei Geiselnahmen, Bürgerkriegen oder militärischen Konfrontationen,<br />
immer wieder werden Geistliche und überzeugende Christen gebeten, zu<br />
vermitteln“ (178).<br />
Neben den Bausteinen für eine Zivilisation der Liebe bietet der Hirtenbrief aber<br />
auch eine Reihe von Stolpersteinen, die früheren Stellungnahmen der deutschen<br />
Bischöfe fremd waren und auch heute befremdlich wirken. Zum ersten Mal stolpert<br />
der Leser bereits in der Einleitung, die ein Zitat aus der 1989 beendeten<br />
Ökumenischen Versammlung „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“<br />
der DDR enthält. Darin hatten die Kirchen behauptet: „Mit der notwendigen<br />
Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten<br />
Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein<br />
Ende“ (1). Ob sie die „notwendige“ Überwindung des Krieges auch für möglich<br />
halten, darüber sagen die Bischöfe nichts. Im Text der Ökumenischen Versammlung<br />
der DDR war die Hoffnung auf eine Überwindung des Krieges keine eschatologische,<br />
sondern eine politische Vision, die mit den modernen Massenvernichtungsmitteln<br />
und dem Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ begründet<br />
wurde. 5 Mit christlichem Realismus, der bis zum Ende aller Tage mit dem Bösen<br />
rechnen muß, hatte diese Vision nichts zu tun. Sie gründete vielmehr im Blockdenken<br />
des damaligen Ost-West-Konflikts.<br />
Daß die Lehre vom gerechten Krieg nicht an ein Ende gekommen ist, demonstriert<br />
der Hirtenbrief selbst in seiner schon erwähnten Erörterung der Problematik<br />
bewaffneter Interventionen, in der er diese Interventionen an den klassischen<br />
Kriterien eben dieser Lehre mißt. Auch wenn er die Begriffe „bellum iustum“<br />
und „gerechter Krieg“ vermeidet, so steht er doch in deren Tradition und damit<br />
in der Tradition des Hirtenbriefes „Gerechtigkeit schafft Frieden“ von 1983 und<br />
des Katechismus der katholischen Kirche von 1993, die diese Lehre ausdrücklich<br />
bestätigten. Da Gewaltanwendung im Zusammenleben der Völker nie ausgeschlossen<br />
werden könne, schrieben die Bischöfe 1983, „behält der ethisch-normative<br />
Kerngehalt der Lehre ‚gerechter Verteidigung’ innerhalb einer umfassenden<br />
Friedensethik der Kirche eine beschränkte, im konkreten Fall schwierige,<br />
dennoch für die ethische Orientierung bis jetzt unersetzliche Funktion, nämlich<br />
im Hinblick auf den Grenzfall einer fundamentalen Verteidigung des Lebens und<br />
der Freiheit der Völker, wenn diese in ihrer elementaren physischen und geistigen<br />
Substanz bedroht oder gar verletzt werden“. 6 Der Weltkatechismus schließlich<br />
listet die klassischen Bedingungen auf, unter denen es einem Volk gestattet<br />
sei, sich in Notwehr militärisch zu verteidigen und stellt dann fest: „Dies sind die<br />
herkömmlichen Elemente, die in der sogenannten Lehre vom ‚gerechten Krieg’<br />
angeführt werden.“ 7 Die Feststellung des Hirtenbriefes von 1983, daß die Theorie<br />
vom bellum iustum, die besser mit Lehre von der „gerechten Ve rteidigung“<br />
übersetzt werde 8 , nicht allein Grundlage sein könne für ein Gesamtkonzept<br />
kirchlicher Friedensethik 9 , ist eine Mahnung, deren Sinn nicht leicht einsehbar<br />
ist, da niemand je behauptet hat, sie sei die alleinige Grundlage kirchlicher Frie-<br />
469
densethik. Sie scheint eine Reverenz an jene Kräfte der Friedensbewegung zu<br />
sein, die gegen die bellum iustum-Lehre opponierten.<br />
Ein zweiter Stolperstein des Hirtenbriefes „Gerechter Friede“ ist sein Begriff der<br />
Gewalt. Die Welt stecke „auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt.<br />
Verhältnisse fortdauernder schwerer Ungerechtigkeit sind in sich gewaltgeladen<br />
und gewaltträchtig“ (59). Kein Zweifel, es gibt viel Ungerechtigkeit, auch große,<br />
himmelschreiende Ungerechtigkeit in der Welt. Aber alle Verhältnisse schwerer<br />
Ungerechtigkeit unter den Begriff der Gewalt zu subsummieren und damit die<br />
Legitimität jeder „Gegengewalt“ zu suggerieren, bedeutet eine Entgrenzung des<br />
Gewaltbegriffs, die – wie Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“<br />
Ende der 60er Jahre – fatale Folgen für eine Gesellschaft und ihre Fähigkeit,<br />
Konflikte gewaltlos auszutragen, haben kann. Die Identifizierung von Unrecht<br />
und Gewalt erlaubt darüber hinaus keine Unterscheidung mehr zwischen legitimer<br />
Gewalt zur Durchsetzung des Rechts und illegitimer Gewalt, die das Recht<br />
mißachtet. 10<br />
Daß das Recht und seine Durchsetzung eine wesentliche Voraussetzung eines<br />
gerechten Friedens ist, diese Erkenntnis hat seit Platon nichts von ihrer Gültigkeit<br />
verloren. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist die jüngste<br />
institutionelle Frucht dieser Erkenntnis. Nicht daß der Hirtenbrief sich von dieser<br />
Erkenntnis distanziert. Aber er verrät an einer Stelle einen Rechtsbegriff, der den<br />
Leser nicht nur stolpern, sondern straucheln läßt. Nachdem er die Solidarität ein<br />
Leitprinzip auf der Suche nach einem gerechten Frieden genannt hat, behauptet<br />
er, Solidarität beginne, „wo die Gewalt der Waffen und die Macht des Rechts<br />
enden und das eigene Interesse, so berechtigt es auch sein mag, freiwillig zugunsten<br />
anderer zurückgestellt wird“ (65). Diese Gleichsetzung der Macht des<br />
Rechts mit der Gewalt der Waffen verschlägt einem den Atem. Man liest die<br />
Stelle zweimal, dreimal, fragt nach ausgelassenen Zeilen, Druckfehlern, es bleibt<br />
dabei: Der Macht des Rechts scheint der Hirtenbrief nichts Gutes abgewinnen zu<br />
können. Dabei ist, es sei wiederholt, die Durchsetzung des Rechts, insbesondere<br />
der Menschenrechte, doch der Anfang der Solidarität. Gewiß geht Solidarität<br />
dann über die Regelung von Rechtsverhältnissen hinaus, aber sie wird die Macht<br />
des Rechts niemals mißachten.<br />
Ein weiteres Mal ins Stolpern gerät der Leser bei der Erwähnung der Ursachen<br />
der Wende von 1989/90 und bei der Erörterung der Instrumente kollektiver Friedenssicherung.<br />
Allein das Konzept der Entspannung habe, so der Hirtenbrief,<br />
„subversive Energie“ entwickelt, „die dazu beitrug den Eisernen Vorhang zu<br />
sprengen“ (60). Das ist – zurückhaltend formuliert – doch eine sehr verkürzte<br />
Darstellung der Geschichte der 70er und 80er Jahre. Nach der Konferenz für<br />
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 in Helsinki, mit der das<br />
Entspannungskonzept zum Leitmotiv der Ost-West-Politik hätte werden sollen,<br />
hatte sich über mehr als zehn Jahre nichts geändert: Der Kalte Krieg ging weiter,<br />
die Rüstung expandierte, die Sowjetunion erstarrte und an der Mauer wurden<br />
weiter Flüchtlinge von den Grenzpatrouillen der DDR erschossen. Ohne den<br />
Nachrüstungsbeschluß der NATO von 1979, die Entschlossenheit der Regierungen<br />
Reagans und Kohls, diesen Beschluß 1983 umzusetzen, ohne die Flexibilität<br />
470
des 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählten Gorbatschow und ohne die<br />
Polenreisen Papst Johannes Pauls II. 1979 und in den 80er Jahren wäre der Eiserne<br />
Vorhang nicht gefallen.<br />
Mit der NATO tut sich der Hirtenbrief überaus schwer. Ihre Bedeutung für die<br />
Erhaltung des Friedens von 1949 bis 1989 wird an keiner Stelle in den Blick<br />
gerückt. Als friedenssichernde internationale Organisationen kennt er nur die<br />
UNO und die OSZE (106, 107). Erst mit der Auflösung des Warschauer Paktes<br />
und dem Beitritt der mitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechien und Ungarn<br />
1999 sei die NATO zu einem Instrument kooperativer Sicherheit in Europa geworden<br />
(137). Dies war sie aber seit 1949. Papst Paul VI. hat diese Funktion<br />
1972 gewürdigt, als er erklärte, die NATO diene der Verteidigung einer Kultur,<br />
deren Geist „aus echter christlicher Tradition erwuchs“ und „der wir uns alle zu<br />
Recht verbunden fühlen“. 11<br />
Die selektive Erinnerung des Hirtenbriefes an die Geschichte des Kalten Krieges<br />
und die Systeme kollektiver Sicherheit, die in dieser Form heute nicht einmal<br />
mehr von den Grünen geteilt wird, verrät eine politische Weltsicht, die den deutschen<br />
Bischöfen bisher fremd war und die sich auch in einigen Beurteilungen der<br />
Weltlage an der Jahrhundertwende niederschlägt. Der Hirtenbrief zitiert aus der<br />
Sozialenzyklika Centesimus Annus die Ziffer 42, in der Johannes Paul II. von<br />
der Gefahr spricht, daß sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in<br />
der Welt eine kapitalistische Ideologie ausbreite, die es ablehnt, Probleme der<br />
sozialen Gerechtigkeit insbesondere in der Dritten Welt auch nur zu erörtern.<br />
An das Zitat schließt der Brief die Behauptung an: „Nach fast zehn Jahren wissen<br />
wir, daß sich diese Prognose leider bewahrheitet hat. Die Folgen sind nicht<br />
zu übersehen: weitreichende Entsolidarisierung im Zeichen wachsender Ungerechtigkeit<br />
in der sich unaufhaltsam globalisierenden Welt. Wir halten es deswegen<br />
für abwegig, auf reine Deregulierung als Allheilmittel zu setzen“ (63). Aus<br />
der päpstlichen Warnung wird hier unter der Hand eine Prognose. Wer die an<br />
vielen Stellen notwendige Deregulierung, die noch an weiteren Stellen des Hirtenbriefes<br />
beklagt wird (95, 99), als „Allheilmittel“ (wofür?) anbot, wird nicht<br />
gesagt. Belege für diesen Kassandra-Ruf werden für überflüssig gehalten. Daß<br />
sich viele internationale Organisationen – UNO-Konferenzen, EU-Gipfel, selbst<br />
der IWF, die WTO und der G8-Gipfel von Köln 1999 – mit Problemen der Dritten<br />
Welt befaßt haben und immer wieder befassen, wird übergangen. Es scheint<br />
nicht in ein wenig differenziertes Weltbild zu passen.<br />
Eine Schlüsselrolle bei der Friedensarbeit mißt der Hirtenbrief mit Recht der<br />
Zivilgesellschaft zu. Ihr widmet er fünf Ziffern (122-126). Doch der Begriff der<br />
Zivilgesellschaft, auf den sich der Hirtenbrief stützt, birgt den sechsten Stolperstein.<br />
Für die Autoren zählen allein jene informellen und formellen Gruppen,<br />
Verbände, Vereinigungen und Initiativen zur Zivilgesellschaft, die „weder dem<br />
Bereich des Staates noch dem der Wirtschaft zugehören“ (122). Die Parteien<br />
kommen in diesem Konzept nicht vor. Mit dieser in der Diskussion über die<br />
Zivilgesellschaft durchaus umstrittenen Ausgrenzung der Parteien folgt der Hirtenbrief<br />
einem Konzept, das eher basisdemokratisch orientiert ist und zum Beispiel<br />
von Andrew Arato und Ulrich Preuß vertreten wird. In diesem Konzept<br />
471
wird die Zivilgesellschaft in Stellung gebracht gegen den Staat. 12 Wenn aber die<br />
Zivilgesellschaft eine Gesellschaft freier, selbstbewußter und aktiver Bürger ist,<br />
die sich in einer relativ staatsfreien Sphäre selbst organisieren, dann gehören die<br />
Parteien als gesellschaftliche Organisationen, in denen politische Meinungen und<br />
Optionen aggregiert und artikuliert werden, zur Zivilgesellschaft. Sie sind nicht<br />
Teil des Staates. Für die politische Willensbildung und für die Rekrutierung der<br />
Mandatsträger in einer Demokratie sind sie unverzichtbar. Mit seinem defizitären<br />
Begriff der Zivilgesellschaft leistet der Hirtenbrief weder der Entwicklung des<br />
politischen Bewußtseins in der Demokratie noch der Friedensarbeit, die auf die<br />
Politik und damit auch die Parteien angewiesen bleibt, einen Dienst.<br />
Genug der kritischen Anmerkungen. Vielleicht war der Hirtenbrief mit seinen<br />
115 Seiten den meisten Bischöfen zu lang, um ihn einer vollständigen und genauen<br />
Lektüre zu unterziehen. Aber wenigstens von der zuständigen Kommission<br />
VI für gesellschaftliche und soziale Fragen hätte man diese Lektüre erwarten<br />
können. Ob bewußt oder im Gang der Geschäfte en passant, er wurde verabschiedet<br />
und der Öffentlichkeit übergeben. Seine Stolpersteine markieren eine<br />
deutliche Kursänderung der Deutschen Bischofskonferenz in gesellschaftlichen<br />
und politischen Fragen. Von einer Annäherung der Bischöfe an die rot-grüne<br />
Bundesregierung läßt sich dabei kaum noch sprechen, stehen Schröder und Schily,<br />
Fischer und Wieczorek-Zeul in den Themen, die stolpern lassen, dem früheren<br />
Kurs der Bischöfe doch viel näher als der neue Hirtenbrief. Die Stolpersteine<br />
erschweren die Rezeption der wichtigen Orientierungen, die der Hirtenbrief im<br />
Licht der Friedensethik der katholischen Soziallehre auch anbietet und die eingangs<br />
skizziert wurden.<br />
Anmerkungen<br />
1) Charta für ein neues Europa. Erklärung des KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs<br />
in Paris vom 21.11.1990, in: Manfred Spieker, Hrsg., Friedenssicherung Bd. 4,<br />
Die Neuordnung Europas, Münster 1991, S. 133ff. „Das Zeitalter der Konfrontation und<br />
der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, daß sich unsere Beziehungen<br />
künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe<br />
der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker<br />
und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter<br />
der Demokratie, des Friedens und der Einheit an. Nun ist die Zeit gekommen, in der<br />
sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen:<br />
Unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden<br />
Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit<br />
und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.“<br />
2) Gerechter Friede, Ziffer 118; die im Folgenden im Text in Klammern genannten Ziffern<br />
beziehen sich auf den Hirtenbrief „Gerechter Friede“.<br />
3) Vgl. dazu auch Werner Wertgen, Vergangenheitsbewältigung: Interpretation und Verantwortung.<br />
Ein ethischer Beitrag zu ihrer theoretischen Grundlegung, Paderborn 2001.<br />
4) Vgl. dazu auch M. Spieker, Zur Aktualität der Lehre vom „gerechten Krieg“. Von<br />
nuklearer Abschreckung zur humanitären Intervention, in: Die Neue Ordnung, 54. Jg.<br />
(2000), S. 4-18.<br />
472
5) Gerechtigkeit – Frieden – Bewahrung der Schöpfung. Die Ergebnisse der Ökumenischen<br />
Versammlung von Dresden-Magdeburg und Basel, hrsg. von der Arbeitsgruppe<br />
„Justitia et Pax“ der Berliner Bischofskonferenz, Leipzig 1990, S. 30.<br />
6) Gerechtigkeit schafft Frieden, in: Die Deutschen Bischöfe 34, hrsg. vom Sekretariat der<br />
Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1983, S. 41.<br />
7) Katechismus der Katholischen Kirche 2309.<br />
8) Gerechtigkeit schafft Frieden, a.a.O., S. 33.<br />
9) A.a.O., S. 37.<br />
10) Vgl. auch Ulrich Matz, Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates<br />
und der Revolution, Freiburg/München 1975, S. 70ff.<br />
11) Paul VI, Ansprache an die Teilnehmer des 39. Lehrgangs des NATO-<br />
Verteidigungsrates am 3.2.1972, in: Dienst am Frieden. Stellungnahmen der Päpste, des<br />
II. Vatikanischen Konzils und der Bischofssynode, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen<br />
Bischofskonferenz, 2. Aufl. Bonn 1982, S. 125f. Vgl. auch Samuel P. Huntington, Der<br />
Kampf der Kulturen, 2. Aufl. München/Wien 1997, S. 203f. und 256.<br />
12) Vgl. M. Spieker, Herrschaft und Subsidiarität: Die Rolle der Zivilgesellschaft, in:<br />
Wolfgang J. Mückl, Hrsg., Subsidiarität. Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung<br />
in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn 1999, S. 49-61.<br />
Prof. Dr. Manfred Spieker lehrt Christliche Sozialwissenschaften an der Universität<br />
Osnabrück.<br />
<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong> <strong>ORDNUNG</strong><br />
Einbanddecken<br />
für den 55. Jahrgang 2001<br />
für 15,- Euro ab sofort zu bestellen bei:<br />
Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg<br />
Simrockstraße 19 53113 Bonn<br />
473
474<br />
Joseph Cardinal Ratzinger<br />
Zum Tode von Arthur F. Utz O.P.<br />
Geboren am 15. April 1908 – gestorben am 18. Oktober 2001<br />
Nun ist also der gute Pater Utz heimgegangen. Über Jahrzehnte war er ein Meister,<br />
dessen Kompetenz unerreichbar blieb. In den Stürmen der Zeit war er wie<br />
eine Eiche. Unbeirrbar hat er am Glauben und an seiner Treue zum Apostolischen<br />
Stuhl festgehalten und gerade damit der Stimme der Vernunft Gehör verschafft.<br />
Er wird auch weiterhin ein Meister und ein Vorbild bleiben.<br />
Joseph Cardinal Ratzinger ist Präfekt der Glaubenskongregation in Rom.
Besprechungen<br />
Grundlagen der Ökonomie<br />
Ein Buch, das zunächst für ausgebildete<br />
Fachleute der Volks- und der<br />
Betriebswirtschaft gedacht ist, sollte<br />
auch die Aufmerksamkeit der Sozialethiker<br />
und Sozialphilosophen finden.<br />
Es diagnostiziert scharfsinnig einen<br />
Grundfehler wirtschaftwissenschaftlichen<br />
Denkens, der auch verantwortlich<br />
zeichnet für wirtschaftethische<br />
und sozialpolitische Fehlurteile:<br />
Karl-Heinz Brodbeck: Die fragwürdigen<br />
Grundlagen der Ökonomie.<br />
Eine philosophische Kritik der<br />
modernen Wirtschaftswissenschaften.<br />
Wissenschaftliche Buchgesellschaft<br />
Darmstadt, 2. Aufl. 2000,<br />
298 S.<br />
Der Verfasser, selbst Professor für<br />
Volkswirtschaftslehre, greift die<br />
modernen Wirtschaftswissenschaften<br />
nicht, wie so manche Zeitgenossen<br />
es heute gerne tun, wegen ihrer<br />
neoliberalen Ausrichtung und deren<br />
vermeintlichen sozialen Folgen an,<br />
sondern setzt viel tiefer an. Er attakkiert<br />
nicht eine spezielle Schule,<br />
sondern eine Voraussetzung, die<br />
verwandten Richtungen gemeinsam<br />
ist. Grenznutzen, Nutzenmaximierung,<br />
Grenzproduktivitätstheorie,<br />
rationale Wahl, Gleichgewichtstheorie<br />
und anderes spielen in den<br />
Facetten der Neoklassik wichtige, ja<br />
entscheidende Rollen, beruhen aber<br />
auf einem Grundirrtum, der ihnen<br />
gemeinsam ist und das Interesse der<br />
Philosophen beansprucht. Dieser<br />
Irrtum ist letztlich anthropologischer<br />
Art und betrifft sowohl das<br />
Individuum als auch die Gesellschaft<br />
mit ihren Institutionen. Der<br />
Autor argumentiert bei aller Detail-<br />
kenntnis der Ökonomie genuin philosophisch<br />
mit profundem Wissen<br />
aus der systematischen und historischen<br />
Philosophie.<br />
Was den naturrechtlich denkenden<br />
Sozialethiker besonders vertraut ist,<br />
zeigt Brodbeck bereits zu Beginn:<br />
„Der antimetaphysische Gestus (...)<br />
im Namen von Logik und Empirie<br />
vergaß, daß die Ablehnung der Metaphysik<br />
selbst eine metaphysische<br />
Aussage ist.“ (S. 9) In den Wirtschaftswissenschaften<br />
wird eine verborgene,<br />
heimliche Metaphysik als<br />
Basis benutzt, nämlich eine klassische<br />
Physik, die soziale Realität mit<br />
der physischen gleichsetzt und somit<br />
durch und durch mathematisierbar<br />
erscheint. „Soziale Physik“ nennt<br />
Brodbeck diese Denkweise, welche<br />
die Resultate der menschlichen Handlungen<br />
als Lösung von Gleichungen<br />
betrachtet (S. 41) Das Individuum<br />
und seine Freiheit – der Autor nennt<br />
sie Kreativität – werden ausgeklammert.<br />
An den Phänomenen Natur,<br />
Zeit und Rationalität wird diese Reduktion<br />
auf das Quantitative in den<br />
Wirtschaftswissenschaften dargestellt<br />
und als unzureichende Beschreibung<br />
der Wirklichkeit kritisiert. Der Autor<br />
kommt zu dem Schluß, daß der neoklassische<br />
Versuch, „die Entwicklung<br />
einer Volkswirtschaft unter der Vo raussetzung<br />
zu beschreiben, daß zwischen<br />
Faktorgruppen und Produkten<br />
eine mechanische Kausalität besteht“<br />
(S. 168), gescheitert ist; denn das<br />
Handeln von Subjekten ist kein einliniger<br />
kausaler Prozeß, schon gar nicht<br />
der Geist und die Ideen des Menschen<br />
ein dem Kausalgesetz unterworfenes<br />
Naturding. „Zum Begriff des Handelns,<br />
der Praxis selbst gehört ein<br />
Bezug auf Theorie, auf die Idee oder<br />
den Begriff“ (S. 199). Brodbeck<br />
beruft sich auf Schumpeter, der mit<br />
seiner Betonung des schöpferischen,<br />
475
zugleich auch zerstörerischen Handelns<br />
„einen wirklichen Schritt über<br />
die mechanische Beschreibung hinaus<br />
auf eine postmechanische Ökonomie<br />
zu getan hat“ (S. 245). Auch Hayeks<br />
Ablehnung einer zentralen Planwirtschaft<br />
ist begründet in der Feststellung,<br />
daß menschliche Freiheit nicht<br />
rein rational berechenbar ist. Brodbeck<br />
spricht vom „Dunkel“ der<br />
menschlichen Freiheit, die sich nicht<br />
der Rationalität einfach fügt, und zitiert<br />
Hayek: „Der Gebrauch der Ve rnunft<br />
zielt auf Kontrolle und Vorhersagbarkeit.<br />
Dagegen beruht aber der<br />
Prozeß des Fortschreitens der Ve rnunft<br />
auf der Freiheit und Unvorhersagbarkeit<br />
der menschlichen Handlungen.“<br />
(S. 255) Die hier vorgelegte<br />
Analyse besticht und bestätigt Grundauffassungen<br />
christlicher Anthropologie.<br />
Was die gewonnenen Einsichten<br />
für sozial- und wirtschaftspolitische<br />
Folgerungen zeitigt, das bleibt<br />
uns der Autor leider noch schuldig.<br />
476<br />
Hans Joachim Türk<br />
Soziale Marktwirtschaft<br />
In einer Zeit geschickt instrumentalisierter<br />
Emotionen tut es gut, den Terminus<br />
der „Leitidee“ als einen Kernbegriff<br />
im Lebenswerk des großen<br />
Vordenkers der Sozialen Marktwirtschaft,<br />
Alfred Müller-Armack, behandelt<br />
zu sehen, eine Idee, die Wohlstand<br />
und soziale Ve rnetzung in<br />
unserem Land maßgeblich gefördert<br />
hat. In der etwas verkürzten Fassung<br />
seiner von Trutz Rendtorff begleiteten<br />
Dissertation bringt Daniel Dietzfelbinger<br />
diese Idee systematisiert in die<br />
aktuelle Diskussion um eine wirtschaftsethische<br />
Standortbestimmung<br />
mit ein.<br />
Daniel Dietzfelbinger: Soziale<br />
Marktwirtschaft als Wirtschafts-<br />
stil. Alfred Müller-Armacks Lebenswerk,<br />
Chr. Kaiser/Gütersloher<br />
Verlagshaus 1998, 336 S.<br />
Die drei Hauptabschnitte, in denen es<br />
um Leben und Werk Müller-Armacks,<br />
die von ihm geprägte Stiltheorie<br />
sowie die Anwendung derselben<br />
auf die Wirtschaftsethik geht, sind gerahmt<br />
von einer kurzen Darstellung<br />
der wirtschaftsethischen Motivation<br />
wie einem abschließenden Ausblick,<br />
der den roten Faden der anfangs gestellten<br />
Fragen aufnimmt. Die zahlreichen<br />
Exkurse behindern dabei<br />
manchmal den Leseduktus. Vor allem<br />
macht sich Dietzfelbinger sehr treffend<br />
die Frage nach einem gemeinsamen<br />
Sprachcode der unterschiedlichen<br />
Rationalitäten von Ethik und<br />
Ökonomik zu eigen. Die Lösung<br />
sucht er in einem metaethischen Dis -<br />
kurs, der bei Alfred Müller-Armack<br />
mit seiner christlich-verwurzelten<br />
Stiltheorie bereits vorgedacht wurde.<br />
So entdeckt er in dem Mitbegründer<br />
der Sozialen Marktwirtschaft den Religions-<br />
und Kultursoziologen wieder<br />
neu für den aktuellen Rationalitätenkonflikt,<br />
mit dem sich die Wirtschaftsethik<br />
der Gegenwart zur Zeit<br />
schwertut. Die biographischen Anmerkungen<br />
beschränken sich auf die<br />
für eine geistige Zuordnung des Werkes<br />
Müller-Armacks notwendigen<br />
Schlaglichter. Die zunehmende Abkehr<br />
von einem zwiespältigen Verhältnis<br />
zur NS-Ideologie wird ebenso<br />
beleuchtet wie die starken Anlehnungen<br />
an Max Weber, Heinrich Bechtel<br />
und Ludwig von Wiese. Vor diesem<br />
Hintergrund ist die Idee der Stiltheorie<br />
ebenso systematisch wie anschaulich<br />
entfaltet. Der Begriff des Stils als<br />
universale Geschichtsschau ist danach<br />
von Müller-Armack bewußt mit<br />
seinem kulturellen Blick in die Nationalökonomie<br />
hineingeholt worden<br />
und könnte so als Matrix gegen einen
einseitigen ökonomischen Rationalis -<br />
mus Anwendung finden. Die Legitimationsfrage<br />
für dieses Kriterium ist<br />
für Dietzfelbinger hier religiös-anthropologisch<br />
angegangen. Metaphysik<br />
und Sozialökonomie finden danach<br />
zu einer gemeinsamen Rationalität<br />
aus der Überwindung des<br />
menschlichen Dualismus von Geist<br />
und Natur. Diese Matrix sieht Dietzfelbinger<br />
bei Müller-Armack im<br />
„Leitbild“ der Sozialen Marktwirtschaft<br />
realisiert. Die Symbiose oder<br />
Komplementarität der christlichen<br />
Wurzeln von Freiheit und sozialer<br />
Gerechtigkeit überwindet in seiner<br />
praktischen Ausgestaltung danach<br />
auch die Dualismen von ökonomischen<br />
und sozialen, von statischem<br />
und dynamischen Argumentationen.<br />
Dieser so verstandene Stil der sozialen<br />
Marktwirtschaft sei das antizipierte<br />
Leitbild für die Gestaltung einer<br />
ebenso sozialen wie freien Wirtschafts-<br />
und Kulturordnung.<br />
Da deutlich die Herleitung des Wirtschafts-<br />
aus dem Lebensstil herausgestellt<br />
wird, leistet Dietzfelbinger<br />
einen wichtigen Beitrag dazu, mit<br />
Müller-Armack die Anthropologie<br />
und Metaphysik wieder mehr in die<br />
Mitte der Legitimationsversuche moderner<br />
Wirtschaftsethik zu rücken.<br />
Parallelen des Denkens von Müller-<br />
Armack zum naturrechtlichen Analogiemodell<br />
treten offen zutage, werden<br />
aber nicht benannt. Wie nun der<br />
Hoffnungsträger „Wirtschaftsstil“ die<br />
konkurrierenden Rationalitäten zusammenführen<br />
will, so daß sie sich<br />
gegenseitig akzeptieren, diese Frage<br />
bleibt letztlich ungeklärt. Die Dringlichkeit<br />
aber, sich dieser Herausforderung<br />
von christlicher Seite zu stellen,<br />
hat Dietzfelbinger mit seinem prägnanten<br />
Grundlagenwerk neu angestoßen.<br />
Das macht Geschmack da-<br />
rauf, mit Müller-Armack in diese<br />
Richtung weiterzudenken.<br />
Elmar Nass<br />
Christliche Sozialethik<br />
Was einst als Opium für das Volk in<br />
Bausch und Bogen abgekanzelt wurde,<br />
dem wird in seiner sozialethischen<br />
Facette heute zumindest das „Odium<br />
des Überholten“ angedichtet, wie es<br />
Joachim Kardinal Meisner in seinem<br />
Geleitwort sehr treffend mit Blick auf<br />
die kirchliche Sozialverkündigung<br />
beschreibt. Dem entgegenzutreten in<br />
einem Werk, das nach der eigenen<br />
Präsentation den im „Blick auf die<br />
Humanität und Zukunftsfähigkeit von<br />
Wirtschaft, Politik und Gesellschaft<br />
notwendigen Dialog nicht nur dokumentiert,<br />
sondern auch voranbringt“,<br />
ist Anspruch der Festschrift für den<br />
jetzt emeritierten Bonner Sozialethiker<br />
Lothar Roos, der durch sein Denken<br />
und Wirken schon seit langen<br />
Jahren selbst diesen Dialog maßgeblich<br />
vorlebt und mitgestaltet.<br />
Ursula Nothelle-Wildfeuer/Norbert<br />
Glatzel [Hrsg.] (2000): Christliche<br />
Sozialethik im Dialog. Zur Zukunftsfähigkeit<br />
von Wirtschaft, Politik<br />
und Gesellschaft. Festschrift<br />
zum 65. Geburtstag von Lothar<br />
Roos, Vektor-Verlag, Grafschaft,<br />
672 S.<br />
Die breit angelegte Auswahl der<br />
Themen wie der 39 hochkarätigen<br />
Autoren aus Kirche, Wissenschaft<br />
und Wirtschaft spiegelt – thematisch<br />
in acht Abschnitten übersichtlich<br />
zusammengestellt – das weite Spektrum<br />
der Wissensgebiete treffend<br />
wider, die Lothar Roos in seinem<br />
bisherigen Lebenswerk nachhaltig geprägt<br />
hat und auch sicher noch weiter<br />
prägen wird. Dies Anliegen von Roos<br />
fassen die Herausgeber in ihrem<br />
477
Vorwort mit dem Ansatz in der<br />
chris tlichen Anthropologie zusammen,<br />
nach der der Mensch verstanden<br />
wird als „Person, die als Einheit von<br />
Individualität und Sozialität ‚Träger,<br />
Schöpfer und ... Ziel aller gesellschaftlichen<br />
Einrichtungen’ (MM<br />
219)“ ist. Dieser Grundlegung folgt<br />
die thematische Gliederung in die<br />
Bereiche: Grundlagen der Sozialethik,<br />
Aktuelle Fragen der Gesellschaft,<br />
Politische Ethik, Ethik der<br />
Völkergemeinschaft, Wirtschaftsethik,<br />
Umweltethik, Medizinische<br />
Ethik und Sozialgeschichtliche Konkretionen.<br />
Abschließend findet sich<br />
eine umfassende chronologische<br />
Übersicht der Publikationen von<br />
Lothar Roos. Die Festschrift vermittelt<br />
den Eindruck eines ausgereiften<br />
Kompendiums, in dem Grundsatzfragen<br />
wie aktuelle Anwendungen in<br />
einer gesunden Mischung entfaltet<br />
sind. Den dialogischen Anspruch voll<br />
zur Geltung bringen die unterschiedlich<br />
gefärbten Beiträge, die zwar alle<br />
im Fundament des christlichen Menschenbildes<br />
verwurzelt sind, dabei<br />
aber ihre je eigene Originalität nicht<br />
vermissen lassen.<br />
Im ersten Abschnitt stehen vor allem<br />
biblische und dogmatische Argumente<br />
im Mittelpunkt. Wilhelm Breuning<br />
sucht auf der Basis des II. Vaticanums<br />
(LG 9, GS 32) aufzuzeigen, daß<br />
der universale Rettungswille Gottes<br />
sich auf die Individualität und Sozialität<br />
des Menschen gleichermaßen<br />
bezieht. André Habischs Versuch,<br />
Jesus im Gegensatz zu Johannes dem<br />
Täufer als Wegbereiter der sogenannten<br />
Institutionsethik Karl Homanns<br />
vorzustellen, das sollte tatsächlich<br />
zum kontroversen Dialog anregen.<br />
Norbert Glatzels These einer Abkehr<br />
vom Naturrecht zur Begründung des<br />
Begriffs „Soziale Gerechtigkeit“<br />
gründet in einer behaupteten Kontra-<br />
478<br />
stierung eines vermeintlich statischen<br />
Rechts zu einem dynamischen Menschenbild.<br />
Damit folgt Glatzel der<br />
gängigen Naturrechtskritik, was die<br />
Vertreter dieser Schule auf den Plan<br />
rufen sollte.<br />
Im zweiten Abschnitt zieht Michael<br />
Schramm aus seiner Abwendung von<br />
naturrechtlichem Denken daraus die<br />
konsequente These der universalen<br />
Substituierbarkeit kirchlicher Caritas.<br />
Die Frage nach einer alternativen<br />
Begründungsebene bleibt offen. Zum<br />
Nachdenken über die Neudefinition<br />
des Ehrenamtes regt der frisch wie<br />
schlüssig konzipierte Beitrag der<br />
Mitherausgeberin Ursula Nothelle-<br />
Wildfeuer an. Sie bringt die Korrelation<br />
von zivilgesellschaftlichem Wertebewußtsein<br />
und ehrenamtlichem<br />
Engagement, von in Freiheit übernommener<br />
Verantwortung für die<br />
Gesellschaft und Solidarität auf den<br />
Punkt. In diesem Zusammenspiel<br />
begründet sie die im Titel thematisierte<br />
Zukunftsfähigkeit. Gedanken<br />
zum Caritasverband trägt Konrad<br />
Hilpert vor. Heinrich Pompey entfaltet<br />
mithilfe zahlreicher empirischer<br />
Belege eine treffende Problemanalyse<br />
zum Stellenwert der caritativen Diakonie<br />
in christlichen Gemeinden.<br />
Gemeinden und Familien gemeinsam<br />
sollen subsidiär von der Versorgungsmentalität<br />
zu einem solidarischen<br />
Mitsorgen geführt werden.<br />
Über eine für möglich gehaltene Bergung<br />
der vorhandenen Schätze an<br />
Humankapital entwickelt Pompey die<br />
Vision eines sozialen Profils: einer<br />
Gemeinde als Ort des Lebens. Vielschichtige<br />
Argumente und die Ermutigung<br />
zum öffentlichen Bekenntnis<br />
für die Beibehaltung der Sonntagsruhe<br />
sind im Beitrag von Elisabeth<br />
Jünemann zu finden. Das „heiße<br />
Eisen“ der emotionalen Diskussion<br />
um Elitenförderung schreckt Andreas
Püttmann nicht ab, ein überzeugendes<br />
Bekenntnis für eine christlich-motivierte<br />
Führungsschulung abzulegen.<br />
Besonders fordert er Professionalität<br />
in PR-Bereichen ein, um der christlichen<br />
Grundhaltung in ihrem herausgehobenen<br />
Beitrag für das Ge meinwohl<br />
eine qualifizierte, meinungsbildende<br />
Stimme zu verleihen.<br />
In dem knappen dritten Abschnitt zur<br />
politischen Ethik will Bernhard Sutor<br />
anhand des Sozialwortes der Kirchen<br />
von 1997 auf die Defizite der kirchlichen<br />
politischen Ethik hinweisen.<br />
Strukturell fordert er dabei eine intensive<br />
Koordination von Räten und<br />
Verbänden, theoretisch und praktisch<br />
vor allem einen Ausbau an politischer<br />
Klugheit und Kompromißbereitschaft<br />
im Gespräch mit der Politik. Sein<br />
Anriß einer „beratenden Mitwirkung“<br />
wird sicher noch Gegenstand grundlagenkritischer<br />
pragmatischer Diskurse<br />
sein. Den staatlichen Erziehungsauftrag<br />
sieht Armin Wildfeuer nicht<br />
als Appendix, sondern als gleichberechtigte<br />
Stütze der elterlichen Ve rantwortung<br />
zum Schutz von Demokratie,<br />
Freiheit und Gerechtigkeit.<br />
Die Beiträge zur Ethik der Völkergemeinschaft<br />
im vierten Kapitel leitet<br />
Anton Rauscher ein mit einem Bekenntnis<br />
für die europäische Idee. Er<br />
erinnert an die ersten Schritte zur<br />
Union über demokratische Parteigrenzen<br />
hinweg, warnt aber gleichermaßen<br />
vor den Gefahren rechter<br />
wie linker Scharfmacher. Die Besinnung<br />
auf gemeinsame Grundlagen hin<br />
zu einer „Sozialen Moral“ (Helmut<br />
Schmidt) wünscht Rauscher sich in<br />
Gott als dem verpflichtenden Grund<br />
der Freiheit. Damit weist er einen<br />
zunehmend steiniger werdenden Weg<br />
auf, der verantwortungsbewußte Christen<br />
zum Zeugnis ermu ntern sollte.<br />
Eine positive Auseinandersetzung mit<br />
den Gedanken der Aufklärung und<br />
Reformation hält Walter Fürst im<br />
Sinne seiner Vision eines communialdialogischen<br />
Pastoralkonzepts in Europa<br />
für unverzichtbar. In einem<br />
englischsprachigen Beitrag nimmt<br />
Obiora F. Ike den Leser exemplarisch<br />
mit auf die Reise in die sozialen<br />
Realitäten seiner Heimat Nigeria.<br />
Einheit und Kontinuität der katholischen<br />
Soziallehre wie das einheitliche<br />
Bild von Mensch und Geschichte<br />
vermitteln dort eine glaubwürdige<br />
Antwort für die praktische Umsetzung.<br />
Manch ein europäischer Sozialethiker<br />
christlicher Provenienz mag<br />
ob solchem Enthusiasmus neidisch<br />
erblassen.<br />
Der fünfte Abschnitt zur Wirtschaftsethik<br />
setzt den letzten thematischen<br />
Hauptschwerpunkt der facettenreichen<br />
Festschrift. Das Profil christlicher<br />
Wirtschaftsethik sucht Hans-<br />
Joachim Höhn in einem grundlegenden<br />
Artikel auf einem Weg zwischen<br />
Dämonisierung und Vergötterung des<br />
Marktes zu erschließen. Ethische<br />
Vernunft darf dabei nicht – wie im<br />
Ökonomismus – „zu Markte getragen“<br />
werden, denn reine Marktgesetze<br />
erkennt Höhn als Machtgesetze.<br />
Sehr treffend erinnert Höhn an die<br />
ursprünglichen Ziele eines Adam<br />
Smith, der die Effizienz nicht zum<br />
Selbstzweck erklärte, sondern sie<br />
rückband an die Ziele der Freiheit<br />
und der sozialen Gerechtigkeit. Regeln<br />
sind vonnöten für den Dialog<br />
zwischen Ethik und Ökonomik, der<br />
zum Ziel sozialen wie kulturellen<br />
Fortschritt haben soll. Effizienz bedarf<br />
deshalb stets der Legitimität.<br />
Diese Forderung sieht Höhn in einer<br />
kulturellen Sinnwelt als „Widerlager“<br />
zur ökonomischen Rationalität verwirklicht.<br />
Globalisierung und Ve rmögensbildung<br />
finden sich in weiteren<br />
Artikeln behandelt. Etwas anders<br />
479
als etwa Arthur F. Utz entfaltet der<br />
Paderborner Weihbischof Reinhard<br />
Marx anhand der Begriffe von System-,<br />
Unternehmens- und Führungsethik<br />
sein Drei-Ebenen-Schema der<br />
Wirtschaftsethik. Es dient ihm zur<br />
Begründung eines Plädoyers für eine<br />
Stärkung des stakeholder-values, das<br />
es in einer Korrelation von primärer<br />
(individueller) und sekundärer (korporativer)<br />
Verantwortung vermittels<br />
ausgebauter Teilhabe und Teilnahme<br />
der Mitarbeiter zu verwirklichen<br />
gelte. Die oft unterschätze integrierende<br />
Kraft christlicher Gewerkschaften<br />
als Avantgarde gegen Klassenkampf<br />
ruft Wolfgang Ockenfels in<br />
Erinnerung. In einem Zusammenspiel<br />
des zunehmenden Übergangs von der<br />
Tarif- zur Betriebsautonomie und<br />
einem wachsenden Bewußtsein einer<br />
Synthese von Freiheit und Bindung<br />
sowie der Solidarität der Arbeitsplatzinhaber<br />
mit den Arbeitslosen hält<br />
Ockenfels eine notwendige Profilierung<br />
christlicher Gewerkschaften für<br />
möglich.<br />
Die Heterogenität der Artikel im<br />
Abschnitt sechs zur Umweltethik fällt<br />
ins Auge. Der Bonner Alttestamentler<br />
Frank-Lothar Hossfeld sucht die<br />
nicht unumstrittene Eigenständigkeit<br />
des Prinzips der Nachhaltigkeit in der<br />
Analogie der Selbstbeschränkung von<br />
jüdischer Sabbatruhe und aktuell gebotener<br />
Zurückhaltung im Umgang<br />
mit den natürlichen Ressourcen herzuleiten.<br />
Der nicht unzutreffende<br />
Vergleich des biblischen Schöpfungsfriedens<br />
mit den Idealen der Friedensbewegung<br />
gibt sicher Raum für<br />
kontroverse Auslegungen. Weiterhin<br />
bieten zahlreiche biblische Belege<br />
eine lohnende Fundgrube für die<br />
alttestamentliche Hochschätzung der<br />
Natur. Martin Honecker hinterfragt<br />
eine ethische Berufung aus dem<br />
Schöpfungsgedanken aus evangeli-<br />
480<br />
scher Sicht. Demzufolge können zwar<br />
Richtungshinweise und Grundorientierungen<br />
eine entsprechende Ve rantwortung<br />
für die Schöpfung evozieren,<br />
nicht aber ließen sich absolute<br />
Handlungsmaximen begründen. Eine<br />
erfrischende Neubesinnung auf das<br />
Naturrecht fordert entgegen anderslautender<br />
Artikel in diesem Buch der<br />
alte Bonner Philosophenkönig Wolfgang<br />
Kluxen ein. Er entkräftet die<br />
Vorwürfe des naturalistischen Fehlschlusses<br />
und der Statik mit einem<br />
Hinweis auf die meist nicht erkannte<br />
Unterscheidung von Naturgesetz und<br />
Naturrecht. Kluxen wünscht sich eine<br />
Belebung des vernunftbestimmten<br />
klassischen Naturrechtsgedankens hin<br />
auf eine stärkere Integration anthropologischer<br />
Erkenntnisse. Er möchte<br />
einen „vollen Naturbegriff“ den reinen<br />
Empirikern entgegensetzen.<br />
Abgerundet wird die Festschrift durch<br />
die letzten beiden kleinen Kapitel, in<br />
denen im Rahmen der medizinischen<br />
Ethik die aktuellen Probleme von<br />
Pränataldiagnostik, Abtreibung und<br />
Organtransplantationen intensiv behandelt<br />
sind. Die sozialgeschichtlichen<br />
Konkretionen lohnen sich besonders<br />
für biographisch interessierte<br />
Leser.<br />
Die umfangreiche Schrift wird nahezu<br />
den Ansprüchen eines Handbuches<br />
gerecht. Die Herausgeber bieten dem<br />
Leser nicht nur einen Querschnitt<br />
über verschiedene Positionen und<br />
Fachbereiche, sondern auch vielfältigen<br />
Diskussionsstoff. Jeder, der auf<br />
die Zukunft einer im christlichen<br />
Menschenbild begründeten Ethik<br />
setzt, wird sich an diesem Buch freuen.<br />
Es lädt ein zu vielen Dialogen um<br />
Zukunftsfähigkeit und Zukunftswürdigkeit<br />
unserer Wirtschaft, Politik<br />
und Gesellschaft.<br />
Elmar Nass
481