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MIP 2004/<strong>2005</strong> <strong>12</strong>. Jahrgang Sebastian Roßner - „Bis in idem“? Aufsätze<br />
Komplexe des Strafbefehls und der Einstellungen<br />
aus und konzentriert sich auf das strafrechtliche<br />
Urteil, verbleiben drei hier interessierende<br />
Varianten einer möglichen Geltung<br />
von ne bis in idem 23 :<br />
1. Das Gericht kommt zu einer Verurteilung<br />
/ einem Freispruch,<br />
wobei alle relevanten tatsächlichen<br />
Umstände in den Prozeß<br />
eingeführt und vom Gericht gewürdigt<br />
wurden.<br />
2. Das Gericht kommt zu einer Verurteilung<br />
/ einem Freispruch,<br />
wobei alle relevanten tatsächlichen<br />
Umstände in den Prozeß<br />
eingeführt, nicht aber zur Gänze<br />
vom Gericht gewürdigt wurden.<br />
3. Das Gericht kommt zu einer Verurteilung<br />
/ einem Freispruch,<br />
wobei nicht alle relevanten tatsächlichen<br />
Umstände in den Prozeß<br />
eingeführt, die eingeführten<br />
jedoch vollständig gewürdigt<br />
wurden 24 .<br />
Auf welche Varianten Art. 103 III GG anzuwenden<br />
ist, hängt von der Auslegung des Tatbegriffs<br />
ab.<br />
In der ersten genannten Variante sind gerichtlich<br />
gewürdigtes und strafrechtlich relevantes Tatsachenmaterial<br />
kongruent. Diese Konstellation<br />
stellt den Kern des Art. 103 III GG dar und ist<br />
hier unproblematisch 25 .<br />
In den beiden anderen Varianten wird das ge<br />
23 Das setzt voraus, daß „bestraft“ dahingehend ausgelegt<br />
wird, daß auch Freisprüche erfaßt sind. Dies ist, soweit<br />
ersichtlich, einhellige Meinung, z.B. BGH NStZ 1991,<br />
539f.; F.C. Schroeder, Die Rechtsnatur des<br />
Grundsatzes „ne bis in idem“, JuS 1997, 227ff. (227,<br />
230); E. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG,<br />
Art. 103 III (1992), Rn. 295.<br />
24 Die mögliche vierte Variante einer unvollständigen<br />
gerichtlichen Würdigung des seinerseits unvollständig<br />
eingeführten Tatsachenmaterials kann hier außen vor<br />
bleiben.<br />
25 Schwierigkeiten liegen dagegen auf der Ebene der<br />
Identifizierung der (rechtlich) für eine Tat relevanten<br />
Umstände, die nicht ohne Bezug zur Norm geleistet<br />
werden kann. Dazu J. Hruschka, Der Begriff der Tat<br />
im Strafverfahrensrecht, JZ 1966, 700ff.<br />
schehene Unrecht nicht zur Gänze in der Entscheidung<br />
verarbeitet. Bezieht man in diesen<br />
beiden Konstellationen das unverarbeitete Tatsachenmaterial<br />
in den Begriff der „Tat“ ein, findet<br />
als Folge Art. 103 III GG Anwendung. Die bestehende<br />
Spannung zwischen Rechtssicherheit<br />
und materieller Gerechtigkeit wird dann zu<br />
Lasten der materiellen Gerechtigkeit aufgelöst,<br />
da jeweils zumindest ein Teil des geschehenen<br />
Unrechts um des Rechtsfriedens willen dauerhaft<br />
der Ahndung durch staatliche Strafverfolgung<br />
entzogen ist.<br />
In der zweiten Variante scheint diese Lösung<br />
zwingend zu sein: Eine Beschränkung der „Tat“<br />
auf die tatsächlich vom Gericht im Rahmen des<br />
Urteils gewürdigten Umstände würde die Reichweite<br />
der materiellen Rechtskraft in die Hand<br />
des Gerichts legen. Es bestünde für das Gericht<br />
die Möglichkeit, die Tat nicht erschöpfend abzuurteilen.<br />
Gerichtliche Nachlässigkeit bei der Beweiserhebung<br />
und -würdigung würden zu Lasten<br />
des Angeklagten gehen.<br />
Wendet man hingegen Art. 103 III GG auf die<br />
dritte Variante an, setzt dies eine Erweiterung<br />
des Tatbegriffs auf nicht in den Prozeß eingeführtes<br />
Tatsachenmaterial voraus.<br />
a) Der prozessuale Tatbegriff des RG<br />
Den Weg einer über das Prozeßgeschehen hinausgehenden<br />
Erweiterung des Tatbegriffs hat<br />
das RG für die Auslegung des heutigen § 264<br />
StPO mit der Schöpfung des prozessualen Tatbegriffs<br />
beschritten 26 . Der BGH ist ihm darin gefolgt<br />
27 . Danach bedeutet (prozessuale) Tat das<br />
vom Eröffnungsbeschluß (bzw. heute von der<br />
Anklage 28 ) betroffene geschichtliche Vorkommnis<br />
einschließlich aller damit nach natürlicher<br />
Lebensauffassung zusammenhängenden, einen<br />
einheitlichen Vorgang bildenden tatsächlichen<br />
Umstände, die geeignet sind, das in diesen Bereich<br />
fallende Verhalten des Angeklagten als<br />
strafbar erscheinen zu lassen.<br />
26 Exemplarisch RGSt 72, 339 (340).<br />
27 BGHSt 23, 141 (145).<br />
28 Zu den im Rahmen der StPO-Änderung von 1964 bewirkten<br />
Änderungen Cording, Strafklageverbrauch,<br />
S. 22.<br />
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