Capitolo 15 - Fondazione Giorgio e Isa de Chirico

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CARL EINSTEIN: GIORGIO DE CHIRICO477GIORGIO DE CHIRICOCarl Einstein*Chirico – ein Rückschlag gegen Comte und den italienischenLiberalismus; gegen Courbet und demokratischen Luminarismus.Chirico gibt die Gesichte einer geträumten Mathematik; Cézanne schufeine koloristische Tektonik, Picasso fand einen neuen, durchaus konkretenBildraum, Chirico – in sekundären Bezirken wohnend – dichteteetwa eine tektonische Mantik.Nennen wir zwei Namen, die Chiricos Situation ungefähr bezeichnen:Böcklin und Schopenhauerscher Pessimismus, oder rückgewandter charakterisiert:Ucello und die Alchemie. Man wohnt zwischen Florenz unddem Metro und träumt zwischen Paracelsus und Lautréamont.Chirico ging, wie die meisten jungen Italiener, in die Archaik zurück;er liebt die frühen magischen Dinge der Kunst vor Reformation undGegenreformation. Gegen die eigenen subjektiven Gesichte stellt ereine etwas abrupte und darum widerspruchsvolle Historie.Bei Cézanne dienten Kegel, Würfel und Dreieck als tektonische Mittel;bei Chirico gehorchen sie einer mythischen und mantisch dichtendenLeidenschaft. Eines stellt Chirico in die Linie von jetzt: die tektonischeArt seiner Träume. Die Romantik von heute liegt vielleicht in einerÜbersteigerung der noch ungenau begriffenen Zahlen. Die Quanten derWissenschaft – diese Dichtmittel intuitiver Vernunft – beginnen nun vonden Künstlern verzaubert zu werden. Doch hier besitzt die Zahl nureinen Sinn, wieweit sie zur Gestalt gedichtet wurde. Solches stellen wirbei den bildenden Künsten fest, während das meiste an heutigerLiteratur zwischen pathologisiertem Dahn und einer Flucht von ergrautenSchlagworten dämmert. Nur wenige kennen das Geheimnis der freiverknüpften Analogien.In der Malerei ahnt man, daß die Norm durchaus die Natur desMenschen ist und ihm als unvermeidliche Intuition zugehört.Genau, wie man Knochen im Leibe hat.*Vorwort zum AusstellungskatalogGiorgio de Chirico,Galerie A. Flechtheim, Berlin,1930.METAFISICA 2004|N° 3-4

CARL EINSTEIN: GIORGIO DE CHIRICO477GIORGIO DE CHIRICOCarl Einstein*<strong>Chirico</strong> – ein Rückschlag gegen Comte und <strong>de</strong>n italienischenLiberalismus; gegen Courbet und <strong>de</strong>mokratischen Luminarismus.<strong>Chirico</strong> gibt die Gesichte einer geträumten Mathematik; Cézanne schufeine koloristische Tektonik, Picasso fand einen neuen, durchaus konkretenBildraum, <strong>Chirico</strong> – in sekundären Bezirken wohnend – dichteteetwa eine tektonische Mantik.Nennen wir zwei Namen, die <strong>Chirico</strong>s Situation ungefähr bezeichnen:Böcklin und Schopenhauerscher Pessimismus, o<strong>de</strong>r rückgewandter charakterisiert:Ucello und die Alchemie. Man wohnt zwischen Florenz und<strong>de</strong>m Metro und träumt zwischen Paracelsus und Lautréamont.<strong>Chirico</strong> ging, wie die meisten jungen Italiener, in die Archaik zurück;er liebt die frühen magischen Dinge <strong>de</strong>r Kunst vor Reformation undGegenreformation. Gegen die eigenen subjektiven Gesichte stellt ereine etwas abrupte und darum wi<strong>de</strong>rspruchsvolle Historie.Bei Cézanne dienten Kegel, Würfel und Dreieck als tektonische Mittel;bei <strong>Chirico</strong> gehorchen sie einer mythischen und mantisch dichten<strong>de</strong>nLei<strong>de</strong>nschaft. Eines stellt <strong>Chirico</strong> in die Linie von jetzt: die tektonischeArt seiner Träume. Die Romantik von heute liegt vielleicht in einerÜbersteigerung <strong>de</strong>r noch ungenau begriffenen Zahlen. Die Quanten <strong>de</strong>rWissenschaft – diese Dichtmittel intuitiver Vernunft – beginnen nun von<strong>de</strong>n Künstlern verzaubert zu wer<strong>de</strong>n. Doch hier besitzt die Zahl nureinen Sinn, wieweit sie zur Gestalt gedichtet wur<strong>de</strong>. Solches stellen wirbei <strong>de</strong>n bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Künsten fest, während das meiste an heutigerLiteratur zwischen pathologisiertem Dahn und einer Flucht von ergrautenSchlagworten dämmert. Nur wenige kennen das Geheimnis <strong>de</strong>r freiverknüpften Analogien.In <strong>de</strong>r Malerei ahnt man, daß die Norm durchaus die Natur <strong>de</strong>sMenschen ist und ihm als unvermeidliche Intuition zugehört.Genau, wie man Knochen im Leibe hat.*Vorwort zum Ausstellungskatalog<strong>Giorgio</strong> <strong>de</strong> <strong>Chirico</strong>,Galerie A. Flechtheim, Berlin,1930.METAFISICA 2004|N° 3-4


478CARL EINSTEIN: GIORGIO DE CHIRICOWer heute <strong>de</strong>n Kubismus ablehnt, hätte früher <strong>de</strong>n Giotto und Masacciogescholten. Denn <strong>de</strong>r Kunst ist nie mit Stimmung o<strong>de</strong>r Sentimentalität(diese ist Inhalt) beizukommen. Man beachte endlich, daß dieArchitektur, die bei Schale und Zelt beginnt, die Mutter <strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>nKünste ist. Allerdings, die gründliche Erfindung ist Ausnahmefall; <strong>de</strong>nndie Kunst ist im ganzen die Geschichte anonymer Unfälle, die für kurzeZeit merkantile Be<strong>de</strong>utung erstapeln. Träume gelten als flirren<strong>de</strong>, schattenflüchtigeSpiegelei. Man hatte vergessen, daß sie vielleicht geson<strong>de</strong>rtenSinn besitzen. Seit Picasso träumt man wie<strong>de</strong>r präzis. Präzisionist unsere menschlichste Eigenschaft; Stimmung ist Geschäft <strong>de</strong>r Kuh.Das Mathematische ist die Katharsis <strong>de</strong>r jetzt noch Gottlosen. Dochschon versuchen einzelne wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Zahlen innigste, weite und lebendigeBe<strong>de</strong>utung einzuschauen.<strong>Chirico</strong> kann vielleicht als ein Romantiker <strong>de</strong>r Zahl und ein Klassizist<strong>de</strong>r Form bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Die inhaltliche Vision alterte ihm späterund ermü<strong>de</strong>te in diesen sehr toskanischen Augen. Die klassizistischeGesinnung trat nun stärker hervor. Dieser Klassizismus <strong>Chirico</strong>s greiftauf die frühen Italiener zurück, wie man allenthalben das Jetzt in dieVergangenheit tiefer und zeitgieriger rückprojiziert.Unsere Zeit hat einzige Chance, sich zu entwirren, soweit man tektonischdiszipliniert arbeitet. Nur von hier aus kann die Ordnung undSon<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Künste gelingen. Tektonik ist unser Menschlichstes, undaus ihr wächst autonome Kunst. Von dort aus ging <strong>Chirico</strong> <strong>de</strong>n Weg zueiner verlorengegangenen Metaphysik, die er neu zu dichten versucht.Diese Bil<strong>de</strong>r <strong>Chirico</strong>s stehen im Jenseits vom Tage, sie sind vonDualismen beherrscht. Vielleicht erscheint <strong>Chirico</strong> <strong>de</strong>r Tag als eisigeüberbevölkerte Hölle. Kindliche Schatten fliehen hinter rollen<strong>de</strong>nReifen ins Dunkle, o<strong>de</strong>r die Mannequins reflektiver Träume trauern in<strong>de</strong>r Hölle <strong>de</strong>r Verlassenheit einsam auf verstorbenen italienischenPlätzen.Der pessimistische Dualismus <strong>Chirico</strong>s erweist sich auch darin, wie inseinen Bil<strong>de</strong>rn die Dinge einan<strong>de</strong>r ironisieren: Zeus gegen Blumenkohl.Ihre Einheit ist die Struktur, worin das inhaltlich Wi<strong>de</strong>rspruchsvolleseine Proportion fin<strong>de</strong>n will. Die Geometrie scheint bei <strong>Chirico</strong> Traumund Ahnung zu sein.Solches lockt bei diesem Italiener: seine Suche und Wissenschaft elementarischerund mythischer Zustän<strong>de</strong>; und in diesen trifft er dieMathematik und das Dekorative. Hier steckt etwas von 1920. Währendwas im Primitiven pathetisch <strong>de</strong>klamierte, eine Dekoration meinte,ohne elementare Zustän<strong>de</strong> je berührt zu haben. Und dies ist wichtig:METAFISICA 2004|N° 3-4


CARL EINSTEIN: GIORGIO DE CHIRICO479<strong>Chirico</strong> kennt das komplizierte, doch erschreckend Nahe <strong>de</strong>r tatsächlichdurchlebten Träume. Der Mensch ist ihm das konstruktiveMannequin <strong>de</strong>r Gesichte.Ich weiß nicht, warum mir die Bil<strong>de</strong>r <strong>Chirico</strong>s tragisch erscheinen. In<strong>de</strong>r vollen<strong>de</strong>ten Tragödie bewun<strong>de</strong>rn wir <strong>de</strong>n Sieg <strong>de</strong>s Dichters überseine Geshöpfe und ihre Erlebnisse; man genießt letzen En<strong>de</strong>s die freudigeÜberlegenheit durch Form. In <strong>de</strong>r griechischen Tragödie, dieserwun<strong>de</strong>rvollen Adoration <strong>de</strong>r Götter, bestätigt man das vernichten<strong>de</strong>Geschick; doch zwischen aller Zerstörung verharrt unverletzt die Form,unser Menschlichstes und Stärkstes.In <strong>Chirico</strong> wird ein Stück italienischen Mittelalters lebendig, eineReinaissance <strong>de</strong>r alten Schichten leuchtet auf.Dies ist bei <strong>Chirico</strong> eigentümlich. Diese Schau von jetzt recht subjektivenDingen und gleichzeitig ein archaisieren<strong>de</strong>r Atavismus. TektonischeRevenants, Träume, die zuletzt ins Vergangene mü<strong>de</strong> zurücksinken.Diese Italiener hatten um 1910 alle Geschichte geleugnet; doch einwenig später schlossen sie die Mauern <strong>de</strong>r alten Paläste noch enger umsich und behaupteten nun die stete Gleichheit aller Geschichte. Hierberührt man ihr Tektonisches: als Gleiches in allem Wechsel erscheinenihnen Zahl und Proportion. Doch letzter Vorstoß mißlang ihnen;sie wer<strong>de</strong>n von ergreisten Sichten beherrscht; ein geschichtlicherAtavismus wird subjektiv mythologisiert. Ein Verharren in alter Schauband, und <strong>de</strong>r Rückfall in eine galvanisierte Mythologie mußte drohen,ermü<strong>de</strong>te man einmal in abwegigen Träumen.<strong>Chirico</strong> gewährt ein Beispiel, daß <strong>de</strong>r Heutige im Visionären tektonischreagiert. Den subjektiven, romantischen Inhalten stellt sich automatischdie Tektonik entgegen. Und dies ist eigentümlich, daß dasMathematische und die Zahl <strong>de</strong>n mythenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Bezirken <strong>de</strong>r Seelewie<strong>de</strong>r genähert wur<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>n Italienern bemerkt man solchpythagoreisch-gnostische Gestimmtheit. Das Mathematische als zauberhafteFormel, als zentrale Intuition bricht durch. Vom Technischen willman zum mythisch Sinnhaften dringen; die Mittel <strong>de</strong>r Ratio wer<strong>de</strong>nmagisch verwandt, doch notwendig subjektiv mythologisiert, da geistigeÜbereinkünfte noch fehlen.Das Geometrische reagiert bei <strong>Chirico</strong> als Instinkt und wirkt etwas symbolischo<strong>de</strong>r literarisch. Hierdurch gehört seine Kunst ein wenig in dieWelt <strong>de</strong>r Symbolisten.Technisch ist diese Zeit durchaus konstruktiv gestimmt; doch noch willman in schludrigem Idyll sich ergehen, wann geistige Dinge es betrifft.In einigen Künstlern ist es <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n, daß Ordnung als SinnMETAFISICA 2004|N° 3-4


480CARL EINSTEIN: GIORGIO DE CHIRICOund nicht als peripherischer Zufall gelten soll. Bei <strong>Chirico</strong> ist <strong>de</strong>rHinweis wertvoll, daß die Träume strenge Gebil<strong>de</strong> zu sein vermögen.Man mag solche Träume zerebral schelten. Dann soll man auch dieWeißträume <strong>de</strong>r Alten ta<strong>de</strong>ln. Man hat eben die Griechen zu einem Volknüchterner und kapriziöser Turnlehrer gemin<strong>de</strong>rt, genau wie man diegeistige Anstrengung <strong>de</strong>r alten Italiener unter einem Fragment vonFarbe verbergen will, als wäre <strong>de</strong>r Fabrikant <strong>de</strong>r Farben <strong>de</strong>r größteMaler. Doch diese Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Italiener sind viel mehr und ganz an<strong>de</strong>resals nur ein Stück guter Malerei.METAFISICA 2004|N° 3-4

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