GrundR AG 24.11.2006Henning <strong>Tappe</strong> S. 2Lösungsskizze:Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> 1 wäre begrün<strong>de</strong>t, wenn das mit ihr angegriffene StrafurteilGrundrechte o<strong><strong>de</strong>r</strong> grundrechtsgleiche Rechte <strong>de</strong>s V verletzt, also in <strong>de</strong>n Schutzbereich einessolchen Rechts eingegriffen wor<strong>de</strong>n ist, ohne dass dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigtwer<strong>de</strong>n kann.Das Urteil könnte Rechte <strong>de</strong>s V aus Art. 5 III GG, aus Art. 5 I 1 GG, Art. 12 I GG o<strong><strong>de</strong>r</strong> aus Art. 103II GG verletzen.I. Art. 5 III GG – Kunstfreiheit 2Die Verurteilung <strong>de</strong>s V wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n Filme könnte sein Grundrecht auf Freiheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Kunst(Art. 5 III I 1, 1. Alt. GG) verletzen.1. SchutzbereichDas Verbreiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Filme müsste zunächst in <strong>de</strong>n Schutzbereich fallen. Definition Kunst!Es erscheint fraglich, ob Kunst überhaupt zu <strong>de</strong>finieren ist. Das BVerfG hat in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mephisto‐Entscheidung 3 einen materiellen Kunstbegriff vertreten.Materieller Kunstbegriff: „Das Wesentliche <strong><strong>de</strong>r</strong> künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferischeGestaltung, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse <strong>de</strong>s Künstlers durch das Mediumeiner bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht wer<strong>de</strong>n“. 4→ Anmerkung: Der materielle Kunstbegriff ist jedoch stets problematisch, weil er eine „Wertung“<strong><strong>de</strong>r</strong> künstlerischen Arbeit impliziert.In <strong><strong>de</strong>r</strong> Entscheidung zum Anachronistischen Zug 5 hat das BVerfG daneben einen formalenund einen offenen Kunstbegriff anerkannt.Formaler Kunstbegriff: Nach <strong>de</strong>m formalen, typologischen Kunstbegriff liegt das Wesentliche<strong>de</strong>s Kunstwerks darin, dass es an einen bestimmten Werktyp, etwa an die Tätigkeit und dieErgebnisse etwa <strong>de</strong>s Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft. 61 Wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> unterschiedlichen Kunstqualität (s.u.) <strong><strong>de</strong>r</strong> Filme ergeben sich zwei Aufbauvarianten: (1) NachGrundrechten o<strong><strong>de</strong>r</strong> (2) nach Filmen.2 Art. 5 III GG bietet gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> Filmfreiheit <strong>de</strong>n umfassen<strong><strong>de</strong>r</strong>en Schutz und wird daher zuerst geprüft.3 BVerfG, Beschluss v. 24.2.1971, 1 BvR 435/68, BVerfGE 30, 173 – 200 = BVerfGA Nr. 25.4 BVerfG, Beschluss v. 24.2.1971, 1 BvR 435/68, BVerfGE 30, 173 [188 f.] = BVerfGA Nr. 25.5 BVerfG, Beschluss v. 17.7.1984, 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, 213 – 231 = BVerfGA Nr. 60.6 BVerfG, Beschluss v. 17.7.1984, 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, 213 [226 f.] = BVerfGA Nr. 60.
GrundR AG 24.11.2006Henning <strong>Tappe</strong> S. 3Offener Kunstbegriff: Nach <strong>de</strong>m offenen Kunstbegriff liegt das kennzeichnen<strong>de</strong> Merkmal einerkünstlerischen Äußerung darin, dass es wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehaltsmöglich ist, <strong><strong>de</strong>r</strong> Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichen<strong>de</strong>Be<strong>de</strong>utungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufigeInformationsvermittlung ergibt. 7Das subjektive Selbstverständnis <strong>de</strong>s Urhebers (hier: Regisseur) <strong>de</strong>s zu beurteilen<strong>de</strong>n Werkeskann zwar nicht allein, wohl aber hilfsweise als Kriterium herangezogen wer<strong>de</strong>n. 8 In Zweifelsfällenkann auch auf das Urteil eines sachverständigen Dritten (hier: Jury beim Filmfestival)zurückgegriffen wer<strong>de</strong>n. 9 Ergebnis: Erster Film = Kunstwerk; Zweiter Film = kein Kunstwerka.A. vertretbar, aber klausurtaktisch ungünstig!Da sowohl <strong><strong>de</strong>r</strong> Werkbereich, als auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wirkbereich <strong><strong>de</strong>r</strong> Kunst von Art. 5 III geschützt ist 10 ,muss auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Vertrieb <strong>de</strong>s ersten Films geschützt sein.Ergebnis: Erster Film: Schutzbereich [+]; Zweiter Film: Schutzbereich [‐].2. EingriffEine Bestrafung wegen einer Tätigkeit, die unter <strong>de</strong>n Schutzbereich eines Grundrechts fällt istein klassischer Eingriff in dieses spezielle Freiheitsrecht.Klassischer Eingriffsbegriff:a) unmittelbar b) Regelung c) final d) Befehl und Zwang3. Rechtfertigung <strong>de</strong>s EingriffsDer Eingriff in die Kunstfreiheit ist gerechtfertigt, wenn (1) <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Urteil zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>§ 131 StGB verfassungsgemäß ist und (2) seine Anwendung im konkreten <strong>Fall</strong> nicht gegen dieVerfassung verstößt:7 BVerfG, Beschluss v. 17.7.1984, 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, 213 [227] = BVerfGA Nr. 60.8 JARASS/PIEROTH Art. 5 GG, Rn. 106.9 JARASS/PIEROTH Art. 5 GG, Rn. 106; a.A. M/D‐SCHOLZ Art. 5 GG, Rz. 38.10 BVerfG, Beschluss v. 17.7.1984, 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, 213 [224] = BVerfGA Nr. 60; JARASS/PIEROTH Art. 5GG, Rn. 107.