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Biografiearbeit im Pflegealltag

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Fachbereichsarbeit<strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong>Christian Burtscher


CHRISTIANBURTSCHERFachbereichsarbeit<strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong>Psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflegeschule in RankweilVerfasser: Christian BurtscherBetreuungsperson: Gerhard HippBludenz, <strong>im</strong> Februar 2011


Abstract„Ich kann die Falten, die das Leben schreibt, viel besser lesen, wenn ich die Biografiedes älteren Menschen kenne und verstehe.“ (Schülerin eines Fachseminares für Altenpflege)Jede Lebensgeschichte, jede Biografie, ist so einzigartig und so unverwechselbar, wie esauch jede Person ist. Die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte dient dem Kennenlernenund dem Verstehen des Menschen und ist unverzichtbarer Bestandteil der Lebensbegleitungälterer Personen. Wenn sich der ältere Mensch mit seiner eigenen Lebensgeschichte beschäftigt,ist das <strong>im</strong>mer ein Erinnern, also ein aktives Gedächtnistraining. Das Gedächtnistrainingin vielfältiger Form und die <strong>Biografiearbeit</strong> haben längst Eingang gefunden in die täglicheArbeit in der Altenpflege und in den Fortbildungsveranstaltungen der Erwachsenenbildung.Durch langjährige Erfahrung in der Arbeit mit älteren Menschen entstand schließlich dieIdee, <strong>Biografiearbeit</strong> und Gedächtnistraining miteinander zu verbinden und diese gezielt inder Altenarbeit und Altenpflege einzusetzen.Im praktischen Umgang mit dem älteren Menschen ist es deshalb notwendig zu wissen,welche Ereignisse und Krisen hat diese Person <strong>im</strong> Laufe ihres Lebens erlebt und wie hat sieversucht, mit diesen Belastungen und Einschränkungen fertig zu werden. Hat sie resigniert,vermied sie jegliche Auseinandersetzung oder versuchte sie, das Problem zu lösen?Es kann festgestellt werden, dass der Lebenslauf sich als Bildungsprozess gestaltet und zurbiografischen Identität führt: „In ihm gelangt das Individuum durch subjektive Verarbeitungund Mitgestaltung der objektiven Gegebenheiten und durch Bewältigung der sich lebensgeschichtlichstellenden Aufgaben zum Welt- und Selbstverständnis, aber auch zu einemdiesem Verständnis entsprechenden, verantwortlichen Handeln und zur persönlichen, biografischenIdentität.“„Am interessantesten ist die Innenseite der Außenseite.“ (Jean Genet)


InhaltsverzeichnisCHRISTIANBURTSCHER1. Einleitung 62. Grundlagen 82.1. Problemstellung 82.2. Forschungsfrage 92.2.1. Ziel 92.3. Begriffsdefinition 102.3.1. <strong>Biografiearbeit</strong> 112.3.2. Zugänge zu Lebensgeschichten in der <strong>Biografiearbeit</strong> 132.3.3. Geschichten begleiten einen ein Leben lang 153. Bedeutung <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 183.1. Gespräche in der Krankenpflege 183.2. Ausgangssituation 183.3. Gesundwerden ist möglich 193.4. Gesundwerden ist nicht möglich 203.5. Krankheit und das autobiografische Gedächtnis 214. Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankung 234.1. <strong>Biografiearbeit</strong> bei Menschen mit Demenzerkrankung 244.2. Ansätze in der Arbeit mit Demenzkranken 254.3. Validation 254.3.1. Integrative Validation 284.3.2. Reminiszenz-Therapie 294.3.3. Selbsterhaltungs-Therapie 304.4. Psychobiografisches Pflegemodell 314.5. Personenzentrierter Ansatz als Methode zum Erhalt der Subjektivität 324.6. Aktivitäten und Kommunikation in der <strong>Biografiearbeit</strong> 344.7. Strategien der biografischen Scheinweltgestaltung 375. Schlussteil 40Resümee 40Literaturverzeichnis 42Eidesstattliche Erklärung 45


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 7Einleitung<strong>Biografiearbeit</strong> soll das Leben eines alten Menschen mit seinen Werten, dem Lebensstolzund den vertrauten Stationen berücksichtigen und in positiver Weise beeinflussen. Insofernkann die <strong>Biografiearbeit</strong> einen Beitrag zur individuellen Betreuung, sinnvollen Tagesgestaltungund Aktivierung von Ressourcen leisten. Außerdem werden die Kommunikation unddie soziale Kontaktaufnahme gefördert und die Rückbesinnung auf Erfolge und Leistungen<strong>im</strong> bisherigen Leben kann die Selbstachtung bei den alten Menschen stärken.In meiner Fachbereichsarbeit beschäftige ich mich mit dem Begriff der <strong>Biografiearbeit</strong> ihrenZielen und biografischer Grundhaltung <strong>im</strong> Allgemeinen. Besonders hervorheben werde ichdie Bedeutung von <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong>. Im weiteren Verlauf werde ich aufzeigen,was unter Demenz zu verstehen ist und welche Anwendungsmöglichkeiten von <strong>Biografiearbeit</strong>es für dieses Krankheitsbild gibt. Spezielle Konzepte und Methoden werden vorgestellt.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 22Bedeutung <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong>Beispiele aus der Praxis: <strong>Biografiearbeit</strong> als Bewältigungshilfe:Bevor an ein Eintauchen in ein lebensgeschichtliches Gespräch zu denken ist, geht es bei derBegleitung kranker Menschen zunächst um das Erfassen der Situation. Dabei ist es wichtig,das Gegenüber mit allen Sinnen wahrzunehmen und sich nicht nur auf das gesprocheneWort zu verlassen. Im zwischenmenschlichen Miteinander spielt das gesprochene Wort nurscheinbar die wichtigste Rolle. Zwei Drittel aller Signale kommen aus dem nichtsprachlichenBereich. Es sind Faktoren wie M<strong>im</strong>ik des Kranken, seine Gesten, seine Körperhaltungund vieles andere mehr, die wichtige Hinweise auf das Befinden und die subjektive Situationdes Betroffenen geben können. Oft ist es ein intensiver Blickkontakt, der das Bedürfnisnach einem Gespräch ausdrückt. Die Antwort auf solch ein Signal kann z.B. in einer Fragebestehen: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, „Haben Sie die Untersuchungen für heute schonhinter sich?“ Oder in einer Geste – wie einem verständnisvollen Lächeln oder einer behutsamenBerührung.Die Bewältigung belastender, traumatischer und oftmals lebensverändernder Ereignissewird bis zu einem gewissen Grad davon abhängen, wie gut es gelingt, Verbindungen zumLebensganzen herzustellen und einzelne Fäden bis in die Vergangenheit zurück zu verfolgen,die das Gefühl von „Ich habe schon vieles bewältigt!“ vermitteln. Auf diesen dünnen„historischen Sträßchen“ können Botschaften aus alten Erfahrungen in die Gegenwart gelangen.Alles, was bei der Bewältigung von Krankheit, Leid, Verletzung und anderen Negativ-Erfahrungen zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal geholfen hat, kann als „Strategie“,als Kraftquelle wieder aktualisiert werden. Allmählich wird dann aus dem Sträßchen eineStraße. Auch die Erfahrungen anderer Menschen, Vorbilder, Modelle und die Erinnerung,wie andere Menschen in ähnlichen Situationen ihr Leben bewältigt haben, fließen in dieErinnerungsstraße ein und können zum Ausgangspunkt eines neuen Lebensentwurfs werden.Diese Ereignisse sind für den Patienten wichtig, damit ihm das Pflegepersonal mit Empathieund Wertschätzung individuell begegnen kann.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 234. Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong>bei DemenzerkrankungDer Begriff Demenz:Um die Bedeutung von <strong>Biografiearbeit</strong> mit dementen Menschen zu verstehen, soll zunächstkurz erklärt werden, was man unter Demenz versteht.Der Begriff „Demenz“ leitet sich aus dem Lateinischen von „dementia“ ab und setzt sichaus den beiden Wortteilen „de“ = „weg“ und „mens“ (Genitiv mentis) = „Geist, Verstand“zusammen.Der Oberbegriff Demenz umfasst eine Reihe von Krankheitsbildern verschiedener Ursacheund unterschiedlichen Verlaufs. Die häufigsten Formen der Demenz sind wohl die Demenzvom Alzhe<strong>im</strong>er-Typ sowie die vaskuläre Demenz.Laut den Kriterien der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases) wird eineDemenz mit folgenden Symptomen beschrieben: Ein dementielles Syndrom ist durch „eineprogrediente Verschlechterung mehrerer kognitiver Funktionen bei einem bewusstseinsklarenPatienten“ gekennzeichnet. Leitsymptome sind Störungen des Kurzzeit- und Langzeitgedächtnissesbis hin zu Störungen der Orientierung (zur Zeit, zum Ort, zur Person und zurSituation).Definition der Demenz nach Kriterien der ICD-10:- Abnahme von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis- Abnahme des abstrakten Denkvermögens- Abnahme von Urteilsvermögen, Planungs- und Organisationsvermögen sowie andere Störungenhöherer kortikalen Funktionen wie Aphasie, Agnosie, visuopatiale Fähigkeiten- Keine Störung der Bewusstseinslage- Beeinträchtigung der Affektkontrolle, des Antriebs oder des Sozialverhaltens- Symptome bestehen seit mindestens 6 Monaten


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 24Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankung4.1. <strong>Biografiearbeit</strong> bei Menschen mitDemenzerkrankungMenschen ohne kognitive Defizite können ihre Lebensgeschichte und das, was ihnen wichtigist, erzählen. Doch besonders bei demenzkranken Menschen ist das Wissen über die Biografiesehr wichtig. Die Betroffenen können sich meist nur eingeschränkt äußern und manchmalscheint das Gesagte sinnlos und rätselhaft. Biografiekenntnisse können be<strong>im</strong> Verstehen desVerhaltens und Erlebens der verwirrten Menschen hilfreich sein, denn vor dem Hintergrundihrer Lebensgeschichte und der aktuellen Lebenssituation ist das Handeln der dementenMenschen durchaus sinnvoll. Ihre Wirklichkeit ist nur eine andere als unsere. Durch ihrKrankheitsbild ist das Kurzzeitgedächtnis oft beeinträchtigt. So ziehen sie sich zurück undleben oftmals in Szenen ihrer Vergangenheit. Das, was sie aktuell erleben und fühlen, kombinierensie oft mit alten Erlebnissen, die ihnen <strong>im</strong> Langzeitgedächtnis zur Verfügung stehen.Der Zugang zu dieser Erlebniswelt kann durch ein einfühlendes Nachspüren und durch diebiografischen Kenntnisse der einzelnen Lebensgeschichten erreicht werden (Leptihn 1996).Das Wissen über die Biografie gibt den Pflegenden einen Zugang zum Krankheitsverstehenund hilft, das schwierige und oft provozierende Verhalten von demenzkranken Menschenbesser verstehen und handhaben zu können (Erlemeier 1998). Auch in der täglichen Kommunikationbietet das biografische Wissen über einen Menschen gute Ansatzpunkte für einGespräch. Außerdem wird durch das Interesse an einer Biografie dem Gegenüber eine Wertschätzungentgegen gebracht und dessen bisheriges Leben anerkannt. Diese Einstellung bzw.Offenheit kann die Begegnung zu diesen Menschen verändern (Leptihn 1996). Der dementeMensch wird dadurch nicht als Pflegeobjekt mit krankheitsbedingten Defiziten betrachtetan dem nur pflegetechnisch etwas vollzogen wird, sondern er wird als Subjekt gesehen, dereine lange Lebensgeschichte hinter sich hat. Es können eher subjektbezogene Kontakte undBindungen aufgebaut werden.Gängige Altersstereotypen können abgebaut werden (Franke 2003). Erst wenn wir einenMenschen richtig kennen gelernt haben, können wir auch auf seine Wünsche und Bedürfnisseeingehen. Deswegen ist eine personenzentrierte Betreuung ohne Biografiekenntnissenicht möglich (Leptihn 1996). Biografisches Wissen kann bei Menschen mit Demenz helfen,die Lebenskontinuität zu wahren, Identitäts- und Selbstwertgefühle zu sichern, zur Versöhnungmit der eigenen Lebensgeschichte und zum subjektiven Wohlbefinden beizutragen


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 25Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankung(Erlemeier 1998). Da sich demenzkranke Menschen oft nur schlecht über die biografischenEreignisse und Erlebnisse mitteilen können, werden biografische Angaben oft nur von denAngehörigen gegeben. Angehörige können dadurch bei der Interpretation schwieriger Verhaltensweisenhelfen sowie Angaben über Vorlieben, Abneigungen, Gewohnheiten sowiekritische Lebensereignisse liefern (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).4.2. Ansätze in der Arbeit mit Demenzkranken<strong>Biografiearbeit</strong> oder Erinnerungsarbeit stellt eine essentielle Grundlage für viele Konzeptein der Arbeit mit demenzkranken Menschen dar. Biografische Kenntnisse dienen besondersbei demenzkranken Menschen als Schlüssel des Verstehens für das jeweilige Verhalten dieserMenschen und bieten Anknüpfungspunkte. Im Folgenden möchte ich auf die wichtigstenMethoden und Ansätze in der Betreuung von Demenzkranken eingehen, die sich auf diebiografische Arbeit als Grundlage stützen.Zusammenfassung: Dementielle Erkrankungen stellen heute und mehr noch in der nahenZukunft für professionelle Pflegepersonen und begleitende Angehörige eine große Herausforderungdar. Alle Bemühungen um die Verbesserung der Lebensqualität der Erkranktenmüssen an ihren lebensgeschichtlichen Erfahrungen anknüpfen. Erinnerungen und das Wissenum das frühere Wirken, vor allem um frühere Kompetenzen, können entlasten, stabilisierenund helfen, die Identität zu wahren. Um einen Zugang zu diesen Ressourcen zu bekommen,eignen sich besonders ästhetische Medien (Musik, Kunst, Tanz, Theater…).4.3. ValidationDemenz führt nicht nur zu einem starken Rückgang der kognitiven Leistungen, sondernoftmals auch zu wesentlichen Veränderungen der Persönlichkeit. Der Erkrankte scheint fürseine Umgebung nicht mehr der zu sein, den man kannte (oder zu kennen glaubte). Geradedieses Phänomen beherrscht sehr stark die Begegnung mit dementiell Erkrankten, insbesondere,wenn sich die Personen nahestehen, denn gerade dann wirken diese Faktoren sehrbelastend auf die Beziehungsebene der Kommunikation ein.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 26Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei DemenzerkrankungIn der Arbeit mit dementiell erkrankten Menschen bedarf es daher einiger grundlegender Haltungenin der Kommunikation. Die Beziehungsarbeit gestaltet sich aufgrund der „Verwirrtheit“der Patienten recht kompliziert. Es prallen zwei Wirklichkeiten aufeinander, zwischendenen sich oftmals nur mühsam Schnittstellen herstellen lassen. Passen die vom Krankenund seinem Gegenüber aktuell erlebten Wirklichkeiten nicht zusammen, gibt es grundsätzlichzwei Möglichkeiten: Man konfrontiert den aus der Sicht des Gesunden desorientiertenMenschen mit der vermeintlichen Realität. Dieses stellt den kranken Menschen <strong>im</strong>mer wiedervor die Einsicht, dass er etwas falsch macht, etwas eigentlich Selbstverständliches nichtbeherrscht, indem er die Tageszeit durcheinander bringt oder eine Person, die ihm eigentlichvertraut sein müsste, nicht erkennt. Das führt in der Regel zu noch stärkerer Frustration, diedurch den Krankheitszustand ohnehin schon erhöht ist, und löst möglicherweise Abwehr,Aggression sowie Flucht- oder Verteidungsverhalten aus. Daher stößt der Gedanke der Validationin der Pflege auf große Resonanz und ist auch wichtig für die <strong>Biografiearbeit</strong>.Das englische Wort „validation“ heißt in deutscher Übersetzung so viel wie „Gültigkeitserklärung“.Das Validieren wurde von Naomi Feil für die Zielgruppe der verwirrten altenMenschen, die sich in verschiedenen Stadien der Demenz befinden, entwickelt. Der Anwendungsbereichder Validation wird also eingegrenzt auf sehr alte Menschen, die in ihrenkognitiven und sensorischen Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Diese Personen befinden sichin der letzten Lebensphase und sind bemüht, unverarbeitete Gefühlssituationen wachzurufen,auszudrücken und zu verarbeiten. Feil versucht mit ihrer Methode, den Grund für dieDesorientierung zu verstehen, den Rückzug in die Vergangenheit und das Abgleiten in denso genannten „Rückzug in sich selbst“ zu verhindern. Durch diese Methode soll Vertrauenaufgebaut, Sicherheit geschaffen und das Selbstbewusstsein wieder hergestellt werden. Validationakzeptiert den Menschen so, wie er ist. Die Gefühle und die innere Erlebniswelt desverwirrten Menschen werden respektiert und anerkannt (Feil 2002).Doch der Zugang zur Erinnerungs- und Gefühlswelt von Demenzkranken, besonders <strong>im</strong> fortgeschrittenenStadium, ist sehr schwierig. Viele verbale und nonverbale Äußerungen sind fürAußenstehende bizarr, verworren, aus dem gegenwärtigen Kontext gerissen und deshalb oftunverständlich. Mit den Worten von Naomi Feil bedeutet jemanden zu validieren, „seineGefühle anzuerkennen, ihm zu sagen, dass seine Gefühle wahr sind […]. In der Methodeder Validation verwendet man Einfühlungsvermögen, um in die innere Erlebniswelt der sehralten, desorientierten Person vorzudringen“. Feil ist der Meinung, dass desorientierte Men-


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 27Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankungschen in die Vergangenheit zurückkehren, um aufzuräumen und ihre Grundbedürfnisse nachLiebe und Identität zu befriedigen. Durch den Rückzug in die Vergangenheit vermeiden siedie schmerzvolle Gegenwart, Gefühle des Nichtgebrauchtwerdens und der Einsamkeit. Feilist auch der Ansicht, dass desorientierte Menschen ihre Vergangenheit wieder erleben, umihre Würde wiederherzustellen. Aus der gegenwärtigen Realität können sie keine Befriedigungziehen. Desorientierte Menschen drücken diese Bedürfnisse aber nicht mehr <strong>im</strong> Hierund Jetzt aus, sondern kommunizieren oft mit Personen und Gegenständen aus der Vergangenheit.Verschlechtern sich die intellektuellen Fähigkeiten, vergrößert sich das Vokabularan Phantasiewörtern. Dementiell erkrankte Menschen greifen auf <strong>im</strong>mer mehr gefestigteund gespeicherte Bewegungen zurück, um ihre Bedürfnisse auszudrücken (Feil 2002).Die Ziele der Validation sind:- Wiederherstellen des Selbstwertgefühls- Reduktion von Stress- Rechtfertigung des gelebten Lebens- Lösen der unausgetragenen Konflikte aus der Vergangenheit- Reduktion chemischer und physischer Zwangsmittel- Verbesserung der verbalen und nonverbalen Kommunikation- Verhindern eines Rückzuges in das Vegetieren- Verbesserung des körperlichen WohlbefindensFeil unterscheidet vier Stadien der Desorientierung. Dabei sind diese Stadien nicht statischzu sehen. Verwirrte Menschen können sich innerhalb eines Tages in diesen vier Stadien bewegenund von einem zum nächsten wechseln. Nur durch Validation wird der totale Rückzugin das vierte Stadium vermieden. Feil ist der Meinung, dass Menschen sich nicht komplett indie Vergangenheit zurückziehen, wenn sie sich in der Gegenwart als stark, geliebt und nützlicherfahren. Validation soll den verwirrten Menschen ihre Würde zurückgeben (Feil 2002).Das erste Stadium ist gekennzeichnet durch eine leichte Desorientierung. Die betroffenenPersonen versuchen, an der objektiven Realität festzuhalten und verleugnen ihre Gefühle.Dies macht eine validierende Annäherung sehr schwierig. Die Gefühle werden hauptsächlichin verschlüsselter Form ausgedrückt. Da die Betroffenen darin bestrebt sind sich zurechtfertigen oder ihre starken Emotionen zu leugnen, beschuldigen sie oft andere. In dieserPhase entwickeln sich oft Wahnvorstellungen (z.B. Bestehlungswahn). In diesem Stadium


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 28Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankungsoll der betroffenen Person durch Zuhören und gezielte Fragen geholfen werden, ihre Gefühleauszudrücken zu können. Warum-Fragen sollten vermieden werden, da sich die betroffenePerson schnell überfordert fühlt und ihr Selbstwertgefühl verliert.Das zweite Stadium ist gekennzeichnet durch den Verlust kognitiver und körperlicher Fähigkeitensowie durch den Verlust der Selbstkontrolle und der Kommunikationsmöglichkeiten.Menschen mit Demenz sind nicht mehr in der Lage, sich an die Realität zu klammernund ziehen sich <strong>im</strong>mer mehr zurück. Sie kehren zu grundlegenden, universellen Gefühlenzurück: Liebe, Hass, Trauer, Angst vor Trennung, Streben nach Identität. Sie benutzen ofteigene Wortschöpfungen.Das dritte Stadium ist das der „sich wiederholenden Bewegungen“. Wenn Menschen <strong>im</strong>zweiten Stadium ihre Gefühle nicht durch eine validierende Person verarbeiten können, ziehensich diese Menschen häufig in vorsprachliche Bewegungen und Klänge zurück. Körperteilewerden zu Symbolen, Bewegungen ersetzen Worte. Die Sprache wird unverständlich,oft kommen nur eingeprägte Laute der frühen Kindheit heraus. Durch die Körperbewegungentransportieren sich manche verwirrte Menschen in die Vergangenheit zurück, um derschmerzlichen Realität zu entgehen. Feil ist der Ansicht, dass Medikamente oder Zwangsmittelden Rückzug noch verstärken.Das vierte Stadium nennt sich „Rückzug ins sich selbst“. Menschen in diesem Stadium verschließensich völlig der Außenwelt und geben das Streben, das Leben zu verarbeiten, auf.Der eigene Antrieb reicht gerade um zu überleben. Im Vegetationsstadium brauchen Menschenbesonders körperliche Berührungen, Anerkennung und Fürsorge (Feil 2002).4.3.1. Integrative ValidationDer Ausgangspunkt von <strong>Biografiearbeit</strong> ist häufig, dass lediglich Min<strong>im</strong>aldaten vorliegen.In diesem Fall muss sich ein Team auf eigene Fähigkeiten konzentrieren. Die Hauptaufgabevon Mitarbeitern in Pflege und Begleitung ist zu beobachten und sehr genau wahrzunehmen.Nicole Richard entwickelte die Validation von Naomi Feil zu dem praxisbetonten Handlungsmodellder Integrativen Validation weiter. Die Integrative Validation zeichnet sich durch


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 29Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankungeine wertschätzende und behutsame Umgangsweise aus. Ziel ist es, ein vertrauensvollesKl<strong>im</strong>a zu schaffen. Der Schwerpunkt der Kommunikation liegt auf der emotionalen Ebene.Zu Beginn des Gesprächs werden von der Pflegeperson Gefühle und Antriebe angesprochen,wertgeschätzt und akzeptiert. Dadurch entsteht Vertrauen und der Patienten fühlt sich angenommen.Im weiteren Verlauf werden allgemeine Redewendungen und Sprichworte genutzt,die zu den vorherrschenden Antrieben passen (z.B. „Ordnung ist das halbe Leben“ beiOrdnungsliebe). Diese Redewendungen sind den alten Menschen vertraut und geben ihnenSicherheit. Dabei ist zu beachten, dass die Integrative Validation völlig auf Fragetechnikenund auf Realitätsorientierung verzichtet. In die Gespräche werden Lebensgeschichte undpersönliche Rituale der Betroffenen eingebunden (Deutsche Alzhe<strong>im</strong>er Gesellschaft 2003).Die Integrative Validation unterscheidet sich von der Validation von Feil vor allem in derArt der verbalen Kommunikation, insbesondere <strong>im</strong> Vorhandensein bzw. dem Fehlen der Fragetechnikund Interpretation verbaler Äußerungen von verwirrten Menschen. Die wesentlichenPrinzipien, die Grundhaltung und das Leitbild, das den empathischen Zugang zursubjektiven Realität und Gefühlswelt des Demenzkranken in den Mittelpunkt stellt, sind inbeiden Formen der Validation gleich (Erlemeier 1998).4.3.2. Reminiszenz-TherapieDie Reminiszenz-Therapie (REM) ist eine spezielle Ausrichtung der Erinnerungsarbeit undwurde vor allem für die Gruppe der Menschen mit Demenz und Depression entwickelt. Sieorientiert sich an dem 1958 von Robert N. Butler entwickeltem Therapieprogramm für Patientenmit psychiatrischen Störungen (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998). Butler n<strong>im</strong>mtan, dass die Lebensrückschau kein Regressionsprozess wie bei Feil ist, sondern ein kreativerProzess, der darauf ausgerichtet ist, zur Ich-Integrität zu gelangen. Die Aufarbeitung ungelösterKonflikte ist die zentrale Aufgabe des hohen Alters und wird als Antwort auf die Konfrontationmit Krankheiten und Tod betrachtet. Butler ist der Meinung, dass der Rückblickauf das vergangene Leben auf jeden Fall stattfindet, deswegen sollte man diese Erinnerungenbegleiten und nicht übergehen.Die Durchführung der Therapie erfolgt in offenen oder geschlossenen Gruppen. Das Gesprächverläuft mit Themenvorgaben, die an den chronologischen Lebenslauf angelehnt sind.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 30Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei DemenzerkrankungVorteile der Reminiszenz-Therapie sind der Aufbau von Sozialkontakten, die Relativierungdes eigenen Schicksals und die Anteilnahme am Leben anderer. REM soll eine zeitlicheOrientierungshilfe darstellen. Die Lebenserinnerungen sollen therapeutisch genutzt und dieBetroffenen in Krisensituationen unterstützt werden. Bei einigen ausgewerteten Studienwurden positive Ergebnisse festgestellt. Positive Effekte waren z.B. erhöhtes Interesse, Interaktion,soziales Verhalten, St<strong>im</strong>mungsaufhellung, Anregung kognitiver Funktionen unddie Minderung von Aggression und Unruhe. Es gibt allerdings keine Berichte darüber, oboder wie lange diese Effekte anhalten, obwohl auch Veränderungen außerhalb der Gruppensitzungenbeobachtet wurden. Durch REM können die Mitarbeiter die Betroffenen besserkennen lernen, was sich positiv auf eine individuelle Pflege, Förderung und Begleitung auswirkenkann (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).4.3.3. Selbsterhaltungs-TherapieDie Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) hat zum Ziel, die Betroffenen be<strong>im</strong> Erhalt ihrer Identitätund dem Wissen um das eigene Selbst zu unterstützen (Klie 2002). Das emotionaleGleichgewicht soll wieder hergestellt und depressive Reaktionen verringert werden. Dertheoretische Hintergrund beruht auf der Annahme, dass das Selbst ein zentrales kognitivesSchema darstellt, welches Informationen aufn<strong>im</strong>mt, verarbeitet und behält. Durch diese Verarbeitungist es Menschen möglich, Situationen einzuordnen, auf Basis der Erfahrungen Entscheidungenzu treffen und sich zu orientieren. Es wird angenommen, dass ein Abnehmendieses Prozesses (z.B. durch dementielle Erkrankungen) zu einem schwindenden Selbst unddamit die personale Kontinuität zu psychischem Leiden, Aggressionen und Depressionenführt. Zieht sich ein Mensch zurück, entstehen erlebnisarme Lebensbedingungen, die dasIdentitätsgefühl bedrohen können (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).Durch die SET sollen in alltäglichen Situationen die Fähigkeiten und Stärken aber auchSchwächen kennen gelernt werden. Bei dem selbstnahen Wissen handelt es sich um Aspektedes Lebens, die dem Menschen persönlich sehr wichtig waren. Im Vordergrund stehen Erinnerungen,Fähigkeiten, Vorlieben und Interessen, die sich ein Leben lang entwickelt habenund zu seinem Selbst gehören (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998). Hierbei wird sich einerausgeprägten Beschäftigung mit der Biografie des Betroffenen bedient. Durch das Erzählenvon persönlichen Erlebnissen wird nicht nur eine Festigung des Wissens über sich selbst,


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 31Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankungsondern auch eine Stärkung des Selbstvertrauens durch die Erinnerung an die <strong>im</strong> Lebenvollbrachten Leistungen bewirkt (Klie 2002).Dieses Training beinhaltet auch das Üben von noch erhalten gebliegenen Fähigkeiten, durchwelches kommenden Beeinträchtigungen entgegengewirkt werden soll. Mit dem Menschenbildder SET wird eine generelle Sensibilisierung auf das Selbst eines Menschen verfolgt undAntriebe und Wünsche werden verständlich gemacht (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).Weiterhin fördert allein das Erzählen die Verbesserung der Hirnfunktionen (Klie 2002).4.4. Psychobiografisches PflegemodellDas psychobiografische Pflegemodell von Böhm geht davon aus, dass problematische bzw.herausfordernde Verhaltensweisen von alten Menschen erklärbar sind, wenn wir sie aufgrundihrer emotionalen Biografie verstehen lernen. Tiefenpsychologischen Ansätzen zufolgewerden Menschen in den ersten Lebensjahren in ihren Verhaltensweisen und dem dazugehörigenGefühl grundlegend geprägt. Durch positive oder negative Situationen können siein diese Zeit regredieren. Bei der Psychobiografie steht <strong>im</strong> Gegensatz zur herkömmlichenBiografie nicht der chronologische Lebenslauf <strong>im</strong> Vordergrund, sondern der emotionale. Esstellt sich nicht die Frage, was ein Mensch in seinem Leben getan hat, sondern warum einMensch etwas getan hat und heute noch tut. Für die praktische Umsetzung und den Umgangmit dementen Menschen ist es erforderlich, die Zeitgeschichte dieser Menschen zu erforschen.Aus dem so genannten Zeitgeist von „damals“ und der emotionalen Biografie werdenauffällige Verhaltensweisen interpretiert (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).Böhm teilt das Erleben von Menschen mit Demenz in sieben Stufen ein. Auf jeder dieserStufen kann man die Person auf eine andere Art emotional erreichen. Es sollen Impulse gesetztwerden, die Menschen mit Demenz von einer geistigen Interaktionsstufe in eine nächsthöhere Interaktionsstufe bringen sollen. Mit Hilfe eines speziellen Dokumentationssystemskönnen die jeweiligen Interaktionsstufen dieser Menschen errechnet sowie die psychobiografischePflegeplanung nach Böhm durchgeführt werden. Ziele des psychobiografischenPflegemodells sind die Aktivierung der Betroffenen, um ihren Rückzug zu verhindern, dieSymptome der Krankheit zu lindern und ihre Lebensqualität zu erhöhen (Gerben & Kopinitsch-Berger1998).


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 32Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei DemenzerkrankungÜber die <strong>Biografiearbeit</strong> werden so genannte „Copings“ erhoben, also Informationen darüber,wie ein Mensch, mit Problemen umgeht Diese Reaktionsmuster werden von Bezugspersonenabgeschaut. Daraus lassen sich die Bewältigungsstrategien ableiten, die eingesetztwerden, um Pflegeziele zu erreichen.Zusammenfassung: Die Probleme psychisch auffälliger alter Menschen sind oft nicht vordergründigorganisch, sondern seelisch bedingt, was aus der individuellen Biographie hergeleitetwerden kann. Daraus resultiert u.a. die Forderung nach Gesundheitspflege stattKrankenpflege! Die Vorgehensweise in der Pflege erfordert eine eigenständige Denk- undArbeitsweise des Pflegepersonals. Die Pflegetheorie zeichnet sich durch die Betonung undFörderung des Selbsthilfepotenzials alter Menschen aus. Sie sollen reaktiviert werden, siesollen aufleben und nicht aufgehoben werden. Denn: „Vor den Beinen muss die Seele bewegtwerden.“4.5. Personenzentrierter Ansatz als Methodezum Erhalt der SubjektivitätDer personenzentrierte Ansatz von Kitwood stellt eine nicht rein biografieorientierte Methode,sondern eher eine best<strong>im</strong>mte Haltung gegenüber demenzkranken Menschen dar. Esist wichtig, diesen Ansatz trotzdem <strong>im</strong> Rahmen von biografischen Methoden zu erwähnen,da der Schwerpunkt dabei auf der Erhaltung und Stützung der jeweiligen Subjektivität undPersönlichkeit des Menschen in seiner Einzigartigkeit liegt.Theoretische Grundlage der personenzentrierten Pflege ist die Überlegung, was es heißt, einePerson zu sein bzw. welchen Wert „Person-Sein“ für einen Menschen hat. Schon der PhilosophImmanuel Kant argumentierte, dass das Prinzip des Respekts vor Personen dem Lebendes Menschen als soziales Wesen einen Sinn gibt. In der Sozialpsychologie wird „Person-Sein“ vor allem mit Einnehmen und Ausfüllen sozialer Rollen, Integrität, Kontinuität undStabilität des Selbstgefühls in Zusammenhang gebracht (Kitwood 2002).Den Begriff des „Person-Seins“ umschreibt Kitwood wie folgt:


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 33Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankung„Es ist ein Stand oder Status, der dem einzelnen Menschen <strong>im</strong> Kontext von Beziehungund sozialem Sein von anderen verliehen wird. Er <strong>im</strong>pliziert Anerkennung, Respektund Vertrauen.“ (Kitwood 2002)Je mehr die neurologische Beeinträchtigung voranschreitet, desto mehr sind die Betroffenendarauf angewiesen, erleichternde Ergänzungen bei „abgerissenen Handlungsprogrammen“zu erfahren und somit in ihrem „Person-Sein“ unterstützt zu werden. Im Unterschied zuMenschen mit intakter innerer Struktur lebt die Subjektivität bei Menschen mit Demenz <strong>im</strong>mermehr davon, Wertschätzung gespiegelt, Beschäftigung und Arbeit angeboten zu bekommen,in Gemeinschaft geführt und begleitet zu werden und in der Konstanz von Personen,Strukturen und individuellen Routinen, Sicherheit und Geborgenheit zu erfahren (Müller-Hergl 2001). Häufig wird über Menschen mit Demenz gesagt, dass „sie sich verlieren“ oderdass sich ihre Persönlichkeit verändert. Kitwood bezweifelt auch nicht, dass einige Fähigkeiten<strong>im</strong> Verlauf der Demenz verloren gehen und dass St<strong>im</strong>mungs- und Verhaltensmusterverändert werden, aber er interpretiert diese Veränderungen als Verlust von Ressourcen undals Zusammenbruch psychischer Abwehrmechanismen. Er spricht von einer Kontinuität derPersönlichkeit, bei der einige Merkmale, die <strong>im</strong>mer schon präsent waren, jetzt in einer übertriebenenoder deutlicheren Form auftreten. Eine Ausnahme stellt die Frontallappen-Demenzdar. Personen, bei denen eindeutig ein erheblicher Verlust an Neuronen in den Frontallappendes Gehirns nachgewiesen wurde, neigen zu einer drastischen Verschlechterung derSymptomatik und verändern somit gravierend das Verhalten (Kitwood 2002). Generell istaber davon auszugehen, dass das „Person-Sein“ erhalten bleibt. Dies gilt auch für Menschenmit schwerer Demenz.Bei der personenzentrierten Pflege wird der Mensch in seiner Subjektivität gesehen undin seiner Individualität unterstützt. Es geht darum, den Menschen mit seinen vorhandenenFähigkeiten zu betrachten und diese zu fördern. Dazu gehört auch die Überzeugung, dassalles, was ein Mensch mit Demenz sagt und tut, einen Sinn hat. Demzufolge werden problematischeVerhaltensweisen wie beispielsweise Aggression als herausforderndes Verhaltenund als Handlungs- und Kommunikationsversuch betrachtet. Ziel ist es, dieses Verhaltenzu verstehen und nicht zu sanktionieren. Die dahinter liegenden Bedürfnisse sollen erkanntund dementsprechend soll gehandelt werden (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998). Erfahrungsgemäßn<strong>im</strong>mt ein herausforderndes Verhalten in Form von Verhaltensauffälligkeitenin einem personenunterstützten Milieu erheblich ab (Müller-Hergl 2001).


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 34Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankung4.6. Aktivitäten und Kommunikationin der <strong>Biografiearbeit</strong>Selbstverständlich sind auch Demenzkranken die Beziehungen zu anderen Menschen sehrwichtig. Sie ziehen besonders große Befriedigung aus Aktivitäten, die sie gemeinsam mitanderen durchführen können und die einen stark st<strong>im</strong>ulierenden Charakter haben, also z.B.sich gemeinsam bewegen, tanzen, Musik machen und hören oder auch Essen vorbereiten(Hesse 2002). Solche Tätigkeiten geben Demenzkranken das Gefühl, sozial eingebunden zusein und vermitteln ihnen Sicherheit und Aufgehobenheit, aber auch aktiv und eigenständighandeln zu können (Bruder 2002). Gerade in solchen Situationen kann es zu intensivenKontakten und auch zu Gesprächen kommen. Eine anregende Atmosphäre, Unterstützungdurch Bilder, Düfte, Wohlschmeckendes und berührbare Gegenstände aus dem Alltag oderder Natur steigern das Wohlbefinden und fördern die Kommunikation.Es dürfen allerdings auch nicht zu viele Reize gleichzeitig eingesetzt werden, da es sonstschnell zu Überforderungen kommen kann. Das oftmals mit vielen Medien gleichzeitig arbeitendebasale „Snoezelen“ sollte daher in der Demenzarbeit nur sehr behutsam eingesetztwerden.In der biografieorientierten Kommunikation mit dementiell Erkrankten ist es also entscheidend,sich auf die Bedingungen der Gesprächspartner einzustellen. Um dem gerecht werdenzu können, sollten <strong>im</strong> Gespräch gewisse Regeln beachtet werden. In erster Linie gehört dazu,dem Kranken nicht gleich zu widersprechen und ihn auf diese Weise zu konfrontieren. Überhauptmuss mit Fragen – vor allem mit den typischen „W-Fragen“ (Wann, Wo…), insbesondereaber mit der Frage nach dem „Warum“ – vorsichtig umgegangen werden, Möchte manetwas in Erfahrung bringen, hilft oftmals nur ein behutsamer Umweg, ein Herantasten andie Fakten. Man muss sich stets vor Augen halten, dass sich die Möglichkeiten des verbalenAusdrucks dem Erkrankten nach und nach entziehen, er also oftmals schwer oder gar nichtmehr zu verstehen ist.Die Sprache dem Patienten gegenüber bedarf einer besonderen Kontrolle. Es muss ruhig,deutlich und langsam und somit verständlich gesprochen werden. Eindeutige, kurze undprägnante Sätze erhöhen die Chance, dass die Inhalte auch verstanden werden. Vor allemsollten nicht mehrere Informationen auf einmal geliefert werden. Auch ist es wenig sinn-


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 35Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankungvoll, moderne Begriffe zu verwenden, die dem Zeitgeist geschuldet sind („cool“) und nichtzum eingeschliffenen Sprachrepertoire gehören. Dies wirkt wie eine völlig unverständlicheFremdsprache und hinterlässt nur Ratlosigkeit.Wenig ergiebig sind auch Fragen nach Daten, die erst in jüngster Vergangenheit abgespeicherthätten werden können. So sind oftmals die Namen der Großeltern präsenter als dieNamen der Enkel. Es hilft sehr, die Patienten von vorne anzusprechen, da St<strong>im</strong>men von derSeite oder gar von hinten nicht mehr zugeordnet werden können. Weiters sollte man sich aufAugenhöhe begeben, z.B. bei sitzenden Personen und Rollstuhlfahrern. Angeraten ist auch,nicht lauter als nötig zu sprechen und vor allem Zeit zu geben, das Gesagte zu verstehen.Hier ist Geduld gefordert.Dabei kann eine behutsame, durchaus redundante nonverbale Kommunikation das gesprocheneWort noch verdeutlichen (Niebuhr 2004). Belastende und tabuisierte Themen, sofernman sie kennt, gilt es besser zu vermeiden, z.B. eine Scheidung, eine unglückliche Ehe oderdas Zerwürfnis mit den Kindern. Insgesamt sollte darauf geachtet werden, dass es möglichstnicht zu problematischen Situationen infolge unliebsamer Erinnerungen kommt. Mit Sicherheitausschließen wird sich dies aber wohl nicht, da z.B. manche ältere Menschen <strong>im</strong>mernoch unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, die infolge der langen Tabuisierungbest<strong>im</strong>mter Erlebnisse nie verarbeitet werden konnten. Diese können dann <strong>im</strong> Alter,insbesondere in Stadien der Demenz und der Lebensbilanzierung, wieder aufbrechen. Typischsind z. B. Panikattacken, wenn Sirenen von vorbeifahrenden Einsatzfahrzeugen gehörtwerden. Das Verhalten eines dementiell Erkrankten, der in einem solchen Moment unter dasBett kriecht, ist dann nur aufgrund seiner Lebensgeschichte, speziell seiner Kriegserlebnisse,zu verstehen.Eine therapeutische orientierte Aufarbeitung, die gerade <strong>im</strong> Alter sehr wertvoll und für dasLoslassen sehr wichtig sein kann, sollte entsprechend ausgebildeten Therapeuten überlassenbleiben. Gute Erfolge auf sehr behutsamem Wege hat hier die Musiktherapie aufzuweisen,vor allem <strong>im</strong> Kontext von Sterbebegleitung (Pfefferle 2005). Vieles in der Kommunikationverbleibt auf der Ebene von Gefühlen, Gespür, Atmosphäre und St<strong>im</strong>mungen, die von denErkrankten sehr wohl wahrgenommen werden, auch wenn inhaltliche Fakten nicht mehrverstanden und umgesetzt werden können. Und man kann selbst oftmals nur versuchen zuspüren, was hinter ihren Aussagen steckt. Daher macht es Sinn, sich in der Kommunikation


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 36Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankungauf die Gefühle des alten Menschen einzulassen und sich von ihnen leiten zu lassen.Wird den aktuellen Ausdrucks- und Verhaltensmöglichkeiten des Erkrankten nicht Rechnunggetragen, indem er z.B. zu einem Verhalten gedrängt wird – etwa auch in der <strong>Biografiearbeit</strong>– kann er ärgerlich, abwehrend oder gar aggressiv reagieren. Diese <strong>im</strong>mer wieder zubeobachtenden und den Pflege- und Begleitungsprozess erschwerenden Verhaltensweisensind in der Regel Reaktionen auf das Gefühl der Hilflosigkeit und der Überforderung. Siestellen Barrieren dar, zumal eine verbale Auseinandersetzung nicht oder kaum mehr möglichist. Das macht deutlich, „wie wichtig es ist, sich <strong>im</strong>mer wieder in die psychische Situationvon demenzkranken Menschen einzufühlen und dabei die Relation zwischen den eröffnetenHandlungsmöglichkeiten und den gezogenen Handlungsgrenzen sehr sorgfältig abzuwägen.“(Kruse 2004)Für den dementiell erkrankten Menschen erhöht sich in der Regel seine Lebensqualität,wenn er in soziale Aktivitäten eingebunden ist. Aufgrund der sprachlichen Einbußen kommenaber nur noch wenige Beschäftigungen dafür in Frage, so dass den Zugängen überattraktive Medien eine herausragende Rolle beizumessen ist. Bei zunehmender Verschlechterungder Demenzsymptome sind die auditiven Medien den visuellen vorzuziehen. Insbesondersbekannte und emotional anregende Musik trägt dazu bei, wichtige Eckpfeiler ausder Lebensgeschichte, aber auch Wesenszüge, Vorlieben und Abneigungen offenzulegen,um diese Daten für eine Begleitung positiv nutzen zu können. Sie hilft auf der Basis lebensgeschichtlicherErfahrungen bei der Aufrechterhaltung des Selbstbildes und der Kontinuitätvon Identität und garantiert eine verstehende und annehmende Haltung in der biografieorientiertenBegegnung. Darüber hinaus existieren aber noch viele andere Möglichkeiten, dendementiell erkrankten Menschen über sinnlich-ästhetische Prozesse zu erreichen und seineLebensgeschichte wenigstes bruchstückhaft für eine angenehme Beziehung ins Bewusstseinzu holen. So z.B. durch den Einsatz von Haustieren, die Sinnesebenen wie das Berühren undRiechen st<strong>im</strong>mulieren und den unersetzbaren Kontakt zu einem Lebewesen. Durch verschiedeneAktivitäten und Kommunikation können wichtige Eckpunkte für die <strong>Biografiearbeit</strong>beantwortet werden.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 37Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankung4.7. Strategien der biografischen ScheinweltgestaltungDas Modell der biografisch orientierten Scheinweltgestaltung basiert auf dem Ansatz einerVerbesserung der Person-Umwelt-Passung mit dem Ziel, hierdurch das Wohlbefinden unddamit auch die Lebenszufriedenheit herzustellen bzw. zu steigern. Dies hat zugleich einedeutliche Minderung von Stress aufgrund von Überforderung durch eine fremd wirkendeUmwelt zur Folge.Da Demenzkranke sich nur noch begrenzt an neue Reizgefüge der Umwelt anzupassen vermögen,gilt es nun, die Lebenswelt gemäß dem geringen Verarbeitungsvermögen zu verändern,wozu unter anderem auch die Scheinweltgestaltung neben der Verstetigung der Handlungsgefügeund der St<strong>im</strong>ulusanpassung gehört (Lind 2011).Die Behandlung psychischer Belastungen und die Eingliederung von Scheinweltelementenin die unmittelbare Lebenswelt zur psychischen Stabilisierung sind die vorrangigen Zieleder unterschiedlichen Vorgehensweisen.1. Positives Einwirken bei beeinflussbaren Zeitverschränkungenmit Verpflichtungscharakter (Stressabbau):Entsprechend der psychischen Belastung des Demenzkranken kann von einer beeinflussbarenZeitverschränkung bei einem niedrigen Stressniveau gemäß dem Drei-Stufen-Modellder Ablenkung und Beruhigung durch eine verbale Aussage abgelenkt werden. Bei einemhöheren Stressniveau bedarf es hingegen intensiverer Reizgefüge:Wenn ein Demenzkranker sich aufgrund seiner Erinnerung verpflichtet fühlt, die Hühner fütternzu müssen, dann reicht bei einem niedrigen Stressniveau der Hinweis, dass die Hühnerschon gefüttert worden sind. Ist die Unruhe hingegen schon deutlich gesteigert, dann sollteder Demenzkranke aufgefordert werden, mit in die Küche zu kommen, um be<strong>im</strong> Abtrocknenzu helfen (Lind 2011).2. Hilfestellung be<strong>im</strong> Ausüben zwanghafter Handlungsabläufe(starre Zeitverschränkungen):Sind Demenzkranke ständig dem Zwang der Ausübung einer lebensgeschichtlich bedeutsamenHandlung wie z.B. dem nächtlichen Zeitungsaustragen ausgeliefert, dann sind hierbeiHilfestellungen zu geben, indem dem Betroffenen ein Stapel alter Zeitungen vor die Tür


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 38Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei Demenzerkrankunggelegt wird, die er dann <strong>im</strong> Wohnbereich austeilen kann, um anschließend wieder ins Bettzu gehen (Lind 2006).3. Strategien des „Mitgehens und Mitmachens“ bei wahnhaften Halluzinationenmit lebensbedrohlichem Stress:Demenzkranke entwickeln manchmal wahnhafte Halluzinationen mit lebensbedrohlichenInhalten. Die Betroffenen befinden sich somit regelrecht in einer Akutkrise, die einer schnellenund wirksamen Hilfe bedarf. Von den Pflegenden werden hierbei erfolgreich Strategiendes „Mitgehens und Mitmachens“ angewendet, die auf folgenden Prinzipien basieren:- Die wahnhafte Halluzination anerkennen.- Den negativen Reiz durch einen positiven Reiz verdrängen.- Die Darstellung des positiven Reizes muss über ausreichend Intensität verfügen, um dennegativen Reiz zu „löschen“.Wenn z.B. ein Demenzkranker Murmeltiere unter dem Bett sieht, dann gilt es, die <strong>im</strong>aginärenTiere schnell und überzeugend aus dem Z<strong>im</strong>mer zu entfernen. Pflegende greifen sichdann zum Beispiel einen Besen und fegen mit Vehemenz, Gesten und vielen Worten dieMurmeltiere aus dem Z<strong>im</strong>mer. Wenn dies beeindruckend genug geschieht, dann wird beidem Demenzkranken der negative Reiz „Murmeltiere“ durch den positiven Impuls „Hilfedurch Pflegende“ ersetzt und der Betroffene ist erleichtert und beruhigt (Lind 2007).4. Behandlung von nächtlichen Eingebungen:Nächtens haben Demenzkranke meist aufgrund von Träumen Eingebungen, die ein „Mitgehenund Mitmachen“ erforderlich machen. Wenn z.B. eine Bewohnerin unbedingt zur Messemöchte, dann wird eine Fahrt mit dem Bus in die Kirche s<strong>im</strong>uliert (Lind 2007). Oder wenneine Demenzkranke überzeugt ist, gerade ein Kind geboren zu haben, dann wird ihr einePuppe als Babyersatz in dem Arm gelegt.5. Architektonische Aspekte und Möblierung:Demenzkranke fühlen sich in Räumlichkeiten, die mit vertrauten Möbeln ausgestattet sind,sichtlich wohler und zeigen hier deutlich stressärmeres Verhalten. So konnte z.B. in einerRaummilieustudie in Schweden nachgewiesen werden, dass durch die Möblierung und Dekorierungdes Speiseraumes eines Altenpflegehe<strong>im</strong>es mit vertrauten Gegenständen die Nahrungsaufnahmedeutlich gesteigert werden konnte (Elmstahl 1987). Eine Untersuchung inden USA zeigte, dass u.a. durch die Möblierung des Aufenthaltsbereiches mit vertrauten


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 39Anwendungsmöglichkeit von <strong>Biografiearbeit</strong> bei DemenzerkrankungMöbelstücken der Bewohner die Unruhe und das Überforderungsverhalten sichtlich gemindertwerden konnten (Minde 1990).Rundwanderwege für Demenzkranke dienen vordringlich als sichere und barrierefreie Bewegungsflächen(Lind 2007). Zusätzlich suggerieren sie den Betroffenen große und weitläufigeFlächen und lenken somit von der Begrenztheit des Wohnbereiches ab.Zusammenfassung: Das Modell einer biografisch orientierten Scheinweltgestaltung zieltauf eine Verbesserung der Person-Umwelt-Passung, indem die teils biografisch erklärbarenRealitätsverzerrungen bei positiver Auswirkung durch Umgang, Milieu, Utensilien undBeschäftigungen bekräftigt werden. Wenn Realitätsverluste hingegen mit Stress verbundensind, werden diese durch Ablenkungsstrategien (z.B. Mitgehen und Mitmachen) aus demBewusstsein getilgt.Während meines Praktikums (SeneCura) konnte ich die Erfahrung eines fingierten Bahnhofesbzw. einer Bushaltestelle machen. Die Bewohner nutzten diese Inszenierung sehr gerne.So konnte man sich als Pflegeperson dazusetzen und erfuhr von den Bewohnern interessanteGeschichten aus ihrer Vergangenheit.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 405. SchlussteilResümeeBiografisches Wissen stellt eine essentielle Grundlage in der Arbeit mit demenzkranken Menschendar. Aus der Biografie erschließen sich Verhaltensweisen und Äußerungen der Demenzkranken,welche den sie umgebenden Personen die Möglichkeit gibt, diese Menschen ganzheitlich mitihrer eigenen Persönlichkeit kennenzulernen und wahrzunehmen sowie auf ihre individuellenBedürfnisse einzugehen. Das Individuum steht dabei <strong>im</strong> Mittelpunkt – nicht die Defizite oder dasKrankheitsbild! Für demente Menschen stellt die Erinnerung an die Vergangenheit eine wichtigeRessource dar, da das Langzeitgedächtnis auch während des Krankheitsverlaufs am wenigstenbeeinträchtigt ist. Ein wichtiges Ziel der biografieorientierten Methoden ist es, die Identität, diedurch die Erkrankung Demenz bedroht ist, zu erhalten. Dazu werden so genannte „identitätsstabilisierende“Interventionen ergriffen, welche den Erhalt des personalen Selbst anstreben. Dieskann beispielsweise in Form von den in Kapitel 4 genannten biografieorientierten Ansätzen undMethoden erfolgen.Auch wenn wissenschaftliche Nachweise für die positiven Effekte von Biografie- oder Erinnerungsarbeitderzeit noch dürftig ausfallen, ist die Bedeutung der <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> Pflegebereichmeiner Erfahrung nach unumstritten. In einzelnen Studien zeigen sich tendenziell positiveWirkungen der Erinnerungspflege, sowohl für die Demenzkranken als auch für die Pflegenden.Es wird über eine signifikante Verbesserung der St<strong>im</strong>mung, signifikante Reduktion der Depressivitätund Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten (Unruhe, Aggressivität, unkooperatives Verhalten,Antriebsmangel) berichtet. Zusätzlich zeigen sich auch positive Ergebnisse in Bezug aufdie Kommunikationsfähigkeit. Durch das Interesse an ihrer Lebensgeschichte kann bei altenMenschen das Selbstwertgefühl gestärkt sowie positive Erinnerungen reaktiviert werden.Jedoch kann auch eine Konfrontation mit Defiziten ausgelöst werden und negative und schmerzlicheErinnerungen geweckt werden. Deswegen sollten best<strong>im</strong>mte Themen nur mit einer gewissenSensibilität angesprochen und die Privatsphäre der Menschen gewahrt werden. Eine unbedingteVoraussetzung ist deshalb die Freiwilligkeit des Erzählens (oder des „Darüber-Sprechens“) sowiedas Einschätzen der Reaktion auf Fragen über die eigene Lebensgeschichte. Eine Überforderungdurch penetrantes Fragen bei Demenzkranken ist unbedingt zu vermeiden.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 41SchlussteilVor allem bei demenzkranken Menschen können durch biografische Kenntnisse vorhandeneInteressen reaktiviert und st<strong>im</strong>uliert werden und durch Informationen über Vorlieben undGewohnheiten Aktivitäten und Beschäftigungsangebote individueller ausgewählt werden.Durch geteilte Erinnerungen können auch ein Gemeinschaftsgefühl und eine Atmosphäredes Vertrauens entstehen, welche Sicherheit bieten. Außerdem werden die Kommunikationund die soziale Kontaktaufnahme gefördert und die Rückbesinnung auf Erfolge und Leistungen<strong>im</strong> bisherigen Leben kann die Selbstachtung stärken.Zusammenfassend stellt die <strong>Biografiearbeit</strong> einen wichtigen Aspekt in der Betreuung vondemenzkranken Menschen dar. Durch sie besteht die Möglichkeit, die Beziehung zum Betroffenenlebendig zu gestalten und individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, auch wennbe<strong>im</strong> betroffenen Menschen eine „sinnvolle“ Kommunikation kaum noch möglich ist. Durchdie Validation und richtige Vorgehensweisen (einfühlsam, emphatisch…) bei der <strong>Biografiearbeit</strong>,können so wichtige Eckpunkte beantwortet werden, die für die Pflege wichtig sind.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 42SchlussteilLiteraturverzeichnisBruder, J. (2002): Anforderungen an die Pflege von Demenzkranken. In: Hallauer, J. F. &Kurz, A. (Hrsg.). Weißbuch Demenz. Versorgungssituationen relevanter Demenzerkrankungenin Deutschland. Stuttgart: Thieme. S. 87-89Deutsche Alzhe<strong>im</strong>er Gesellschaft (2003): Stationäre Versorgung von Alzhe<strong>im</strong>er-Patienten.Leitfaden für den Umgang mit demenzkranken Menschen. 4. aktualisierte Aufl. Berlin:Deutsche Alzhe<strong>im</strong>er Gesellschaft.Elmstahl S. & Blabolil V. (1987): Hospital nutrition in geriatric long-term care medicine.Effects of a changed meal environment. Comprehensive Gerontology. 4. Jg, Nr. 1, S. 28-33.Erlemeier, N. (1998): Alternspsychologie. Grundlagen für Sozial-und Pflegeberufe. Münster:Waxmann.Feil, N. (2002): Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. 7. Aufl.München: Ernst Reinhardt.Franke, L. (2003): Pflege und Betreuung Demenzkranker. In: Wächtler, C. (Hrsg.): Demenzen:Frühzeitig erkennen, aktiv behandeln, Betroffene und Angehörige effektiv unterstützen.2., aktualisierte und erw. Aufl. Stuttgart: Thieme.Fuchs-Heinritz, W. (2000): Biografische Forschung. Wiesbaden: Westdeutscher.Gereben, C. & Kopinitsch-Berger, S. (1998): Auf den Spuren der Vergangenheit. Anleitungzur <strong>Biografiearbeit</strong> mit älteren Menschen. Wien: Maudrich.Hesse, E. (2002): Versorgung durch Haus- und Fachärzte. In: Hallauer, J. F. & Kurz, A.(Hrsg.): Weißbuch Demenz. Versorgungssituation relevanter Demenzerkrankungen inDeutschland. Stuttgart: Thieme. S. 52-55Hölzle, C. & Jansen, I. (2011): Ressourcenorientierte <strong>Biografiearbeit</strong>. Grundlagen – Zielgruppen– Kreative Methoden. Wiesbaden: Springer.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 43SchlussteilKerkhoff, B. & Halbach, A. (2002): Biografisches Arbeiten. Beispiele für die praktischeUmsetzung. Hannover: Vincentz Network.Kitwood, T. (2002): Demenz. Der personenzentrierte Ansatz <strong>im</strong> Umgang mit verwirrtenMenschen. Bern: Huber.Klie, T. (2002): Wohngruppen für Menschen mit Demenz. Hannover: Vincentz Network.Kruse, A. (2004): Aktion Demenz. Online <strong>im</strong> Internet: www.bosch-stiftung.de/content/language/downloads/Vortrag_Kurse_neu.pdf(Zugriff am 02.01.2011).Leptihn, T. (1996): Guter Wille allein reicht nicht. Leitfaden für ein gerontopsychiatrischesPflegekonzept. Bonn: Psychiatrie-Verlag.Lind, S. (2011): Fortbildungsprogramm Demenzpflege. Bern: Huber.Lind, S. (2010): Stress und Überforderung vermeiden. Strategien einer biografisch orientiertenScheinweltgestaltung. Pflegezeitschrift. 63. Jg, Nr. 11, S. 668-671.Lind, S. (2007): Demenzkranke Menschen pflegen. Grundlagen, Strategien und Konzepte.2. Aufl. Bern: Huber.Lind, S. (2006): Die biografische Orientierung in der Pflege bei Demenz: Den Zugang zumMenschen öffnen. Pflegezeitschrift. 59. Jg., Nr. 8, S. 474–477.Lohmann, R. (1995): Life Review. Förderung der Entwicklungspotentiale <strong>im</strong> Alter. Gerontologie/ Geriatrie. 28. Jg., Nr. 2, S.236.Malteser Trägergesellschaft GmbH (2002): Wohnen und Leben können mit Demenz. Köln.Markowitsch, H. & Welzer, H. (2005): Das autobiographische Gedächtnis. HirnorganischeGrundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 44SchlussteilMinde, R. & Haynes, E. (1990). The ward milieu and its effects on the behaviors of psychogeriatricpatient. Canadian Journal of Psychiatry, 35. Jg., Nr. 4, S. 133–138.Müller-Hergl, C. (2001): Demenz zwischen Angst und Wohlbefinden. Positive Personenarbeitund das Verfahren des Dementia Care Mapping. In: Tackenberg, P. & Abt-Zegelin, A.:Demenz und Pflege. Eine interdisziplinäre Betrachtung. Frankfurt am Main: Mabuse.Niebuhr, M. (2004): Interviews mit Demenzkranken. Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungenaus Sicht der Betroffenen. Eine qualitative Untersuchung zur subjektiven Lebensqualitätvon Menschen mit Demenz. Köln: Kuratorium Deutsche Altershilfe.Opitz, H. (1998): Biographie-Arbeit <strong>im</strong> Alter. Würzburg: Ergon.Pfefferle, U. (2005): Behutsam will ich dir begegnen – Musiktherapie <strong>im</strong> Hospiz. MusiktherapeutischeUmschau. 26. Jg., Nr. 1, S. 6-17.Specht-Tomann, M. (2009): <strong>Biografiearbeit</strong> in der Gesundheits-, Kranken und Altenpflege.Heidelberg: Springer.Weingandt, B. (2001): Biografische Methoden in der Geragogik – qualitative und inhaltsanalytischeZugänge. Köln: Kuratorium Deutsche Altershilfe.


Christian Burtscher | <strong>Biografiearbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Pflegealltag</strong> 45SchlussteilEidesstattliche ErklärungHiermit bestätige ich, Christian Burtscher, dass ich diese Arbeit nur mit Hilfe der von mir <strong>im</strong>Literaturverzeichnis angeführten Unterlagen verfasst habe.Bludenz, <strong>im</strong> Februar 2011Christian Burtscher

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