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Willkürliche Haft und Misshandlung geistig behinderter Menschen

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ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?In einer versperrten Abteilung für akute Frauenfälle in Kardzali fanden die ai-Delegierten ineinem Isolationsraum ein Metallbett, das auf einem Zementfußboden fixiert war. Darauf lageine nasse, zerrissene, Fäkalien-verschmutzte Matratze.Auf die Frage hin, ob das Personal demonstrieren könne, wie sie eine Patientin auf einemBett ruhig stellen würden, fragte ein Mitglied des Personals: „Soll ich die Gürtel holengehen?“ Eine Kollegin meinte, sie würden keine Fesselungsgürtel verwenden – äußerstungeschickte Versuche, einen Freiwilligen zu Demonstrationszwecken mit Leintüchern zufixieren, zeigten jedoch nur allzu deutlich, dass das Personal wenig Erfahrung damit hatte,PatientInnen nur mit Hilfe von Leintüchern ruhig zu stellen.Mit Isolationshaft werden PatientInnenoffenbar offenbar für „Ausbruchsversuche“ bestraft –sogar dann, wenn es sich um PatientInnen handelt, die freiwillig in der Anstalt sind. In derversperrten, unter Bewachung stehenden Männer-Akut-Abteilung des Karzali-Krankenhauses gab es vier Patienten, die sich offenbar einer freiwilligen Behandlungunterzogen, als die ai-Delegation das Spital besuchte. Einer der Männer – Suleiman O. –hatte das Formular für die freiwillige Einlieferung nicht selbst unterschrieben, sondern warangeblich von Verwandten ins Krankenhaus gebracht worden, nachdem er von zu Hauseweggelaufen war. Der Direktor des Krankenhauses sagte, dass diese vier Männereingeschlossen worden wären, weil „wir sicher sein wollen, dass sie bei ihrer Entlassungnach Hause gehen <strong>und</strong> dort sicher sind“. Sie hätten die Möglichkeit, das Krankenhaus zuverlassen, das sei aber „gegen ärztlichen Rat“.zwangseinweisungInternationale <strong>Menschen</strong>rechtsstandardsDie UNO Prinzipien für den Schutz von Personen mit <strong>geistig</strong>er Erkankung <strong>und</strong> für dieVerbesserung des Fürsorgesystems für psychisch Kranke setzen fest: „Jede/r PatientIn solldas Recht haben, in einer Umgebung behandelt zu werden, die so wenig einschränkend wiemöglich ist. Auch die Behandlung selbst sollte so wenig einschränkend <strong>und</strong> belastend fürden/die PatientIn sein, wobei sein/ihr ges<strong>und</strong>heitlicher Zustand sowie der Schutz derphysischen Sicherheit anderer berücksichtigt werden muss“ (Prinzip 9)Das Antifolter-Komitee des Europarates (CPT) empfiehlt, dass über Einweisungen fürpsychiatrische Zwangsbehandlungen von einer richterlichen Stelle entschieden werden sollteoder die Einweisung von ihr bestätigt werden sollte. Jede Person, die gegen ihren Willen voneiner anderen Stelle in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird, muss das Rechthaben, die Rechtmäßigkeit dieses Freiheitsentzugs unverzüglich vor einem Gerichtüberprüfen zu lassen.Zwangseinweisungen in Bulgarien erfüllen diese internationalen Kriterien nicht. DieVerfahrensregeln für Zwangseinweisung sind außerdem diskriminierend wenn man sie mitjenen vergleicht, die bei „unfreiwilligem“ Freiheitsentzug nach dem Strafrecht angewandtwerden. Diese schreiben eine rechtliche Vertretung vor bzw. muss der Staatsanwalt einmedizinisches Gutachten einholen <strong>und</strong> Nachforschungen anstellen, ob eine Person eineGefahr für die Gesellschaft darstellt oder nicht.Das bulgarische Ges<strong>und</strong>heitsgesetz sieht Zwangsbehandlung für PatientInnen vor, vondenen man annimmt, dass sie eine „ernsthafte Gefahr“ für sich selbst <strong>und</strong> andere darstellen.Der zuständige Bezirksstaatsanwalt stellt dann Nachforschungen an bzw. beauftragtpsychiatrische Gutachten, die normalerweise in geschlossenen psychiatrischen Abteilungenangefertigt werden. Diese Untersuchungen sollten innerhalb von 30 Tagen abgeschlossensein – wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, können sie auch bis zu drei Monatendauern. Wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, muss ein Bezirksgericht darüberentscheiden, ob eine Einweisung zur Zwangsbehandlung erfolgen soll. Alle sechs Monate10


ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?sollte es über allfällig vorgeschlagene Verlängerungen der Zwangsbehandlung befinden.Eine rechtliche Beratung der PatientInnen ist erlaubt, aber nicht vorgeschrieben.Die Gerichte interpretieren den Begriff „ernste Gefahr“ unterschiedlich. Dieser rechtlicheTerminus ist so breit gefasst, dass er einer willkürlichen Interpretation Tür <strong>und</strong> Tor öffnet. Inpsychiatrischen Attesten <strong>und</strong> Gerichtsentscheiden wurde das Verhalten, das für „ernsthaftgefährlich“ gehalten wurde, nicht immer genau angegeben bzw. wurden auch Handlungenwie das Anstechen von Autoreifen oder das Spielen lauter Musik als Gefahr eingestuft.Man legte außerdem viel zu viel Gewicht auf Faktoren wie vorhergegangeneKrankenhausaufenthalte der PatientInnen oder die Wünsche der Verwandten nach einerZwangseinweisung. Manchmal ernannten die Gerichte erst wenige Minuten vor denEinweisungsverhandlungen RechtsanwältInnen zur rechtlichen Vertretung der PatientInnen.Diese AnwältInnen akzeptierten in vielen Fällen die Empfehlungen der Staatsanwaltschaftbzw. der medizinischen ExpertInnen, ohne auch nur Fragen zu stellen.Eine ernsthafte Gefahr?„Ich hatte ein paar Drinks. Um ungefähr 4 Uhr morgens klopfte ich an der Tür meinerNachbarn, ich wollte sie um eine Zigarette bitten. Da riefen sie die Polizei... ZweiPolizisten...schoben <strong>und</strong> zerrten mich in ihr Auto. Auf der Polizeistation wurde ich 72St<strong>und</strong>en lang festgehalten... Ein Arzt kam <strong>und</strong> sagte den Beamten, dass er einen Briefvom Staatsanwalt bräuchte, damit er mich untersuchen dürfe. Daraufhin wurde ichfreigelassen. Fünf Tage später war ich in einem Kaffeehaus, als einer der Polizisten zumir kam... .Er brachte mich auf die örtliche Unfalls- <strong>und</strong> Notfallsstation, wo eindiensthabender Arzt eine psychiatrische Diagnose schrieb. Daraufhin wurde ich 24St<strong>und</strong>en auf der Polizeistation <strong>und</strong> weitere zwei Tage auf einer psychiatrischenKrankenstation festgehalten, wo man mir Injektionen geben wollte, wogegen ich michwehrte. Sie riefen die Polizei <strong>und</strong> zwei Polizeibeamte ... hielten mich fest, während eineKrankenschwester mir die Injektion gab. Dann wurde ich mit Gürteln gefesselt (an denFüßen, Händen <strong>und</strong> um die Taille). Am nächsten Tag konnte ich in mein Dorf fliehen. Alsich fünf Tage später zur Krankenstation ging, um meine Sachen abzuholen, schickten siemich zur Polizeistation. Die Polizei brachte mich hierher.Vor 10 Jahren bin ich schon einmal in Behandlung gewesen. Der Aufenthalt hier machtmich krank. Niemand hat mit mir gesprochen oder mir erklärt, warum ichzwangsbehandelt werden muss. Ich fragte, ob ich auf eigene Kosten einen Telefonanrufmachen kann – aber das wurde nicht gestattet.“Yordan S., ein Patient in der Abteilung für akute Fälle im Krankenhaus KarlukovoDie 30-Tage Frist, die für die psychiatrische Untersuchung der PatientInnen vorgesehen ist,wird in fast allen Fällen überschritten, weil nicht rechtzeitig ein Gerichtstermin gef<strong>und</strong>enwerden kann. Richterliche Entscheidungen über Empfehlungen, die PatientInnen aus derZwangsbehandlung zu entlassen, werden ebenso häufig mit Verspätung getroffen. EinPatient im Krankenhaus Karlukovo sagte amnesty international, dass er fünf Monate lang inder geschlossenen Abteilung bleiben musste, während er auf seinen Gerichtstermin wartete,auch, nachdem sich sein Zustand gebessert hatte <strong>und</strong> seine Entlassung empfohlen wordenwar.11


ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?pflegeheime für <strong>geistig</strong> behinderte kinderBis vor kurzem waren die Lebensbedingungen in vielen Kinderheimen so schrecklich, dasssie als grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung gelten mussten. ImFebruar 1997 äußerte amnesty international gegenüber der bulgarischen Regierung großeBesorgnis bezüglich der Todesfälle von sechs Kindern <strong>und</strong> einer 18-Jährigen, die in einemHeim in Dzhurkovo an Unterkühlung <strong>und</strong> Unterernährung gestorben waren. In diesem Heimmussten mehr als 80 Kinder mehrere Wochen lang ohne ausreichende Nahrung <strong>und</strong>Beheizung leben. Das Bulgarische Helsinki Komitee fand im Kinderheim Fakia in der RegionBurgas lebensbedrohliche Verhältnisse vor – dort waren im Jänner 2000 zwei Jungengestorben, weil sie Berichten zufolge ungenügend medizinisch versorgt worden waren. ImAugust 2000 starben im Kinderheim Medven drei Kinder an Austrocknung. Alle dieseEinrichtungen hatten nicht genug staatliche Mittel, um eine ausreichende Ernährung derKinder gewährleisten zu können.Eine Untersuchung der Todesfälle in Dzhurkovo wurde zwar eingeleitet, es ist aber nichtbekannt, ob sie bereits abgeschlossen wurde. Bezüglich der Todesfälle in anderenKinderheimen wurden keine Nachforschungen angestellt, obwohl sie möglicherweise aufeine strafbare Vernachlässigung der Kinder zurückzuführen sind.Mittlerweile haben sich die materiellen Ressourcen von Heimen wie Dzhurkovo <strong>und</strong> Fakiagebessert. Es gibt aber nach wie vor zahlreiche Missstände.Die meisten Kinder werden einfach nur „verwahrt“ – niemand spieltmit ihnen, niemand kümmert sich um die professionelle Förderungihrer Fähigkeiten. © aiSo werden Kinder weiterhin auf derBasis unzureichender Diagnosen insolche Pflegeheime eingewiesen, wosie so gut wie keine Aussicht auf eineneuerliche Untersuchung <strong>und</strong> Diagnosehaben. Da es keine Möglichkeitenspezieller Therapien <strong>und</strong> keineTrainingsprogramme gibt, machen siein ihrer Entwicklung keine Fortschritte.Somit wird ihnen die Chance für einbesseres Leben genommen, in demsie das in ihnen angelegte Potentialverwirklichen könnten. Wenn nicht baldeine geeignete Behandlung dieserKinder einsetzt, werden sie lebenslangeSchäden davontragen <strong>und</strong> dazuverdammt sein, den Rest ihres Lebensin Fürsorgeheimen zu verbringen.fehlende therapie- <strong>und</strong> rehabilitationsmöglichkeitenWeil die Kinder nicht bereits von frühem Alter an regelmäßig untersucht werden <strong>und</strong> keineTherapie bzw. Rehabilitation durch TherapeutInnen, PsychologInnen <strong>und</strong> ÄrztInnen erhalten,wird ihre Entwicklung schwerwiegend beeinträchtigt <strong>und</strong> sie werden ihres f<strong>und</strong>amentalen<strong>Menschen</strong>rechtes auf ein Leben in Würde <strong>und</strong> Achtung beraubt. Dabei werden internationale<strong>Menschen</strong>rechtsstandards verletzt.Die meisten Kinder, die in Fürsorgeinstitutionen landen, werden im Alter von 3 Jahrenuntersucht. Diejenige, bei denen eine/n PsychaterIn eine „moderate, ernste oderschwerwiegende Entwicklungsstörung“ diagnostiziert, werden ohne dass ihnen einemedizinische oder entwicklungsfördernde Therapie verschrieben wird, in Fürsorgeheime12


ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?überwiesen. Es gibt auch Kinder, die aus „sozialen Gründen“ in den Heimen landen - weilsie z.B. von ihren Familien weggegeben oder grob vernachlässigt wurden. Die medizinischenKarteien der Kinder enthalten keine Hinweise auf die Anwendung diagnostischer Methodenwie der biochemischen Analyse oder spezieller Gehirn-Untersuchungen. Wenn die Kinder16 Jahre alt sind <strong>und</strong> somit in den Genuss von Sonderzahlungen für Behinderte kommenkönnen, werden sie erneut untersucht. Berichten zufolge wird bei dieser Gelegenheit häufigeine viel ernstere Diagnose über ihre Behinderung erstellt als es den Tatsachen entspricht,damit die höchstmögliche staatliche Unterstützung kassiert werden kann. Im Alter von 18Jahren werden jene, die unter schwereren Behinderungen leiden, in Erwachsenenheimeüberstellt.Internationale <strong>Menschen</strong>rechtsstandardsEntsprechend der UNO-Kinderkonvention ist Bulgarien - einer ihrer Vertragsstaaten – zuFolgendem verpflichtet (Artikel 23)• Ein <strong>geistig</strong> oder körperlich behindertes Kind soll ein erfülltes <strong>und</strong>menschenwürdiges Leben unter Bedingungen führen, welche die Würde desKindes wahren, seine Selbständigkeit fördern <strong>und</strong> seine aktive Teilnahme amLeben der Gemeinschaft erleichtern.• Die gewährte Unterstützung... soll so gestalt sein, dass sichergestellt ist, dasErziehung, Ausbildung, Ges<strong>und</strong>heitsdienste, Rehabilitationsdienste, Vorbereitungauf das Berufsleben <strong>und</strong> Erholungsmöglichkeiten dem behinderten Kindtatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigensozialen Integration <strong>und</strong> individuellen Entfaltung des Kindes einschließlich seinerkulturellen <strong>und</strong> <strong>geistig</strong>en Entwicklung förderlich ist.Nur wenige Kinder werden von ihren Eltern im Heim besucht <strong>und</strong> auch Kontakte mit<strong>Menschen</strong>, die in der Umgebung des Heimes leben, sind selten. Im Kinderheim Strazhaerzählte das Personal jedoch, dass sich die Einstellung im Dorf allmählich ändere <strong>und</strong> dasseinige der Kinder zu besonderen Gelegenheiten in Privathäuser eingeladen werden.Kein einziges der Heime, die amnesty international besuchte, stellte Kindern mitEntwicklungsstörungen Rehabilitationsprogamme zur Verfügung, bei denen sichTherapeutInnen, LehrerInnen oder PsychologInnen um sie gekümmert hätten.Wenn überhaupt wurden „Sonderaktivitäten“ von „ErzieherInnen“ organisiert, die nur übereine allgemeine Lehrbefähigung verfügten. Einzig im Kinderheim Strazha gab es„ErzieherInnen“, die eine gewisse Ausbildung im Umgang mit entwicklungsgestörten Kindernverfügten.DzhurkovoIm diesem Heim wurden einige Verbesserungen durchgeführt – u.a. gibt es einen Spielraummit einem neuen Heizungssystem, einen gut ausgestatteten Raum fürphysiotherapeutisches Training <strong>und</strong> einen „sensorischen Raum“, in dem die Kinder Musikhören <strong>und</strong> Lichteffekte, die auf die Wand projiziert werden, bew<strong>und</strong>ern können. Die Kinderleiden aber weiterhin an Vernachlässigung ,werden nicht hinreichend behandelt <strong>und</strong> es gibtnicht genug organisierte Aktivitäten. Vernachlässigung schon im frühen Kindesalter hat beivielen emotionelle Instabilität, Zurückgezogenheit sowie Verkümmerungen <strong>und</strong>Missbildungen von Gliedmaßen ausgelöst. Viele Kinder im Spielraum zeigten zwangsartigesVerhalten wie mit dem Kopf wiegen, andere Kinder stoßen oder immer wieder gleicheFingerbewegungen.Im Oktober 2001 lagen die 12 am schwersten behinderten Kinder auf Betten, die nurLeintücher aus Plastik hatten. Manche waren nass <strong>und</strong> hätten dringend gewechselt werdenmüssen. Fliegen umschwärmten einen Jungen, der jedes Mal wenn sich eine näherte, voller13


ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?unzureichender medizinischer Betreuung, eines Mangels an Essen <strong>und</strong> an Wärme zu sein.Das Personal sagt, in strengeren Wintern sei die Zahl der Toten noch höher. DieTodesursache wird meistens mit „akuter Herz- <strong>und</strong> Atmungs-Insuffizienz“ angegeben,Obduktionen in fünf Fällen im Februar <strong>und</strong> März 2002 zeigten aber, dass die Todesfälle aufLungenentzündung <strong>und</strong> Unterernährung zurückzuführen waren. Zu den hohen Sterberatengibt es anscheinend keinerlei Untersuchungen. Im April 2002 bekamen 16 Patienten mitBronchialleiden die verschriebenen Antibiotika nicht, weil die Mittel dafür fehlten.lebensbedingungenDie meisten der von amnesty international besuchtenPflegeheime waren für die Pflege von <strong>Menschen</strong> mitbesonderen Bedürfnissen ungeeignet <strong>und</strong> manchewaren überhaupt menschenunwürdig.Die Lage allein macht manche Heime für einenlängeren Aufenthalt untauglich. In einer Höhe von1.100 m ist das Heim Razdol im Winter oftunerreichbar. Im Jänner 2002 waren die Gebäudeohne Wartung, schmutzig <strong>und</strong> gefährlich - es gab keineZentralheizung. Ein Schlafsaal von 100 m2 Größeenthielt 33 Betten. Der Pfleger erklärte, nur zwei Bettenhätten Bettwäsche, denn „die Frauen seien krank <strong>und</strong>würden die Leintücher nur schmutzig machen“. Einigeder Matratzen waren stark verschmutzt <strong>und</strong> zerrissen.Ein kleiner Holzofen war den größten Teil des Tagesnicht in Betrieb <strong>und</strong> die Heimbewohnerinnen - einigevon ihnen barfuß - gingen auf vereisten Wegenzwischen den Gebäuden umher.Der Weg nach Razdol, Jänner 2002, © aiIm Pflegeheim Pastra waren 107 Männer in drei abgezäunten Blöcken untergebracht. Ineinem Block gab es einen Schlafraum voller Rauch, der aus einem Ofen qualmte, in demZweige <strong>und</strong> Blätter verbrannt wurden, weil die Zentralheizung nicht ausreichte. ZweiSchlafräume hatten keine funktionierende Beleuchtung. Alte Metallbetten mit dünnen,abgenutzten Matratzen waren daseinzige Mobiliar. Die Toilette war in einemNebengebäude 30 m entfernt <strong>und</strong> nurüber einen schneebedeckten Weg zuerreichen. Fäkalien verstopften das Lochim Boden <strong>und</strong> bedeckten den Schneer<strong>und</strong> um das Haus. In einem anderenBlock hatten einige Betten überhauptkeine Matratzen. An dem Abend, alsamnesty international zu Besuch kam,hatten nur zwei Pfleger <strong>und</strong> eine„Statt einer Matratze wird ein Mantel auf das Bett gelegt“, erklärteein Pfleger im Heim in Pastra. © aiKrankenschwester in den drei BlocksDienst.In einem schmutzigen Schlafraum für die am schwersten behinderten Patienten in Radovetshatte ein blinder Mann, der offenbar an schweren Behinderungen seiner Gliedmaßen litt,einen vollen Toiletteneimer unter seinem beschmutzten Bett. Am nächsten Tag war derFußboden abgespritzt worden <strong>und</strong> die Matratze verschw<strong>und</strong>en. Zwei Insassen trugen denMann, jetzt in sauberen Kleidern, die Treppe hinauf in das Zimmer des Friseurs.16


ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?sanitäre anlagenIn vielen Heimen gab es nur ganzeinfache <strong>und</strong> oft nicht einmalfunktionierende Bademöglichkeiten, diein einiger Entfernung von denSchlafräumen in separaten Gebäudenuntergebracht waren. Die Heim-BewohnerInnen durften sie ein Mal proWoche benutzen. 110 Frauen in Razdolhatten nur einen Teil der Waschkücheals Bad zur Verfügung. Eine Fraubeklagte sich, im Winter sei es schwierigzu baden, weil sie durch den Schneezurück zu den Schlafräumen gehenmüssten.Eine „Toilettenanlage“ von Samuil bestand aus 6 Löchernim Boden. Jänner 2002, © aiIm Jänner 2002 gab es im Heim von Samuil seit Mai 2001 kein fließendes Wasser. Es gabnur eine verschmutzte Toilette in einem Gebäude für über h<strong>und</strong>ert Frauen sowie ein kleinesToilettenhäuschen, das 150 m entfernt lag. Der Weg dorthin war vereist. In dem Häuschengab es 6 Löcher im Boden - es war unmöglich, nicht tief in die Exkremente zu steigen, die bisauf den Weg draußen reichten. Das Personal sagte, sie könnten das nur einmal pro Tagwegspritzen.berichte über misshandlungenEs gibt keine wirksamen Schutzmaßnahmen für die <strong>geistig</strong> behinderte <strong>Menschen</strong> inbulgarischen Fürsorgeheimen, die sie vor Schikanen oder <strong>Misshandlung</strong>en bewahrenkönnten. Sie haben keinerlei Möglichkeit, sich zu beschweren oder Entschädigungen fürerlittene <strong>Misshandlung</strong> zu erhalten.Obwohl viele Angst hatten, über solche Vorfälle zu sprechen, beklagten sich dieBewohnerInnen der meisten Heime über <strong>Misshandlung</strong>en durch das Pflegepersonal. Eine56-jährige Frau in Razdol erzählte den VertreterInnen von amnesty international, einige derPflegerInnen würden die Frauen schlagen <strong>und</strong> einsperren; sie war aber zu verschreckt, umzu zeigen, wo sie eingesperrt worden waren. Ein Insasse von Radovets beschrieb, wie diePfleger Heimbewohner mit einem Stück Gummischlauch oder mit einem von Bandagenumhüllten Stock schlagen.Die Insassen von Dragash Voyvoda sagten, die Pfleger würden sie manchmal mit Stöckenschlagen. Ein Mann, der das Heim unerlaubt verlasen hatte, wurde am 1. April 2002 gegen18 Uhr mit einer Schwellung am rechten Backenknochen <strong>und</strong> einem blauen Augezurückgebracht. Er konnte nicht erklären, wie er zu diesen Verletzungen gekommen war,vielleicht, weil zwei Pfleger bei der Befragung anwesend waren.18


ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?absonderung <strong>und</strong> beschränkung der bewegungsfreiheitInternationale <strong>Menschen</strong>rechtsstandardsDie Konvention gegen Folter <strong>und</strong> andere grausame, unmenschliche oder erniedrigendeBehandlung oder Bestrafung, der Bulgarien beigetreten ist, verlangt, dass die StaatenFolter <strong>und</strong> <strong>Misshandlung</strong> durch BeamtInnen verhindern. Die Behörden sind verpflichtet,das Beschwerderecht zu garantieren <strong>und</strong> es wird verlangt, dass „Schritte unternommenwerden, die sicherstellen, dass der oder die BeschwerdeführerIn <strong>und</strong> die ZeugInnen vorjeder <strong>Misshandlung</strong> oder Einschüchterung als Folge der Beschwerde oder derZeugenaussage geschützt werden“.Die Methoden, die angewandt werden, um HeimbewohnerInnen in ihrer Bewegungsfreiheiteinzuschränken bzw. in Isolationsräumen gefangen zu halten, sind als grausame,unmenschliche <strong>und</strong> erniedrigende Behandlung zu betrachten <strong>und</strong> stellen eine Verletzung voninternationalen <strong>Menschen</strong>rechtsstandards dar.Es gibt keine Berichte darüber, wann solche Methoden zur Anwendung kamen - sie werdenanscheinend vom Krankenpersonal bzw. von den PflegerInnen angeordnet. Selbst imPflegeheim in Cherni Vrh, wo das Personal um die Pfleglinge besorgt <strong>und</strong> engagiert wirkte,wurden solche inakzeptablen Methoden der Isolation <strong>und</strong> Einschränkung angewendet, wasbeweist, dass der Großteil des Personals keine Schulung darin erhalten hatte, wie manmenschliches Verhalten anders als durch Drogen, Gewalt oder Isolation beeinflussen kann.Im Heim von Radovets sagte eine Pflegerin : „Wirhaben „Gefängnisszellen“, aber wir benutzen sie nichtoft“. Wenn, dann würden sie bei aggressivemVerhalten der Patienten untereinander eingesetzt. Ineinem Gebäude zeigten die Insassen der Delegationeinen abgesonderten Verschlag unter der Treppe, etwa1.5m tief <strong>und</strong> 1.6m hoch an der höchsten Stelle. EinErwachsener kann dort nicht aufrecht stehen. DieInsassen gaben an, sie hätten dort strafweise mehrereTage verbringen müssen. Im Juni 2002 sahen dieVertreterInnen von amnesty international dort eineabgenutzte Matratze, eine Suppenschüssel <strong>und</strong> einhalbgegessenes Stück Brot. Der Insasse Petko K.sagte, er wäre unter der Treppe zwei Wochen langfestgehalten worden <strong>und</strong> hätte danach noch weitere 10Tage in einem Isolationsraum verbringen müssen. ImJuni 2002 hatte von den zwei Zimmern, die zurAbsonderung benutzt wurden, eines praktisch keinTageslicht <strong>und</strong> war mit einem Mann belegt, das anderehatte drei Betten <strong>und</strong> vier Männer waren dortuntergebracht, die sagten, sie würden für einenFluchtversuch bestraft.Isolations-Verschlag in Radovets,Oktober 2001 © aiIn Dragash Voyvoda war die Ecke eines Isolationsraumes mit Draht abgezäunt. DieInsassen erzählten, dass man jedes Mal eine Bank in diesen Käfig stellte, wenn jemand dortzur Strafe hingebracht wurde.In Cherni Vrh fand amnesty international ein ganzes Isolations-Haus vor, das vor Kurzemrenoviert worden war. Ein Raum war in drei Zellen mit verriegelten Türen unterteilt, jeder Teilkaum größer als ein Einzelbett. In einer Zelle war eine 38-Jährige schon einen ganzen Monatuntergebracht. Sie sagte, ein Kübel in der Zelle diene ihr als Toilette. Die Pflegerin meinte,diese Frau hätte weggesperrt werden müssen, weil sie mit den andern InsassInnen gekämpft19


ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?Eine Pflegerin in Cherni Vrh demonstriert, wie sie R.G. täglich dieZwangsjacke umlegt – diese weint verzweifelt. © aihätte <strong>und</strong> sie dürfe erst wiederheraus, wenn sie sich ordentlichbenähme. M.D., eine 50-jährige Frau,war auf Verlangen ihres Bruders <strong>und</strong>mit Zustimmung eines Psychiatersmehr als ein Jahr in einerAbsonderungszelle, weil siemehrfach versucht hatteauszubrechen. An Aufzeichnungengab es nur ein Notizheft, das dieNamen der InsassInnen, die inIsolation gehalten wurden <strong>und</strong> einigewenige kurze Kommentare enthielt,nichts aber darüber, wann <strong>und</strong> vonwem die Isolation angeordnet wordenwar. Das Personal erklärte, dieseEntscheidung träfe man in der Regelnach einem Telefonat mit demPsychiater.In einem anderen Raum wurde im Jänner 2002 R.G., eine junge Frau, bei der eine „mäßigeZurückgebliebenheit“ diagnostiziert worden war, jeden Abend <strong>und</strong> manchmal auch tagsübermit einer Zwangsjacke gefesselt. Das geschah offensichtlich deswegen, weil sie im Juli 2001einen Faden so fest um einen Finger gewickelt hatte, dass der Finger schließlich amputiertwerden musste. Im dritten Zimmer lag die 28-jährige J.S. auf ihrem Bett. Ihr Fußgelenk waran die Wand gekettet – schon seit einem Jahr, „weil sie aus dem Institut geflohen war“...die qualifikation des personalsDie bulgarischen Pflegeheime leiden in der Regel unter schwerem Personalmangel. Sowohlim medizinischen wie auch im nicht-medizinischen Bereich fehlt es dem vorhandenenPersonal an angemessener Ausbildung für die Arbeit mit <strong>Menschen</strong> mit <strong>geistig</strong>enBehinderungen. Das Einkommen ist gering. Die Heime sind weit weg von denBevölkerungszentren <strong>und</strong> es ist schwierig, entsprechend ausgebildetes Personal zu finden.In einigen Heimen kam jeden Monat einmal ein/e PsychiaterIn oder die InsassInnen wurdenin die lokale psychiatrische Klinik gebracht. In anderen Heimen gab es gar keinenregelmäßigen Kontakt. Die psychiatrische Behandlung schien oft aus der Verschreibung vonMedikamenten zu bestehen <strong>und</strong> zwar auf Gr<strong>und</strong> der Informationen, die das Heimpersonalgab. Im Heim in Radovets sagte ein Krankenpfleger, dass bei der letzten Visite derPsychiater 30 Patienten in 4 oder 5 St<strong>und</strong>en untersucht <strong>und</strong> dabei neue Rezepte für sieausgestellt hätte.Die DirektorInnen der Heime brauchen keine besonderen Qualifikationen zu haben. JedesHeim hat ein Team von r<strong>und</strong> sechs Krankenschwestern oder ausgebildeten Pflegern, die voneiner/einem Oberschwester bzw. einem Oberpfleger überwacht werden <strong>und</strong> von deneneinige eine gewisse psychiatrische Schulung genossen haben. Die Hilfskräfte werden in derRegel von der lokalen Gemeinde gestellt <strong>und</strong> haben, wenn überhaupt, nur eine geringfügigeAusbildung.Mit den unzureichenden Mitteln <strong>und</strong> der mangelhaften Ausbildung des Personals könnennicht einmal die gr<strong>und</strong>legendsten Bedürfnisse der InsassInnen, <strong>und</strong> schon gar nicht ihreBedürfnisse nach sozialem <strong>und</strong> emotionalem Kontakt oder nach einer gewissenSelbstachtung nicht befriedigt werden. Das Personal befasst sich mit Problemen desVerhaltens ohne jegliches Verständnis dafür, wie man Verhalten lenken kann. Das Verhalten20


ulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?Psychopharmaka wurden großzügig <strong>und</strong> unangemessen zur Disziplinierung eingesetzt, auchwenn ein Verhalten nicht psychotisch, sondern nur Ausdruck von Kummer oder Ärger war.Die VertreterInnen von amnesty international waren überrascht, dass bei keinem der 700PatientInnen, die sie bei ihren Besuchen trafen, Depressionen diagnostiziert worden waren<strong>und</strong> daher mit Antidepressiva behandelt wurde. Sie hatten viel höhere Ausmaße anDepressionen in solchen Gemeinschaften erwartet.In vielen Heimen hängt die Wahl des Medikaments davon ab, was erhältlich ist <strong>und</strong> wie vieles kostet. Im Heim in Podgumer erfuhren die VertreterInnen von amnesty international, dasszehn InsassInnen mit Entwicklungsstörungen mit dem billigsten Sedativ, das erreichbar war,behandelt wurden. Diese Medikation wurde offensichtlich nicht zur Behandlung, sondernzum Ruhig Stellen verwendet.Im Heim von Samuil hatte es seit Mai 2001 keine Visite eines Psychiaters gegeben –damals lief ein Vertrag aus. Ein praktischer Arzt, der allerdings keine Psychopharmakaverschreiben durfte, verlängerte die Rezepte. Bei der Visite von amnesty internationalbekamen einige InsassInnen potentiell gefährliche anticholinerge Mittel, aber keineantipsychotischen Medikamente.Das Recht der HeimbewohnerInnen auf freies <strong>und</strong> mündiges Einverständnis zu einerMedikation wird nicht beachtet. Diazepam (Valium) lag frei herum, obwohl es nur als Kurzzeit–Therapeutikum von Nutzen ist <strong>und</strong> schnell zu Abhängigkeit führen kann.PsychopharmakaMedikamente, die in der Psychiatrie verwendet werden, werden als psychotrop bezeichnet,weil sie hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, auf die psychischen Symptomewirken. Bis vor etwa 40 Jahren wurden Medikamente, darunter die Barbiturate, zurSedierung des ganzen Nervensystems benutzt, wenn Patienten an Manien oder schwererSchizophrenie litten. Seit etwa 1960 beruhigen zielgerichtetere Tranquillizer(neuroleptische oder antipsychotische Medikamente) ohne das Bewusstsein zu trüben.Überdosen der alten Tranquillizer, Chlorpromazine (Largactil) <strong>und</strong> Haloperidol, <strong>und</strong> auchneuerer antipsychotischer Medikamente mit weniger Nebenwirkungen können einenPatienten wie einen „Zombie“ wirken lassen.Das therapeutische Ziel der Medikamente besteht darin, die <strong>Menschen</strong> von belastendenErfahrungen zu befreien <strong>und</strong> nicht darin, sie zu lähmen. Diese Medikamente <strong>und</strong> dieMedikamente gegen die Nebenwirkungen (anticholinerge Medikamente) können jedoch auflange Sicht zu neurologische Störungen führen.Beschäftigungstherapeutische Programme <strong>und</strong> Workshops, die in der Vergangenheitorganisiert worden waren, wurden wegen der beschränkten Mittel wieder eingestellt. In denmeisten Heimen bestand die einzige „Beschäftigungstherapie“ für die InsassInnen darin,dass die saubermachten, Wäsche wuschen oder fernsahen. In Samuil konnten diebettlägrigen HeimbewohnerInnen überhaupt nichts tun.22

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