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Vielfalt & Inklusion Herausforderungen an die Praxis ... - HPZ - Krefeld

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Schriften des Fachbereiches Sozialwesender Hochschule NiederrheinB<strong>an</strong>d 51Sabine Krönchen (Hrsg.)<strong>Vielfalt</strong> & <strong>Inklusion</strong><strong>Herausforderungen</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Praxis</strong> und<strong>die</strong> Ausbildung in der Sozialen Arbeitund der Kulturpädagogik


Schriften des Fachbereiches Sozialwesen<strong>an</strong> der Hochschule NiederrheinMönchengladbachherausgegeben vom Dek<strong>an</strong> des Fachbereiches SozialwesenB<strong>an</strong>d 51Umschlag: „Pocket Paradise“, Anna Owsi<strong>an</strong>y-MasaFoto: Elisabeth LuchesiUmschlaggestaltungund Layout: Albert Verleysdonk© 2010: Hochschule NiederrheinFachbereich SozialwesenRichard-Wagner-Str. 101D-41065 MönchengladbachTel.: 02161/1865611Fax: 02161/1865613ISBN: 978-3-933493-29-3Bibliographische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet <strong>die</strong>se Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Datensind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar


Inhaltsverzeichnis7 VorwortDie Tradition des Hochschulnetzwerks und das‚Europe<strong>an</strong> Social Work Symposium’11 Einleitung<strong>Vielfalt</strong> & <strong>Inklusion</strong> / Diversity & Inclusion:Zentrale <strong>Herausforderungen</strong> für Wissenschaft, Profession und <strong>Praxis</strong>Sabine Krönchen29 Die Werte-Dimension der Sozialen Arbeit. <strong>Vielfalt</strong> und <strong>Inklusion</strong>in professionsethischer und kulturtheoretischer PerspektiveGunzelin Schmid Noerr47 <strong>Vielfalt</strong> und Differenz zwischen Integration/Desintegrationund <strong>Inklusion</strong>/ExklusionHeiko Kleve63 Gesellschaftliche Integration aus h<strong>an</strong>dlungs theoretischer Sicht –am Beispiel von Bildungs aufsteigern mit türkischemMigrationshintergrundH<strong>an</strong>s-Joachim Schubert97 Überg<strong>an</strong>gsräume: Modellsituationen für Wahrnehmungund GestaltungElisabeth Luchesi115 Sp<strong>an</strong>nungsfeld Interkulturalität: Eine dialogische PerspektiveJesús Hernández Aristu129 Arbeitsmarktrestriktionen in der Europäischen Union undPrekarisierung von FrauenarbeitDorothee Frings151 Forschungs- und Entwicklungsprojekt GIB –Geborgenheit in Bal<strong>an</strong>ceEngelbert Kerkhoff, Sigrid Verleysdonk-Simons


169 Die Zukunft kontrollieren?Kinder und Jugendliche im Visier des britischen WohlfahrtsstaatesSilke Schütter191 Was wissen Pädagogen über sozial benachteiligte Kinder –Ausbildung und <strong>Praxis</strong>Kirsten Elisa Petersen, Niels Rosendal Jensen211 Soziale Arbeit und Sozialpädagogik im Kinderhospiz –Ein Beispiel für <strong>Vielfalt</strong> und <strong>Inklusion</strong>Christi<strong>an</strong> Loffing, Mel<strong>an</strong>ie v<strong>an</strong> Dijk, Sabine Kraft, Barbara Beck229 „Soziale <strong>Inklusion</strong> von Kindern mit einer Behinderung inintegrativen Kindertagesstätten“ – Bericht aus der Forschung amFachbereich Sozialwesen der Hochschule NiederrheinMax Kreuzer245 Soziale Beziehungen von Kindern mit einer Behinderung und ihrenGleichaltrigen in integrativen/inklusiven VorschulgruppenSamuel L. Odom, Craig Zercher, Jules Marquart, Shouming Li,Sus<strong>an</strong> R. S<strong>an</strong>dall & Pamela Wolfberg267 Wie professionelle Sozialpädagogen mitbehinderten Menschen umgehenNiels Rosendal Jensen283 <strong>Inklusion</strong> und Behindertenhilfe –Anmerkungen aus systemtheoretischer SichtMichael Weber297 Das Bildungssystem sollte alle Sprachen sprechen.Diversity M<strong>an</strong>agement <strong>an</strong> Hochschulen – Modelle und PerspektivenBartholomäus J. Matuko


<strong>Inklusion</strong> und Behindertenhilfe –Anmerkungen aus systemtheoretischer SichtMichael WeberIn der Politik wird gegenwärtig viel über „<strong>Inklusion</strong>“ geredet. Insbesondereim Bereich der Behindertenhilfe ist der Begriff hochaktuell. Auf Tagungenwird der „Weg von Werkstätten zu <strong>Inklusion</strong>sunternehmen“ aufgezeigt. Fürdas Fachpersonal von Werkstätten für behinderte Menschen (= WfbM) ist<strong>die</strong>se Etikettierung eher verwirrend, weil sie eine Programmatik suggeriert,<strong>die</strong> in der Realität längst h<strong>an</strong>dlungsleitend ist, wenn auch unter <strong>an</strong>derer Bezeichnung(„Teilhabe“, „Eingliederung“). Der vorliegende Beitrag beleuchtetdas Begriffspaar <strong>Inklusion</strong>/Exklusion zunächst aus der Perspektive der soziologischenSystemtheorie. Dort liegt ein ausgearbeitetes Verständnis des Begriffspaaresschon seit vielen Jahren vor. Als h<strong>an</strong>dlungsorientierendes Prinzipfür <strong>die</strong> Arbeit mit behinderten Menschen, wie <strong>die</strong>s insbesondere in Teilen derBehindertenpädagogik eingefordert wird, taugt <strong>Inklusion</strong> nicht. Allerdingsliefert <strong>die</strong> systemtheoretische Analyse des <strong>Inklusion</strong>sbegriffs wichtige Einsichtenfür <strong>die</strong> Leitungspraxis in WfbMs.<strong>Inklusion</strong>Nach dem Verständnis soziologischer Systemtheorie sind in modernen GesellschaftenMenschen nicht mehr in erster Linie Angehörige von Familien,Ständen oder Klassen. Zugehörigkeit – so ein direkter Übersetzungsversuchvon „<strong>Inklusion</strong>“ – läuft über <strong>die</strong> Relev<strong>an</strong>z von Menschen in Kommunikationszusammenhängen.In dem Augenblick, in dem Menschen als Adressatenfür Kommunikation fungieren, sind sie bereits Teil der Gesellschaft,inklu<strong>die</strong>rt in <strong>die</strong> Realität gesellschaftlicher Teilsysteme wie Politik, Wirt-283


Michael Weberschaft oder Recht. Die schichtspezifischen Beschränkungen einer stratifiziertenGesellschaftsordnung sind weggefallen. Der moderne Mensch ist nichtmehr gef<strong>an</strong>gen, nicht mehr ausschließlich inklu<strong>die</strong>rt in der Klasse oder inder Schicht, in <strong>die</strong> er hineingeboren wurde. Im Hinblick auf den Status alsWahlbürger (Politik), als zahlender Konsument (Wirtschaft) oder als Sozialhilfebeziehermit Klagebefugnis (Recht) sind alle gleich, haben alle gleicheZugänge zu den großen Systemen der Gesellschaft. Es sind d<strong>an</strong>n wiederum<strong>die</strong>se Systeme, <strong>die</strong> das psychische System Mensch personalisieren und miteiner sozialen Adresse versehen, <strong>die</strong> es ermöglicht, Erwartungshaltungen zuadressieren. Personen werden also unter Absehung ihrer Körperlichkeit undihrer Psyche rein kommunikativ erzeugt, als Sprecher in konkreten Interaktionssituationen,als Bezieher sozialstaatlicher Leistungen oder als Mitarbeitereines Unternehmens. Auf all <strong>die</strong>se Rollen lassen sich Erwartungen projizierenoder Motive und Absichten zurechnen, <strong>die</strong> sich d<strong>an</strong>n zu dem bündeln undzu dem verdichten, was m<strong>an</strong> gemeinhin als „Person“ bezeichnet.Für Personen sind alle gesellschaftlichen Kommunikationskontexte prinzipielloffen und zugänglich. <strong>Inklusion</strong> ist also in der modernen Gesellschaftim Grundsatz stets gesichert, ja mehr noch, sie wird zu einem normativenVollinklusionspostulat als funktionale Folge einer gesellschaftlichen Differenzierungsform,<strong>die</strong> keine zentrale Stelle für <strong>die</strong> Vorregulierung oder Koppelungvon <strong>Inklusion</strong> kennt und daher auf prinzipiell gleiche Zugänge füralle setzt. Eine herkunftsbasierte und schichtspezifische <strong>Inklusion</strong> hat in <strong>die</strong>serGesellschaftsformation keine Legitimation mehr. <strong>Inklusion</strong> ist damit einnotwendiges Korrelat der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft.Über <strong>die</strong>sen konstitutiven Aspekt hinaus lassen sich unterschiedliche Intensitätsgradevon <strong>Inklusion</strong> bestimmen. Wenn Personen in der modernen Gesellschaftin besonderem Maße Aufmerksamkeit erregen, weil sie beispielsweiseim politischen System Gegenst<strong>an</strong>d kontroverser Diskussionen sind, steigt derGrad gesellschaftlicher <strong>Inklusion</strong>, und zwar auch und gerade d<strong>an</strong>n, wenn essich um Personen h<strong>an</strong>delt, <strong>die</strong> m<strong>an</strong> <strong>an</strong>deren Orts und zu <strong>an</strong>deren Zeiten vielleichtals „R<strong>an</strong>dgruppen“ (vgl. Myrdal 1963) oder auch als „Ausgeschlossene“(vgl. Bude 2008) bezeichnen würde. Der <strong>Inklusion</strong>sgrad steigt deshalb,weil <strong>die</strong> Zahl kommunikativer Anschlüsse <strong>an</strong> <strong>die</strong>se Personenkreise über <strong>die</strong>Zeit hin zunimmt – gemessen zum Beispiel <strong>an</strong> der Häufigkeit ihrer Nennungin modernen Kommunikationsme<strong>die</strong>n. Der Soziologe Armin Nassehi hat <strong>die</strong>senZusammenh<strong>an</strong>g – in nur scheinbar zynischer Weise – wie folgt beschrieben:„M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n kaum für sozial relev<strong>an</strong>ter gehalten werden und m<strong>an</strong> hat284


<strong>Inklusion</strong> und Behindertenhilfe –Anmerkungen aus systemtheoretischer Sichtkaum weniger Optionen gegen <strong>die</strong>sen gesellschaftlichen Zugriff als als Insasseeines Gefängnisses, als Bewohner eines Ghettos, als Vertriebener oder alsTodesk<strong>an</strong>didat“ (Nassehi 2004, 332).M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n den von Nassehi aufgeführten Personenkreisen noch behinderteMenschen hinzufügen, um den unmittelbaren Anschluss <strong>an</strong> unsere Thematikzu finden. Wenn selbst der Bundespräsident <strong>die</strong>ses L<strong>an</strong>des sich für behinderteKinder stark macht und einen gemeinsamen Unterricht behinderter undnicht behinderter Kinder fordert – was in der politischen Kommunikation alsBekenntnis zu einem inklusiven Schulsystem gedeutet wird – ist <strong>die</strong>s in derSichtweise soziologischer Systemtheorie zunächst einmal nichts <strong>an</strong>deres als<strong>die</strong> „Einbeziehung immer größerer Personenkreise in <strong>die</strong> Kommunikationskontextegesellschaftlicher Funktionssysteme“, von <strong>Inklusion</strong> also (vgl. Farzin2006, 44). <strong>Inklusion</strong> findet auch d<strong>an</strong>n statt, wenn Personenkreise erfasstwerden, denen unter Umständen <strong>die</strong> Sprach- und Sprechfähigkeit abgeht, wiedas bei schwer geistig behinderten bzw. gehörlosen Menschen bisweilen derFall sein k<strong>an</strong>n. In konkreten Interaktionssituationen mag <strong>die</strong>se Einschränkungstörend wirken. Sie strapaziert Interaktionssysteme, weil Kommunikationnur eingeschränkt oder nur mit aufwändigen Hilfsmitteln in G<strong>an</strong>g kommt undaufrechterhalten werden k<strong>an</strong>n. Dieser Exklusionsdrift auf Interaktionsebenewirkt aber – wie Peter Fuchs <strong>an</strong>merkt – das Vollinklusionsgebot der modernenGesellschaft entgegen. Es entstehen nämlich im Zuge gesellschaftlicherDifferenzierung Hilfesysteme, „<strong>die</strong> <strong>die</strong> sachlichen, zeitlichen und sozialenBedingungen schaffen, unter denen belastete Kommunikation möglich ist,Einrichtungen, <strong>die</strong> zeitgedehnt operieren, Aufmerksamkeitspotentiale umlenkenauf schwierige Adressaten für Kommunikation, Personal haben, dasRoutinen entwickelt hat im Umg<strong>an</strong>g mit idiosynkratischem Verhalten […]“(Fuchs 2002, 10 ).285


Michael WeberExklusion„Exklusion“ wird in <strong>die</strong>sem systemtheoretischen Kontext begriffsstrategischgleich mit erledigt. Systeme sind nämlich immer auch kommunikative Maschinendes Ausschlusses und der Nichtberücksichtigung, weil sie mit maschinengenauerPräzision nur ihrem eigenen „Code“ folgen und alles <strong>an</strong>dereals irrelev<strong>an</strong>t unberücksichtigt lassen. Im Wirtschaftssystem funktioniert allesüber Zahlungen und zwar unabhängig von sonstigen Eigenschaften undFähigkeiten des Zahlenden. So sichert eben auch ein persönliches Budget,geldwert oder in Gutscheinen zur Verfügung gestellt (vgl. Weber 2009a, Rothenburg2009), <strong>die</strong> Zahlungsfähigkeit eines behinderten Menschen und damitdessen <strong>Inklusion</strong> in das gesellschaftliche System der Wirtschaft. Ebensoscharf und exklusiv fällt hingegen <strong>die</strong> Systemoperation aus, wenn <strong>die</strong> Zahlungsfähigkeitnicht mehr gegeben ist. Die Person hat d<strong>an</strong>n keine Relev<strong>an</strong>zmehr im System der Zahlungen, hat keine soziale Adresse und wird nicht thematisiert.Erregung von Mitleid und daraus resultierende spont<strong>an</strong>e Geldspendensind in wirtschaftlichen Zusammenhängen kein funktionales Äquivalent.M<strong>an</strong> darf <strong>die</strong>se Form von Exklusion allerdings nicht vorschnell mit sozialerAusgrenzung in Verbindung setzen. Denn mit der fehlenden Relev<strong>an</strong>z alsZahlender wird <strong>die</strong> Tatsache der sozialen Ungleichheit oder auch der Armutpolitisch thematisierbar, was wiederum zu inklu<strong>die</strong>renden politischen und inder Folge zu wirtschaftlichen Operationen in Form von Tr<strong>an</strong>sferzahlungenführt. Die Unterscheidung <strong>Inklusion</strong>/Exklusion hat also eine paradoxe Form,denn auch Exklusion ist – in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft– <strong>Inklusion</strong>, und zwar deshalb, weil <strong>die</strong> Kommunikation über Exklusionnicht verhindert werden k<strong>an</strong>n. Sie ist stets <strong>an</strong>sprechbar und thematisierbar.Exklusion wird in der modernen Gesellschaft vor allem in ihrer org<strong>an</strong>isationsbezogenenVari<strong>an</strong>te sichtbar. Auch <strong>die</strong> individuellen Lebenslagen behinderterMenschen sind org<strong>an</strong>isationsbezogen, und zwar auch und gerade d<strong>an</strong>n,wenn es sich wie im Falle behinderter Menschen um Sondereinrichtungenh<strong>an</strong>delt, <strong>die</strong> zur Bearbeitung von Exklusionsrisiken ausdifferenziert wurden:heilpädagogische Kindertagesstätten, Förderschulen, Werkstätten für behinderteMenschen, Wohnheime oder Tagesförderstätten. Die Org<strong>an</strong>isationsbezogenheit<strong>die</strong>ser Sondereinrichtungen macht paradoxerweise <strong>die</strong> Exklusionzum Normalfall. Wenn kein Kostenträger für einen behinderten Menschen inSicht ist, der den Werkstattplatz bezahlt, d<strong>an</strong>n wird exklu<strong>die</strong>rt oder vielmehr286


<strong>Inklusion</strong> und Behindertenhilfe –Anmerkungen aus systemtheoretischer Sichtgar nicht erst inklu<strong>die</strong>rt. Der Besuch der Förderschule erfolgt in Abhängigkeitvom individuellen Unterstützungsbedarf, der zuvor diagnostiziert werdenmuss. Der Besuch einer heilpädagogischen Kindertagesstätte endet mitAblauf des sechsten Lebensjahres.Auch in Org<strong>an</strong>isationen wird kommuniziert. Von daher sind sie ebenso sozialeSysteme wie <strong>die</strong> großen gesellschaftlichen Subsysteme Politik, Wirtschaftoder Recht. Allerdings fallen in Org<strong>an</strong>isationen Entscheidungen über Teilnahmeund Nichtteilnahme, über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit,sehr viel expliziter, weil formalisierter aus. „Jem<strong>an</strong>d muss explizit eingestellt,als Mitglied beh<strong>an</strong>delt werden, Empfänger von Leistungen sein, Kunde oderInsasse“ (Nassehi 2004, 338). Es macht dabei noch einmal einen Unterschied,in welcher Rolle sich das Org<strong>an</strong>isationsmitglied bewegt. Der Inhabereiner Leistungsrolle, also z. B. der Sozialpädagoge im begleitenden Diensteiner WfbM, unterliegt erheblich schärferen Selektionskriterien beim Eintrittin <strong>die</strong> Org<strong>an</strong>isation als der Inhaber der Publikumsrolle in <strong>die</strong>sem System, dergeistig behinderte Mensch. Rudolf Stichweh hat zu Recht darauf hingewiesen,dass das Vollinklusionspostulat der modernen, funktional differenziertenGesellschaft lediglich in Bezug auf <strong>die</strong> Publikumsrollen Gültigkeit hat(Stichweh 2000, 89).<strong>Inklusion</strong> und IntegrationIn ihrer ebenso klaren wie hermetischen Begriffsprache leistet <strong>die</strong> soziologischeSystemtheorie auch einen Beitrag zur Differenzierung der Begriffe<strong>Inklusion</strong> und Integration. Während sich <strong>Inklusion</strong> über den Modus derAdressen bildung auf <strong>die</strong> Systemrelation psychisches System/soziales Systembezieht, hat der Integrationsbegriff <strong>die</strong> Abhängigkeit der Funktionssysteme– Menschen exklusive – im Fokus. Auch in der Politik funktioniert nichtsohne Geld. Und ohne ein funktionierendes Rechtssystem kollabieren Märkte.Jedes Funktionssystem ist also von Beiträgen <strong>an</strong>derer abhängig, wobei<strong>die</strong>se Abhängigkeit vor allem negativ bestimmt ist. Jedes Funktionssystemwird durch <strong>die</strong> übrigen Funktionssysteme in der Realisierung der ihm internzugänglichen Entwicklungsmöglichkeiten durch seine Abhängigkeit von externerzeugten Leistungen eingeschränkt. Das k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n als Integrationbezeichnen: je höher <strong>die</strong> Integration, desto höher <strong>die</strong> Abhängigkeit von denLeistungen <strong>an</strong>derer.287


Michael WeberNiklas Luhm<strong>an</strong>n, der Großmeister soziologischer Systemtheorie, hat sichnicht zuletzt mit <strong>die</strong>sem Integrationskonzept von den theoretischen Grundlagenbefreit, <strong>die</strong> in der Soziologie der sechziger und siebziger Jahre, <strong>an</strong>geleitetdurch den amerik<strong>an</strong>ischen Soziologen und Systemtheoretiker TalcottParsons (1971), vorherrschten. Integration wird von Luhm<strong>an</strong>n nichtmehr mit Gleichgewicht und Harmonie in Zusammenh<strong>an</strong>g gebracht, auchnicht mehr mit einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung. Integrationist schlicht als Einschränkung von Freiheitsgraden eines Systems als Folgeseiner Abhängigkeit von <strong>an</strong>deren Systemen in seiner Umwelt zu verstehen.Die althergebrachte, auf Lockwood (1976) zurückgehende Unterscheidungzwischen System- und Sozialintegration wird für Luhm<strong>an</strong>n obsolet, weil sie<strong>die</strong> unterschiedlichen Systemreferenzen (psychisches/soziales System undsoziales/soziales System) unberücksichtigt lässt. Sozialintegration wird deshalbdurch den <strong>Inklusion</strong>sbegriff ersetzt. Die Systemintegration wird in einerenthierarchisierten, funktional differenzierten Gesellschaft zur Ausnahme,weil <strong>die</strong> gesellschaftlichen Teilsysteme eben doch im Wesentlichen autonomund nach der je eigenen Logik operieren. Luhm<strong>an</strong>n hat in seinen Arbeitenab Mitte der achtziger Jahre für <strong>die</strong>sen intrasystemischen, selbstbezüglichenOperationsmodus den Begriff der Autopoiesis geprägt, während das intersystemischeVerhältnis von ihm als strukturelle Koppelung bezeichnet wird (vgl.Luhm<strong>an</strong>n 1984, 60 ff; 1997, 92 ff).Die Pointe <strong>die</strong>ser begrifflichen Unterscheidung zwischen Integration und <strong>Inklusion</strong>besteht u. a. im besseren Verständnis eines nur auf den ersten Blickparadoxen Zusammenh<strong>an</strong>gs: Die Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen,also hohe Integration, verstärkt keineswegs <strong>die</strong> <strong>Inklusion</strong>, sie führt vielmehrzu größeren Exklusionseffekten. „Wer keine Adresse hat, k<strong>an</strong>n nichtzur Schule <strong>an</strong>gemeldet werden (In<strong>die</strong>n). Wer nicht lesen und schreiben k<strong>an</strong>n,hat kaum Ch<strong>an</strong>cen auf dem Arbeitsmarkt, und m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n ernsthaft diskutieren(Brasilien), ihn vom politischen Wahlrecht auszuschließen. Wer keine <strong>an</strong>dereMöglichkeit findet unterzukommen, als auf dem illegal besetzten L<strong>an</strong>d derFavelas, genießt im Ernstfall keinen Rechtsschutz; aber auch der Eigentümerk<strong>an</strong>n sein Rechte nicht durchsetzen, wenn <strong>die</strong> Zw<strong>an</strong>gsräumung solcher Gebietepolitisch zu viel Unruhe erzeugen würde“ (Luhm<strong>an</strong>n 1997, 631).Luhm<strong>an</strong>ns systemtheoretische Unterscheidung zwischen <strong>Inklusion</strong> und Integrationsteht quer zur aktuellen Diskussion <strong>die</strong>ser Begriffe in der Behindertenpädagogik.Dort assoziiert m<strong>an</strong> mit <strong>die</strong>sen Begriffen einzelne Stufen einerimaginären Qualitätsleiter, <strong>die</strong> von der dunklen Verg<strong>an</strong>genheit im Umg<strong>an</strong>g288


<strong>Inklusion</strong> und Behindertenhilfe –Anmerkungen aus systemtheoretischer Sichtmit behinderten Menschen in <strong>die</strong> goldene Zukunft einer inklusiven Gesellschaftführt: von der Extinktion, über <strong>die</strong> Exklusion, Separation, Integrationhin zur <strong>Inklusion</strong> (vgl. Wocken 2009). Der Überg<strong>an</strong>g von der Exklusion zur<strong>Inklusion</strong> vollzieht sich am Beispiel Schule d<strong>an</strong>n <strong>an</strong>geblich „im Hinblick auf<strong>die</strong> Förderorte entl<strong>an</strong>g eines Kontinuums von Segregation (Trennung zwischenGebäuden), über Separation (Trennung innerhalb eines Gebäudes) undIntegration (teilweise gemeinsamer Unterricht) hin zu vollständiger <strong>Inklusion</strong>(gemeinsamer Unterricht)“ (Powell 2009, 214).Einmal abgesehen von der soziologisch naiven Vorstellung einer primärräumlichen Differenzierung sozialer Ordnungssysteme verlieren Begriffewie <strong>Inklusion</strong> und Integration durch <strong>die</strong> Hinterlegung von Entwicklungsmodellenihren <strong>an</strong>alytischen Bezugspunkt und werden zu quasi-moralischenGesinnungs-, H<strong>an</strong>dlungs- und Gestaltungsaufforderungen, eng korreliert mitpseudo-normativen Vorgaben der Geltung und Realisierung von Menschenrechten,wie sie von internationalen Org<strong>an</strong>isationen wie der der UNO oderder UNESCO in englischer Sprache vorformuliert und – unzureichend übersetzt– staatlich instrumentalisiert werden. Am Ende helfen d<strong>an</strong>n nur noch aktionistischeBekenntnisse zur Politisierung von Begriffen (vgl. D<strong>an</strong>nenbeck/Dorr<strong>an</strong>ce 2009).Dagegen liefert <strong>die</strong> soziologische Systemtheorie einen unaufgeregten, entdramatisiertenZug<strong>an</strong>g zum Begriffsverständnis von <strong>Inklusion</strong> und Exklusion.<strong>Inklusion</strong> ist nicht mehr und nicht weniger als „pure Faktizität der modernenGesellschaft“ (Nassehi 1997, 142). Sie markiert den unhintergehbaren sozialenProzess des Einbezogen-Werdens in <strong>die</strong> Logik der Funktionssysteme.Exklusion, insbesondere in ihrer org<strong>an</strong>isationsförmigen Kommunikation,läuft <strong>die</strong>sem Prozess gleichsam wie ein Schatten hinterher und produziert ungleicheZugänge zu org<strong>an</strong>isationsinternen Positionen und Ressourcen. Dabeibleibt es aber nicht, denn <strong>die</strong> Ungleichheit als solche k<strong>an</strong>n stets zum Themagemacht, k<strong>an</strong>n im Zuge einer <strong>Inklusion</strong>sdrift politisch adressiert und durch<strong>an</strong>dere Org<strong>an</strong>isationen kompensiert werden. Die dabei ablaufenden Prozessekönnen beobachtet, teilweise auch gesteuert, insgesamt aber nicht gestopptwerden. Ein vernünftiges Ende oder eine politisch-moralische Zwecksetzungsind nicht in Sicht, auch keine positive gesellschaftliche Entwicklungslogik,<strong>die</strong> dem G<strong>an</strong>zen einen Sinn gibt. Jede Form von Tr<strong>an</strong>szendenz wird in dermodernden Gesellschaft im Funktionskreisel der Systeme vernichtet (vgl.Baier 1989, 40).289


Michael WeberOffene Fragen der SystemtheorieDas abstrakte Begriffsinventar soziologischer Systemtheorie Luhm<strong>an</strong>nscherProvenienz hat stets polarisiert. Dies war und ist im Falle des <strong>Inklusion</strong>skonzeptsnicht <strong>an</strong>ders. Die Reaktionen auf seine Arbeiten sind nicht zuletztim Feld der Behindertenhilfe bisweilen von aggressiver Ablehnung geprägt.Luhm<strong>an</strong>n liefere eine theoretische Begründung für eine Aberkennung derMenschwürde bei einigen Menschen mit Behinderung. Seine „Leistungstheorie“begreife Menschenwürde nicht als vorgegebenen Status, sondern alsdas Ergebnis einer vom einzelnen zu erbringenden Leistung. Scheitere m<strong>an</strong>bei der Erarbeitung der eigenen Selbstdarstellung, so sei <strong>die</strong> Alternative –nach Luhm<strong>an</strong>n – das „Irrenhaus“.Diese Interpretation Luhm<strong>an</strong>ns, wie sie <strong>die</strong> Bochumer Juristin Theresia Degener(2008) vornimmt, geht schon deshalb <strong>an</strong> der Sache vorbei, weil Luhm<strong>an</strong>nselbst auf <strong>die</strong> Bedeutung von Menschenrechten hinweist, sie allerdingsnicht als quasi gottgegeben, sondern als Konsequenz einer auf Einheitlichkeitund gleiche Zugänge ausgerichteten Systemlogik funktional differenzierterGesellschaften versteht, <strong>die</strong> sich „jenseits von Barbarei“ befindet (vgl. Luhm<strong>an</strong>n1996 und 1997, 625 f). Degeners Aussagen zeigen aber auch, welchengrotesken Missverständnissen sich eine Soziologie aussetzt, <strong>die</strong> das „SonderdingMensch“ zur gesellschaftlichen Umwelt erklärt und der Gesellschaft,wie das Horst Baier einmal so treffend zum Ausdruck gebracht hat, <strong>die</strong> Körperihrer Lebewesen ausreißt (Baier 1989, 49).Luhm<strong>an</strong>n selbst hat in einer seiner späteren Arbeiten, wohl auch aufgrundsehr persönlicher Erfahrungen, erkennen lassen, dass bestimmte Phänomeneder Exklusion mit dem vorliegenden Theorieinventar nicht erfasst werden:„Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss m<strong>an</strong> feststellen, dass esdoch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend,<strong>die</strong> sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelassüdamerik<strong>an</strong>ischer Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, k<strong>an</strong>ndavon berichten. Aber schon ein Besuch in Siedlungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Stilllegungdes Kohlebergbaus in Wales hinterlassen hat, k<strong>an</strong>n davon überzeugen. Esbedarf dazu keiner empirischen Untersuchungen. Wer seinen Augen traut,k<strong>an</strong>n es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit, <strong>an</strong> der <strong>die</strong> verfügbarenErklärungen scheitern“ (Luhm<strong>an</strong>n 1996, 227).290


<strong>Inklusion</strong> und Behindertenhilfe –Anmerkungen aus systemtheoretischer SichtIm Grunde ist <strong>die</strong>se Beobachtung Luhm<strong>an</strong>ns mit der dessen eigener, unausgesprochenerAnfrage <strong>an</strong> <strong>die</strong> Reichweite einer soziologischen Theorie verbunden,<strong>die</strong> sich auf den Kommunikationsbegriff kapriziert und <strong>die</strong> Psyche und<strong>die</strong> Körperlichkeit von Menschen in <strong>die</strong> Umwelt der sozialen Systeme unddamit in den Zuständigkeitsbereich <strong>an</strong>derer Disziplinen verweist. Aus soziologischerSicht k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n höchstens noch von „schwarzen Löchern“im kommunikativen Gewebe der Weltgesellschaft sprechen (Stichweh 1997,132). Angesichts <strong>die</strong>ses Theoriedefizits der Exklusionsdebatte können mitBlick auf Luhm<strong>an</strong>n durchaus Zweifel aufkommen (vgl. Farzin 2008). Aberdas sind Theorieprobleme, um <strong>die</strong> sich <strong>an</strong>dere kümmern.Inklusive Werkstätten?Wichtiger in unserem Zusammenh<strong>an</strong>g ist <strong>die</strong> Frage, ob das dargelegte soziologisch-systemtheoretische<strong>Inklusion</strong>sverständnis einen positiven Beitrag für<strong>die</strong> Klärung des politischen Auftrages von Sondereinrichtungen wie Werkstättenfür behinderte Menschen liefert. Die Teilhabe behinderter Menschenam Arbeitsleben und <strong>die</strong> Eingliederung in das Arbeitsleben sind <strong>die</strong> entsprechendengesetzlichen Zielvorgaben in § 136 des neunten Sozialgesetzbuches.Die Frage ist nun, ob Werkstätten für behinderte Menschen im Hinblick auf<strong>die</strong>se Ziele tatsächlich als <strong>Inklusion</strong>svermittler fungieren oder doch eher Exklusionsinst<strong>an</strong>zensind. Peter Fuchs hat dargelegt, dass <strong>die</strong> <strong>Inklusion</strong>sdriftin Folge funktionaler Differenzierung nicht zuletzt im Behindertenbereich„gig<strong>an</strong>tische Expertenkulturen“ schaffe, <strong>die</strong> nicht nur Mech<strong>an</strong>ismen der medizinischen,psychologischen und pädagogischen Problembewältigung bereitstellen, sondern auch in eigener Sache, also quasi-parasitär zur Reproduktiondes Problems und damit zum Selbsterhalt und zum eigenen Wachstum beitragen.Die Bearbeitung von Exklusionsrisiken, <strong>die</strong> in den gesellschaftlichenTeilsystemen immer wieder erzeugt werden, erfolgt in <strong>die</strong>sen Sondereinrichtungennach Fuchs in einer Weise, <strong>die</strong> Exklusion zunächst erzeugt, bevorsie bearbeitetet wird – vergleichbar mit dem pathologischen Feuerwehrm<strong>an</strong>n,der das Feuer, das er löschen muss, zuvor selbst legt. Gudrun W<strong>an</strong>singschlägt in <strong>die</strong>selbe Kerbe: „Personen müssen zunächst als ‚ausgegrenzt’ bzw.als ‚behindert’ oder ‚förderbedürftig’ bezeichnet werden, damit sich <strong>die</strong> fachlicheKommunikation der Maßnahmeprogramme <strong>an</strong>schließen k<strong>an</strong>n. Wenn291


Michael Weber<strong>die</strong>se Programme – wie in Deutschl<strong>an</strong>d – zudem überwiegend im institutionellenKontext hoch spezialisierter Sondereinrichtungen der Bildung, derBeschäftigung, des Wohnens und der Freizeitgestaltung erbracht werden, istzu erwarten, dass sich <strong>die</strong> Exklusionsrisiken ihrer Adressaten noch weiterverschärfen […]. Auf paradoxe Art und Weise erzeugen und verstärken <strong>die</strong>professionellen Hilfesysteme somit zum Teil selbst jene Exklusionsrisiken,auf <strong>die</strong> sie reagieren“ (W<strong>an</strong>sing 2009, 709).Die <strong>Inklusion</strong> in Exklusionsbereiche, <strong>die</strong> Fuchs und W<strong>an</strong>sing beschreiben,erinnert <strong>an</strong> den „einschließenden Ausschluss“, den Michel Foucault als Leitbildder Moderne ausgegeben hat (vgl. Foucault 2003, 69). Dem Ausschlussaus dem einen Bereich folgt der Einschluss in einen <strong>an</strong>deren, so wie <strong>die</strong> Prozesseder Exklusion im systemtheoretischen Denken immer von <strong>Inklusion</strong>enin <strong>an</strong>dere soziale Bereiche – z. B. soziale Hilfsorg<strong>an</strong>isationen – konterkariertwerden (vgl. Gertenbach 2008, 322). Die Disziplinarmacht mit ihrer Optionauf radikalen Ausschluss wird in der neoliberalen Sicherheitsgesellschaft – so<strong>die</strong> Interpretation Foucaults – abgelöst durch Einschließung in immer wiederneue Milieus, in denen sich das nur scheinbar freie Individuum wie in einemmodernen P<strong>an</strong>optikum bewegt, vermessen und reguliert von wissenschaftlichenund politischen Mächten. Sollte sich <strong>die</strong> soziologische Systemtheorietatsächlich auf den Punkt zu bewegen, <strong>an</strong> dem Foucault, mit dem Schwertin der H<strong>an</strong>d und der entschlossenen Bereitschaft zur Revolte auf uns wartet(vgl. Veyne 2009), d<strong>an</strong>n hätte m<strong>an</strong> sich <strong>die</strong> g<strong>an</strong>zen begrifflichen Übungen zu<strong>Inklusion</strong> und Integration sparen können. Was aber k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nun tatsächlichvon der Systemtheorie lernen?Soviel erscheint klar: <strong>Inklusion</strong> sollte nicht als positive Vision, als Idealvorstellungeiner gerechten Gesellschaft verst<strong>an</strong>den werden. Die moderne,funktionale differenzierte Gesellschaft ist strukturell auf einen <strong>Inklusion</strong>suniversalismusausgerichtet, dessen Anspruch nur in und mittels Org<strong>an</strong>isationenvermittelt erfüllt werden k<strong>an</strong>n. Die Org<strong>an</strong>isationen erzeugen individuelleKarrieren. Dies ist in Werkstätten für behinderte Menschen nicht <strong>an</strong>ders alsin Arbeitsorg<strong>an</strong>isationen. Es sind <strong>die</strong>se Karrieren und nicht mehr <strong>die</strong> moralischenAnsprüche <strong>an</strong> ideale und gerechte Gesellschaftsordnungen, <strong>die</strong> für eineIntegration von Individuen und Gesellschaft sorgen (Luhm<strong>an</strong>n 1997, 742).Die Einrichtungen der Behindertenhilfe müssen sich – und von daher liegenFuchs und W<strong>an</strong>sing auch gar nicht so falsch – mit dem Vorwurf ausein<strong>an</strong>dersetzen,zu dicht zu integrieren und Institutionenkarrieren zu produzieren, in292


<strong>Inklusion</strong> und Behindertenhilfe –Anmerkungen aus systemtheoretischer Sichtdenen sich eine kumulative Verfestigung sozialer Benachteiligungen m<strong>an</strong>ifestiert.Von daher ist es richtig und wichtig, dass <strong>die</strong> WfbM sich noch stärkerihrem gesetzlich vorgegebenen Auftrag zuwendet, den Überg<strong>an</strong>g geeigneterPersonen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und – wo <strong>die</strong>s nicht realisierbarist – doch zumindest auf so gen<strong>an</strong>nte ausgelagerte Arbeitsplätzen zu fördern.Sie muss in <strong>die</strong>sem Zusammenh<strong>an</strong>g nachweisen, dass und in welchem Umf<strong>an</strong>gsie zur Erhaltung, Entwicklung, Erhöhung und Wiedergewinnung derLeistungs- und Erwerbsfähigkeit behinderter Menschen beigetragen hat. Siemuss <strong>die</strong>s differenziert tun – sozusagen im Modus gesellschaftlichen Operierens– und dabei den unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer Klienten entsprechen.Für einen schwerstmehrfach behinderten Menschen bedeutet <strong>die</strong>Aufgabe der „Weiterentwicklung der Persönlichkeit“ etwas <strong>an</strong>deres als füreinen stark lernbehinderten jungen M<strong>an</strong>n, dessen Karriere vielleicht einmalin <strong>die</strong> Funktion eines Helfers oder Werkers im Garten- und L<strong>an</strong>dschaftsbaueines mittelständischen Unternehmens führt.Wichtig ist, dass <strong>die</strong> Org<strong>an</strong>isation WfbM <strong>die</strong> positiven Wirkungen ihresH<strong>an</strong>delns in Kennzahlen erfasst und nach außen trägt. Zurzeit lassen sich<strong>die</strong> Werkstätten viel zu sehr auf <strong>die</strong> Überleitungsquote (Wechsel in ein sozialversicherungspflichtigesArbeitsverhältnis) festlegen und betonen in unzureichendemMaße ihre Integrationsleistungen für <strong>die</strong>jenigen behindertenMenschen, für <strong>die</strong> eine WfbM <strong>die</strong> dauerhafte Lösung einer Teilhabe am Arbeitslebenist (vgl. Weber 2009b). Es bleibt aber auch nicht aus, dass m<strong>an</strong>über bessere institutionelle Arr<strong>an</strong>gements nachdenkt, um <strong>die</strong> kumulativenExklusionsrisiken, <strong>die</strong> behinderte Menschen in unserer Leistungsgesellschaftvorfinden, zu bearbeiten (vgl. Zink 2005). Aber auch <strong>die</strong>se Alternativen werdenuns stets nur in org<strong>an</strong>isierter Form zur Verfügung stehen.Benötigt m<strong>an</strong> zum M<strong>an</strong>agement all <strong>die</strong>ser komplexen Aufgaben den <strong>Inklusion</strong>sbegriff?Die Antwort heißt nein. M<strong>an</strong> ist versucht zu sagen: ein Blickins Sozialgesetzbuch genügt. Die dort sozialrechtlich verorteten Begriffe derTeilhabe und der Eingliederung kommen mit einem viel geringeren moralischenAnspruch daher. Für <strong>die</strong> Arbeit im Alltag ist das förderlich. Zu denBegriffen der <strong>Inklusion</strong> und der Integration hat Luhm<strong>an</strong>n das Nötige gesagt.Für <strong>die</strong> Anschlussfähigkeit soziologischer Diskurse ist also gesorgt.293


Michael WeberZum AutorMichael Weber, Dr. rer. publ. (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften);seit 2008 Geschäftsführer des Heilpädagogischen Zentrums<strong>Krefeld</strong> – Kreis Viersen gGmbH, einer Komplexeinrichtung für behinderteMenschen mit Werkstattplätzen für 1.900 behinderte Menschen, heilpädagogischeKindertagesstätte und Frühförderung; m.weber@hpzkrefeld.deLiteratur:Baier; H. (1989): Soziologie als Aufklärung – oder <strong>die</strong> Vertreibung der Tr<strong>an</strong>szendenz aus derGesellschaft. Niklas Luhm<strong>an</strong>n zum 60. Geburtstag. Konst<strong>an</strong>zBude, H. (2008): Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft.MünchenD<strong>an</strong>nenbeck, C.; Dorr<strong>an</strong>ce, C. (2009): <strong>Inklusion</strong> als Perspektive (sozial)pädagogischenH<strong>an</strong>delns – eine Kritik der Entpolitisierung des <strong>Inklusion</strong>sged<strong>an</strong>kens. In: Zeitschrift für<strong>Inklusion</strong>, 2/2009, S. 1-8Degener, T. (2008): Menschenwürde und Behinderung. Vortrag auf der Konferenz „Menschenwürde“<strong>an</strong>lässlich des 60. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,M<strong>an</strong>uskript. BerlinFarzin, S. (2006): <strong>Inklusion</strong>/Exklusion. Entwicklungen und Probleme einer systemtheoretischenUnterscheidung. BielefeldFarzin, S. (2008): Sichtbarkeit durch Unsichtbarkeit. Die Rhetorik der Exklusion in der SystemtheorieNiklas Luhm<strong>an</strong>n. In: Soziale Systeme 14, S. 191-209Foucault, M. (2003): Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de Fr<strong>an</strong>ce (1977-1975). Fr<strong>an</strong>kfurta. M.Fuchs, P. (2002): Behinderung und Soziale Systeme – Anmerkungen zu einem schier unlösbarenProblem. In: Das gepfefferte Ferkel – Online-Journal für systemisches Denken undH<strong>an</strong>deln, Mai 2002, S. 1-14Gertenbach, L. (2008): Das Denken des Außen. Michel Foucault und <strong>die</strong> Soziologie der Exklusion.In: Soziale Systeme 14, S. 308-328Lockwood, D. (1976): Social Integration <strong>an</strong>d System Integration. In: Zollsch<strong>an</strong>, G. K.; Hirsch,W. (Hrsg.): Social Ch<strong>an</strong>ge: Explorations, Diagnosis <strong>an</strong>d Conjectures. New York, S. 370-383Luhm<strong>an</strong>n, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Fr<strong>an</strong>kfurt a. M.Luhm<strong>an</strong>n, N. (1996): Jenseits von Barbarei, in: Miller, M.; Soeffner, H.-G. (Hrsg.): Modernitätund Barbarei. Soziologische Zeitdiagnosen am Ende des 20. Jahrhunderts. Fr<strong>an</strong>kfurt a. M.,S. 219-230Luhm<strong>an</strong>n, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Fr<strong>an</strong>kfurt a. M.Myrdal, G. (1963): Challenge to Affluence. New YorkNassehi, A. (1997): <strong>Inklusion</strong>, Exklusion, Integration, Desintegration, Die Theorie funktiona-294


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Zum BuchFachkräfte der Sozialen Arbeit und der Kulturpädagogik h<strong>an</strong>deln in ihrenArbeitsfeldern stets im Sp<strong>an</strong>nungsfeld zwischen Gesellschaft und Individuumund leisten eine vielschichtige ‚Vermittlungsarbeit’ zwischen gesellschaftlichenBedarfen und Funktions<strong>an</strong>forderungen auf der einen undindividuellen Bedürfnissen, (An-)Rechten und Perspektiven auf der <strong>an</strong>derenSeite. Solche Vermittlungs- bzw. Vertretungsaufgaben erfordern sozialarbeiterische/pädagogischeWahrnehmungs- und Deutungs kompetenzen sowieprofessionsethische Kompetenzen: Denn <strong>die</strong> zahlreichen Unterscheidungen– männlich/weiblich, alt/jung, gesund/kr<strong>an</strong>k, behindert/nicht behindert,einheimisch/zugew<strong>an</strong>dert, arm/reich, usw. – sowie <strong>die</strong> verschiedenen Lebensweisen,Ziel-, Wert- und Sinnkonstruktionen wollen aufgenommen undbe-griffen werden, um in einer nicht kontrollierend-normativen, sonderngesellschaftliche Teilhabe fördernden, partizipatorischen und em<strong>an</strong>zipatorischenArbeit ihren Niederschlag zu finden.Die hier dokumentierten Beiträge zum XIV. Europe<strong>an</strong> Social Work Symposium‚<strong>Vielfalt</strong> & <strong>Inklusion</strong>‘ geben Einblicke in <strong>die</strong> Fachdiskussionen zu <strong>Inklusion</strong>und Integration sowie zur Herausforderung des Diversitym<strong>an</strong>agementsund regen durch Beispiele aus <strong>Praxis</strong> und Forschung <strong>die</strong> eigene professionelleReflexion <strong>an</strong>.Zur HerausgeberinSabine Krönchen, Prof. Dr. phil., Diplompädagogin, Supervisorin (DGSv)und lehrende Supervisorin (Systemische Gesellschaft), Mediatorin; Prodek<strong>an</strong>inund Ausl<strong>an</strong>dsbeauftragte am Fachbereich Sozialwesen der HochschuleNiederrhein, Lehrgebiet: Methodik und Didaktik der Sozialen Arbeitund Erziehung. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Pädagogik in derMigrationsgesellschaft, Geschlechterkonstruktionen & doing gender, diversitysensibleKonzept- und Methodenentwicklung.Schriftenreihe des Fachbereiches Sozialwesen<strong>an</strong> der Hochschule NiederrheinMönchengladbachB<strong>an</strong>d 51ISBN 978-3-933493-29-3

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