Wort des Herausgebers Inhalt
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<strong>Wort</strong> <strong>des</strong> <strong>Herausgebers</strong><br />
Fünfzehn Jahre Willkommen im Herzen Europas<br />
Sehr verehrte Leserinnen und Leser,<br />
ein Jahr nach Auflösung der Tschechoslowakei und der Verselbständigung<br />
der Tschechischen Republik (1993) erscheint am 7. Januar 1994 anläßlich<br />
<strong>des</strong> Pragbesuchs <strong>des</strong> Präsidenten Bill Clinton das erste Heft der Zeitschrift<br />
Welcome to the Heart of Europa. Damals erschien sie noch als Viertel jahres -<br />
schrift in vier verschiedenen Sprachen. Zwei Jahre später kam die russische<br />
Fassung hinzu und aus dem Vierteljahresperiodikum wurde eine Zweimo nats -<br />
schrift. Zu den sechs regelmäßig erscheinenden kam noch ein monothematisches<br />
Sonderheft dazu, das sich aktuellen Themen zuwendet, z. B. dem 650jährigem<br />
Gründungsjubiläum der Prager Karls-Universität, den tschechischen Denk -<br />
mälern auf der UNESCO-Welterbeliste, dem Sport, der Europäischen Union, der<br />
Prager Burg, den tschechischen Regionen, der Musik (erscheint auch auf Japa -<br />
nisch sowie mit CD-Beilage) und nicht zuletzt die Revue Bohemia picta (2000),<br />
die sich mit der Geschichte auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik<br />
von der Urzeit bis zur Gegenwart befaßt.<br />
Mit der diesjährigen ersten Nummer (seit 2007 auch in Tschechisch) geht<br />
die Zeitschrift bereits in ihr 15. Erscheinungsjahr.<br />
Es ist meine feste Überzeugung, daß unsere Revue zu Tschechiens gutem<br />
Ruf im Ausland beiträgt, unser Land jenseits der Lan<strong>des</strong>grenze präsentiert und<br />
die Leserschaft auf dem laufenden hält.<br />
Im Namen <strong>des</strong> Redaktionsteams, der Autoren, Übersetzer und aller, die ihren<br />
Beitrag zum Erscheinen unserer Zeitschrift leisten, wünsche ich Ihnen ein glückliches<br />
neues Jahr 2008 voller interessanter und lehrreicher Lektüre.<br />
Pavel Šmíd<br />
Chefredakteur und Herausgeber<br />
<strong>Inhalt</strong><br />
Kraft der Menschlichkeit oder Die<br />
unglaubliche Geschichte Sir Nicolas Winton<br />
Die Errettung jüdischer Kinder aus dem von<br />
der deutschen Wehrmacht besetzten Prag war<br />
das Werk eines englischen Bankbeamten.<br />
Seite 4 – 7<br />
In Mähren geboren…<br />
Der Botaniker, der Pionier der Genetik, der<br />
Begründer der Psychoanalyse, der fulminante<br />
Logiker – sie alle stammen aus Mähren<br />
Seite 8 – 11<br />
Dem Licht der sinkenden Sonne folgend<br />
Der unbekannte Franz K.<br />
Mit der Kamera auf Spurensuche<br />
Seite 12 – 15<br />
UP oder Der Weg nach oben<br />
Die berühmte Marke der Vereinigten<br />
Kunstgewerbebetriebe UP erlebt ein Revival.<br />
Seite 16 – 19<br />
Galerie<br />
Das Œuvre <strong>des</strong> wohl talentiertesten<br />
Bildhauers <strong>des</strong> tschechischen Jugendstils<br />
Quido Kocián<br />
Seite 20 – 21<br />
Skeptiker mit Weitblick – Jan Švankmajer<br />
Der Filmregisseur sitzt an einem Teich mit<br />
Luis Buňuel und David Lynch.<br />
Seite 22 – 25<br />
Ein lebender Barockkomponist<br />
– František Xaver Thuri<br />
Er kam ein paar Jahrhunderte später zur Welt,<br />
seinem Herzen entspringt barocke Musik.<br />
Seite 26 – 29<br />
Der größte Tscheche aller Zeiten<br />
– Jára Cimrman<br />
Eine geglückte Mystifikation ließ die imaginäre<br />
Figur zum Nationalsymbol werden.<br />
Seite 30 – 33<br />
Puzzle Tschechien<br />
Schengenraum, Wissenschaft und Förderung<br />
heute und einst, Kalendermünze und<br />
Preisverleihungen an Frauen<br />
Seite 34 – 35<br />
Amor fati – die göttliche Ema<br />
Die tschechische Sängerin Ema Destinnová<br />
wurde zum Weltstar der Oper im anbrechenden<br />
20. Jahrhundert.<br />
Seite 36 – 38<br />
Die Zeitschrift Im Herzen Europas erscheint sechsmal jährlich<br />
und vermittelt auf ihren Seiten ein Bild über das Leben in<br />
der Tschechischen Republik. Die Beiträge präsentieren die<br />
An sichten ihrer Autoren und müssen nicht mit den offiziellen<br />
Standpunkten der tschechischen Regierung übereinstimmen.<br />
Abonnement bestellungen sind an die Redaktion der Zeitschrift<br />
zu richten. Herausgegeben vom Verlag Theo in Zusammenarbeit<br />
mit dem Außenministerium der Tschechischen Republik.<br />
Anschrift der Redaktion:<br />
J. Poppera 18, 530 06 Pardubice, Česká republika<br />
Chefredakteur: Pavel Šmíd<br />
Graphische Redaktion: Karel Nedvěd<br />
Vorsitzender <strong>des</strong> Redaktionsbeirats: Zuzana Opletalová,<br />
Leiter der Pressestelle <strong>des</strong> Außenministeriums der ČR<br />
und Pressesprecher <strong>des</strong> Außenministers<br />
Redaktionsbeirat: Libuše Bautzová, Pavel Fischer, Vladimír<br />
Hulec, Robert Janás, Milan Knížák, Martin Krafl, Eva Ocisková,<br />
Tomáš Pojar, Jan Šilpoch, Petr Vágner, Petr Volf, Marek Skolil<br />
Deutsche Übersetzung: Institut für Germanistik<br />
Philosophische Fakultät der Masaryk-Universität Brno<br />
Druck: VČT Sezemice<br />
Nachdruck der in der Zeitschrift Willkommen im Herzen<br />
Europas veröffentlichten Texte erlaubt, sofern Verfasser<br />
und Quelle angegeben werden. Urheberrechtlich geschützte<br />
Ver wendung von begleitendem Bildmaterial nur mit<br />
Zustimmung der Redaktion und <strong>des</strong> Urhebers. Die Ge -<br />
staltung und Über set zung von Werbematerialien auf dem<br />
Umschlag liegt in Eigen verantwortung der Auftraggeber.<br />
ISSN 1211–9296<br />
Theo Verlag – Internet:<br />
http://www.theo.cz<br />
E-Mail: pavelsmid@theo.cz<br />
3
4<br />
Kraft der Menschlichkeit oder<br />
Die merkwürdige Geschichte<br />
Sir Nicolas Wintons<br />
Es klingt wie eine Geschichte von<br />
Hedwig Courths-Mahler oder das Sujet<br />
eines billigen romantischen Films. Man<br />
schreibt das Jahr 1988 und Greta Winton<br />
sucht etwas auf dem Dachboden ihres<br />
Hauses. Dabei stößt sie auf einen alten<br />
Lederkoffer. In ihm findet sie ein rätsel -<br />
haftes Heft. Seine Seiten voller Zeitungs -<br />
ausschnitte, Kinderphotos, Namenslisten<br />
und Briefen erzählen Greta Winton eine<br />
kaum glaubhafte Geschichte. In ihren<br />
Händen liegt der Beweis dafür, daß ihr<br />
Ehemann Nicolas Winton am Vorabend<br />
der Grenzabriegelung 669 jüdische Kin -<br />
der aus der von den Nazisten besetzten<br />
Tschechoslowakei evakuierte. Und nicht<br />
nur, daß er auf diese Weise Hunderte vor<br />
dem sicheren Tod bewahrte, über seine Heldentat<br />
hat er 50 Jahre lang geschwiegen.<br />
Sir Nicholas Winton traf beim Prag-Besuch „seine Kindern“.<br />
Der letzte Zug<br />
Die Fakten über die Geschichte dringen<br />
langsam ans Tageslicht und seine<br />
Pro tagonisten beginnen, sich die schwere<br />
und hektische Zeit zu Beginn <strong>des</strong> Zwei -<br />
ten Weltkrieges in Erinnerung zu bringen.<br />
Wintons wird zur Legende für Vor -<br />
ausschau und Einsatz. Der neunund -<br />
zwan zigjährige Banker Winton war<br />
1938 in die Tschechoslowakei gekommen,<br />
um im Britischen Flüchtlings aus -<br />
schuß mitzuarbeiten. Dieser war be -<br />
strebt, vor allem Politiker, Künstler und<br />
Intellektuelle außer Lan<strong>des</strong> zu bringen.<br />
Winston hingegen schätzte die Gefahr,<br />
Das Heft, <strong>des</strong>sen Auffinden im Jahr 1988 die Errettung<br />
jüdischer Kinder aus der von der deutschen Wehrmacht<br />
besetzten Tschechoslowakei beleuchtete.
Wilson-Bahnhof in Prag. Von dort aus brachte Nicholas Winton 669 jüdische Kinder nach England. (Photo von 1936)<br />
die der jüdischen Bevölkerungsgruppe<br />
drohte, richtig ein und entschloß sich,<br />
jüdischen Kindern zu helfen. Seine Vor -<br />
ausschau erwies sich als außergewöhnlich,<br />
und nicht einmal die britischen Be -<br />
hörden sahen ein, warum er es mit der<br />
Abreise der Kinder so eilig hatte.<br />
Überstürzt fälschte Winton Do -<br />
kumente, führte die Behörden hinters<br />
Licht, und gestattete sich keinerlei<br />
Zweifel. Am 14. März 1939, einen Tag<br />
vor dem Ein marsch der deutschen<br />
Wehrmacht, legte die britische Seite das<br />
erste Verzeichnis vor. Für je<strong>des</strong> Kind<br />
mußte von deutscher Seite eine Ausrei se -<br />
und von britischer Seite eine Ein rei -<br />
segenehmigung vorliegen. Außerdem<br />
mußte er pro Kind eine Kaution in Höhe<br />
von 50 Pfund hinter legen und die Auf -<br />
nahme in eine kon krete britische Familie<br />
nachweisen.<br />
Die mutigen Anstrengungen enden<br />
mit dem tragischen Schicksal <strong>des</strong> letzten<br />
und größten Transportes jüdischer<br />
Kinder. Winston plante den Transport<br />
für den 1. September 1939. Auf dem<br />
Bahnhof versammeln sich 250 Kinder,<br />
aber dem Zug wird die Abreise verweigert.<br />
Es ist der Tag, an dem Deutsch land<br />
Fahrkarten von der letzten gemeinsamen Fahrt<br />
mit den Eltern von Hugo Marom Meisel. Sie waren<br />
unterwegs von Brünn nach Prag, wo Hugo mit seinem<br />
Bruder Wintons Zug nach England bestieg. Die<br />
Fahrkarten sind das letzte Andenken an die Eltern.<br />
Zeitgenössisches Photo von Winton<br />
mit einem Judenkind.<br />
Polen angreift und die Grenzen dicht<br />
macht. Der Zweite Weltkrieg bricht aus.<br />
Was macht den Unterschied aus zwi -<br />
schen den vorhergehenden Transporten<br />
und jenem, dem letzten, der nicht ab -<br />
fuhr? Nach Jahrzehnten erzählt eins der<br />
„Winston-Kinder“, Tomáš Graumann:<br />
„In dem Zug, der mich aus der besetzten<br />
Tschechoslowakei brachte, sollte auch<br />
Geschichte<br />
„Virtus hominem iungit Deo.“<br />
„Tugend verbindet den Menschen<br />
mit Gott.“<br />
mein Bruder Toni mitfahren. Er blieb<br />
aber zu Hause, weil er krank war und<br />
sollte dann mit dem nächsten Zug nachkommen,<br />
mit dem vom 1. September.<br />
Der nicht abfuhr … Mein Bruder, meine<br />
Eltern, die Großmutter und fast alle un -<br />
sere Verwandten sind später in Konzen -<br />
trationslagern umgekommen.“ Grau mann<br />
selbst hat Winston erst 2001 kennen ge -<br />
lernt. Als Reporter <strong>des</strong> Tagesblattes Mla -<br />
dá Fronta Dnes nach dem Verlauf <strong>des</strong><br />
Treffens fragten, antwortete er knapp:<br />
„Viele Tränen.“<br />
Die Kraft der Menschlichkeit<br />
Wintons Geschichte wäre vielleicht<br />
längst vergessen, gäbe es nicht den slowakischen<br />
Regisseur Matej Mináč, der<br />
bereits seit längerer Zeit in Prag lebt.<br />
Mit etwas Übertreibung läßt sich sagen,<br />
daß Mináč Winston berühmt und <strong>des</strong>sen<br />
Ge schichte bekannt gemacht hat. „Im<br />
Ver laufe der Dreharbeiten zu dem Film<br />
Všichni moji blízcí (Alle meine Nächs ten)<br />
stießen wir auf die nahezu unbekannte<br />
Tat Nicholas Wintons. Es existierte dar über<br />
kein einziges Buch, kein einziger Film<br />
und uns erschien es gerecht, daß die Welt<br />
um ihn wisse und ihm Aner kennung<br />
und Dank zolle. Deshalb drehten wir den<br />
5
6<br />
Oktober 2007, über 2,5tsd. Studierende kamen mit Sir Nicholas Winton im Kongreßcenter in Prag zusammen.<br />
Dokumentarfilm Síla lidskosti (Die Kraft<br />
der Menschlichkeit) – und es geschah<br />
geradezu ein Wunder“, be richtet Mináč.<br />
Mit dem „Wunder“ meint er zum einen<br />
den Erfolg <strong>des</strong> Films, der seinen Autoren<br />
2002 den begehrten TV-Preis Emmy einbrachte,<br />
zum anderen das Echo beim<br />
Publikum und in der breiten Öffentlichkeit,<br />
Wintons Beispiel erschütterte und<br />
ergriff die Zuschauer. Die Fleißarbeit bei<br />
der Vorbereitung <strong>des</strong> Films, vor allem die<br />
Suche nach Archivmaterialien, zahlte<br />
sich aus. „Nicholas Winton lebt noch, er<br />
konnte also berichten, was sich damals<br />
abgespielt hatte. Über<br />
je<strong>des</strong> Kind gab es<br />
einen Eintrag. Im<br />
Falle von Schindlers<br />
Liste (und Winton<br />
wird heute als der<br />
„britische Schindler“<br />
bezeichnet), erin ner -<br />
ten sich die Men -<br />
schen an Schindler.<br />
Den geretteten Kin -<br />
dern hingegen fehlte<br />
jede Erinnerung da -<br />
ran, wie sie nach Lon-<br />
don gekommen wa -<br />
ren, sie waren noch<br />
viel zu klein, und nur<br />
dank der Infor ma -<br />
tionen Winstons war es möglich, sie aufzuspüren.<br />
Ein Zufall war auch, daß 1942<br />
in Wales eine Schule für Exulanten eingerichtet<br />
worden war, die viele dieser<br />
Kinder besuchten. Einige Kinder fand<br />
ich auch auf alten Filmaufnahmen. Dann<br />
stellte ich Nachforschungen im Föde -<br />
ralen Archiv in Washington an. Nach<br />
Wochen entdeckte ich zu meinem Er -<br />
staunen eine Aufnahme <strong>des</strong> jungen Ni -<br />
cholas Winton mit einem Kind im Arm.<br />
Es handelte sich um einen Werbespot,<br />
Dieses Porträt ließen „Wintons Kinder“<br />
zu <strong>des</strong>sen 95. Geburtstag malen. Mit Erlaubnis<br />
von Sir Winton hängt das Porträt im Gebäude<br />
der tschechischen Botschaft in London.<br />
den die Amerikaner für einen Vorfilm<br />
aufgenommen hatten, der aber nie über<br />
die Leinwand ging, weil der Krieg aus -<br />
brach, ehe die Filmleute nach Amerika<br />
zurückkamen.“<br />
Dank den Anstrengungen von Mináč<br />
wurden bisher 240 der 669 Kinder aufgefunden.<br />
Die BBC brachte eine Sendung,<br />
zu welcher man nicht nur Winton, sondern<br />
auch viele „seiner“ Kinder einlud.<br />
Der nichtsahnende Winton wurde in -<br />
mitten eines Publikums plaziert, das sich<br />
ausschließlich aus den von ihm geret -<br />
teten Kindern zusammensetzte. Im<br />
Ver laufe der Veran -<br />
stal tung wurde allen<br />
die schockierende<br />
Wahr heit enthüllt.<br />
Vera Gi s sing, die<br />
jahre lang nur einige<br />
Straß en blöcke von<br />
ihrem Retter entfernt<br />
gelebt hatte, erinnert<br />
sich: „Auf einmal<br />
erfuhr ich, daß ich<br />
neben ihm sitze. Ich<br />
habe ihn gleich<br />
umarmt, es war ein-<br />
fach phantastisch.“<br />
32tsd. Unterschriften<br />
für Sir Winton<br />
Der bescheidene und witzige Winton<br />
trotzt bis jetzt allen Auszeichnungen für<br />
seine Verdienste mit Ironie und Über -<br />
blick. Dennoch konnte er der Erhöhung<br />
in den Adelsstand durch die englische<br />
Königin Elisabeth II. und der Verleihung<br />
<strong>des</strong> Tomáš Garrigue Masaryk-Ordens<br />
durch Václav Havel nicht „entgehen“,<br />
ebenso wenig dem Verdienstkreuz I.<br />
Klasse, welches ihm im vergangenen<br />
Jahr von der tschechischen Ver tei di -<br />
gungsministerin Vlasta Parkanová ver -<br />
liehen wurde. Der amerikanische Kon -<br />
greß widmete ihm die Resolution Nr.<br />
583, die seine außerordentlichen Lei -<br />
stun gen würdigt. Auf die ihm bezeigten<br />
Eh rungen reagiert Winton mit dem Kommentar,<br />
das man solches nach so vielen<br />
Jahren verbieten solle. Nach 60 Jahren<br />
sollte die Tat der „Verjährung“ anheimfallen.<br />
„Er braucht keine Popularität,<br />
manchmal vergällt ihm all das Getue um<br />
ihn das Leben. Das nimmt seiner Ge -<br />
schichte das Pathos“, fügt Mináč hinzu,<br />
welcher bei Wintons Tschechienbesuch<br />
im Oktober 2007 als <strong>des</strong>sen Frem den -<br />
führer und Sprecher auftrat.<br />
Der siebenundneunzig jährige Winton<br />
ist immer noch recht aktiv, er liebt das<br />
Reisen. Immer neue und neue „Kinder“<br />
melden sich nun beim ihm. Mit ihren<br />
Nach kommen zählt Wintons „Familie“<br />
gut 5tsd. Menschen. Im Prager Kongreß -<br />
zentrum trafen um die zwanzig „seiner<br />
Kinder“ samt Familien mit ihm zusammen.<br />
Für die größte Überraschung sorgten<br />
allerdings Studenten und Schüler<br />
tschechischer Schulen. In einer Petition<br />
schlagen sie Winton für den Friedens -
Nicholas Winton, Vera Gissing, eines der geretteten Kinder mit Familie, und Matej Mináč.<br />
Bei Dreharbeiten zum Streifen Nickyho rodina (Nickys Familie), 2007<br />
nobelpreis vor. In kürzester Zeit setzten<br />
32 000 Kinder und Jugendliche ihre<br />
Unterschrift unter die Petition. „Das ist<br />
eine phantastische Initiative und am meisten<br />
freut mich daran, daß die Kinder<br />
klüger waren als ich“, lobt der tschechi -<br />
sche Außenminister Karel Schwar zen -<br />
berg. Aber der, den es betrifft, will von<br />
einer Nominierung nichts hören. „Den<br />
Nobelpreis vergibt man an Leute von<br />
ganz anderem Format, als ich es bin“,<br />
läßt sich Winton vernehmen.<br />
Ein Geschenk zum hundertsten<br />
Geburtstag<br />
Nicht nur für die Medien ist Wintons<br />
Bei spiel eine dauernde Inspirations -<br />
quelle. Mináčs Síla lidskosti gilt in vielen<br />
Mittelschulen als ein Hit und Lehrer ur -<br />
teilen zu Folge ersetzt der Film etliche<br />
Stunden Geschichts- und Ethikunterricht.<br />
Ein Bildungsprojekt mit dem Ziel, den<br />
Dokumentarfilm in den Schulen bekannt<br />
zu machen, entstand auf Antrag mehrerer<br />
Schulleitungen nach der Ausstrahlung<br />
<strong>des</strong> Films im Fernsehen. Zehntausende<br />
tschechische Studenten haben den Film<br />
Sir Nicholas Winton beim Treffen mit Präsident<br />
Václav Klaus<br />
Der Streifen Síla lidskosti (Kraft der Menschlichkeit) von<br />
Matej Mináč erhielt 2002 den Emmy-Preis verliehen.<br />
bereits gesehen, und das Projekt griff<br />
auch auf Deutschland, Amerika und die<br />
Slowakei über. Jetzt wird über die Dis tri -<br />
bution <strong>des</strong> Films in Frankreich und Po -<br />
len verhandelt. „Kindern einer Schule in<br />
Los Angeles, die wohl kaum eine Ahnung<br />
davon hatten, daß es einmal einen Zwei -<br />
ten Weltkrieg gegeben hat, standen nach<br />
dem Film Tränen in den Augen. Ihre Reaktion<br />
ist uns begreiflicherweise nahe ge -<br />
gangen“, sagt der Regisseur Mináč und<br />
er fügt hinzu: „Heute bin ich nur noch<br />
ein Zuschauer, der nicht in den Verlauf<br />
der Ereignisse eingreifen kann. Wintons<br />
Geschichte lebt ihr eigenes Leben. Ge -<br />
genwärtig drehe ich einen abendfüllenden<br />
Dokumentarfilm mit dem Titel Nicky -<br />
ho rodina (Nickys Familie), der über den<br />
unvorstellbaren Einfluß dieser Geschichte<br />
auf die Weltjugend erzählt. Seine Prä -<br />
miere soll der Film an Nicholas Wintons<br />
hundertstem Geburtstag erleben. Auß er -<br />
dem wird unter dem Namen Anglická<br />
rapsodie (Englische Rhapsodie) ein<br />
internationaler Spielfilm vorbereitet, der<br />
das Schicksal von einem der durch Win -<br />
ton geretteten Jungen zum <strong>Inhalt</strong> hat.<br />
Das Szenario der Geschichte eines be -<br />
gabten Pianisten, der sich um jeden Preis<br />
sein Talent erhalten will, schrieb der<br />
Tscheche Jiří Hubač.“<br />
Daniel Suchařípa<br />
(in Zusammenarbeit mit Matej Mináč)<br />
Photos: Zuzana Mináčová, Botschaft der Tsche -<br />
chischen Republik in London, Archiv Redaktion<br />
Mit Außenminister Karel Schwarzenberg<br />
Matej Mináč, Sir Nicholas Winton<br />
und Präsident Bill Clinton<br />
7
8<br />
In Mähren geboren…<br />
Mähren (tsch. Morava) ist ein historischer<br />
Landstrich im Osten Tschechiens.<br />
Bis zum Ende <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs<br />
lebten hier tschechischsprachige Slawen<br />
zu sammen mit Deutschen bzw. Deutsch -<br />
öster reichern. Auch die meisten Mähren<br />
slawischer Herkunft beherrschten die<br />
deutsche Sprache, galt sie doch in der<br />
Zeit als Mähren zu Österreich gehörte,<br />
als Amtssprache, die meisten der Deutsch -<br />
mähren sprachen auch Tschechisch. Aus<br />
der Vielzahl der bedeutenden „tschechi -<br />
schen“ Mähren sollen hier zu min<strong>des</strong>t der<br />
Polyhistor und Pädagoge Jan Amos Ko -<br />
menský (Johann Amos Comenius *1592<br />
in Nivnice /Niwnitz/, Südmähren, 1670<br />
in Amsterdam) und der Philosoph und<br />
Gründer <strong>des</strong> tschechoslowakischen Staates<br />
Tomáš Garrigue Masaryk (*1850 in Ho -<br />
donín /Göding/ Südmähren, † 1937 in Lá -<br />
ny, Mittelböhmen) Erwähnung finden.<br />
Folgen wir aber hier und jetzt den<br />
Spu ren einiger bedeutender Deutsch -<br />
mähren – alles Naturwissenschaftler.<br />
Durch Blumen verewigt<br />
Georg Joseph Camel (lat. Camellus)<br />
erblickte im Jahre 1661 als Sohn eines<br />
Tuchscherers im südmährischen Brünn<br />
das Licht der Welt. Nach dem Abschluß<br />
<strong>des</strong> Gymnasiums in seiner Heimatstadt<br />
und einer gründlichen Ausbildung zum<br />
Apotheker trat Camel 1682 in den Je sui -<br />
tenorden ein, wo er praktische Erfah -<br />
rungen als Apotheker sammelte. Mit<br />
sechsundzwanzig Jahren wurde er für<br />
die Über seemission ausgewählt und reiste<br />
auf die Philippinen ab.<br />
In Manila leitete er die Missions -<br />
apotheke, heilte die einheimischen und<br />
studierte die dortige Natur. Seine Zeich -<br />
nungen und Beschreibungen schickte er<br />
an die Londoner Royal Society und so er -<br />
Die Camel-Medaille (E. Karel Zeman) ließ<br />
die Veterinär- und Pharmazeutische Universität<br />
Brünn prägen.<br />
schien sie in Publikationen von John Ray<br />
(z. b. Historia plantarum, 1704) und verhalfen<br />
Camel zur Berühmtheit. Georg Jo -<br />
seph Camel, der als erster ein Ver zeich nis<br />
der philippinischen Flora mit detaillierten<br />
Zeichnungen anlegte, starb bereits 1706.<br />
Ihm zu Ehren benannte der Bota niker Carl<br />
Linné einen blütentragenden Strauch aus<br />
der Gattung der Teegewächse mit dem<br />
Namen Thea japonica in Camellia. Die<br />
Blüten dieser Pflanze galten in der vikto -<br />
rianischen Zeit als Symbol der Schönheit,<br />
so schmückten sie beispielsweise auch<br />
Dumas Kameliendame. In die Familie der<br />
Kameliengewächse gehört auch eine der<br />
nützlichsten Pflanzen der Erde, der japanische<br />
Teestrauch (Camellia sinensis).<br />
Vater der Hydrotherapie<br />
In der Ortschaft Gräfenberg im nördlichsten<br />
Zipfel Mährens wurde 1799<br />
Vinzenz Priessnitz als Sohn eines Berglers<br />
geboren. Bereits mit zwölf Jahren führte<br />
er die Wirtschaft. Mit sechzehn Jahren<br />
geriet er, von einem scheuenden Pferd<br />
ab geworfen, unter einen Wagen, der ihm<br />
den Brustkorb eindrückte. Der herbei -<br />
gerufene Feldscher hielt jede Heilung für<br />
unmöglich. Vinzenz richtete damals seine<br />
Rippen an der Stuhlkante aus und machte<br />
sich kalte Umschläge. (Es heißt, er habe<br />
beobachtet, daß Rehe ihre durch Schüsse<br />
verwundeten Glieder wiederholt in kühles<br />
Quellwasser tauchten.) Als er später auch<br />
die Dienstmagd der Nachbarn heilte, be -<br />
gannen die die ersten Kranken den „Was -<br />
ser doktor“ aufzusuchen.<br />
Seine „Wasserheilanstalt“ war wohl<br />
welt weit die erste dieser Art. Sie bestand<br />
aus Räumen, in denen Becken aufgestellt<br />
waren, die durch Quellwasser gespeist<br />
wurden. 1939 öffnete er sein neues großes<br />
Kurhaus. Noch im selben Jahr zählte er<br />
1544 Gäste, unter ihnen 120 Ärzte, die<br />
ihre so gewonnenen Erkenntnisse bei den<br />
eigenen Patienten in Anwendung brach-<br />
Lázně Jeseník (Bad Gräfenberg) in zeitgenössischen Abbildungen, Riedls Porträt von Vinzenz Priessnitz (1870) und Abbildungen diverser Heilverfahren
Abtei St. Thomas in Brünn – Ort von Mendels Pflanzenversuchen (unten noch Reste von Glashäusern)<br />
ten. Die Kurgäste machten Spaziergänge<br />
an der frischen Luft, tranken Quellwasser,<br />
badeten in kaltem Wasser, es wurde ihnen<br />
gesunde Bauernkost vorgesetzt, im Som -<br />
mer sägten sie Holz und im Winter räumten<br />
sie Schnee.<br />
Zeit seines Lebens behandelte Pries s -<br />
nitz mehr als 40tsd. Menschen. Zuerst<br />
heilte er vor allem Verwundete, aber dank<br />
Intuition und Erfahren wagte er sich bald<br />
auch an Gicht, Rheuma, Magen be schwer -<br />
den und andere Krankheiten, insbesondere<br />
Fiebererkrankungen. Seine Prozeduren umfaßten<br />
nicht mehr nur kalte Umschläge<br />
und Waschungen, sondern auch Duschen,<br />
Schwitzpackungen, kalte Ganzkörper bäder<br />
und Fußbäder und nasse Packungen, bis<br />
heute unter seinem Namen bei Fieber und<br />
Gelenkschmerzen angewendet. Sein Kur -<br />
betrieb wurde zum Vorbild für ähnliche<br />
Anlagen in ganz Europa. Wo früher die<br />
kleine Ortschaft Gräfenberg stand, befindet<br />
sich heute das weltbekannte Kurbad<br />
Lázně Jeseník mit Schwerpunkt in Be -<br />
handlung von Erkrankungen der oberen<br />
Atemwege und Geisteskrankheiten.<br />
Obwohl man Priessnitz nach heutigen<br />
Maßstäben wohl als Scharlatan brand -<br />
marken würde, funktionierte seine Heil -<br />
methode zweifelsfrei. Warum? Läßt man<br />
die psychotherapeutische Wirkung der<br />
Altvatergebirgslandschaft, die Absenz<br />
von Alltagssorgen und das Charisma von<br />
Priessnitz außer acht, so dominiert wohl<br />
die Wirkung der Kälte. Ein angemessener<br />
Kontakt <strong>des</strong> Körpers mit kaltem Wasser<br />
führt zur örtlichen Durchblutung <strong>des</strong><br />
Johann Gregor Mendel (1822-1884),<br />
Begründer der Genetik<br />
Gewebes und damit zur besseren Ver -<br />
sorgung und Reinigung.<br />
Das Werk <strong>des</strong> Schöpfers erkennen<br />
Ebenfalls aus einer Bauernfamilie<br />
stammt der 1822 im nordmährischen<br />
Hynčice (Heinzendorf) geborene Johann<br />
Mendel. Eigentlich sollte er den Hof er -<br />
ben, aber der Pfarrer überredete die Eltern,<br />
den wißbegierigen Jungen stu dieren zu<br />
lassen. 1843 trat er auf Em pfehlung seines<br />
Physiklehrers am Philo sophischen Institut<br />
in Olomouc (Olmütz) in den Augus ti ner -<br />
orden in Brünn ein. Dort erhielt er den<br />
Ordensnamen Gregor. Schon Mönch, stu -<br />
Wissenschaft<br />
„Der Natur folgen, nichts<br />
erzwingen.“<br />
Vinzenz Priessnitz<br />
(1799-1851)<br />
Naturheilkundiger<br />
dierte er zwei Jahre Na tur wis sen schaften<br />
an der Universität Wien.<br />
Auf Anweisung seines Abtes, der die<br />
Bauern beim Veredeln von Früchten unter -<br />
stützten wollte, begann er mit Erbsen zu<br />
experimentieren. Deren einzelne Sorten<br />
ließen sich nämlich leicht durch ihr Aus -<br />
sehen unterscheiden (er wählte sieben<br />
verschiedene Sorten aus) und die Ernte<br />
fand gute Verwendung in der Kloster -<br />
küche. Seine Experimente bestanden aus<br />
der sorgfältigen Kreuzung der einzelnen<br />
Arten und der Hybriden verschiedener<br />
Generationen. Die Ergebnisse seiner<br />
Versuche mit mehr als 27 000 Pflanzen<br />
von 34 verschiedenen Arten stellte er<br />
1865 bei einer Vorlesung vor, ein Jahr<br />
später wurden sie gedruckt – und gerieten<br />
in Vergessenheit.<br />
1868 wurde Mendel zum Abt <strong>des</strong><br />
Klosters gewählt und es blieb ihm keine<br />
Zeit für weitere Forschungen. Er starb<br />
1884. Sein Requiem dirigierte ein anderer<br />
berühmter Mähre – Leoš Janáček, den<br />
Mendel zum Leiter <strong>des</strong> Kirchenchors<br />
ernannt hatte. Die Publikation über die<br />
Grundgesetze der Genetik wurde erst zu<br />
Anfang <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts wiederentdeckt<br />
und in ihrer Bedeutung erkannt.<br />
Heute gilt Johann Gregor Mendel als der<br />
Gründer der Vererbungslehre.<br />
Von Albert Einstein inspiriert<br />
Ernst Mach wurde 1838 als Sohn eines<br />
Hauslehrers geboren, aber zwei Jahre<br />
nach seiner Geburt erwarben seine Eltern<br />
ein Gut im österreichischen Untersie ben -<br />
brunn, nur ein Stück von der mährischen<br />
9
10<br />
Preisgekrönter Entwurf für Freud-Denkmal in Prag<br />
(Michal Gabriel)<br />
Grenze entfernt. Dreiundzwanzigjährig er -<br />
warb er an der Universität Wien den Dok -<br />
tortitel und hatte ab 1867 eine Professur<br />
für Experimentelle Physik an der Prager<br />
Universität inne. Nach der Teilung der<br />
Universität 1882 war er der erste Rektor<br />
der Deutschen Universität in Prag. Von<br />
1895 bis 1901 unterrichtete er Philosophie<br />
und Geschichte an der Universität Wien.<br />
In Prag machte er als ein ausgezeich -<br />
neter Experimentator von sich reden, (be -<br />
rühmt gemacht hat ihn vor allem seine<br />
Auf nahme einer abgeschossenen Kugel<br />
und deren Schallwelle), in Wien als Phi -<br />
losoph und Psychologe.<br />
Seine Lehren beeinflußten in erhe b -<br />
lichem Maße den Gründer <strong>des</strong> Prag ma -<br />
tismus, William James, der seinetwegen<br />
aus den USA nach Prag kam, oder <strong>des</strong>sen<br />
Landsmann, den Bahnbrecher <strong>des</strong> Neo be -<br />
haviorismus Burrhus F. Skinner.<br />
Machs Ansichten über die Existenz von<br />
absoluter Zeit und Raum und seine neue<br />
Freuds berühmte Couch, auf der seine Patienten behandelt wurden.<br />
Ernst Mach (1838-1916), Physiker und Philosoph Kurt Gödel (1906-1978), Mathematiker und Logiker<br />
Auffassung von der Trägheit inspirierten<br />
Albert Einstein bei der Formulierung seiner<br />
Relativitätstheorie. Seinen Namen trägt<br />
die sogenannte Machzahl, die die Ge -<br />
schwindigkeit im Verhältnis zur Schall -<br />
geschwindigkeit beschreibt.<br />
Entdecker <strong>des</strong> Unbewußten<br />
Unter den hervorragenden „deutschen“<br />
Söhnen Mährens darf selbstverständlich<br />
Sigmund Freud nicht fehlen. Geboren<br />
wurde er 1856 im nordmährischen Příbor<br />
(Freiberg) als Sohn eines nicht allzu er -<br />
folgreichen Textilkaufmanns. Als er drei<br />
Jahre alt war, zogen seine Eltern nach<br />
Wien, wo Freud später Medizin studierte.<br />
Dort erforschte er Ende <strong>des</strong> 19. Jh. das Phä -<br />
nomen <strong>des</strong> Unbewußten und seine Be -<br />
deutung für die menschliche Gesund heit.<br />
Die Vorgangsweise bei der Freile gung <strong>des</strong><br />
Unbewußten und die Einfluß nahme auf<br />
das Bewußtsein bezeichnete er als Psychoanalyse.<br />
Obwohl viele seiner Ansichten<br />
heute überholt sind, haben sie den Fort -<br />
schritt in der modernen Psy chologie und<br />
der ihr nahen Wissenschaften angeregt.<br />
Logik und Erkennbarkeit<br />
Auch Kurt Gödel (1906) wurde in<br />
Brünn geboren, wo sein Vater als Direktor<br />
einer Textilfabrik tätig war. Nach dem<br />
Abitur am Deutschen Gymnasium ging er<br />
nach Wien, wo er 1930 in seiner Disser ta -<br />
tion in mathematischer Logik seine zwei<br />
be rühmten Sätze, den Vollständigkeitssatz<br />
und den Unvollständigkeitssatz formu -<br />
lierte, mit welchen er die Theorie von der<br />
hundertprozentigen Rationalität in der<br />
Wissenschaft und der hundertprozentigen<br />
Erkennbarkeit der materiellen Welt umstieß.<br />
1940 verließ er die Wiener Universität<br />
und ging in die USA, wo er am Institute
for Advanced Studies in Princeton einer<br />
der engsten Freunde Albert Einsteins<br />
wurde. Diesen beeindruckte vor allem<br />
Gödels Lösung der Gravitations glei -<br />
chung, die durch eine „Zeitschleife“ eine<br />
theoretische Reise in die Vergangenheit<br />
in Betracht zieht.<br />
An seinem Lebensende litt Gödel<br />
an paranoider Psychose – an panischer<br />
Angst, vergiftet zu werden. 1978 starb er<br />
in Princeton an Unterernährung.<br />
Ein Mitteleuropäer<br />
in „Manhattan“<br />
Im Jahre 1905 kam Georg Placzek<br />
in Brünn als Sohn eines Textilfabrikanten<br />
zur Welt. Physik studierte er zuerst in Prag<br />
und später in Wien, wo er auch 1928<br />
seinen Doktortitel erwarb. Er arbeitete<br />
in verschiedenen bedeutenden Labora torien<br />
in ganz Europa, am längsten – 6 Jahre –<br />
bei Niels Bohr in Kopenhagen. Mit 29<br />
Jahren sollte er eine Dozentur für Theo -<br />
retische Physik an der neugegrün deten<br />
Hebräischen Universität in Jeru salem an -<br />
treten, dazu kam es allerdings nicht, weil<br />
er zu große Ansprüche an die Ausstattung<br />
<strong>des</strong> Instituts stellte. Vor Ausbruch <strong>des</strong><br />
2. Weltkriegs reiste er nach Amerika aus.<br />
Sigmund Freud (1856-1939), Begründer<br />
der Psychoanalyse<br />
Im Rahmen <strong>des</strong> Projekts Manhattan<br />
(Entwicklung der amerikanischen Atom -<br />
bombe) zu Ende <strong>des</strong> Krieges arbeitete er<br />
direkt in Los Alamos als Leiter der theo -<br />
retischen Abteilung. Er war der einzige<br />
tschechoslowakische Zeuge <strong>des</strong> versuchsweisen<br />
Atombombenabwurfs. Hervorzu -<br />
heben ist insbesondere sein Einfluß auf<br />
seine Kollegen. So führte er Otto Frisch<br />
zur Erklärung der Uranspaltung und Bohr<br />
zu der Entdeckung, daß mit langsamen<br />
Zwei Freunde – Kurt Gödel und Albert Einstein<br />
Georg Placzek (1905-1955), Physiker und Mitarbeiter<br />
am Manhattan-Projekt<br />
Neu tronen nur das Uranisotop 235 ge -<br />
spalten wird. Ihm ist es auch zu verdanken,<br />
daß Robert Oppenheimer aus seinen<br />
kommunistischen Illusionen herausfand<br />
und die Leitung <strong>des</strong> Projektes übernahm.<br />
Placzek starb 1955 in Zürich, offiziell an<br />
Herz infarkt, aber wahrscheinlich hat er<br />
sich selbst das Leben genommen.<br />
František Houdek<br />
Photos: Archiv <strong>des</strong> Autors, Archiv Michal Gabriel,<br />
www.arikah.net., Staatliches Kreisarchiv Jeseník<br />
11
12<br />
Dem Licht der sinkenden<br />
Sonne folgend<br />
Der unbekannte Franz K.<br />
„Franz Kafka, das war dieser berühmte<br />
Schriftsteller, der in Prag gelebt hat?“<br />
So fragt wohl manch einer hierzulande.<br />
Vielleicht erinnert sich noch der eine oder<br />
andere, daß er Beamter war und daß ihn<br />
seine Arbeit überhaupt nicht freute.<br />
Heraus aus der Stadt und weiter,<br />
immer weiter<br />
Genau das Gegenteil ist der Fall, wie der<br />
Photograph Jan Jindra, Autor <strong>des</strong> Projektes<br />
Cesty Franze K. (Die Reisen <strong>des</strong> Franz K.)<br />
herausfand. Was veranlaßte den Sieger <strong>des</strong><br />
Wettbewerbs Czech Press Photo und Photo -<br />
dokumentaristen <strong>des</strong> Abzugs der Sowjeti -<br />
schen Streitkräfte aus der Tschechoslowakei,<br />
dem Mythos um Kafka nachzugehen. „Mit<br />
der Persönlichkeit Franz Kafkas beschäftige<br />
Zentrales Treppenhaus im Gebäude der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt<br />
für das Königreich Böhmen, Kafkas zweiter Arbeitsstätte<br />
ich mich bereits seit 2002. Damals arbeitete<br />
ich für einen Verlag. Ich machte Photos für<br />
die Titelseite einer Zeitschrift und eine meiner<br />
Aufträge lautete „Kafka einmal anders“.<br />
Zuerst fiel mir ein, Plätze in Prag zu photographieren,<br />
die irgendwie mit Kafka zu -<br />
sammenhängen. Aber solche Photos gibt<br />
es schon zu Hunderten. Ich begann also,<br />
Kafkas Bücher zu lesen und Indizien zu<br />
suchen, die mich zu anderen Plätze führen<br />
könnten. Alle wissen wir, daß Kafka mit<br />
Prag, Berlin und Wien gleichgesetzt wird.<br />
Aber Kafka reiste viel mehr. Meist seiner<br />
Dienstverpflichtungen wegen, aber manch -<br />
mal auch nur so, auf Urlaub.“<br />
Der berühmte Schriftsteller besuchte<br />
vor allem Mittel- und Nordböhmen – Měl ník,<br />
Treppenaufgang zur Wohnung von Milena Jesenská und Ernst Pollak<br />
in der Lerchenfeldstraße 113, Wien
Blick vom Dach der Versicherung Assicurazioni Generali, wo Kafka tätig war, auf die Prager Burg.<br />
Roztoky (Rostok), Liberec (Reichenberg),<br />
Jab lonec (Gablonz an der Neiße), Frýdlant<br />
(Friedland). Außerdem bereiste er fast ganz<br />
Europa, die Schweiz, Italien, Österreich und<br />
Frankreich. Oftmals wurde er von seinem<br />
Freund Max Brod, einem angesehenen Schrif t -<br />
steller <strong>des</strong> Prager Kreises, begleitet. Ihre Er -<br />
lebnisse schrieben die beiden in ihren Tage -<br />
büchern nieder. Es interessierten sie nicht<br />
nur Kultur- und technische Denkmale, sondern<br />
auch die gesunde Lebensweise, die an<br />
der Jahrhundertwende als eine Alternative zum<br />
Stadtleben in Erscheinung trat. Kafkas Auf -<br />
zeichnungen gehen bis ins Detail und er reg -<br />
ten gerade dadurch die Aufmerk sam keit Jan<br />
Jindras. Als Photograph fühlt er sich näm lich<br />
befähigt, eben diese Eindrücke Kaf kas nachzuvollziehen<br />
und im Bild einzufangen.<br />
Detektiv im Dienste der Versicherung<br />
Die erste Ausstellung seiner Photo gra -<br />
phien installierte Jan Jindra 2003 symbolisch<br />
in den Räumen der ehemaligen Arbeiter-<br />
Versicherungs-Anstalt in Prag (heute Hotel<br />
Merkur), bei welcher Kafka 14 Jahre lang<br />
angestellt war. Bei der Vernissage traf Jindra<br />
mit dem Kafka-Forscher Dr. Josef Čermák<br />
zusammen. Als interessantestes Ergebnis<br />
ihrer Zusammenarbeit ist wohl die Auffin -<br />
dung von Kafkas Büro in der ehemaligen<br />
Versicherung Assicurazioni Generali an -<br />
zusehen. Ihren Sitz hatte die Versicherung<br />
auf dem Prager Wenzelsplatz, in einem aus-<br />
gedehnten, weiträumigen Gebäude mit vielen<br />
Stockwerken, langen Gängen und Innen -<br />
hof. Kurz gesagt, es ist so richtig kafkaesk.<br />
Jindra machte es sich zur Aufgabe, her -<br />
aus zufinden, in welchem der zahlreichen<br />
Büroräume Kafka 1908-1909 amtierte. Dank<br />
Dr. Čermáks Unterstützung gelang es ihm,<br />
das Rätsel zu entschlüsseln. Gemeinsam<br />
spürten sie in Kafkas Briefwechsel Beschrei -<br />
bungen seines Arbeitsweges auf. Aber auch<br />
dies führte noch zu keinem Ziel. In Betracht<br />
kamen nämlich zwei verschiedene Räume.<br />
Treppenaufgang in der Grünewaldstraße 13, Berlin, hier wohnte Kafka mit Dora Diamant.<br />
Photographie<br />
In einem Eisenbahnzug sitzen, es<br />
vergessen, leben wie Zuhause, plötzlich<br />
sich erinnern, die fortreißende<br />
Kraft <strong>des</strong> Zuges fühlen, Reisender<br />
werden, die Mütze aus dem Koffer<br />
ziehn, den Mitreisenden freier, herzlicher,<br />
dringender begegnen, dem<br />
Ziel ohne Verdienst entgegengetragen<br />
werden, kindlich dies fühlen,<br />
ein Liebling der Frauen werden, unter<br />
der fortwährenden Anzie hungs kraft<br />
<strong>des</strong> Fensters stehn, immer zumin<strong>des</strong>t<br />
eine ausgestreckte Hand am Fens terbrett<br />
liegen lassen. […]<br />
Franz Kafka<br />
(1883-1924)<br />
Tagebücher 31.7. 1917<br />
Das einzige, was helfen konnte, war Kafkas<br />
Notiz, daß die Sonne in sein Büro scheine.<br />
Im März, so hieß es in dem Brief, stehe die<br />
Sonne immer sehr niedrig. Das Tageslicht<br />
fällt vom Hof aus direkt in einen einzigen<br />
Büroraum. Jindra schloß seine Studien also<br />
im März ab, und die Sonnenstrahlen be stä -<br />
tigten seine Theorie. „Ich muß sagen, daß sich<br />
mein Photographieren geradezu in letzter Mi -<br />
nute abspielte. Ein paar Wochen später wurde<br />
das Gebäude komplett umgestaltet und heute<br />
befinden sich dort weiträumige Büros im<br />
,amerikanischen Stil‘. Geblieben ist nur die<br />
ursprüngliche Fassade, hinter der nichts<br />
mehr von Kafkas Welt zu erhaschen ist.“<br />
Reisen in die Vergangenheit<br />
Allen derartigen Nachforschungen gehen<br />
langwierige Vorbereitungen voran, in welche<br />
ich als Autorin der Begleittexte involviert<br />
bin. Gemeinsam mit Jan Jindra suche ich<br />
nach Informationen über einzelne Lo ka -<br />
litäten. Uns interessiert nicht nur der Fakt,<br />
daß Kafka sich dort aufhielt, sondern auch<br />
die damals vorherrschende Atmosphäre.<br />
Warum man in jener Zeit die klimatischen<br />
Bäder in Meran besuchte, was nach der<br />
Insel Helgoland lockte oder das Industrie -<br />
städtchen Varnsdorf (Warnsdorf) so interessant<br />
machte. Bei unseren Nachforschungen<br />
arbeiten wir mit Museologen und Sammlern<br />
historischer Photos zusammen. Am Ende der<br />
beinahe kriminalistischen Spurensuche stehen<br />
13
14<br />
die Reisen zu den konkreten Orten. Manch -<br />
mal sind sie voller Überraschungen, manch -<br />
mal erwartet uns herbe Enttäuschung. Der<br />
Kampf mit der Zeit stellt dabei das größte<br />
Problem dar. Allein im vergangenen Jahr<br />
wurden zwei Plätze zerstört, die in Kafkas<br />
Leben keine geringe Rolle gespielt hatten.<br />
Der erste war die Ferienkolonie in der<br />
deutschen Sommerfrische Müritz, wo Kafka<br />
seine letzte Liebe, Dora Diamant, kennenlernte.<br />
Für den einen gewöhnliche Holz -<br />
hütten, die man neuer Bauvorhaben wegen<br />
einfach abriß, für Hobbyhistoriker unver -<br />
geßliche, bedeutsame Plätze. Ein ähnliches<br />
Schicksal traf das Sanatorium im italieni -<br />
schen Riva, wohin es viele berühmte Lite -<br />
raten zog, u.a. auch die Brüder Thomas und<br />
Heinrich Mann. Auch Kafka weilte zweimal<br />
hier und erinnerte sich zeitlebens an den<br />
Sanatorienaufenthalt. Heute ist von dem se -<br />
henswerten Biedermeiergebäude kaum mehr<br />
als eine Ruine übrig geblieben, der über kurz<br />
oder lang der Abriß droht.<br />
Meist aber sieht sich der Photograph an -<br />
genehm überrascht: „Oft habe ich mir den<br />
bestimmten Platz lebhaft vorgestellt, ja mit<br />
innerem Auge geradezu vor mir gesehen und<br />
überlegt, wie er am besten zu photographieren<br />
wäre. So erging es mir beispielsweise mit<br />
Berlin, mit der Straße, in welcher die Familie<br />
von Felice Bauer zu Hause war. Gespannt<br />
folgte ich der Straße, alle Häuser stammten<br />
aus der Jahrhundertwende. Schon sah ich<br />
das Eckhaus fast vor mir. Und dann öffne ich<br />
die Augen und vor mir eine neue Fassade.<br />
Die einzige in der ganzen Straße. Eine Weile<br />
stand ich nur so herum und überlegte, ob<br />
es sich lohne, hineinzugehen. Ich dachte so<br />
bei mir, daß innen drin wohl kaum noch<br />
etwas Ursprüngliches zu finden sein werde.<br />
Trotzdem – ich stand und überlegte, hinter<br />
welchen Fenstern Felice wohl gewohnt<br />
haben mochte. Aus dem Haus trat eine junge<br />
Frau mit einem Kind und als sie sah, wie<br />
ich so dastand und mich verwirrt umsah,<br />
fragte sie, ob ich etwas Bestimmtes suche.<br />
Ich antworte ihr und sie erwiderte lachend,<br />
das ich nicht weiter zu suchen brauche, daß<br />
sie in dem Haus wohne, und ihre Familie<br />
sich noch gut daran erinnere, daß auch<br />
Bauers dort gewohnt hatten.“<br />
Wenn ich die Texte zu den Photographien<br />
vorbereite, sage ich mir, daß die Besucher<br />
der Ausstellung sicherlich nicht nur Kafka<br />
interessiert, sondern auch die Zeit, in der<br />
er lebte. Es genügt, die unterschiedlichen<br />
Stätten zu sehen, und sich den allgemeinen<br />
Wandel zu vergegenwärtigen. Erstmals be -<br />
kannte und angepriesene Sommerfrischen<br />
sind heute nur noch stumme Zeugen vergangener<br />
Zeiten. Bei ihrem Besuch drängt sich<br />
die Frage auf, was Kafka gerade hier gesucht<br />
hat. Deshalb machen mir diese Studien so -<br />
viel Spaß, weil man immer aufmerksam<br />
sein muß und nicht nachlassen darf. Fast<br />
immer scheint es, als gäbe es nichts mehr zu<br />
finden, und plötzlich kommt etwas Neues<br />
ans Tageslicht und alle Mutmaßungen und<br />
Vorstellungen passen auf einmal zusammen,<br />
wie die Teile eines Puzzlespiels.<br />
Geschichten in Bildern<br />
Welche Ergebnisse zeitigt nun dieses<br />
„verrückte“ Herumstöbern. Für Jan Jindra<br />
sind dies vor allem die Photoausstellungen,<br />
die er erfolgreich in ganz Tschechien und im<br />
Ausland installiert. Einer der Höhepunkte<br />
Neue Schloßtreppe unterhalb der Prager Burg Blick in die Landschaft vom Dorf Siřem (Zürau),<br />
wo Kafka einige Monate bei seiner Schwester Ottla<br />
auf dem Gut verbrachte.<br />
Torso <strong>des</strong> Treppenhauses der Versicherung Assicurazioni<br />
Generali, in Prag<br />
war etwa die Teilnahme an dem dreimonatigen<br />
Festival „Die Wege <strong>des</strong> Franz K.“ in<br />
Berlin. Es folgten Ausstellungen in Dresden,<br />
Chemnitz oder Buenos Aires, wo die Photos<br />
im Rahmen <strong>des</strong> Festivals „Kafka – Borges“<br />
zu sehen waren. Mehr dazu findet man auf<br />
den Web-Seiten www.franzkafka.info, die<br />
dank ihres sparsamen und dennoch ansprechenden<br />
Designs bei den „Internet-Rei sen -<br />
den“ Anklang finden. Eine interaktive Karte<br />
führt die Besucher zu Plätzen, die Kafka<br />
bereist hat. In einer Projektion wird auch die<br />
„Spurensuche“ dokumentiert und kommentiert.<br />
Wir organisieren aber auch Lesungen<br />
aus Kafkas Briefen an Milena Jesenská, vorgetragen<br />
von der Übersetzerin Věra Kou -<br />
bová in einer nahezu kafkaesken Atmo -<br />
sphäre, hervorgezaubert durch die magische<br />
musikalische Begleitung der Mezzoso pra -<br />
nistin Jana Lewitová, die sich von alten se -<br />
phardischen, mährischen und anonymen<br />
böhmischen Liedern inspirieren läßt.<br />
Bruchstückhaft bliebe unser Projekt<br />
ohne die Unterstützung, die uns von vielen<br />
Seiten entgegengebracht wird. Zu nennen<br />
ist hier in erster Linie Dr. Hans-Gerd Koch,<br />
Her ausgeber der Kritischen Ausgabe von<br />
Kafkas Korrespondenz, der auch die Projekt -<br />
för derung vermittelte, die unser Team vom<br />
Tschechisch-Deutschen Zukunftsfond er -<br />
hielt, welcher die Herausgabe unseres Aus -
stellungskatalogs und die Reisen nach Deut -<br />
schland finanzierte.<br />
Oft wird Jan Jindra die Frage vorgelegt,<br />
ob dieses Projekt einen konkreten Abschluß<br />
finde. „Ja sicher. Man könnte wohl weiter<br />
und immer weiter forschen, aber mein Ziel<br />
ist es, die besten Photos und Texte in einem<br />
Sammelband zu veröffentlichen und damit<br />
das Thema abzuschließen. Es soll eine photographische<br />
und literarische Wanderung zu<br />
Orten werden, die Kafka einstmals besuchte.<br />
All diese Plätze sind nämlich ihrer selbst<br />
wegen interessant und verdienen es, nicht<br />
dem Vergessen anheimzufallen. Ich hoffe,<br />
das es mir gelingt, die Liebhaber Kafkas und<br />
nicht nur diese, zu inspirieren, gemeinsam<br />
mit uns in eine zauberhafte Vergangenheit<br />
einzutauchen.“<br />
Judita Matyášová<br />
Photos: Jan Jindra, archiv<br />
Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 in<br />
Prag geboren. Als Sohn <strong>des</strong> Geschäfts -<br />
mannes Hermann Kafka und seiner Frau<br />
Julie. Er besuchte das Deutsche Staats gym -<br />
nasium am Altstädter Ring und später die<br />
die Deutsche Universität in Prag. Im Jahre<br />
1906 schloß er sein Studium mit dem Doktor<br />
der Rechtswissenschaften ab. Er arbeitete<br />
zuerst für die Versicherung Assicurazioni<br />
Generali, aber schon nach knapp einem<br />
Jahr wechselte er zur Arbeiter-Unfall ver -<br />
sicherungs-Anstalt in Prag über, bei welcher<br />
er 14 Jahre angestellt war. Seine erste große<br />
Auslandsreise unternahm er im Jahre 1911.<br />
Begleitet wurde er von seinen Freund<br />
Max Brod. Seine Reise führte ihn über<br />
die Schweiz, nach Italien und endlich nach<br />
Paris. Ein Jahr später, 1912, lernte er Felice<br />
Bauer kennen, mit welcher er sich in der<br />
Folgezeit zweimal (1914,1917) verloben<br />
sollte. 1933 reiste er von Wien aus über<br />
Venedig bis zum Gardasee. Im Jahre 1917<br />
Hotel Rebstock, Luzern, Kafka<br />
weilte hier mit Max Brod.<br />
wurde Kafkas Tuberkuloseleiden diag -<br />
nostiziert. Zur Erholung begab er sich in das<br />
kleine böhmische Dorf Siřem (Zürau) un -<br />
weit von Žatec (Saaz), wo er seiner Schwes -<br />
ter Ottla bei der Hauswirtschaft half. Da der<br />
Landaufenthalt keine Besserung versprach,<br />
ging er 1920 nach Meran, von wo aus er<br />
einen angeregten Briefwechsel mit Milena<br />
Jesenská, seiner großen Liebe, führte. Je -<br />
senská war bereits verheiratet und lebte mit<br />
ihrem Mann in Wien. Nach der Trennung<br />
von Milena Jesenská fuhr Kafka zur Kur<br />
in die Hohe Tatra. 1923 machte er im deut -<br />
schen Ferienort Müritz Urlaub, wo er seine<br />
letzte Liebe, Dora Diamant, kennenlernte.<br />
Ge meinsam zogen sie nach Berlin, wo sie<br />
fast ein ganzen Jahr, bis zum Frühjahr 1924,<br />
zu brachten. Als sich Kafkas Leiden immer<br />
mehr verschlimmerte, wurde er in eine Wie -<br />
ner Klinik aufgenommen. Später kam er in<br />
ein Privatsanatorium in Kierling bei Wien,<br />
wo er am 3. Juni 1924 starb. Begraben wurde<br />
er auf dem neuen Jüdischen Friedhof in Prag.<br />
Er ist Autor weltweit bekannter Erzäh -<br />
lungen (Die Verwandlung, In der Strafko -<br />
lonie, …) und der Romane „Der Process“<br />
(Pro ceß), „Amerika“ (Fragment) und „Das<br />
Schloß“. In Buchform erschienen auch seine<br />
Briefe an Milena, an Felice und Ottla.<br />
Jan Jindra wurde 1962 in Prag geboren.<br />
Er studierte angewandte Photographie an<br />
der Fachschule für Graphik und Kunst -<br />
photographie an der Fakultät für Film der<br />
Akademie der Musischen Künste in Prag.<br />
Seit 1989 arbeitet er als freischaffender<br />
Photoreporter. Seine Photographien aus der<br />
Zeit <strong>des</strong> gesellschaftlichen Wandels sind in<br />
zahlreichen Monographien abgedruckt.<br />
Schloß in Frýdlant (Friedland), Kafkas Ausflugsziel bei<br />
einer seiner Dienstreisen, ein mögliches Vorbild (unter<br />
anderen) für seinen Schloß-Roman (siehe sein Tagebuch!)<br />
15
16<br />
Alles begann vor dem Ersten Welt -<br />
krieg in Třebíč. Der Direktor der dortigen<br />
Kunstgewerblichen Werkstätten,<br />
Jan Vaněk, war ein Mensch mit ungewöhnlichen<br />
Visionen und der unstillbaren<br />
Sehnsucht, die Welt zu verbessern.<br />
Die junge Tschechoslowakei bot Leuten<br />
seines Schlags ein breites Feld, um ihre<br />
Träume zu verwirklichen. Die Werk -<br />
stätten in Třebíč verband er mit der<br />
Firma Karel Slavíček in Brünn (Brno)<br />
und so wurden 1922 die Spojené U.P.<br />
závody a.s. Brno (Vereinigte U.P.-Werke<br />
AG Brünn) gegründet. Das Produk tionsprogramm<br />
rechnete mit der Herstellung<br />
von einfachem, zweckmäßigem und<br />
praktischem Mobiliar. Moderne Möbel<br />
sollten nicht mehr nur reichen Mäzenen<br />
und der gehobenen Mittelschicht vorbehalten<br />
sein. Der moderne Designer wollte<br />
für breite Kundenkreise arbeiten.<br />
Freilich konnte er nicht allen „maß ge -<br />
schneiderte“ Einrichtungsgegenstände an -<br />
UP<br />
oder Der Weg nach oben<br />
Werbephoto mit Sessel Tulešice Tisch H-256 und Lampe<br />
Zeitgenössisches Werbematerial<br />
Ursprüngliches Firmenzeichen zur Kennzeichnung<br />
der Erzeugnisse der UP-Werke<br />
Neues Logo der UP-Werke<br />
bieten, er wandte sich <strong>des</strong>halb der Frage<br />
nach der Wirtschaftlichkeit der Produktion<br />
zu. Vaněk wurde klar, daß die Entwicklung<br />
der Massenproduktion zustrebte. Seine Vor -<br />
stellung von der Gestaltung progres siven<br />
Mobiliars präsentierte er in der Zeit schrift<br />
Bytová kultura (Wohnkultur), welche er<br />
in den Jahren 1924-25 herausgab. Zum<br />
Redaktionskollegium gehörten z.B. Adolf<br />
Loos, Bohumil Markalous und Ernst<br />
Wiesner. Beiträge kamen von Ka pazitäten<br />
wie Le Corbusier, Pavel Janák, Josef Go -<br />
čár, Josef Hoffmann, Karel und Josef Ča -<br />
pek. Die Kosten für die neuen Pro duk -<br />
tions verfahren und die Werbe kos ten führten<br />
die Firma zum Bankrott und Vaněk<br />
mußte die Werke verlassen.<br />
Jindřich Halabala (1903-1978)<br />
Wohnung <strong>des</strong> Generaldirektor der Mährischen Bank in Brünn,<br />
Fußboden aus UP-Parkett (1937-1938)
Büro im Administradions- und Wohngebäude der Ersten Mährischen Sparkasse in Brünn, Architekten Josef Polášek,<br />
Heinrich Blum, Otakar Oplatek, 1939<br />
Die Firmenleitung übernahm Vladimir<br />
Mareček, ein folgerichtig und ökonomisch<br />
klar denkender Mensch, der die Firma<br />
aus der finanziellen Krise herausführte.<br />
Vaněks Arbeiten legte er<br />
nicht einfach aufs Eis, sondern<br />
förderte deren Weiterführung. Er<br />
stellte ein Arbeitsteam zusammen,<br />
welches ein progressives<br />
Design entwickeln sollte. Im<br />
Laufe der Zeit zum wichtigsten<br />
Mitarbeiter wurde Jindřich Ha -<br />
labala. In die Vereinigten UP Werke<br />
trat er 1930, nach erfolgreichem Stu -<br />
dium an der Prager Fachschule für<br />
Kunstgewerbe, als Zeichner ein und<br />
stieg bald zum leitenden Firmen -<br />
architekten auf. Halabalas Entwürfe<br />
gehören zu den Glanzleistung der da -<br />
maligen Produktion. Seine zeitlosen For -<br />
men und die zweckgerechten Lösungen,<br />
die nichts an Eleganz und Bequemlichkeit<br />
vermissen lassen, finden auch heute noch<br />
Bewunderer. Halabala erwies sich als ein<br />
Möbelschöpfer, bei dem sich die Eigen -<br />
schaften eines Künstlers, eines Designers,<br />
mit großem Fingerspitzengefühl für die<br />
menschlichen Bedürfnisse verb anden. In<br />
die Chronik <strong>des</strong> Welt<strong>des</strong>igns schrieb er<br />
sich mit dem Entwurf eines zweibeinigen<br />
Stuhles aus verchromten Rohren, dem<br />
damals beliebtesten Material ein. Im<br />
Unter schied zu Entwürfen von Marcel<br />
Breuer oder Ludwig Mies van der Rohe<br />
Sessel mit Armlehnen, Jindřich Halabala, vor 1930<br />
ruhte wurde die Sitzfläche nicht von vorn<br />
sondern von hinten angebrachten Beinen<br />
getragen.<br />
Die Möbel von Halabala zeichneten<br />
sich nicht nur durch ihre moderne Form -<br />
gebung sondern auch durch sorgfältige<br />
Materialwahl aus. Als Furnierholz verwendete<br />
man erstklassige Holze wie kanadi -<br />
Design<br />
„In ihrer Glanzzeit waren die UP-<br />
Betriebe das größte Unternehmen Zentraleuropas.<br />
Ihre Erzeugnisse übten<br />
einen positiven Einfluß auf Hundert -<br />
tausende von Menschen aus, in dem<br />
sie ihr ästhetisches Empfinden und<br />
ihr Gefühl der Teilhabe am Gemein -<br />
schaftswerk sensibilisierten.“<br />
Maxim Velčovský<br />
(*1976)<br />
Kunstdirektor <strong>des</strong> UP-Projekts<br />
schen Nußbaum, Mahagoni oder<br />
auch die recht beliebte Eiche<br />
und andere Holzarten mit ausge -<br />
prägter Maserung. Das Furnier<br />
be stach von Anfang an durch<br />
ausge reiftes Design und zeigte<br />
Mase r ungen, die der surrealistischen<br />
Kunst nahekamen.<br />
1947 wurde Halabala mit der<br />
Leitung und Ausgestaltung der Ex -<br />
position tschechischer Möbel auf<br />
der Weltausstellung in New York<br />
be traut. Durch sein ausgezeichnetes<br />
Renommee konnte sich die Mö -<br />
belfabrik auf dem Nachkriegsmarkt<br />
schnell durchsetzen. „Nach England<br />
lieferten die Fabriken 70 Schlaf -<br />
zimmer täglich, was bei der vorherr -<br />
schenden Qualität eine nicht unbe -<br />
deutende Zahl darstellte“, hören wir<br />
von Halabalas Sohn Ivan. „Die Schlaf -<br />
zimmer waren gänzlich aus Nußbaum,<br />
Hochglanz. Das Material dafür kam aus<br />
der Türkei. In England erfreuten sich diese<br />
Möbelstücke ungewöhnlicher Beliebtheit<br />
– das Markenzeichen UP galt als ein Sy -<br />
nonym für hohen Luxus.“<br />
Leider schlug sich die Entwicklung in<br />
den Nachkriegsjahren auf die Firma nieder.<br />
Vor allem nach 1948 kam es zu nachhaltigen<br />
Änderungen, was die freie Ge -<br />
wer betätigkeit anbelangte. Im Unterschied<br />
zu anderen Firmenprodukten blieb das Markenzeichen<br />
UP erhalten. Die Ver einig ten<br />
17
18<br />
Fabrikgebäude der Vereinigten UP-Werke in Brünn,<br />
Cimburkova Str., vor 1938<br />
UP-Werke wurden zum Grundstock <strong>des</strong><br />
neuen Staatsbetriebs UP závody, welche<br />
im Laufe der Zeit alle kleinen Möbel -<br />
firmen schluckte. Das Produktionsprofil<br />
knüpfte an die Vorkriegszeit an, allerdings<br />
wurde die Herstellung von Schrankmöbeln<br />
verstärkt. Die Veränderungen im Woh -<br />
nungsbau führten auch zu einem Wandel<br />
im Möbel<strong>des</strong>ign. Die im Zeitraum <strong>des</strong><br />
Zweijahrplanes (1949/50) und der ersten<br />
beiden Fünfjahrpläne (1951/55, 1956/<br />
1960) errichteten Wohnungen mit extrem<br />
kleiner Wohnfläche stellten die Möbel -<br />
fabrikanten vor neue Aufgaben. Ge fragt<br />
war effektives, platzsparen<strong>des</strong> Mo biliar.<br />
Schränke wurden nicht mehr nur lückenlos<br />
nebeneinander sondern auch vertikal<br />
aufgestellt. Das Interieur in der ersten<br />
Hälfte <strong>des</strong> 20. Jh. beherrschten vorzugsweise<br />
Schrankwände (Anbauwände). Zur<br />
beliebtesten tschechoslowakischen „Mö -<br />
bel reihe“ wurde das bis 1970 herge stellte<br />
Universal. Es bestand aus 96 Möbe l -<br />
elementen, von denen allein 44 verschie-<br />
denste kombinierbare Schrankteile ausmachten.<br />
Im eigentlichen arbeitete es nach<br />
ähnlichen Prinzipien, wie sie heute von<br />
IKEA angeboten werden. Der Kunde kauft<br />
einzelne Elemente, die er zu Hause nach<br />
eigenem Ermessen zusammensetzt. Die<br />
gutgemeinte Idee krankte allerdings an<br />
mangelnder Qualität bei der Herstellung,<br />
was bei den Käufern, denen dank der zen -<br />
tralen Planwirtschaft keine andere Aus -<br />
wahl in puncto Wohnungsausstattung blieb,<br />
spürbare Unzufriedenheit aufkommen ließ.<br />
Die Wende von 1989/90 brachte Ände -<br />
rungen nicht nur in der Politik sondern<br />
auch in der Wirtschaft. Der riesige Staats -<br />
konzern Spojené UP závody zerfiel in<br />
Kürze in mehrere kleinere Firmen. Träger<br />
<strong>des</strong> Markenzeichen UP wurde der neue<br />
Staatsbetrieb Spojené UP závody, der<br />
aber recht bald in eine Aktiengesellschaft<br />
umgewandelt wurde und in Privatbesitz<br />
überging. Die Firma konnte sich in den<br />
harten Bedingungen der Anpassung in den<br />
1990er Jahren allerdings nicht behaupten<br />
Wochenendhaus, Entwurf Josef Polášek, Wohnzimmer mit Eßecke, 1937<br />
Sofa Couple, Holz, verchromtes Metall, Stoff,<br />
Jiří Padrnos, 2005<br />
und es schien bereits, als solle Tschechien<br />
um das Markenzeichen UP kommen.<br />
Die Vision modernen Möbel<strong>des</strong>igns,<br />
die der Idee der UP-Werke zu Grunde<br />
liegt, sollte jedoch nicht der Vergangenheit<br />
anheimfallen. Vor etwa zwei Jahren be -<br />
gannen Vorstandsmitglieder der Gesell -<br />
schaften Expandia a.s. (Expandia AG) und<br />
Reforma a.s. sich mit der Erneuerung <strong>des</strong><br />
Markenzeichens UP zu befassen. An ge -<br />
strebt wurde die Gründung einer selbst -<br />
ständigen Möbelfirma, für deren Design<br />
die führenden tschechischen Möbelde -<br />
signer zeichnen sollten. Die ersten Proto -<br />
typen entstanden bereits im Jahre 2006<br />
und wurden der Öffentlichkeit im Rahmen<br />
der Prager Design-Tage Designblok vorgestellt.<br />
Die Entwürfen dafür kamen von<br />
Jan Padrnos, Jiří Pelcl und dem Studio<br />
Olgoj Chorchoj. Bereits ein Jahr später<br />
warteten die UP-Werke GmbH bei den<br />
Prager Design-Tagen in ihrem „Super -
studio“ mit einer umfangreichen Kol -<br />
lektion auf, angefangen bei Polstermöbeln<br />
über Tische bis hin zu Bücherschränken.<br />
Erweitert wurde auch die Gruppe der<br />
Designer. Zum Arbeitsteam stieß Maxim<br />
Velčovský. Martin Hašek, Klára Šípková<br />
und Designer vom Studio Koncern konn -<br />
ten für externe Zusammenarbeit gewonnen<br />
werden.<br />
Aufmerksamkeit verdienen vor<br />
allem die Sitzmöbel. 2006 konnten zwei<br />
Sitzgarnituren von Jan Padrnos – Couple<br />
und Urbano – vorgestellt werden. Couple<br />
setzt sich, wie schon der Name verrät, aus<br />
zwei miteinander verbundenen Einze l -<br />
elementen auf subtilen Metallgestellen zu -<br />
sammen. Die auf den ersten Blick einfache<br />
Lösung gewinnt an Spannung durch den<br />
Gegensatz von Massivität der Polsterteile<br />
und der grazil, ja fast gebrechlich anmutenden<br />
Metallkonstruktion. Den Eindruck<br />
von Sicherheit erweckt im Gegensatz dazu<br />
die Garnitur Urbano. Auch hier läßt der<br />
Name bereits auf das Design schließen.<br />
Ur bano ist ein wahrhaft urbanistisches Möbel<br />
stück. Es setzt sich aus mehreren ver -<br />
schiedenen Elementen zusammen und vermittelt<br />
den Eindruck einer Landschaft. Die<br />
Couchgarnitur ist nicht nur zum Sitzen auf<br />
den Polsterflächen konzipiert, die Arm -<br />
lehnen reichen über die Couchbreite hin -<br />
aus in den Raum hinein und laden zum<br />
Sitzen auf dem Boden ein. Auch die Sitz -<br />
möbel mit dem Namen Má Vlast (Mein<br />
Vaterland – in Anlehnung an B. Smetanas<br />
gleichnamigen Zyklus sinfonischer Dich -<br />
tungen) nach dem Entwurf von Studia<br />
Kon cern verraten die Inspiration einer<br />
Na turlandschaft. In diesem Fall wurde auf<br />
Stuhl H79, verchromter Stahl, Rattan,<br />
Jindřich Halabala, Neugestaltung<br />
in Zusammenarbeit mit dem Geschäft<br />
Modernista, 1931<br />
einen Entwurf aus<br />
dem Jahre 2002 zurückgegriffen.<br />
Die Designer Jiří<br />
Přibyl und Martin Imrich<br />
wagten eine reale Land -<br />
schaft als natürlichsten Platz<br />
zum Sitzen und Liegen, in künstlich er -<br />
zeugte Möbelstücke umzuformen. Mittel<br />
der Verwandlung wurde eine Landkarte:<br />
die Garnitur in braunen und grünen Farben<br />
trägt den Namen vrstevnice (Isohypse,<br />
Höhenlinie). Die Polstergarnitur Má Vlast<br />
wurde beim Prager Designblok 07 als<br />
Prototyp vorgestellt. Dem alten Entwurf<br />
von 2004 wandte sich Martin Hašek zu<br />
und, ähnlich wie die Designer <strong>des</strong> Studia<br />
Kon cern, befaßte auch er sich mit der<br />
Um wand lung zufällig entstandener Sitz -<br />
objek te in professionell gearbeitete Möbel -<br />
stücke. Den Ausgangspunkt für Hašeks<br />
Überlegungen stellten Transportkisten dar,<br />
auf welchen es sich wirklich bequem sitzt<br />
läßt. Stellt man zwei Kisten unterschied -<br />
licher Größe nebeneinander, so kann man<br />
Sessel Little Big Box, Holz, Polyurethanschaum,<br />
Stoff oder Leder, Martin Hašek, 2006<br />
sich sogar anlehnen. Einen<br />
ganz gegenteiligen Zugang läßt<br />
Maxim Velčovský erkennen. Bei seinen<br />
Sofa Mosaic befaßte er sich nicht mit<br />
der Suche neuer Formen, sondern mit der<br />
Polsterung. Das Spiel mit der Form verrät<br />
sein Regalsystem Fabrika, für welches<br />
er sich auch von Kinderbausteinkästen in -<br />
spirieren ließ.<br />
„Aus Respekt zum Markenzeichen UP<br />
konzentrieren wir uns auf die Pro fes sio -<br />
nalität unserer Partner, auf Herstellungs -<br />
technologien und Materialien“, erläutert<br />
Velčovský „In zwei Jahren werden Möbel<br />
der Marke UP ihren festen Platz in ange -<br />
sehenen Möbelateliers im In- wie Ausland<br />
eingenommen haben. Wir tragen uns<br />
mit der Ambition, einen breiten Markt<br />
zu erobern“, fügt er mit Blick in die Zu -<br />
kunft hinzu.<br />
Martina Straková<br />
Photos: UP-Werke (www.upzavody.cz),<br />
Archiv Martina Straková, Archiv Mährische<br />
Galerie, Brünn<br />
Sessel aus der Möbelreihe Má vlast, Holz,<br />
Polyurethanschaum, Stoff, Studio Koncern, 2006<br />
19
20<br />
1 2<br />
3 4<br />
6<br />
5
7<br />
Galerie<br />
Werke <strong>des</strong> tschechischen<br />
Bildhauers Quido Kocián<br />
(1874-1928)<br />
1. Šárka, Alabaster und Marmor, 1897<br />
2. Mutterliebe (Mateřský cit),<br />
Bronze, 1900<br />
3. Virtuose Jaroslav Kocián, Portrait,<br />
Bronze, 1900<br />
4. Jaroslav Vrchlický, Bronze, 1913<br />
5. Künstlerlos (Úděl umělce),<br />
Bronze, 1900<br />
6. Frau eines Giganten (Gigantova žena),<br />
Bronze, 1914<br />
7. Zigeunerin, Bronze, 1899<br />
Photos: Martin Hlaváček<br />
21
22<br />
Skeptiker mit Weitblick<br />
Jan Švankmajer<br />
Der tschechische Künstler und Regisseur<br />
Jan Švankmajer (*1934) gehört zusammen mit<br />
Miloš Forman zu den bekanntesten tsche chi -<br />
schen Filmemachern. In den fünfziger Jahren<br />
studierte er am Lehrstuhl für Puppen spiel an<br />
der Fakultät für Theater der Aka demie der Mu -<br />
sischen Künste, die er mit der Inszenierung Král<br />
jelenem (König Hirsch) abschloß. Er ließ dabei<br />
Marionetten und Schauspieler mit Masken auf -<br />
treten. Er arbeitete mit Emil Radok zusammen,<br />
einem der Mitgründer <strong>des</strong> legendären Theaters<br />
Laterna Magica in Prag, der ersten tschecho -<br />
slowakischen Bühne, die Theatervorstellung<br />
und Filmprojektion miteinander verband. Er<br />
debütierte mit dem Kurzfilm Poslední trik pa -<br />
na Schwarzwalldea a pana Edgara (1964,<br />
Der letzte Trick <strong>des</strong> Herrn Schwarzewald und<br />
<strong>des</strong> Herrn Edgar) über den obskuren Zwei -<br />
kampf zweier Illusionisten.<br />
In den Keller hinunter (Do sklepa), 1983 Wohnung (Byt), 1968<br />
Faust (Lekce Faust), 1994 Alice (Něco z Alenky), 1987<br />
Das Werk von Jan Švankmajer verrät seine<br />
surrealistischen Wurzeln. Er holt sich An re -<br />
gungen bei Hieronymus Bosch, Sig mund<br />
Freud, Salvador Dalí und einer Reihe an -<br />
derer Künstler und Denker.<br />
„Als ich Mitte der sechziger Jahre anfing,<br />
Filme zu drehen, saß an dem Fischteich,<br />
zu dem ich kam, schon Buñuel und in einer<br />
Bucht fischte Fellini. Es saßen dort aber auch<br />
Mélies, Charles Bowers und ein paar an dere,<br />
ansonsten waren seine Ufer recht verlassen.<br />
Dann kam David Lynch und nach ihm noch<br />
einige und ich befürchte, daß es an diesem<br />
Fischteich so langsam ein Gedränge gibt“,<br />
führte er in einem Gespräch an. Seine<br />
schwarzen Grotesken über den Ver fall der<br />
Jan Švankmajer, bei den Aufnahmen zu seinem bisher<br />
letzten Film Raserei (Šílení)
Möglichkeiten <strong>des</strong> Dialogs (Možnosti dialogu), 1982<br />
modernen Welt dreht er mit Hilfe ein zi g -<br />
artiger Technik. Für seine Trick techni ken<br />
verwendet er Knetmasse, Natur ma te ria lien,<br />
Lebensmittel, Müll und aus ge dientes Spiel -<br />
zeug. Die Bewegungen der Mario net ten<br />
kom biniert er mit Auftritten lebendiger<br />
Schauspieler, Spielfilmszenen mit Doku -<br />
men tarfilmpassagen.<br />
Anatomie der Angst und<br />
Konsumfallen<br />
Švankmajers Kurzfilme lassen sich als<br />
absurde Horrorfilme bezeichnen, deren Hel -<br />
den in die unterschiedlichsten Fallen geraten.<br />
Als einen seiner persönlichsten Steifen<br />
betrachtet er den Film Do sklepa (1983,<br />
In den Keller hinunter), in dem ein kleines<br />
Mädchen ein beklemmen<strong>des</strong> Abenteuer<br />
erlebt. „Das stärkste Angstgefühl überkommt<br />
mich bei Vorstellungen, die ich im<br />
Dunkel plaziere, die Dunkelheit ist für mich<br />
etwas undurchdringliches, am schlimmsten<br />
ist die Dunkelheit, in die ich eintreten soll.<br />
Sie ist für mich ein Raum, der nicht leer<br />
ist, sondern gewissermaßen verdichtet und<br />
hinter jedem Schritt lauert die Gefahr. Mit<br />
unzähligen Abgründen, in die man stürzen<br />
kann, voller wilder Tiere, die sich auf mich<br />
stürzen wollen, voller Teufel, Dämonen und<br />
bösen Leuten, die versuchen, mich zu er -<br />
würgen. Der Keller ist für mich so etwas wie<br />
ein Friedhof, die Kellertür das Tor zwischen<br />
der Welt der Lebenden und dem Totenreich“,<br />
erläutert der Regisseur.<br />
In der Groteske Byt (1968, Wohnung)<br />
wer den Gegenstände, die dem Menschen<br />
normalerweise dienen, lebendig und strafen<br />
den Helden auf ihre eigene Weise. In einen<br />
anderen Streifen aus dem selben Jahr,<br />
Zahrada (Der Garten) besteht die „Hecke“<br />
an der Villa eines selbstgefälligen Möchte -<br />
gernherrschers aus manipulierten Menschen,<br />
Ende <strong>des</strong> Stalinismus in Böhmen (Konec stalinismu v Čechách), 1990<br />
Film<br />
„Alte Magier waren der Ansicht,<br />
daß man den Dämon durch Nennung<br />
seines wahren Namens vertreiben kann.<br />
Das ist mein Ziel. Darin liegt die be -<br />
freiende Botschaft meiner Filme.“<br />
Jan Švankmajer<br />
(*1934)<br />
Filmregisseur<br />
die nicht in der Lage sind, aus dieser Er -<br />
niedrigung auszubrechen. Einen politischen<br />
Akzent, der ihm Probleme mit der kom -<br />
munistischen Zensur einbrachte, haben auch<br />
andere Filme. Der mitreißende Schwank<br />
Možnosti dialogu (1982, Möglichkeiten <strong>des</strong><br />
Dialogs) karikiert die Unmöglichkeit partnerschaftlicher<br />
und gesellschaftlicher Ver -<br />
ständigung. Er entstand in einer Zeit, als offiziell<br />
scheinheilig nach Dialog gerufen wurde,<br />
während in Wirklichkeit jede freie Äußerung<br />
hart verfolgt wurde. In einer anderen er schütternden<br />
Allegorie, Konec stalinismu v Če -<br />
chách (1990, Ende <strong>des</strong> Stalinismus in Böh -<br />
men), die erst nach der „Sanften Revolution“<br />
zu sehen war, schildert Švankmajer die Nach -<br />
kriegs ge schichte der Tschechoslowakei als<br />
ein monströses, der Vernichtung Unschul di -<br />
ger dienen<strong>des</strong> Maschinenwerk.<br />
Švankmajers Schöpfungen durchzieht wie<br />
ein roter Faden das grausam ironische Bild<br />
konsumierender Unersättlichkeit. Eine seiner<br />
suggestiven Miniaturen trägt bezeichnender<br />
Weise den Titel Jídlo (1992, Essen).<br />
In der ersten Episode, Snídaně (Frühstück)<br />
verwandeln sich die Esser in Automaten mit<br />
Bier und Würsten. Im zweiten Teil, Oběd<br />
(Mittagessen) stopfen zwei Nimmersatte<br />
Geschirr, Kleidung und Möbel nacheinander<br />
in sich hinein. Der schlauere der beiden<br />
Vielfraße greift letztendlich seinen „Tisch -<br />
genossen“ mit dem Messer an. In seiner drit-<br />
23
24<br />
Nimmersatt (Otesánek), 2000 Nimmersatt (Otesánek), 2000<br />
ten Mikrogeschichte, Večeře (Aben<strong>des</strong>sen)<br />
gibt Švankmajers seinem Thema ungeheu -<br />
erliche Ausmaße: als „Leckerbissen“ werden<br />
Teile <strong>des</strong> menschlichen Körpers aufgetischt.<br />
Freiheit im Irrenhaus der Zivilisation<br />
Švankmajers fünf abendfüllende Filme<br />
zeichnen sich vor allem durch originelle<br />
Phantasie, unkonventionelle Einfälle und<br />
außerordentliche technische Fertigkeiten<br />
aus. Im ersten, der Kollage Něco z Alenky<br />
(1987, Alice), bearbeitet er das berühmte<br />
Märchen Alice’s Adventures in Wonderland<br />
(Alice im Wunderland) von Lewis Caroll.<br />
In der Allegorie Lekce Faust (1994, Faust)<br />
schuf er nach dem Drama von Goethe und<br />
älteren Vorlagen eine eigenwillige Variante<br />
<strong>des</strong> bekannten Themas. Der Titelheld (dargestellt<br />
von Petr Čepek) streift durch das<br />
heutige Prag wie durch ein geheimnisvolles<br />
Labyrinth. Er dringt in die Kulissen verschie -<br />
denster Theater ein und verwandelt sich in<br />
eine Marionette, beherrscht vom allmächtigen<br />
Teufel . Das Thema <strong>des</strong> dritten Streifens<br />
Letzter Film Švankmajers Raserei (Šílení), 2005…<br />
Spiklenci slasti (1996, Verschwörer der Wol -<br />
lust) sind abartige Formen der Erotik. Sechs<br />
Männer und Frauen suchen sich für die<br />
Befriedigung ihres Libido bizarre Surrogate.<br />
Ihre Prozeduren und Produkte zeigen sich<br />
als Karikaturen neuzeitlicher Fetische. Spik -<br />
lenci slasti ist eine Satire über die herab -<br />
gesunkene Welt der Pornofilme und Erotic-<br />
Shops. Zugleich stellt er Überlegungen zu<br />
dem uralten Dilemma zwischen Begierde,<br />
Freiheit und Manipulation an.<br />
Die Titelfigur <strong>des</strong> Horrors Otesánek (2000,<br />
Nimmersatt), inspiriert durch das gleichnamige<br />
zum Volksmärchen gewordene Märchen<br />
der tschechischen Autorin Božena Němcová,<br />
ist ein scheinbar harmloser Ersatz, den sich<br />
ein kinderloses Ehepaar anstelle <strong>des</strong> ersehnten<br />
Nachwuchses beschafft. Das hölzerne<br />
Wurzelgebilde wird wunderbarerweise le -<br />
bendig und verwandelt sich in ein unersätt -<br />
liches Monster, das seine Umgebung gefährdet.<br />
Die grauenvolle Geschichte verweist auf<br />
die Eigensüchtigkeit unserer Nachkommen<br />
und die Unersättlichkeit der heutigen Zi vi -<br />
lisation. Sie ist auch eine warnende Me ta -<br />
pher der Schändung der uns umgebenden<br />
Natur. Švankmajers neuester Film Šílení<br />
(2005, Raserei) geht auf eine Erzählung von<br />
Edgar Allan Poe und Texte <strong>des</strong> Marquise de<br />
Sade zurück. Die Handlung zeichnet das<br />
Erscheinen <strong>des</strong> Autors auf der Leinwand vor,<br />
bei welchem er die moderne Welt einem Ir -<br />
renhaus gleichsetzt. Der Held <strong>des</strong> provokativen<br />
Geschehens ist ein junger Mann, der mit<br />
einem erlebnishungrigen Adeligen zu sam -<br />
mentrifft und Zeuge <strong>des</strong>sen perverser Rituale<br />
wird. Die zweite Hälfte dieser eruptiven Po -<br />
lemik mit technokratischer Hege monie spielt<br />
sich in einer Irrenanstalt ab. Der Autor öffnet<br />
die Frage, ob man den Patienten Freiheit<br />
gewähren solle, die an zügellose Anarchie<br />
grenzt, oder eine übersichtliche Re gel, be -<br />
gründet auf unmenschlichem Terror.<br />
„Immer mehr gelange ich zu der Überzeugung,<br />
daß die Freiheit als solche nicht exis -
„Nur eine authentische Schöpfung ist in der Lage auf die verwandte Seele <strong>des</strong> Zuschauers zu wirken“,<br />
erklärt der Filmemacher Jan Švankmajer (Mitte)<br />
tiert, es existiert nur eine Befreiung. Und<br />
darauf soll jede Schöpfung, die diesen Na -<br />
men verdient, abzielen, und dies sowohl in<br />
Hinsicht auf den Autor wie auf das Publi -<br />
kum. Das klingt wie ein Paradox, aber nur<br />
ein authentisches Werk birgt die Möglichkeit<br />
in sich, auf die verwandte Seele <strong>des</strong> Zu -<br />
schauers einzuwirken. Die Massenkultur –<br />
insbesondere der Film – trachtet nach dem<br />
Gegenteil“, faßt Švankmajer das Leitmotiv<br />
seines Schaffens zusammen.<br />
Alchimistisches Labor <strong>des</strong> tschechischen<br />
Schamanen<br />
Jan Švankmajer arbeitet bereits seit dreissig<br />
Jahren mit dem Produzenten Jaromír Kallista<br />
(*1939) zusammen. „Wir kennen uns<br />
seit der Mitte der siebziger Jahre. Damals lud<br />
der Bühnenbildner Josef Svoboda mich und<br />
Evald Schorm in das Prager Theater Laterna<br />
Magica ein, wo er als künstlerischer Leiter<br />
tätig war. Und ich sprach Švankmajers einfach<br />
an, dieser beteiligte sich dann an der<br />
prominenten Inszenierung Kouzelný cirkus<br />
(Zauberzirkus)“, erinnert sich Kallista. „Pri -<br />
vate Unternehmungen betrieben wir, inoffiziell,<br />
schon einige Jahre vor dem November<br />
1989. Der Film Něco z Alenky (1987) wurde<br />
ausschließlich von ausländischen Pro du -<br />
zenten finanziert. Nach dem November<br />
gründeten wir die Gesellschaft Athanor,<br />
der Name bezeichnete ursprünglich einen<br />
speziellen Ofen der von Alchemisten benutzt<br />
wurde. 1992 kauften wir ein altes Gasthaus<br />
mit Kino in dem Dorf Knovíz bei Prag.<br />
Wir bauten es in ein Atelier um, und alle<br />
weiteren Filme, angefangen bei Spiklenci<br />
slasti, wurden dort gedreht“, fügt Švank -<br />
majers Pro duzent hinzu.<br />
„Švankmajer hat eine Reihe Anhänger in<br />
aller Welt. Mit Unterstützung verschiedener<br />
Stiftungen oder auf eigene Kosten kommen<br />
sie zu ihm, helfen bei den Dreharbeiten und<br />
sehen Švankmajer bei seiner Tätigkeit zu.<br />
Und oft müssen sie es sich ganz schön hart<br />
abarbeiten. Bei uns machen alle alles, denn<br />
für einen Stab von Assistenten ist kein Geld<br />
da. Ich erinnere mich daran, daß ein junger<br />
Amerikaner bei den Vorarbeiten zu Otesánek<br />
im harten Winter Baumwurzeln ausgrub und<br />
nach Gebilden suchte, die Körperähnlichkeit<br />
aufwiesen. Der Propagator von Švankmajers<br />
Filmen in Japan ist ein gewisser Herr Kasu,<br />
ein Mensch mit den Grundsätzen eines Sa -<br />
murai. Zuerst schrieb er ihm Briefe, zusammengesetzt<br />
aus tschechischen Wörtern. Und<br />
als man endlich reisen durfte, lud er Švankmajer<br />
nach Japan ein.“<br />
Švankmajers Werk hat Kallista zufolge<br />
besondere Dimensionen. „Als wir mit Ote -<br />
sánek in Tel Aviv waren, kam dort die<br />
Judenschaft aus aller Herren Länder zusammen.<br />
Eine der Gestalten in diesem Film<br />
erwägt laut, ob man bei Gefahr Barrikaden<br />
aufbauen oder lieber flüchten solle. Und<br />
sie sagten, daß sie während <strong>des</strong> Holocaust<br />
genau dasselbe erlebt hätten, und daß der<br />
Film über sie sei. Oder eine bizarre Ge -<br />
schichte von einem anderen Ende der Welt.<br />
Ein tschechischer Ethnologe nahm den<br />
Film mit nach Neuguinea, wo ihn die dortigen<br />
Ureinwohner sahen. Und diese sagten,<br />
sie müßten den Schamanen selbst kennenlernen,<br />
der Holz beleben könne, so daß es<br />
Muttermilch trinkt. Und Jan Švankmajer<br />
wird wohl wirklich dort hinfahren, um es<br />
ihnen zu zeigen“, sagt Jaromír Kallista<br />
abschließend.<br />
Jan Foll<br />
Photos: Athanor,<br />
Agentur Kirké<br />
…holt sich Inspirationen bei Edgar Alan Poe<br />
und Marquis de Sade<br />
25
26<br />
František Xaver Thuri<br />
– ein lebender<br />
Barockkomponist<br />
Der Tonsetzer aus einem Geschlecht<br />
alter Weltbürger trägt schon in seinem<br />
Namen ein Aufblitzen einer dahinge -<br />
gangenen Zeit. Der Urheber von Musik,<br />
de ren Schönheit in der Einfachheit, De -<br />
mut und Natürlichkeit liegt, mit der er<br />
den ba rocken Formen nachgeht. Der Er -<br />
n e uerer und Meister rekonstruiert und<br />
setzt mit unvorstellbarer Leichtigkeit<br />
alte Musik in Partituren. Am zutreffendsten<br />
beschrieb ihn wohl sein Freund,<br />
der Tondichter Zdeněk Zahradník, als<br />
er schrieb: „Einer von denen, die außerhalb<br />
ihrer Zeit zur Welt kamen, wie ein<br />
Löwenzahn im Herbst – um dem Mu sik -<br />
schaffen zu helfen, weitere Gene ra tionen<br />
zu überleben.“<br />
František Thuri, getauft auf Xaver, Komponist,<br />
Pädagoge, Konzertkünstler, ist be -<br />
kannt als der „letzte Barockkomponist“. Berühmt<br />
wurde er als einer, der als Fragment<br />
erhaltene Kompositionen durch brillante<br />
Ergänzung instrumentaler Partituren wieder<br />
zum Leben erweckt. Als sein großes Vor -<br />
bild führt er den böhmischen Barock kom -<br />
Musiker beim Festmahl, Johann Jacob Kürner, 1712<br />
Hornisten, Oboisten, Flötenspieler und Fagottist<br />
im Umzug anläßlich <strong>des</strong> Geburtstages<br />
<strong>des</strong> Kronprinzen Joseph, anonym, 1741<br />
ponisten Jan Dismas Zelenka an. Falls er<br />
sich entschließen würde, seine Biographie<br />
niederzuschreiben, wäre einer der möglichen<br />
Titel: Im Dienste von Jan Dismas<br />
Zelenka.<br />
Was ist an Zelenka so besonderes, daß er,<br />
wie Sie sagen, heute von der ganzen Welt<br />
entdeckt wird?<br />
Mit einem Satz? Abschriften von Ze len -<br />
kas Kompositionen hat sich schon Johann<br />
Sebastian Bach beschafft. Die Tatsache,<br />
daß Bach sein Werk so schätzte, bedeutete<br />
für Zelenka als Komponisten eine große Sa -<br />
tisfaktion. An der Verbreitung seines Erbes<br />
arbeite ich natürlich nicht allein. Die erhaltengebliebenen<br />
Tondichtungen wurden un -<br />
abhängig von mir von mehreren Musik -<br />
wissenschaftlern entdeckt. In Zeiten, die<br />
der geistlichen Musik nicht zugetan waren,<br />
habe ich versucht, sie zu rekonstruieren,<br />
aufzuführen und bekannt zu machen. Die<br />
erste Schallplatte mit Werken von Zelenka<br />
entstand unter der Schirmherrschaft <strong>des</strong><br />
anerkannten Dirigenten Václav Neumann.<br />
Zu nennen wäre auch Jaroslav Smolka, der
Bei den Dreharbeiten zu Jakub Jan Rybas Böhmische Christmette (Česká mše vánoční)<br />
für das tschechische Fernsehen, an der Orgel F.X.Thuri<br />
gerade ein dickes Buch über<br />
Zelenka herausgegeben hat,<br />
und nicht zu vergessen Jiří Pi -<br />
lát, ein Musikbegeisterter, der<br />
in einer Zeit, als man von Ze -<br />
lenka nicht das geringste wuß -<br />
te, auf eigene Kosten von Poříčí<br />
nad Sázavou, südlich von Prag,<br />
nach Dresden reiste, um Zelen -<br />
kas Kompositionen abzuschreiben. Mit<br />
einem Laienensemble brachte er sie dann<br />
in der Kirche von Poříčí zur Aufführung.<br />
Ich selbst bin der Ansicht, daß Zelenkas<br />
Musik einen gewaltigen, meditativen Cha -<br />
rakter hat und vielleicht noch eigentüm -<br />
licher ist, als die Musik Bachs. In kompositorischer<br />
wie intellektueller Hinsicht haben<br />
ihre Werke zumin<strong>des</strong>t das gleiche Niveau.<br />
Es ist schade, daß kein Portrait von Ze len -<br />
ka erhaltengeblieben ist. Es gibt Kenner, die<br />
behaupten, er habe sich aus angeborener<br />
Bescheidenheit nicht porträtieren lassen.<br />
Wo überall und von wem wird Zelenka<br />
heute entdeckt?<br />
Das was noch während Zelenkas Tä -<br />
tigkeit am Dresdner Hof in einem Schrank<br />
abgelegt und mit der Aufschrift „alt und<br />
unzeitgemäß“ versehen wurde, erweckt heute<br />
weltweit Interesse. Größtenteils werden<br />
Thuri mit dem Ensemble Pachtova komorní harmonie<br />
Musik<br />
„Ein Empfänglicher wird in Ze len -<br />
kas Musik Vibrationen tiefster Schich ten<br />
<strong>des</strong> Menscheninneren, Echos von miterlebter<br />
Schuld, Schmerzen, Ver zwei flung<br />
und Hoffnungen heraushören können.“<br />
Jaroslav Smolka<br />
(*1933)<br />
Musikwissenschaftler und Komponist<br />
Zelenkas Kompositionen in<br />
west lichen Verlagen heraus -<br />
geben. Sie werden von weltbekannten<br />
Ensembles entdeckt,<br />
die sich auf Bach spezialisiert<br />
haben, an namhaften Persön -<br />
lichkeiten der Musikszene ist<br />
z.B. der Dirigent Helmuth Rilling<br />
zu nennen. Man weiß heute<br />
in diesen Kreisen recht gut, was für ein<br />
Tondichter Zelenka ist und sucht mit<br />
Begeisterung seine Stücke, studiert sie ein<br />
und führt sie auf. Die Musikwelt zollt diesem<br />
böhmischen Komponisten Achtung<br />
und Anerkennung.<br />
Die böhmische Barockmusik und das<br />
Vermächtnis ihrer Schöpfer machen in<br />
gewisserweise den Sinn Ihres Lebens<br />
aus. Wie haben sie die Zeiten überbrückt,<br />
die zwischen Ihnen liegen?<br />
Erlauben Sie mir, ihnen symbolisch mit<br />
einer kurzen Geschichte zu antworten. Ich<br />
reiste einst oft nach Louňovice pod Bla -<br />
níkem (Louňowitz), wo Zelenka geboren<br />
wurde. Mit dem dortigen Pfarrer Václav<br />
Oktábec, der ebenfalls dazu beitrug, daß<br />
Zelenka aus der Vergessenheit auftauchte,<br />
war ich gut bekannt. So wurde ich zur Öffnung<br />
der Krypta in der Ortskirche eingela-<br />
27
28<br />
den, wo die sterblichen Überreste von Ze -<br />
lenkas Vater, Jiří Zelenka Bavorský, eines<br />
zeitgenössischen Geistlichen, Ignác Kome -<br />
nius (Neffe von Johann Amos Comenius)<br />
und anderer ihre letzte Ruhestätte gefunden<br />
haben. Als wir in die Krypta hinabstiegen,<br />
sah ich auf dem Boden verstreute Gebeine,<br />
die aus bemalten Särgen herausgefallen<br />
waren, ausgebleicht und zerfallen durch die<br />
Jahrhunderte. Als ich dann zu der Truhe<br />
mit der Aufschrift Jirzi Zelenka kam, be -<br />
mächtigte sich meiner das intensive Gefühl,<br />
daß mir Gott mit Gnade winke und mich<br />
(weil ich Zelenka als Komponisten au frich -<br />
tig liebe) hierher kommen ließ, wohl in der<br />
Rolle eines Familienmitglieds, Zelen kas Aller -<br />
nächstem. Jan Dismas hatte nämlich nicht<br />
am Begräbnis seines Vaters teilneh men<br />
können. Als dieser starb, war er gerade in<br />
Dresden fest angestellt. Auf <strong>des</strong> Vaters Tod<br />
reagierte er mit der Kompo si tion De profundis<br />
und ließ sie in Dresden aufführen.<br />
Vor den Überresten von Zelen kas Vaters verneigte<br />
ich mich voller Ehr furcht und sagte<br />
auch für Jan Dismas: „Vater, wir sind da.“<br />
Sie holen aber auch andere alte „Meister<br />
der Musik“ aus der Vergessenheit?<br />
Ich bin Propagator <strong>des</strong> umfangreichen<br />
Musikerbes von Jan Evangelista Kypta, vor<br />
allem seiner wunderbaren Missa pastoralis.<br />
Diese hatte Texte in tschechischer Sprache<br />
und galt seinerzeit als die mährische Version<br />
der České mše vánoční (Böhmische Christ -<br />
mette) von Jakub Jan Ryba. Kypta-Tradition<br />
wird bis heute an seiner Wirkungsstätte, in<br />
Telč, gepflegt. Interesse an seiner Missa pastoralis<br />
zeigten unlängst tschechische Lands -<br />
leute in Schweden, sie studierten sie ein und<br />
führten sie bereits zu Weihnachten auf.<br />
Sie sagen, daß es Ihnen nicht schwer<br />
fällt, alte Musik zu restaurieren. Sie sind<br />
Der Barockschrank in Thuris Wohnung ist voller Notenmaterial aus der Barockzeit.<br />
z.B bekannt als Erneuerer der Or -<br />
gelkonzerte von Jan Václav Stamic, die<br />
sie gemeinsam mit dem Komponisten<br />
Antonín Myslík rekonstruierten?<br />
Von dem Material, daß zu Stamics Leb -<br />
zeiten herausgegeben wurde, blieb nur ein<br />
Torso erhalten. Im Prinzip fehlte alles –<br />
Violine, Viola, Cello, Bass, Blasinstrumente<br />
F.X.Thuri dirigiert sein Konzert für Dudelsack, welches ihm den ersten Preis auf dem Dudelsack-Festival<br />
in Strakonice (Strakonitz) einbrachte<br />
… Diese Arbeit nahm Antonín Myslík in<br />
Angriff, starb aber vor dem Abschluß. Sechs<br />
Konzerte vollendete er, sechs ich.<br />
Könnten Sie mir etwas zu Ihren eigenem<br />
„Barockschöpfungen“ sagen?<br />
Manche Leute können nicht begreifen,<br />
daß ich im Stil <strong>des</strong> Barock komponiere.<br />
Ich selbst zwinge mich nicht dazu, ahme<br />
nichts nach. Ich stehle keinem anderen<br />
seine Gedanken, nur ist meine eigene<br />
Musik von einer längst vergangenen Zeit<br />
beeinflußt. Manchmal scheint es mir, als sei<br />
ich nur aus Versehen in diese Zeit geraten,<br />
der Stil <strong>des</strong> Barock strömt mir aus dem<br />
Herzen. Wenn es sich also darum handelt,<br />
fehlende Instrumente in den Musik stücken<br />
jener Zeit zu ergänzen, habe ich wirklich<br />
kein Problem damit.<br />
Was halten Sie selbst für Ihren größten<br />
Erfolg auf dem Gebiet der Musik?<br />
Wenn eine Komposition gespielt wird,<br />
bei welcher die Cembalopartitur verloren<br />
gegangen ist, orientiere ich mich so gut
darin, daß ich ihn ganz einfach improvi -<br />
sieren kann, und dies auch direkt bei einer<br />
Aufnahme. So soll es zwischen den Prager<br />
Musikern heißen: „Fehlt das Cembalo<br />
… so ruft doch František, der spielt es.“<br />
Kaum einer weiß, daß Jazzimprovisationen<br />
auf dem Klavier den Cembalosätzen im<br />
Barock vom Stil her ähneln.<br />
Um die Wahrheit zu sagen, habe ich er -<br />
wartet, Sie auf einem Landgut mit Ba -<br />
rockfassade anzutreffen. Nun sehe ich<br />
ihr einfaches Arbeitszimmer in einer Neu -<br />
bauwohnung, die einzige Remi nis zenz an<br />
den Barock sind ein alter Schrank und<br />
ein Kruzifix an der Wand.<br />
Gerade haben sie die Quellen meiner<br />
Inspiration aufgezählt. Am Abend setze ich<br />
mich, blicke eine Weile auf das Kruzifix,<br />
eine Weile auf den Schrank mit den schönen<br />
handgemalten Volksmotiven und weiß nichts<br />
mehr von der Welt um mich herum. An der<br />
heutigen Zeit stört mich nicht die überall<br />
vorherrschende Technik – ich bin ein großer<br />
Flugzeugfan. Ich frage mich vielmehr, wo<br />
die menschliche Güte hingekommen ist.<br />
Autograph F.X.Thuris<br />
Wie wird Ihre Musik honoriert?<br />
Wissen Sie, ich komponiere für ein<br />
gutes <strong>Wort</strong> und zur Freude. Meine Kom -<br />
positionen schreibe ich, weil ich den Drang<br />
dazu verspüre (er lacht). Schließlich und<br />
endlich steht fest, daß Zelenka der am<br />
schlechtesten besoldete Musiker in der<br />
Dresdener Kapelle war. Obwohl, dieser<br />
Ba rockschrank war eigentlich das Hono -<br />
rar für eines meiner Stücke.<br />
Besten Dank für das Interview und reiche<br />
Inspiration und Schaffensfreude.<br />
Redaktion<br />
Photos: Zdeněk Zahradník, Archiv F.X. Thuri,<br />
Archiv Redaktion<br />
Fortgesetzt wird die Familientradition durch Thuris Sohn Jan Nepomuk (Oboist), der als erfolgreicher<br />
Interpret der Werke seines Vaters bekannt ist.<br />
29
30<br />
Der größte Tscheche<br />
aller Zeiten<br />
Als bei der Umfrage nach dem „größten<br />
Tschechen“ Jára Cimrman konkurrenzlos<br />
die Mehrzahl der Stimmen erhielt, ka men<br />
einige ausländische Medien nicht<br />
aus dem Staunen heraus. Der<br />
größte Tscheche – eine ausge -<br />
dachte, nicht existente Persön -<br />
lich keit? Unvorstellbar. In Tsche -<br />
chien hingegen hat dieses Er -<br />
gebnis wohl niemanden allzu<br />
sehr überrascht. Jára Cimrman<br />
wurde in den vierzig Jahren<br />
seiner fiktiven Existenz zum<br />
nationalen Phänomen.<br />
Alles begann am 23. De -<br />
zember 1966, als der tschechische<br />
Wissenschaftler Dr. Hedvábný in<br />
einer Direktübertragung <strong>des</strong> Tschechoslowakischen<br />
Rundfunks aus<br />
der „Alkoholfreien Weinstube U pa-<br />
Cimrmans Meisterschaft im Kartenspiel hat ihre Wurzeln in der Kindheit. Die Sonntage verbrachte<br />
er nicht selten als Schiedsrichter bei den „Mariagewettkämpfen“ seines Vaters mit <strong>des</strong>sen<br />
aufmüpfigen Schwager Fritz Hübner (rechts), in der Familie Schnellkochtopf (Papiňák) genannt<br />
Schicksalhafte Photographie, die Cimrman mit Selbstauslöser bei einem Inkognito-<br />
Ausflug mit Frau Oberförster Schmoranzová aufnahm. Als ihr angetrauter Mann<br />
das Photo entdeckte, trennte er Cimrman von seiner Gemahlin ab.<br />
vouka“ (Zur Spinne) die Auffindung eines Sar -<br />
ges mit den Überresten <strong>des</strong> vergessenen tschechischen<br />
Genius verkündete. Damals ahnte nie-<br />
Den dritten Auftritt (2. Akt) von Cimrmans Stück Blaník übten Mitglieder <strong>des</strong><br />
Turnvereins Sokol, Gau Benešov, zu den Vorfeierlichkeiten anläßlich <strong>des</strong><br />
Sokolvorturnfestes ein. Auf Antrag <strong>des</strong> Turnlehrers Jandera fügte Cimrman<br />
Rollen für Wichtel hinzu, damit auch Schulkinder auftreten konnten.<br />
mand, daß eine Gestalt auf der „Bühne“ er -<br />
schien, die vier Jahrzehnte später bei der Mei -<br />
n ungsumfrage nach der größten Pers önlichkeit<br />
der tschechischen Geschichte Prä -<br />
sidenten, Könige und Kaiser hinter<br />
sich lassen sollte. Schon die<br />
Umstände ihrer Geburt waren be -<br />
zeichnend. Die Weinstube U pa -<br />
vouka hat es nie gegeben und<br />
Dr. Hedvábný war nichts anderes<br />
als das Pseudonym <strong>des</strong> bekannten<br />
tschechischen Jazzers Karel Ve -<br />
lebný. Die ganze Sendung war<br />
nicht weiter als eine ulkhafte Mys -<br />
tifikation, mit der sich eine Grup -<br />
pe Rundfunkbegeisterter einen<br />
Spaß erlaubte. Jára Cimrman kam<br />
dabei gar keine wichtige Rolle<br />
zu. Es ging um eine ausgedachte<br />
Rand figur – zum einmaligen Ge -<br />
brauch bestimmt. Später aber versetzten<br />
ihn seine Erfinder in die<br />
Olympiastadion London. Als Cimrman die Aussicht vom „Schaukelturm Flip-Flap“<br />
genoß, erfand er Wachspapiertüten zum Gebrauch bei Unwohlsein, die dann später<br />
in die Luftfahrt Einzug hielten.<br />
Photoatelier der Wiener Polizei – Cimrmans Traumjob. Aus der Abteilung<br />
„Fixierbad“ im benachbarten Labor schaut er nur neidisch hinüber. Er erinnert<br />
sich in seinem Handbuch „Nasser Prozeß“ (Mokrý proces) daran.
Der Ballon „Prag“ hebt auf dem Messegelände in Prag-Holešovice ab, um nach knapp zwei Flugstunden auf einer<br />
Wiese bei Poděbrady (Podiebrad, 50 km von Prag entfernt) zu landen. Im Korb gefangen war Ingenieur Stoupa aus<br />
Čáslav, dem Cimrman seinen Flugkompaß geborgt hatte, was Stoupa allerdings später abstritt.<br />
Zeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahr -<br />
hundert, die im Zeichen politischen Wandels<br />
und fast aller wichtiger moderner Ent deckun -<br />
gen, Kunstrichtungen und wissenschaftlichen<br />
Disziplinen stand. Die Radio sendungen fanden<br />
bei den Zuhörern ungeahnten Anklang.<br />
Ein Teil der Rundfunkteilnehmer schüttelte<br />
zwar ungläubig den Kopf angesichts <strong>des</strong>sen,<br />
was ihnen hier mit größter Ernst haf tig keit vorgesetzt<br />
wurde, die Mehrzahl allerdings amü -<br />
sierte sich köstlich. Von diesem Zuspruch<br />
bestärkt schrieb Jiří Šebánek ein Manifest über<br />
die Gründung <strong>des</strong> Jára Cimrman-Theaters,<br />
<strong>des</strong>sen Gründungsmitglieder Miloš Čepelka,<br />
Ladislav Smoljak und Zdeněk Svěrák wurden.<br />
Die Entscheidung, Cimrman ins Rampen -<br />
licht zu stellen, war mehr als gewagt. So gut<br />
wie keiner aus dem Kreis der Erfinder ver -<br />
fügte über praktische Erfahrungen mit dem<br />
Theater. Das Ensemble, welches sich hier an -<br />
schickte, „die Bretter, die die Welt bedeuten“<br />
zu betreten, hatte weder Schauspieler noch<br />
Repertoire, ja nicht einmal ein Theater. Und<br />
zu allem Überfluß hatte es kurz vor der lange<br />
avisierten Prämiere nicht einmal ein Stück!<br />
Ursprünglich sollte das Prämiereprogramm<br />
aus zwei Einaktern bestehen. Aber während es<br />
Zdeněk Svěrák schaffte, sein Stück aufs Papier<br />
zu bringen, war dies beim Autor <strong>des</strong> Cimr -<br />
man-Manifests Jiří Šebánek keineswegs der<br />
Fall. Es gelang ihnen allerdings, aus der Not<br />
eine Tugend zu machen. Die Cimrman-Paten<br />
Zdeněk Svěrák<br />
Ladislav Smoljak<br />
Gesellschaft<br />
Durch Verschuldung <strong>des</strong> Matrikel -<br />
führers <strong>des</strong> IV. Wiener Pfarrsprengels<br />
Franz Huschek, der die meisten Ein träge<br />
im Zustand schwerer Trunkenheit vorzunehmen<br />
pflegte, läßt sich bis heute nicht<br />
mit Sicherheit sagen, ob dem Ehe paar<br />
Marlen und Leopold Cimr man ihr<br />
Söhnchen in der frostigen Februar nacht<br />
<strong>des</strong> Jahres 1856, 1864, 1868, 1883 bzw.<br />
1884 geboren wurde. So können wir auch<br />
dieses Jahr den 140. Geburt stag von Jára<br />
Cimrman wohlbegründet begehen.“<br />
entschieden sich, daß fehlende Theaterstück<br />
durch ein Seminar über Leben und Werk <strong>des</strong><br />
fiktiven Genies zu ersetzen und stellten sich<br />
selbst als „Wissenschaftler“ auf die Bühne, die<br />
vor den kritischen Blicken der Zuschauer versuchen<br />
würden, <strong>des</strong> Meisters Werk zu rekons -<br />
truieren. Dank dieses ungewöhnlichen Vor -<br />
gehens mußten sich die Mitglieder <strong>des</strong> neu -<br />
gegründeten Theaters nicht um einen traditionellen<br />
Bühnenauftritt bemühen. Sie konnten<br />
gewissermaßen sie selbst bleiben, was in der<br />
Praxis bedeutete etwas hölzern, aber vor allem<br />
sachlich, seriös und vollkommen authentisch.<br />
Das Jára Cimrman-Theater wurde von Fachwie<br />
Laienwelt enthusiastisch aufgenommen.<br />
Die Kritik lobte die Originalität, die Zuschauer<br />
hatten ihren Spaß an der spielerischen Mys ti -<br />
fikation. Die amateurhafte Bühnenleistung der<br />
einzelnen Ensemblemitglieder traf auf liebenswürdiges<br />
Verständnis beim Publikum. „Die<br />
Schauspieler nahmen sich ihrer Rollen mit Be -<br />
geisterung und äußerster Bereitwilligkeit an“,<br />
war in gutmütiger Anspielung auf die Laien -<br />
künste der Darsteller in der Tagespresse zu<br />
lesen. Den größten Zuspruch fanden die Se -<br />
minare, die Leben und Schaffen <strong>des</strong> Meisters<br />
analysierten. Die Persönlichkeit <strong>des</strong> universellen<br />
Alleskönners, den immer wieder nur un -<br />
glückliche Zufälle daran hindern, durch sein<br />
durchdringen<strong>des</strong> Wissen und Talent Welt -<br />
berühm theit zu erlangen, fand bei den Zu -<br />
schauern mit der Erfahrung <strong>des</strong> immer wieder<br />
Beide sind nicht nur als die geistigen Väter Jára Cimrmans bekannt, sondern auch als hervorragende Drehbuchautoren, Regisseure und Schauspieler<br />
31
32<br />
in den Schatten gestellten Mitteleuropäers<br />
augenblicklich Anklang. Gleichsam zwischen<br />
den Zeilen der Cimrmanschen Vorlesung klang<br />
hindurch: „Wir sind brillant, begabt und un -<br />
gewöhnlich fähig, nur am Ende geht es irgendwie<br />
immer in die Hosen.“ Das Spiel vom miß -<br />
brauchten Genie funktionierte phantastisch.<br />
Allerdings herrschte die Meinung, daß diese<br />
einfallsreiche Show nicht bis in Unendliche aus -<br />
zudehnen sei. Selbst die größten Opti mis ten<br />
gaben dem Theater zwei, höchstens drei Jahre.<br />
Als nach der Premiere <strong>des</strong> ersten Stücks Akt<br />
jemand vorschlug, die Darsteller sollten sich<br />
doch Kostüme beschaffen, kam von der Ehe -<br />
frau Zdeněk Svěráks die höchst erstaunte Frage:<br />
„Ihr wollt das wirklich noch mal spielen?“<br />
Seit dem sind vierzig Jahre vergangen, das<br />
Jára Cimrman-Theater hat inzwischen mehr<br />
als 11 000 Aufführungen hinter sich und verkaufte<br />
in dem nur zehn Millionen Einwohner<br />
zählenden Tschechien mehr als 1 Million Ton -<br />
träger. Nicht ein einziges der vierzehn Thea ter -<br />
stücke <strong>des</strong> Autorenpaares Ladislav Smoljak<br />
und Zdeněk Svěrák wurde bisher aus dem<br />
Re pertoire gestrichen, was die Einzigartigkeit<br />
dieser Bühne belegt. Der Weg zu diesem Er -<br />
folg war allerdings reichlich verzwickt. Die<br />
kom munistische Bürokratie beobachtete das<br />
seltsame Theaterunternehmen mit beachtlichem<br />
Unmut. Die Handlung war zwar in den längst<br />
vergangenen Zeiten der österreichisch-unga -<br />
rischen Monarchie angesiedelt und konnte<br />
<strong>des</strong>halb die „Errungenschaften“ der sozialis-<br />
Der Schauspieler Jan Hraběta ist Rollstuhlfahrer. In dem Stück Vertretung (Záskok)<br />
spielt er einen neugierigen Geistlichen, dann immer dann aus den Kulissen hervorgerollt<br />
kommt, wenn die Handlung auf der Bühne ins Stocken gerät<br />
In der Oper Erfolg <strong>des</strong> tschechischen Ingenieurs in Indien (Úspěch českého<br />
inženýra v Indii) wagen sich die Schauspieler mutig an Opernarien heran.<br />
tischen Revolution in keiner Weise angreifen,<br />
allerdings erzeugten den Zensoren unverständliche<br />
Lachausbrüche <strong>des</strong> Publikums spürbare<br />
Nervosität beim Regime. Die Ungunst der<br />
Macht haber zeigte sich besonders darin, daß<br />
das Theater ständig gezwungen wurde, von<br />
einem Gebäude ins andere umzuziehen, immer<br />
weiter weg von der Prager Innenstadt. Aber<br />
das Publikum fand sein Theater immer wieder.<br />
Den Theateralltag im Sozialismus und das endlose<br />
Tauziehen seiner Protagonisten mit der Zen -<br />
sur hält ein Dokumentarfilm mit dem denkwürdigen<br />
Titel Nejistá sezóna (Unsichere Saison)<br />
fest. Auf dem Zelluloidstreifen tritt am Ende Cimr -<br />
man selbst auf. Das Tabu <strong>des</strong> Cimr man schen<br />
Aussehens schien anfangs durch die Film auf -<br />
nahmen bedroht zu sein, Smoljak und Svě rák<br />
spielten sogar mit dem Gedanken, den Haupt -<br />
helden auf der Leinwand nicht richtig sehen<br />
zu lassen. Am Ende wurde eine nüch ternere<br />
Va riante gewählt und der Meister wird in dem<br />
Film Jára Cimrman le žící spící (Jára Cimr man<br />
liegend schlafend) von Zdeněk Svěrák ge spielt.<br />
So blieb die ur sprüngliche Theater kon vention<br />
erhalten, der opferbereite Wissen schaft ler<br />
macht unter Ein satz <strong>des</strong> eigenen Le bens den<br />
Zuschauern das Erbe <strong>des</strong> Meisters zugäng lich.<br />
Das ur sprün gliche Tabu blieb gewahrt.<br />
Nach dem Fall <strong>des</strong> kommunistischen Re -<br />
gimes zog das Theater noch einmal um, zum<br />
letzten Mal – und diesmal aus freien Stücken.<br />
In den eigenen Räumen und unter freiheit -<br />
lichen Bedingungen begann das erfolgreichste<br />
Im Drama Blaník (:böhmischer Kyffhäuser) treten Ritter<br />
aus der böhmischen Mythologie auf<br />
(Von links) Ladislav Smoljak, Zdeněk Svěrák und Miloš Čepelka in der Operette<br />
Gasthaus Zur Lichtung (Hostinec Na mýtince)<br />
Die Handlung <strong>des</strong> Stückes Platzregen (Lijavec) ebenso wie Cimrman<br />
selbst versetzten die Autoren in eine Herberge für Reisende.
Stadium seines Bestehens. Schon vierzig Jahre<br />
lang ist es ununterbrochen ausverkauft. Beim<br />
Vorverkauf steht man nach wie vor stundenlang<br />
Schlange. Die Armee der Zuschauer<br />
er weitert sich Generation um Generation,<br />
neben den Fans im Alter der Theatergründer<br />
stehen ihre Kinder und Kin<strong>des</strong>kinder. Auf<br />
der offiziellen Webseite treffen immer mehr<br />
be geisterte Zuschriften kaum erwachsener<br />
Theaterliebhaber ein. Es ist kaum zu glauben,<br />
wieviele tschechische Kinder abends nicht beim<br />
Klang eines Märchens einschlafen, sondern<br />
bei ein em Seminar, daß an eine trockene wissenschaftliche<br />
Tagung alter Herren gemahnt.<br />
Vielleicht zieht die Kinder der Mythos <strong>des</strong><br />
unerkannten Genies an, das immer wieder im<br />
Kampf um persönliche Anerkennung unter -<br />
liegt, vielleicht der Glanz der untergegangenen<br />
Welt ihrer Großeltern.<br />
Jára Cimrman stellt in Tschechien ein ähn -<br />
liches Phänomen dar, wie anderswo in der<br />
Welt der Yeti oder Nessi, das Ungeheuer von<br />
Loch Ness, Es scheint, als gäbe es ihn tatsächlich,<br />
niemand hat ihn gesehen, doch jeder<br />
kennt ihn. Er hinterläßt auch ähnliche Spuren.<br />
Genau wie bei Nessi geht es oft um Photo -<br />
graphien, auf welchen das betreffende Objekt<br />
eben tatsächlich noch zu sehen war, oder wie<br />
beim Schneemenschen, wo es sich im wahr-<br />
Ladislav Smoljak und Zdeněk Svěrák im Theaterstück<br />
Hostinec Na mýtince<br />
sten Sinne <strong>des</strong> <strong>Wort</strong>es um Fußspuren handelt.<br />
Der Fußabdruck von Jára Cimrman in Beton<br />
ziert übrigens den Bürgersteig vor der tschechi -<br />
schen Vertretung in Brüssel. Eine weitere Spur<br />
hinterließ er in der tschechischen Botschaft<br />
in London. Auf der dortigen Gedenktafel ist<br />
bezeichnenderweise zu lesen: „Auf der Stiege<br />
dieses Hause… stieß sich im Jahre 1908 der<br />
tschechische Genius Jára Cimrman am Knie.<br />
Deshalb kam ihm auf dem Patentamt T.A.<br />
Edison mit der Erfindung <strong>des</strong> Helikopters<br />
zuvor, und <strong>des</strong>halb überholten ihn bei den<br />
Im neuesten Stück Afrika trifft die tschechische<br />
Expedition auf dem schwarzen Kontinent auf gewiefte<br />
Einheimische.<br />
Londoner Olympischen Spielen die Athleten<br />
der anderen Nationen im Marathon.“<br />
Cimrmans Popularität entzieht sich allen<br />
Ge wohnheiten der modernen Welt. In der Zeit<br />
der PR-Agenturen und Medienriesen treten<br />
die Vertreter dieses Theaters mit altväterischer<br />
Zurückhaltung auf. Sie lehnen es ab, in Fern -<br />
sehshows aufzutreten, enthalten sich Werbe -<br />
veranstaltungen und ihre größte Sorge ist es,<br />
das Interesse der Medienwelt in gewisse Schranken<br />
zu verweisen. Vergeblich.<br />
Das Phänomen Jára Cimrman breitet sich<br />
spontan in Richtungen aus, die gestern noch<br />
unvorstellbar schienen. Cafés werden nach<br />
ihm benannt, Straßen, Naturlehrpfade, aber<br />
auch Käfer, außerirdische Objekte und Berg -<br />
gipfel! Cimrman hat seinen Berg im Altai ge -<br />
birge und seinen Planeten, eben erst am Ster -<br />
nen himmel entdeckt. Nicht nur ins Weltall ist<br />
er vorgedrungen, sondern auch in die tsche -<br />
chische Umgangssprache. Zitate aus seinen<br />
Stücken sind in Tschechien überall zu hören,<br />
in Schulbänken, Nachrichtenagenturen und im<br />
Parlament. Mit Zitaten aus „Cimrman“ spickt<br />
sogar der gegenwärtige tschechische Premier<br />
seine Reden. Titel wie „Das hätte nicht einmal<br />
Cimrman ausgedacht!“ findet man in der tschechischen<br />
Presse, Aussprüche wie „Da haben<br />
Sie aber einen Cimrmanschen Schritt seitwärts<br />
getan“, sind in den Fernsehdebatten politischer<br />
Parteiführer zu hören. Gibt man „Cimrman“<br />
als Stichwort bei google.com ein, erhält man<br />
rund 286tsd. Links. Stellt sich die Frage,<br />
warum man das tun sollte. Hier in Tschechien<br />
weiß man über Cimrman alles. Und will ein<br />
Ausländer etwas über Cimrman wissen, so<br />
muß er nur einen der zehn Millionen tschechischen<br />
Insider fragen.<br />
Kurz gesagt, das Phänomen Cimrman<br />
nimmt globale Ausmaße an. Um es mit den<br />
<strong>Wort</strong>en seiner „Entdecker“ zu sagen: „Wir<br />
können dem zustimmen, wir können dagegen<br />
polemisieren, aber das ist wohl das einzige,<br />
was wir damit machen können.“<br />
David Smoljak<br />
Photos: Archiv Jára Cimrman-Theater<br />
33
34<br />
Der verlorene Sohn<br />
kehrt heim<br />
Quido Kocián<br />
Der Bildhauer Quido Tomáš Kocián<br />
(<strong>des</strong>sen Statuen in der Galerie auf Seiten<br />
20-21 zu finden sind) wurde am 7. März<br />
1874 in Ústí nad Orlicí (Wildenschwert)<br />
in der Familie <strong>des</strong> Tuchmachers Roman<br />
Kocián und seiner Frau Amálie geboren.<br />
In Ústí besuchte er die Volks- und Bür -<br />
gerschule und kam 1889, auf Em pfehlung<br />
seines Lehrers, auf die Bildhauer-Stein -<br />
metzenschule in Hořice (Hořitz) im Rie -<br />
sengebirgsvorland, die Ausbildung schloß<br />
er 1893 ab. Von Hořice führte Kociáns<br />
Weg auf die Kunstgewerbeschule in Prag,<br />
in die Werkstatt von Prof. Celda Klouček.<br />
1896 wechselte er zu Prof. Josef Václav<br />
Myslbek über, der ihn im darauffolgenden<br />
Jahr (1897) mit auf die Akademie für<br />
Bildende Künste nahm, an der Kocián die<br />
erste bedeutende Ehrung zufiel. Seine<br />
Sta tue der mythischen tschechischen Amazone<br />
Šárka erhielt 1898 den Jahrespreis<br />
der Akademie, und die zeitgenössische<br />
Fachkritik meinte, der Schüler übertreffe<br />
seinen Meister. Myslbek fühlte sich be -<br />
troffen, und der hochsensible Kocián, der<br />
an der nunmehrigen Mißgunst <strong>des</strong> Mei -<br />
sters schwer zu tragen hatte, verließ 1899<br />
die Akademie und richtete sich ein eigenes<br />
Atelier in Prag ein. 1901 modelliert er<br />
eine seiner besten Statuen, den bronzenen<br />
Toten Abel vor der Bildhauer-und-Stein -<br />
Kranke Seele, Detail, Bronze 1903<br />
metzenschule in Hořice, die bei der Kritik<br />
auf lebhaftes Echo stieß und ihm die Ver -<br />
söhnung mit Myslbek einbrachte. 1902<br />
erhielt Kocián für eben dieses Werk den<br />
Klar- und den Römischen Preis verliehen<br />
und begab sich auf Stipendienreise nach<br />
Italien. 1904 besuchte Kocián Paris, wo<br />
er mit Auguste Rodin und Emil Antoine<br />
Bourdelle zusammentraf. 1906 trat er<br />
einen Lehrerposten an der Bildhauer-und-<br />
Steinmetzenschule in Hořice an und verließ<br />
Prag für immer. An der Hořitzer<br />
Schule blieb er bis 1928 im Dienst, wo er<br />
am 3. Januar an Herzschlag starb.<br />
Kociáns Œuvre blieb jahrzehntelang<br />
unverdientermaßen unbeachtet, obwohl<br />
es zu Gipfelleistungen der 1. Hälfte <strong>des</strong><br />
20. Jh. hierzulande zählt. Erst in letzten<br />
Jahren ist es gelungen, den wesentlichen<br />
Teil seines Werkes in Bronze zu gießen.<br />
Gegenwärtig wird in seiner Vaterstadt ein<br />
großzügiges Projekt unter dem Namen<br />
„Heimkehr <strong>des</strong> verlorenen Sohnes“ in An -<br />
griff genommen, in <strong>des</strong>sen Rahmen die<br />
meisten seiner Statuen Innen- wie Außen -<br />
räume der Stadt beleben sollen. Wenn<br />
das Vorhaben gelingt, wird der tschechi -<br />
schen Bildhauerkunst ein Denkmal ersten<br />
Ranges gesetzt.<br />
Josef Hlávka-<br />
Jubiläumsjahr<br />
Die Tschechische Akademie der Wissen -<br />
schaften eröffnete am 4. Januar mit einem<br />
Konzert der Tschechischen Philharmonie<br />
das Josef Hlávka-Jubiläumsjahr. Seit dem<br />
Tod <strong>des</strong> bedeutenden Architekten und Mä -<br />
zenen von Kunst, Bildung und Wissenschaft<br />
jähren im März 100 Jahre. Hlávka tat sich<br />
als einer der erfolgreichsten Unternehmer<br />
der 2. Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts hervor.<br />
Er war auch der erste Präsident der dama -<br />
ligen Tschechischen Akademie für Künste,<br />
Lite ratur und Wissenschaften (Česká aka -<br />
demie pro vědy, slovesnost a umění), aus der<br />
die heutige Akademie der Wissenschaften<br />
hervorging. Hlávkas Aktivitäten bereicherten<br />
das Kulturerbe der Nationen Tsche chiens,<br />
Österreichs sowie der Ukraine.<br />
Die UNESCO stellte den Jahrestag auf<br />
die Liste der diesjährigen Weltkultur ju bi läen.<br />
Auf dem Programm stehen Vorträge über<br />
Hlávka, die feierliche Enthüllung seiner Büste<br />
im Nationalmuseum Prag, Kon zerte, Work -<br />
shops und Ausstellungen. Die Tsche chische<br />
Nationalbank läßt eine silberne Ge denk -<br />
münze prägen. Die Feierlich kei ten wer den<br />
von der Tschechischen Akademie der Wis -<br />
senschaften und der Stiftung Nadání Josefa,<br />
Marie a Zdeňky Hlávkových veranstaltet. Beteiligt<br />
sind namhafte tschechische Kultur -<br />
institutionen und Hochschulen, dar unter<br />
etwa die Karls-Universität, die Tsche chische<br />
Technische Hochschule, die National galerie<br />
Prag und die Tschechische Philharmonie.<br />
Staatsgrenzen nach<br />
700 Jahren nur noch<br />
unsichtbar<br />
Am 21. Dezember 2007 trat Tsche -<br />
chien dem Schengen-Raum bei. Mit<br />
diesem Tag wurden die Grenz kon trol -<br />
len abgeschafft. Eine Vorstellung, die<br />
vor 1989 pure Utopie zu sein schien,<br />
wurde Wirklichkeit – die Grenzen mit<br />
Deutschland, Österreich, Polen und der<br />
Slowakei sind wann und wo auch<br />
immer passierbar, auch außerhalb der<br />
bisherigen Grenzübergänge. Vom März<br />
2008 an werden auch Grenzkontrollen<br />
auf internationalen Flughäfen bei Rei -<br />
sen im Schengen-Raum abgeschafft.<br />
Manche Zoll- und andere Bestim mun -<br />
gen etwa Transport von Alkohol, Taba kerzeugnissen<br />
und Tieren betreffend<br />
bleiben weiterhin in Kraft.<br />
In der 40 Jahre währenden Ära <strong>des</strong><br />
realexistierenden Sozialismus war eine<br />
Reise in den kapitalistischen Westen<br />
kaum denkbar. Die Grenzzonen wurden<br />
von schwer bewaffneten Grenzsoldaten<br />
schärfstens bewacht, die bereit waren,<br />
im Falle einer etwaigen „Grenz ver -<br />
letzung“ den Schießbefehl zu befolgen.<br />
Auf Beschluß der Parteiführung wurde<br />
die Staatsgrenze mit unter Hoch span -<br />
nung stehendem Stacheldraht versehen.<br />
Die Schranke zwischen dem tschechischen Habartice<br />
(Ebersdorf) und dem polnischen Zawidov (Seidendorf)<br />
fiel genau um Mitternacht zwischen dem 20. und dem<br />
21. Dezember 2007, im Augenblick der Eingliederung<br />
Tschechiens in das Schengen- Abkommen.<br />
Photo: Tschechische Pressekonferenz ČTK<br />
Der Bürger, der gen Westen ausreisen<br />
wollte, mußte diverse amtliche Pro ze -<br />
duren über sich ergehen lassen – und<br />
das zumeist erfolglos. Bei etwaiger Re -<br />
gimekritik wurde der Paß entzogen,<br />
und man mußte zu Hause hocken. Die<br />
Wende brachte erst der Sturz <strong>des</strong> kommunistischen<br />
Regimes im November<br />
1989. Am 23. Dezember 1989 wurde<br />
der Stacheldraht an der westlichen<br />
Grenze feierlich durchtrennt. Eine weitere<br />
Verbesserung brachte Tschechiens<br />
Beitritt zur Europäischen Union. Den<br />
Gipfelpunkt bedeutete Tschechiens<br />
Eingliederung in den Schengen-Raum.
Hochwertiger Preis für<br />
Nachwuchswissenschaftler<br />
Photo: Tageszeitung Lidové noviny<br />
Die (Super)Stringtheorie stellt die Hy -<br />
po these auf, daß es außer den bekannten<br />
drei Dimensionen der Welt weitere sechs<br />
Di mensionen gebe. Man sieht sie nicht, doch<br />
man ist von ihnen umgeben. Die String -<br />
theorie zieht mathematische Talente an,<br />
sie wird als intellektuelle Herausforderung<br />
für die Menschheit wahrgenommen. Auch<br />
Martin Schnabel hat sie es angetan, und er<br />
ist dank ihr bereits Millionär geworden.<br />
Der junge Mann liefert den Beweis, daß<br />
Können gewinnbringend sein kann. Als<br />
erstem Tschechen wurde dem jungen Mann<br />
nämlich der European Young Investigator<br />
Award (EURYI) zugesprochen. Der Preis<br />
ist mit einer Förderung in Höhe bis zu 1,25<br />
Mio. Euro dotiert. Der Preisträger kann<br />
sie für verschiedenste Zwecke anwenden,<br />
er muß lediglich im Rahmen der Euro -<br />
päischen Union forschen.<br />
Besteht die Welt aus „Miniatursaiten“,<br />
deren Schwingungen für die Entstehung<br />
der jeweiligen Elementarteilchen der Ma -<br />
terie ausschlaggebend sind, was ist es,<br />
was sie in Bewegung setzt oder uran -<br />
fänglich setzte? Die Antwort bleibt nach<br />
wie vor aus.<br />
Eine Sonde in<br />
die Mikrowelt<br />
So läßt sich das Verfahren zur Er ken nung<br />
von chemischen Elementen um reiß en.<br />
Zur Identifizierung genügt ein einziges<br />
Atom. Die Methode wurde von einem<br />
internationalen Team entwickelt, zu dem<br />
auch Pavel Jelínek vom Physi ka lischen<br />
Institut der Tschechischen Aka demie der<br />
Wissenschaften gehört. Der Forschungs -<br />
bericht gelangte u.a. auch auf die Titel -<br />
seite der Zeitschrift Nature (Anfang März).<br />
Das Verfahren ist nach Pavel Jelínek<br />
etwa bei der Erforschung der Oberfläche<br />
von festen Stoffen anzuwenden. Ver wen -<br />
dung kann es auch bei der Produktion von<br />
Nanofasern oder bei der Erforschung biologischer<br />
Systeme finden. Bis zu diesem<br />
Zeitpunkt wurden einzelne Atome von<br />
Ele menten mittels eines Scan-Mikro -<br />
skops untersucht. Dieses bildet die Atome<br />
aber ohne höhere Auflösung ab. Die For -<br />
scher bestimmten die Elemente an der<br />
Ober fläche intuitiv, erfahrungsgemäß.<br />
Das „halbblinde“ Mikroskop für das Er -<br />
kennen der Lage von chemischen Ele -<br />
menten zu optimieren, versuchen seit mehr<br />
als 25 Jahren zahlreiche Forschungs -<br />
institute in aller Herren Ländern. Ohne<br />
Erfolg. Erst dieses Jahr zeitigten die Be -<br />
mühungen, auch die der tschechischen<br />
Forschung, endlich positive Ergebnisse.<br />
Einer der Entdecker <strong>des</strong> „chemischen Mikroskops“<br />
ist Pavel Jelínek vom Physikalischen Institut der<br />
tschechischen Akademie der Wissenschaften<br />
Montage: Tageszeitung Lidové noviny<br />
Bedeutende tschechische<br />
Frau im Ausland<br />
Dieser Preis, der Verdienste von Frauen<br />
um Tschechien würdigen soll, wird vom<br />
Internationalen Koordinierungskomitee<br />
der Auslandstschechen in Zusammen -<br />
arbeit mit der Landsmannschafts kom mis -<br />
sion <strong>des</strong> Senats <strong>des</strong> Tschechischen Par -<br />
laments verliehen. 2007 wurden be reits<br />
zum dritten Mal Tschechinnen dekoriert.<br />
Dieses Jahr ging der Preis an Gräfin<br />
Margaret Waldstein-Wartenberg, die das<br />
Amt der Präsidentin der Tschechischen<br />
Malteserhilfe (Česká maltézská pomoc)<br />
be kleidete. Die Gräfin machte sich stark<br />
bei der Katastrophenhilfe nach dem Hoch -<br />
wasser in Mähren. Eine andere Preis -<br />
trägerin ist die in Großbritannien lebende,<br />
hochangesehene Architektin Eva Jiřičná.<br />
Nach 1989 entwarf sie etliche Bauten in<br />
Tschechien. Dolores Bata Aram basic, En -<br />
keltochter von Jan Antonín Baťa, aus Bra -<br />
silien erhielt die Aus zeichnung für ihren<br />
Beitrag zur Ver tie fung der tschechischbrasilianischen<br />
Be ziehungen und Ver brei -<br />
tung der tschechi schen Kultur. Sie ge denkt<br />
Mosaik<br />
einige Bücher herauszubringen, die ihr<br />
Großvater im Laufe von 23 Jahren in Bra -<br />
silien nieder schrieb. Die dritte im vergangenen<br />
Jahr dekorierte ist die Cho reo gra -<br />
phin Zora Šem berová, die in den 1960er<br />
Jahren nach Australien auswanderte.<br />
Das Internationale Komitee der Aus -<br />
lands tschechen verlieh auch einen Preis<br />
in memoriam. Dieser fiel an Vlasta Kála -<br />
lová di Lotti, Gründerin <strong>des</strong> Tschecho slo -<br />
wakischen Krankenhauses in Bagdad. In<br />
den 1930er Jahren half sie mit, irakische<br />
Frauen zu verarzten, was in der Welt <strong>des</strong><br />
Islam keine leichte Aufgabe ist. Nach<br />
ihrer Rückkehr aus dem Irak pflegte sie<br />
die tschechisch-irakischen Beziehungen.<br />
Die Preise wurden im Senat <strong>des</strong> Tsche -<br />
chischen Parlaments vergeben.<br />
Medaille als<br />
Kalender<br />
Eine Medaille, welche die Tradition der<br />
sog. Kalendermedaillen fortsetzt, hat die<br />
Česká Mincovna (Tschechische Münze)<br />
auf zuweisen. Das Außerordentliche der<br />
Silbermedaille Kalendář 2008 liegt darin,<br />
daß sie auf dem Avers wie dem Revers<br />
alle Tage dieses Jahres einschließlich der<br />
Feiertage in kalendermäßiger Abbildung<br />
festhält. Hinzugekommen sind Tierkreis -<br />
zeichen. Die Herstellung der Medaille<br />
war kein leichtes, denn alle Einzelheiten<br />
auf einem dermaßen winzigen Raum wiederzugeben,<br />
erfordert schon einiges Ge -<br />
schick. Gablonzer Graveure und andere<br />
Mitarbeiter, die in die Produktion von<br />
Prägestöcken involviert sind, stellten ihre<br />
Fähigkeiten damit unter Beweis. Die<br />
Münze schreibt eine alten Tradition fort,<br />
deren Anfänge der Prager Graveur und<br />
Medaillenmacher Anton Guillemard in<br />
den Jahren 1745 bis 1812 berühmt machte.<br />
Die silberne Medaille, für die der Aka -<br />
dem. Bildhauer Vladislav Oppl zeichnet,<br />
hat einen Durchmesser von 50 mm und<br />
ein Gewicht von 24 g. Geprägt wurden<br />
500 Stück in Silber. Zu haben sind auch<br />
Exemplare in Messing.<br />
35
36<br />
Amor fati<br />
Ema Destinnová<br />
Sie bekleidete gerne Rollen in Bedřich<br />
Smetanas Opern – in der Verkauften<br />
Braut, in Dalibor und Libussa, aber bei<br />
den Bayreuther Festspielen sang sie<br />
1901 als erste Sentas Part in Wagners<br />
Fliegendem Holländer, Ruggiero Leon -<br />
cavallo komponierte für sie die Oper Der<br />
Roland von Berlin und Richard Strauss<br />
präsentierte sie als seine Salome in Paris.<br />
In London überschattete ihr Ruhm den<br />
von Enrico Caruso (in Madame Butter -<br />
fly). Für Plattengesellschaften produzierte<br />
sie bereits 1908 bahnbrechend zwei<br />
komplette Opernaufnahmen – Faust und<br />
Carmen. Sie sang in vier US-amerikani -<br />
schen Erstaufführungen und sechs Welt -<br />
premieren. An der Metropolitan Opera<br />
trat sie zum erstenmal am gleichen Abend<br />
auf wie der Dirigent Arturo Toscanini<br />
– in Verdis Aida. Giacomo Puccini widmete<br />
ihr die Hauptrolle in La fanciulla<br />
del West. Mit dem Ensemble der ersten<br />
Opernbühne der Welt sang sie über<br />
250mal, davon gab sie über 100 Dar -<br />
bietungen zusammen mit Enrico Caruso.<br />
Ema Destinnová (* 26.2. 1878 in<br />
Prag, † 28.1.1930 in Budweis, Böhmen)<br />
hätte Violinenvirtuosin oder Kompo nis -<br />
tin werden können, sie aber hegte Vor -<br />
liebe fürs Theater. Sie lernte Sprachen,<br />
gab sich mit der Literatur ab, mit vier -<br />
zehn schrieb sie Gedichte und Dramen.<br />
Ihre Mutter Jindřiška, geb. Šrutová,<br />
war Opernsängerin, der Vater Emanuel<br />
Kittl förderte tschechische Dichter<br />
und Künstler. Die Tochter Emilia nahm<br />
Schau spielunterricht bei Ottilie Skle ná -<br />
řová-Malá und Gesangunterricht bei den<br />
besten Lehrern in Prag – Thomas Loewe<br />
und Maria von Dreger, die einst unter<br />
dem Künstlernamen Destinn für Verdi in<br />
Ema Destinnová als Marie in B. Smetanas<br />
Verkaufte Braut, 1903<br />
Engagement in London, 1919 Als Madame Butterfly, London, 1908
Auf dem Schloß Stráž nad Nežárkou (Platz), dem ehemaligen Wohnsitz von Ema Destinnová, beginnen am 15. 3. 2008<br />
großangelegte Feierlichkeiten zum 130. Geburtstag der Sängerin<br />
Italien gesungen hatte. Das ungestüme<br />
Temperament der jungen Dame stieß auf<br />
die Ablehnung der Opernbühne <strong>des</strong><br />
Nationaltheaters in Prag. Die Bühne<br />
betrat sie erst nach dreimaligem Miß -<br />
erfolg, als das Timbre ihrer Stimme<br />
Er folge an der Hofoper in Berlin feierte.<br />
Dort machte sie am 19. Juli 1898 in<br />
der Rolle von Santuzza in der Cavalleria<br />
rusticana mit Zustimmung ihrer Leh re -<br />
rin Ge brauch von deren Künstlernamen.<br />
Allroundtalent, vollkommene Einü -<br />
bung und eiserner Fleiß verhalfen der<br />
Destinnová, noch so schwierige Rollen<br />
auch ohne Proben zu bewältigen. Bald<br />
wählte sie nur noch Rollen, die sie restlos<br />
verkörpern konnte. Sie gehörte zu<br />
denen, die das Publikum durch ihr urei -<br />
genes Erleben, bravouröse Schau spiel -<br />
kunst und vollkommene Schönheit <strong>des</strong><br />
Gesangs bestrickten. Im Rahmen ihres<br />
zehnjährigen Berliner Engagements verlieh<br />
sie 43 Gestalten in über 700 Auf -<br />
führungen ihre Stimme.<br />
Ihren vielversprechenden Künstler -<br />
namen führte sie bald in Prag, Mainz,<br />
Paris, Frankfurt, London, Posen und Bu -<br />
dapest ein. Mit dem journalistischen Bei -<br />
namen die „göttliche“ geschmückt, trat<br />
sie am 2. Mai 1904 als Donna Anna in<br />
der Royal Opera in Covent Garden in<br />
Lon don auf. In den darauffolgenden elf<br />
Sai sons, die sie dort nach Vertrag zu ab -<br />
solvieren hatte, sang sie mehr als 230mal<br />
in 18 Opern, davon 63mal in Madame<br />
Butter fly und 47mal als Part nerin von<br />
Enrico Caruso. Im Juni 1911 trat sie ebendort<br />
als Aida beim Gala abend anläßlich<br />
der Krönungsfeier von Georg V. auf.<br />
Als Libuša, legendäre böhmische Fürstentochter, mit Přemysl, 1913<br />
Persönlichkeit<br />
„Es wollen Solisten von der Royal<br />
Opera in London, von der Wiener Oper,<br />
die Violinisten Hudeček, Šporcl und<br />
andere bei uns auftreten. Meistenfalls<br />
verlangen sie kein Honorar, sie wünschen<br />
lediglich, im Wohnsitz von Ema<br />
Destinnová singen oder spielen zu dürfen,<br />
was wunderschön ist.“<br />
Vítězslav Doubrava<br />
Manager der Gesellschaft Stráž<br />
Ema Destinnová<br />
An der Metropolitan Opera eröffnete<br />
sie – zusammen mit Caruso und Tos ca -<br />
nini – die Saisons 1908 und 1911 als<br />
Aida, 1909 und 1913 als Gioconda und<br />
1914 im Maskenball. Sie bereiste die<br />
Vereinigten Staaten kreuz und quer, und<br />
trat auch in Kanada auf. Sie faszinierte<br />
vor allem in den Rollen der Santuzza,<br />
Gio conda und Tosca. Auf der Bühne ver -<br />
ausgabte sie sich völlig. Die Kritik war<br />
sich einig, daß sie es verstand, ihre Part -<br />
ner zu einmaligen Leistungen hinzureißen.<br />
Stürmische Ovationen, anhimmelnde<br />
Kritikerstimmen und astronomische<br />
Honorare wurden ihr zuteil. Sie blieb<br />
aber demütig: sie lehnte es ab in der heiligen<br />
Wiege der Oper, Italien, zu singen.<br />
Die Heimkehr nach der 8. Saison in<br />
New York 1915-1916 nach Europa er -<br />
wies sich als verhängnisvoll für ihre Lauf -<br />
bahn. Ihrer Kontakte zur patriotischen<br />
Widerstandsbewegung der Tschechen<br />
wegen wurden ihr die Reisedokumente<br />
entzogen, und sie selber in ihrem süd -<br />
böh mischen Sommersitz in Stráž nad<br />
Ne žárkou (Platz) interniert. Das Schick -<br />
sal der Gefangenschaft teilte sie mit<br />
ihrem engen Freund, dem Baritonisten<br />
Dinh Gilly, ebenfalls Solist an der Metro -<br />
37
38<br />
politan Opera. Das öde Warten auf Frei -<br />
heit versuchte sie mit schriftstellerischen,<br />
kompositorischen und pädagogischen<br />
Arbeiten zu überwinden. Die erzwungene<br />
zweijährige Abwesenheit der Des -<br />
tinnová auf den Weltbühnen eröffnete<br />
mittlerweile Raum für eine neue Ge -<br />
neration von Sängerinnen – Maria Je -<br />
ritza, Claudia Muzi und Rose Ponselle.<br />
Gegen Kriegsende durfte Destinnová<br />
zumin<strong>des</strong>t in Böhmen – im Natio nal -<br />
theater in Prag und anderen Städten –<br />
auftreten. Das Publikum demonstrierte<br />
bei ihren Darbietungen seine Begeis te rung,<br />
denn der Patriotismus war von ihr nicht<br />
wegzudenken. Ihr ausschließlich tschechisches<br />
Repertoire trug sie auch bei der<br />
ersten Nachkriegstournee mit dem Böh -<br />
mischen Quartett, dem Violinisten Ja ro -<br />
slav Kocián und dem Sängerchor in Lon -<br />
don, Paris, Genf, Bern und Zürich vor.<br />
Ihre regelmäßige künstlerische Be -<br />
tätigung schloß sie im Herbst 1921 mit<br />
einer USA-Reise und – ein Viertel jahr -<br />
hundert nach ihrem Debüt – einer Kon -<br />
zertournee nach Kopenhagen, Stock holm<br />
und Oslo und Darbietungen in den Prager<br />
Amphitheatern in Šárka und auf Wyschehrad<br />
ab, wo sie Madame Butter fly und<br />
die tschechische mythische Fürstin Li bu -<br />
še (Libussa) vor Hundert tausenden sang.<br />
Sie war abergläubisch und glaubte an<br />
das Schicksal. Im September 1923 verheiratete<br />
sie sich in Stráž nad Nežárkou<br />
New York, als Santuzza, 1921 New York, 1921<br />
Aufnahme der tschechischen Nationalhymne,<br />
Ema Destinnová, Dinh Gilly, 1914<br />
nicht gerade glücklich mit dem jungen<br />
Oberleutnant der Luftwaffe Josef Hals -<br />
bach und schloß sich beinahe für immer<br />
mit ihren Sammlungen von Antiquitäten,<br />
Bildern, Büchern und napoleonischen<br />
Denkmälern ein. Im Privatleben ließ sie<br />
nichts an Desinvolture und Humor vermissen.<br />
Von ihrer literarischen Beschäf ti -<br />
gung und der Angelrute kehrte sie nur<br />
noch unregelmäßig auf die Bühne zu -<br />
rück. Im Januar 1925 unternahm sie eine<br />
Opernreise nach Osijek, Belgrad und Laibach<br />
und im April 1927 eine Kon zert -<br />
reise nach Berlin. Ihre sängerische Lauf -<br />
bahn vollendete sie in der Queen’s Hall<br />
in London im Oktober 1928 beim Auf -<br />
tritt anläßlich <strong>des</strong> 10. Gründungs ju bi -<br />
läums der selbständigen Tschechoslo wa -<br />
kei, zu deren Entstehung sie einen nicht<br />
unbeträchtlichen Beitrag geleistet hatte.<br />
Sie war 50 Jahre alt und das Schicksal<br />
beschied ihr nur noch zwei Jahre Leben.<br />
Obwohl der Geburtstag von Ema<br />
Destinnová 2008 bereits 130 Jahre zu -<br />
rückliegt, bleibt das Andenken an sie<br />
wei terhin lebendig. Ihr Name wurde zum<br />
Qualitätssiegel und zum Symbol aufopfernder<br />
Vaterlandsliebe. Monographien<br />
in Buchform, ausführliche Aufsätze, Be l -<br />
letristik, ein abendfüllender Spielfilm,<br />
Fernseh- und Rundfunkporträts rufen<br />
Erin nerungen wach. Neu herausgegeben<br />
wurden ihre Erzählungen und Gedicht -<br />
bände. Der vollständige Schallplatten -<br />
nach laß fand auf 12 CDs Platz, ihr Por -<br />
trät schaut einem hierzulande von der<br />
Brief marke wie von der Banknote entgegen.<br />
Schulen, musikalische Meister kurse,<br />
ein Musikfestival in Budweis wie auch<br />
das Schloß in Stráž führen ihren Namen.<br />
Im Ausland, in Italien, Deut schland,<br />
En gland, den USA, gibt es wiederum<br />
Edi tionen von Rezitals, in London eine<br />
Stiftung, ein Kaffeehaus in New York, ja,<br />
einen Asteroiden, der um die Sonnen<br />
zwischen den Bahnen von Mars und<br />
Jupiter kreist die ihren Namen führen.<br />
Jan Králík<br />
Photos: Archiv Jan Králík, www.zamekstraz.cz