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Geschichte der nationalsozialistischen Patientenmorde

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Neugestaltung Neugestaltung Tiergartenstraße Tiergartenstraße 4<br />

4<br />

<strong>der</strong> Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas<br />

unter Einbezug <strong>der</strong> Stiftung Topographie des Terrors<br />

Historische Historische Einführung<br />

Einführung<br />

Stand Stand 224.<br />

2 . April April 2012<br />

2012


Inhalt Inhalt<br />

Inhalt<br />

Einführung in das Thema Seite 3<br />

Zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>nationalsozialistischen</strong> <strong>Patientenmorde</strong> (»Euthanasie«) Seite 5<br />

Die Vorgeschichte Seite 7<br />

Die <strong>nationalsozialistischen</strong> Verbrechen<br />

1. Zwangssterilisationen Seite 9<br />

2. Verbot <strong>der</strong> Beschulung geistig- und schwerbehin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong> Seite 9<br />

3. »Kin<strong>der</strong>euthanasie« Seite 10<br />

4. Der Patientenmord im Rahmen <strong>der</strong> »Aktion T 4« (1940/41) Seite 10<br />

5. Die »T 4«-Zentrale und die Ermordung von KZ-Häftlingen (»14 f 13«) Seite 12<br />

6. Parallele Verbrechen: <strong>Patientenmorde</strong> <strong>der</strong> SS nach Kriegsbeginn Seite 12<br />

7. Einstellung <strong>der</strong> Tötungen durch Gas, »T 4« und die Ermordung <strong>der</strong> Juden Seite 13<br />

8. Die dezentralen Krankenmorde 1941 – 1945 Seite 14<br />

9. Übersichtskarten zur »Euthanasie«-Aktion 1939 – 1945 Seite 16<br />

Nach Kriegsende Seite 17<br />

Inhalte einer Dokumentation am historischen Ort<br />

Vorbemerkung Seite 19<br />

Glie<strong>der</strong>ung Seite 20<br />

Dimensionen des Verbrechens: Biographien von Opfern und Tätern<br />

Vorbemerkung Seite 25<br />

Biographien von Opfern<br />

Maria W. (1899 – 1941) und Hermine W. (1900 – 1941) Seite 25<br />

Ernst Lossa (1929 – 1944) Seite 26<br />

Fritz Niemand (*1915) Seite 27<br />

Exemplarische Täterbiographien<br />

Horst Schumann (1906 – 1983) Seite 29<br />

Carl Schnei<strong>der</strong> (1891 – 1946) Seite 29<br />

Photographische Überlieferung Seite 31<br />

<strong>Geschichte</strong> des Hauses Tiergartenstraße 4 und seiner städtischen Umgebung<br />

1. Ort <strong>der</strong> Täter Seite 38<br />

2. Stadtpalais im Villenviertel Seite 38<br />

3. Die Villa als Verbrechenszentrale Seite 41<br />

4. Vom Tiergartenviertel zum Kulturforum Seite 43<br />

5. Das Kulturforum heute Seite 44<br />

Schwarzpläne <strong>der</strong> Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Seite 46<br />

2


Einführung Einführung in das Thema<br />

In <strong>der</strong> Berliner Tiergartenstraße 4 befand sich ab April 1940 die Zentrale für die Organisation,<br />

die unter dem Decknamen »T 4« – o<strong>der</strong> schlicht »Aktion« – den Massenmord an Patienten aus<br />

Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich initiierte, koordinierte und durchführte. Über<br />

70.000 Menschen fielen ihm zum Opfer, bis die Aktion am 24. August 1941 aufgrund öffentlicher<br />

Unruhe unterbrochen wurde. Das Morden begann bereits mit Kriegsbeginn im September 1939<br />

und wurde sowohl nach dem »Euthanasiestopp« im August 1941 als auch mit dem Angriff auf<br />

die Sowjetunion im Juni 1941 im gesamten Deutschen Reich und in vielen besetzten Gebieten,<br />

insbeson<strong>der</strong>e im Osten, fortgesetzt. Die Erfassung, »Selektion« und Tötung <strong>der</strong><br />

Anstaltspatienten war die erste zentral organisierte und systematische Massenvernichtung<br />

von Menschen durch die Nationalsozialisten. Dabei stellt »T 4« nur einen Teilkomplex des<br />

Gesamtverbrechens gegen Anstaltsbewohner dar. Die Forschung geht <strong>der</strong>zeit von insgesamt<br />

300.000 Opfern des sogenannten Euthanasie-Programms in Europa aus. Allerdings liegen<br />

verlässliche Zahlen insbeson<strong>der</strong>e für Osteuropa noch nicht vor.<br />

Seit 1989 erinnert zwar eine Gedenktafel an den historischen Ort Tiergartenstraße 4 und<br />

würdigt die Opfer. Und von Januar 2008 bis Januar 2009 stand dort das Denkmal <strong>der</strong> Grauen<br />

Busse des deutschen Künstlers Horst Hoheisel und Andreas Knitz. Eine Informationstafel<br />

folgte am 10. Juni 2008. Doch für die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung dieses<br />

Massenmordes ist »eine Dokumentation des Verbrechens und die Würdigung <strong>der</strong> Opfer in<br />

Berlin, am Ort <strong>der</strong> Täter in <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4, dem historischen Ort <strong>der</strong> Planung <strong>der</strong><br />

Verbrechen, von übergreifen<strong>der</strong> nationaler Bedeutung«, wie es <strong>der</strong> Deutsche Bundestag in<br />

seiner Beschlussfassung formuliert. Weiterhin, so das Parlament, sollte das Ziel sein, »das<br />

bestehende Denkmal und den Gedenkort so aufzuwerten, dass dem Anliegen, am Ort <strong>der</strong> Täter<br />

über die Dimension des Verbrechens und seine Opfer zu informieren, entsprochen werden<br />

kann. Es geht um den Einbezug des bereits Vorhandenen und darum, am Ort <strong>der</strong> Organisation<br />

des Verbrechens über die Massenmorde an kranken und behin<strong>der</strong>ten Menschen bzw.<br />

einfachen Patienten aufzuklären und zu erinnern«.<br />

Der historische Ort Tiergartenstraße 4 befindet sich im Geländekomplex des Kulturforums, für<br />

das das Land Berlin einen Masterplan verabschiedet hat. Somit wird es zwar eine neue<br />

3


örtliche Einbindung geben, innerhalb <strong>der</strong>er aber <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4 eine beson<strong>der</strong>e Rolle<br />

zukommt. Durch die Kulturverwaltung des Berliner Senats soll daher ein Ideenwettbewerb<br />

durchgeführt werden, <strong>der</strong> die genannten Aspekte – Information und Erinnerung –<br />

berücksichtigt. Hierzu gehören mindestens Grundinformationen über das Verbrechen und<br />

seine deutschland- wie europaweite Dimension, über Täter und Opfer (etwa mit<br />

exemplarischen Biographien), die Sichtbarmachung des historischen Geländes und Gebäudes<br />

sowie <strong>der</strong> gesellschaftliche Umgang mit Tätern, Opfern und dem Gelände nach 1945. Das<br />

»aufklärerische Erinnerungszeichen« kann die bereits bestehenden Gedenkstätten und<br />

Erinnerungsinitiativen nicht ersetzen, son<strong>der</strong>n muss vielmehr auf sie verweisen. Beispiel für<br />

eine überaus gelungene Gestaltung öffentlichen Raums mit historischen Informationen ist die<br />

Gedenkstätte Berliner Mauer (allerdings verfügt sie zusätzlich über ein Besucher- und<br />

Ausstellungszentrum).<br />

4


Zur Zur <strong>Geschichte</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> nationa <strong>nationalsozialistischen</strong> nationa lsozialistischen <strong>Patientenmorde</strong> <strong>Patientenmorde</strong> (»Euthanasie«<br />

(»Euthanasie«)<br />

(»Euthanasie«<br />

Das Gelände des Grundstücks Tiergartenstraße 4 in Berlin steht für eines <strong>der</strong> zentralen<br />

Verbrechen <strong>der</strong> Nationalsozialisten, den Mord an Zehntausenden von Patienten und<br />

Heimbewohnern. Der Mord ist, neben den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern,<br />

die dunkelste Seite <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Medizin in Deutschland und <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />

Heilberufe weltweit. Seine Methode, die »industrielle« Menschenvernichtung und die<br />

Weiterverwendung des Tötungspersonals kennzeichnen ihn als Vorstufe zum Holocaust.<br />

Das Mordprogramm wurde von einer Unterabteilung <strong>der</strong> »Kanzlei des Führers« von etwa<br />

100 Mitarbeitern entwickelt. Diese »Zentraldienststelle T4«, benannt nach dem Kürzel <strong>der</strong><br />

Adresse Tiergartenstraße 4, organisierte zunächst die Tötung von Kranken o<strong>der</strong> behin<strong>der</strong>ten<br />

Menschen mittels Kohlenmonoxid. Bis zur formalen Einstellung <strong>der</strong> Gasmorde im August 1941<br />

starben so im Deutschen Reich und im annektierten Österreich über 70.000 Menschen in<br />

sechs eigens dafür eingerichteten Tötungsanstalten. Zwischen August 1941 und 1945 wurde<br />

<strong>der</strong> Mord dann dezentral fortgesetzt und Patienten durch Nahrungsentzug o<strong>der</strong> die<br />

Verabreichung von Luminal o<strong>der</strong> Morphium umgebracht, wobei diese Tötungsmethoden auch<br />

vor 1941 bereits angewandt worden waren. Auf diese Weise wurden allein auf dem Gebiet des<br />

Deutschen Reichs (ohne Österreich) etwa weitere 90.000 Menschen zu Tode gebracht. Das<br />

später als »Aktion T 4« bezeichnete Verbrechen war dabei nur ein Teil eines umfassenden<br />

Massenmordes an Patienten, Pflegebedürftigen o<strong>der</strong> sozial Ausgegrenzten während <strong>der</strong><br />

<strong>nationalsozialistischen</strong> Herrschaft in nahezu ganz Europa. Die geschätzte Gesamtzahl <strong>der</strong><br />

Opfer liegt bei 300.000 Menschen. So wurden nach Beginn des Zweiten Weltkrieges in<br />

Ostmittel- und Osteuropa, beispielsweise in Polen und Weißrussland, Krankenhäuser von SS-<br />

Einheiten »leergemordet«, um Platz zur Unterbringung von Wehrmachteinrichtungen zu<br />

schaffen.<br />

Wirtschaftliches Gewinninteresse beziehungsweise Rationalisierungsstreben im Rahmen des<br />

»totalen Krieges« war einer von mehreren Faktoren für die mör<strong>der</strong>ische Radikalisierung <strong>der</strong><br />

Politik gegen Kranke und Behin<strong>der</strong>te. Ihre Basis bildeten jedoch die »rassehygienischen« und<br />

sozialdarwinistischen Grundüberzeugungen <strong>der</strong> Nationalsozialisten und von Teilen <strong>der</strong><br />

ärztlichen, juristischen und bürokratischen Elite in Deutschland. Bevölkerungspolitik sollte auf<br />

Auslese beruhen. Dazu gehörte auch <strong>der</strong> »Gnadentod« für angeblich »unheilbar Kranke«. Die<br />

»Euthanasie« (griechisch: schöner Tod), wie das Morden verschleiernd und zynisch genannt<br />

5


wurde, war dabei eine Konsequenz <strong>der</strong> <strong>nationalsozialistischen</strong> Weltanschauung. Die Politik<br />

<strong>der</strong> deutschen Führung fußte dabei allerdings auf einem viel breiteren, quer durch politische<br />

Lager verlaufenden gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Diskurs <strong>der</strong> Jahrzehnte<br />

vor 1933. Wie bei <strong>der</strong> Ermordung <strong>der</strong> europäischen Juden bestand für die Nationalsozialisten<br />

aber nicht von vornherein ein Plan zur praktischen Umsetzung. Dieser wurde von den –<br />

teilweise miteinan<strong>der</strong> konkurrierenden – <strong>nationalsozialistischen</strong> Akteuren erst schrittweise<br />

entwickelt.<br />

Lange Zeit standen, wenn überhaupt historisch geforscht wurde, die Täter im Mittelpunkt <strong>der</strong><br />

wissenschaftlichen Aufarbeitung. Erst in jüngster Zeit wandte sich die historische Forschung<br />

den Opfern zu. Sie waren in <strong>der</strong> Nachkriegszeit nahezu völlig in Vergessenheit geraten. Mehr<br />

noch: Körperlich und geistig Behin<strong>der</strong>te sowie psychisch Kranke standen schon lange vor <strong>der</strong><br />

Machtübernahme <strong>der</strong> Nationalsozialisten am Rand <strong>der</strong> Gesellschaft. So hatten sie nach 1933<br />

kaum Möglichkeiten, sich auf breiter Basis gegen die eugenische Politik <strong>der</strong> neuen<br />

Machthaber und die Organisation des Massenmordes zur Wehr zu setzen. Die Überlebenden<br />

blieben nach 1945 noch über Jahrzehnte im gesellschaftlichen Abseits. Über ihre Integration<br />

und ihre Befreiung aus <strong>der</strong> Abgeschlossenheit <strong>der</strong> Anstaltsexistenz wurde von Seiten <strong>der</strong><br />

Mehrheitsgesellschaft nicht nachgedacht. Ein verän<strong>der</strong>ter Umgang mit Beeinträchtigung,<br />

abweichendem Verhalten und psychischer Erkrankung stellte sich erst langsam ein. Und auch<br />

<strong>der</strong> Leidtragenden von Zwangssterilisationen während <strong>der</strong> NS-Herrschaft, etwa 360.000<br />

Menschen, nahm sich niemand an. Der Mehrzahl von ihnen wurde keine Entschädigung<br />

gewährt.<br />

Eine gedenkpolitische und gestalterische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem historischen Gelände<br />

Tiergartenstraße 4 ist ohne die Einbeziehung <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Opfer und ihrer Biographien<br />

nicht denkbar. Die Dimension des von hier geplanten und verwalteten Verbrechens bleibt<br />

ansonsten nicht nachvollziehbar. Dabei geht es auch um den Leidensweg <strong>der</strong> Überlebenden in<br />

<strong>der</strong> Nachkriegszeit. Zugleich ist am Ort <strong>der</strong> Täter auch das Fortbestehen einer Denkweise von<br />

»unwertem Leben« im Zusammenhang mit dem alten »Euthanasie-Diskurs« kenntlich zu<br />

machen, hier bezogen auf Äußerungen in <strong>der</strong> Debatte um Spätabtreibungen, um die<br />

Verweigerung lebensretten<strong>der</strong> Maßnahmen bei Neugeborenen sowie um die Sterbehilfe.<br />

6


Die Die Vorgeschichte<br />

Vorgeschichte<br />

Körperlich o<strong>der</strong> geistig behin<strong>der</strong>te Menschen und psychisch Kranke als Subjekte <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong>, mit Handlungsspielräumen und eigenen Lebenswelten, sind von <strong>der</strong> historischen<br />

Wissenschaft lange ignoriert worden. Wo standen beeinträchtigte Menschen in den<br />

unterschiedlichen Epochen <strong>der</strong> europäischen <strong>Geschichte</strong>, wie ging die Gesellschaft mit ihnen<br />

um? Mittlerweile hat sich eine Denkschule entwickelt, die unter dem Stichwort »Disability<br />

Studies« (bezeichnen<strong>der</strong>weise existiert kein deutscher Begriff) für diese Fragen Antworten<br />

sucht. Sie versteht Behin<strong>der</strong>ung als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse. Dem stand lange<br />

unwi<strong>der</strong>sprochen das sogenannte individuelle Modell von Behin<strong>der</strong>ung entgegen, das diese<br />

mit <strong>der</strong> Schädigung o<strong>der</strong> Beeinträchtigung gleichsetzt. Behin<strong>der</strong>ung wird selbst heute noch<br />

häufig als schicksalhaftes persönliches Leid aufgefasst, das <strong>der</strong> Behandlung durch Fachleute<br />

bedürfe. Ziel war und ist die (Wie<strong>der</strong>-) Einglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Patienten in die Volkswirtschaft,<br />

früher auch in das Militär. In historischer Perspektive befand sich dieses<br />

»Rehabilitationsparadigma«, wie es von <strong>der</strong> kritischen Wissenschaft genannt wird, seit dem<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t auf dem Siegeszug. Mit <strong>der</strong> Professionalisierung <strong>der</strong> medizinischen Berufe<br />

hatten immer uneingeschränkter Ärzte und Pfleger das Sagen, während Patienten o<strong>der</strong><br />

Hilfsbedürftige als schwach und unmündig gesehen wurden. Die Fürsorgepolitik des<br />

mo<strong>der</strong>nen sich entwickelnden Wohlfahrtsfahrtsstaates entsprach diesem Schema. Die soziale<br />

Not von Kranken o<strong>der</strong> Beeinträchtigten wurde zwar gelin<strong>der</strong>t. Sie erhielten ein Dach über dem<br />

Kopf zugesichert und hatten regelmäßig zu essen. An<strong>der</strong>erseits wurden sie in weitgehend<br />

sozial isoliert und rechtlos gehalten. Auch wenn die Formen des Eigensinns und <strong>der</strong><br />

Selbstbehauptung von Behin<strong>der</strong>ten o<strong>der</strong> psychisch Kranken in dieser Epoche nicht übersehen<br />

werden sollten, so lebten sie nun in Anstalten am Rande <strong>der</strong> sich entwickelnden<br />

Industriegesellschaften. Deren zentraler Wert war die Leistungsfähigkeit ihrer Mitglie<strong>der</strong>.<br />

»Stark« und »schwach« wurden in <strong>der</strong> gleichen Zeit auch zu Leitbegriffen des extremen<br />

Nationalismus und des Rassismus, die sich immer bedrohlicher gegen die bürgerlichen<br />

Gleichheitsideale in Europa wandten. Im Rahmen dieser Bewegungen – o<strong>der</strong> beeinflusst<br />

durch sie – diskutierten Ärzte und Gesundheitspolitiker in zahlreichen Län<strong>der</strong>n bereits Ende<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts über Maßnahmen zur »Gesundung« des »Volkskörpers«, über<br />

›Rassenhygiene‹ und Eugenik. Auch die Sterilisation psychisch Kranker und <strong>der</strong> »Gnadentod«<br />

unheilbar Kranker standen bereits im Raum. Im Verständnis <strong>der</strong> »Rassehygieniker« gab es<br />

einen engen Zusammenhang zwischen dem »Volkskörper« und <strong>der</strong> Nation. Je »gesün<strong>der</strong>« das<br />

7


Volk sei, umso stärker die Nation. Zentralen Stellenwert besaß die Aufopferung des<br />

Individuums für die Nation, bewertet nach den Kriterien seiner Leistungs- und Arbeitsfähigkeit.<br />

Erkrankung wurde vor allem als Einschränkung zu Ungunsten <strong>der</strong> Allgemeinheit betrachtet.<br />

Die Geringschätzung, die Ärzte und Gesellschaft psychisch Kranken und geistig behin<strong>der</strong>ten<br />

Menschen entgegenbrachten, wurde während des Ersten Weltkriegs deutlich, als über 70.000<br />

Anstaltspatienten schlicht verhungerten o<strong>der</strong> aufgrund von Vernachlässigung starben. Dabei<br />

wurden bereits die ökonomischen Kriterien (»Ballastexistenzen«) deutlich, die beim<br />

<strong>nationalsozialistischen</strong> »Euthanasie«-Programm eine maßgebliche Rolle spielen sollten. Auch<br />

<strong>der</strong> Gedanke einer ärztlichen Erlösung unheilbar kranker Menschen (»Recht auf Tod«)<br />

radikalisierte sich zur For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> »Freigabe <strong>der</strong> Vernichtung lebensunwerten<br />

Lebens«, die 1920 von dem einflussreichen Strafrechtler Karl Binding und dem bekannten<br />

Psychiater Alfred Hoche formuliert worden ist.<br />

Mit <strong>der</strong> wirtschaftlichen Stabilisierung in den 1920er Jahren entwickelte das psychiatrische<br />

Denken neue Ansätze. Anstalten sollten nicht mehr bloße »Verwahrungsorte« sein, »Kranke«<br />

und »Gesunde« weniger stark als bisher voneinan<strong>der</strong> getrennt werden. Die Reformpsychiatrie<br />

hatte einen integrativen Anspruch, <strong>der</strong> auf eine möglichst frühe Entlassung und ambulante<br />

Betreuung <strong>der</strong> Patienten ausgerichtet war. Familienpflege, aktive Fürsorge und<br />

Arbeitstherapie wurden zu wichtigen Schlagworten und deuteten eine Verän<strong>der</strong>ung im<br />

Umgang mit den Insassen an. Allerdings waren auch diese Ideen von<br />

Wirtschaftlichkeitsgedanken und Vorstellungen sozialer Kontrolle beeinflusst. Die<br />

Patientenzahlen stiegen, die Aufnahmekapazität stieg an. Ein jähes Ende fanden diese Ansätze<br />

mit <strong>der</strong> Wirtschaftskrise 1929. Fortan fungierten die Anstalten wie<strong>der</strong> im hergebrachten Sinn<br />

als Verwahrungseinrichtungen und zeugten durch erneute Rationierung von Nahrungsmitteln<br />

und therapeutischen Ressourcen von <strong>der</strong> beiläufigen Hinnahme etlicher Sterbefälle. Neben<br />

<strong>der</strong> Reformbewegung kam es auch gleichzeitig zu einer zunehmenden Radikalisierung im<br />

Umgang mit psychisch und körperlich beeinträchtigten Menschen. Offen wurde nun gerade<br />

von Vertretern <strong>der</strong> Medizin, des Gesundheitswesens und <strong>der</strong> Politik die Sterilisation<br />

»Min<strong>der</strong>wertiger« gefor<strong>der</strong>t.<br />

8


Die ie <strong>nationalsozialistischen</strong> Verbrechen<br />

1. 1. Zwangss Zwangssterilisation<br />

Zwangss<br />

terilisation terilisationen<br />

terilisation en<br />

Die Nationalsozialisten konnten mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«<br />

vom 14. Juli 1933 denn auch auf einen preußischen Gesetzentwurf aus <strong>der</strong> Weimarer Zeit<br />

zurückgreifen. Der Zwangscharakter des Gesetzes und die Radikalität seiner Umsetzung<br />

machten jedoch die ›rassenpolitische‹ Dimension, die die neuen Machthaber damit verfolgten,<br />

deutlich. Wer an Schizophrenie, manisch-depressiven Erkrankungen, an erblichen Formen von<br />

Fallsucht, Chorea Huntington, Blindheit, Taubheit, »angeborenem Schwachsinn« und<br />

schwerer körperlicher Missbildung sowie schwerem Alkoholismus litt, konnte auch gegen<br />

seinen Willen unfruchtbar gemacht werden. Viele Sterilisationen erfolgten ohne das Wissen<br />

<strong>der</strong> Betroffenen. Mehrere Tausend Menschen, vorwiegend Frauen, starben infolge des<br />

Eingriffs.<br />

Wie bereits ausgeführt, befanden sich viele <strong>der</strong> von den eugenisch motivierten<br />

Verfolgungsmaßnahmen <strong>der</strong> Nationalsozialisten Betroffenen bereits am Rande <strong>der</strong><br />

Gesellschaft – in Anstalten; ein breiterer Zusammenschluss zum Zwecke des Wi<strong>der</strong>stands<br />

blieb aus. Für die Interessenvertretung von Behin<strong>der</strong>ten, so zum Beispiel den Reichsbund <strong>der</strong><br />

Körperbehin<strong>der</strong>ten, ist sogar das Gegenteil festzustellen. Der Verband wurde 1933 im Sinne<br />

<strong>der</strong> Nationalsozialisten gleichgeschaltet. Er betonte, die Mehrzahl seiner Mitglie<strong>der</strong><br />

unterscheide sich in eugenischer Hinsicht von psychisch Kranken und geistig Behin<strong>der</strong>ten.<br />

Darüber versuchte er Verbandsangehörige mit angeblich vererbbaren Behin<strong>der</strong>ungen<br />

propagandistisch davon zu überzeugen, sich »freiwillig« einer Sterilisation zu unterziehen.<br />

2. 2. 2. Verbot Verbot Verbot <strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Beschulung Beschulung geistig geistig- geistig und und schwerbehin<strong>der</strong>ter schwerbehin<strong>der</strong>ter schwerbehin<strong>der</strong>ter Schüler<br />

Schüler<br />

Die Debatte um »Min<strong>der</strong>wertigkeit« wurde auch zunehmend im Bereich von Pädagogik und<br />

Schulpolitik geführt. Während in <strong>der</strong> Weimarer Republik bereits Schulklassen für<br />

»geistesschwache« Kin<strong>der</strong> eingerichtet worden waren, wurden alle Bildungsangebote für<br />

behin<strong>der</strong>te Schüler mit Machtantritt <strong>der</strong> Nationalsozialisten zurückgefahren. Mit <strong>der</strong><br />

»Allgemeinen Anordnung über die Hilfsschule in Preußen« 1938 verbot <strong>der</strong> Staat sogenannte<br />

Sammelklassen und damit jegliche Beschulung geistig- und schwerbehin<strong>der</strong>ter Schüler. Damit<br />

wurde <strong>der</strong> enge Zusammenhang zwischen einem Recht auf Bildung und einem Recht auf<br />

Leben behin<strong>der</strong>ter Menschen augenfällig.<br />

9


3. . »Kin<strong>der</strong>euthanasie«<br />

Die Radikalisierung <strong>der</strong> rassenhygienischen Politik <strong>der</strong> Nationalsozialisten entwickelte sich<br />

stufenförmig und war offenbar in hohem Maße improvisiert. Maßgebliche Akteure waren<br />

Mitarbeiter <strong>der</strong> »Kanzlei des Führers«, Teile <strong>der</strong> Ministerialbürokratie und einzelne Ärzte, die<br />

die Bezeichnung »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und<br />

anlagebedingter schwerer Leiden« trugen. Der »Ausschuss« setzte ab August 1939 eine<br />

reichsweite Meldepflicht für behin<strong>der</strong>te Kin<strong>der</strong> bis zum dritten Lebensjahr in Gang. Ab<br />

Sommer 1940 wurden im gesamten Deutschen Reich etwa 30 Kin<strong>der</strong>fachabteilungen an Heil-<br />

und Pflegeanstalten o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>kliniken eingerichtet, in die geistig bzw. körperlich behin<strong>der</strong>te<br />

Kin<strong>der</strong> durch die Gesundheitsämter eingewiesen, beobachtet und schließlich mit<br />

Medikamenten getötet wurden. Den Eltern wurde die Durchführung mo<strong>der</strong>ner Diagnostik und<br />

Therapie vorgespielt, <strong>der</strong> Tod <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> als »Erlösung« durch eine Lungenentzündung<br />

inszeniert. Ein Anstoß für den Beginn <strong>der</strong> »Kin<strong>der</strong>euthanasie«, <strong>der</strong> bis 1945 mindestens 5.000<br />

Kin<strong>der</strong> zum Opfer fielen, war <strong>der</strong> »Fall Knauer«. Er ist bis heute nicht genau zu datieren. Eltern<br />

eines behin<strong>der</strong>ten Säuglings hatten sich an die »Kanzlei des Führers« gewandt, um die Tötung<br />

des Kindes zu erreichen. Das Kind wurde dann in <strong>der</strong> Leipziger Universitätsklinik umgebracht.<br />

4. . Der Der Patientenmord Patientenmord im im Rahmen Rahmen <strong>der</strong> <strong>der</strong> »Aktion Aktion TT<br />

T 4« (1940 (1940/41) (1940 41)<br />

Die »Kin<strong>der</strong>euthanasie« markierte den Auftakt zu weiteren Verbrechen. Seit Sommer 1939,<br />

zeitgleich mit <strong>der</strong> Vorbereitung des Angriffs auf Polen durch die Wehrmacht, plante das<br />

Hauptamt II <strong>der</strong> »Kanzlei des Führers« auch den Mord an jugendlichen und erwachsenen<br />

Patienten in Heil- und Pflegeanstalten. Der Würzburger Psychiater und Neurologe Prof.<br />

Werner Heyde übernahm die medizinische Leitung des Tötungsprogramms. »Legalisiert«<br />

wurde <strong>der</strong> Mord durch ein Schreiben Hitlers vom Oktober 1939, das auf den 1. September, den<br />

Tag des Kriegsbeginns, zurückdatiert wurde. NSDAP-Reichsleiter Philipp Bouhler sowie<br />

Hitlers Begleitarzt Dr. Karl Brandt erhielten darin den Auftrag, ärztliche Befugnisse so zu<br />

erweitern, dass unheilbar Kranken <strong>der</strong> »Gnadentod gewährt werden kann«. Die Rückdatierung<br />

des Erlasses macht deutlich, dass für die deutsche Führung mit <strong>der</strong> militärischen Expansion<br />

endgültig auch <strong>der</strong> ›Krieg im Inneren‹ begonnen hatte – gegen all jene, die ihren rassistischen<br />

und bevölkerungspolitischen Vorstellungen nicht entsprachen. Von <strong>der</strong> Berliner<br />

Zentraldienststelle aus (als Absen<strong>der</strong> diente allerdings das Reichsinnenministerium) wurden<br />

an die Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich und den angeglie<strong>der</strong>ten Gebieten<br />

10


Meldebogen versandt, die die mit <strong>der</strong> Patientenbehandlung betrauten Psychiater vor Ort<br />

ausfüllten und die schließlich etwa 40 von <strong>der</strong> Zentrale angeworbene Ärzte begutachteten. Sie<br />

entschieden über Leben und Tod. Die ausgewählten Patienten – Kin<strong>der</strong>, Frauen und Männer–<br />

wurden zur Tarnung in sogenannte Zwischenanstalten (eingerichtet ab Frühjahr 1940)<br />

gebracht. Busse <strong>der</strong> »Gemeinnützigen Krankentransport GmbH« (GeKraT), einer Tarnfirma <strong>der</strong><br />

Zentrale in <strong>der</strong> Tiergartenstraße, transportierten die Patienten zwischen Januar 1940 und<br />

August 1941 von den Zwischenanstalten in eine <strong>der</strong> sechs Tötungsanstalten<br />

– Grafeneck (Württemberg),<br />

– Brandenburg/Havel,<br />

– Hartheim (Oberösterreich),<br />

– Pirna-Sonnenstein (Sachsen),<br />

– Bernburg (Anhalt),<br />

– Hadamar (Hessen-Nassau).<br />

Hier kamen die Verschleppten in eigens eingerichteten Gaskammern nach <strong>der</strong> Einleitung von<br />

Kohlenmonoxid qualvoll um. Angestellte <strong>der</strong> Tötungsanstalten verbrannten ihre Leichen in<br />

eigens installierten Krematorien. Den Angehörigen wurde angeboten, die sterblichen<br />

Überreste auf einen Friedhof zugestellt zu bekommen. Der Mordarzt hatte bereits bei <strong>der</strong><br />

»Untersuchung« vor <strong>der</strong> »Vergasung« eine unverfängliche Todesursache vermerkt. Dazu<br />

wählte er aus einem Katalog vorgegebener Möglichkeiten aus. Angehörige wurden in<br />

sogenannten Trostbriefen nach festem Schema benachrichtigt. Auch Todesorte und<br />

Todesdaten wurden gefälscht. Die Mordärzte verwendeten bei <strong>der</strong> Unterschrift Decknamen.<br />

Zu beson<strong>der</strong>s aufwendigen Methoden <strong>der</strong> Täuschung griff die Berliner Zentrale hinsichtlich<br />

ermordeter jüdischer Heimbewohner und Patienten im Deutschen Reich. Die Mehrzahl von<br />

ihnen wurde 1940/41 in drei Wellen, getrennt von den nichtjüdischen Opfern, verschleppt und<br />

in Hartheim, Brandenburg und Hadamar mit Gas erstickt. Die Sterbeurkunden enthielten als<br />

Angabe zum Todesort »Irrenanstalt Cholm, Post Lublin«. Dabei handelte es sich um eine nicht<br />

mehr bestehende psychiatrische Anstalt im besetzten Polen, in <strong>der</strong> sämtliche Patienten im<br />

Januar 1940 durch die SS ermordet worden waren. Cholm fungierte also nur als<br />

Briefkastenadresse. In Wirklichkeit hatten Mitarbeiter <strong>der</strong> »T 4«-Zentrale in <strong>der</strong> Berliner<br />

Tiergartenstraße die Todesnachrichten verfasst; anschließend wurden sie von einem Kurier<br />

nach Lublin gebracht und von dort per Post an die Angehörigen verschickt.<br />

11


5. 5. Die Die »T 4«-Zentrale Zentrale und und die die Ermordung Ermordung von von KZ KZ-Häftlingen KZ Häftlingen (»Son<strong>der</strong>behandlung (»Son<strong>der</strong>behandlung 14 f 13«)<br />

13«)<br />

Ein weiteres Verbrechen, bei dem die Mordzentrale in <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4 zumindest<br />

anfänglich eine Schlüsselrolle spielte, richtete sich gegen Häftlinge von Konzentrationslagern.<br />

Dieser Massenmord erhielt von <strong>der</strong> SS die Bezeichnung »Son<strong>der</strong>behandlung 14 f 13«. Das<br />

Wort Son<strong>der</strong>behandlung verwendeten die Täter für die physische Vernichtung von Menschen,<br />

»14f« für Todesfälle in Konzentrationslagern und »13« für die Todesart: Erstickung durch Gas.<br />

Nach dem Krieg haben sich Verantwortliche für das ›Euthanasie‹-Programm zwar von diesen<br />

Morden distanziert. Jedoch waren es Ärzte aus dem Bereich <strong>der</strong> »Euthanasie«-Aktion, die seit<br />

Frühjahr 1941 arbeitsunfähige Häftlinge in Konzentrationslagern »selektierten«, um sie dann in<br />

Tötungsanstalten verbringen zu lassen. Die »Aktion T 4« sollte dabei helfen, die Leidtragenden<br />

<strong>der</strong> katastrophalen Verelendung geräuschlos aus den Lagern verschwinden zu lassen: durch<br />

Mord außerhalb <strong>der</strong> Internierungsorte. Den Betroffenen wurde vorgetäuscht, sie würden in<br />

Sanatorien und Krankenhäuser verlegt. Ab März 1942 übernahm das SS-Wirtschafts-<br />

Verwaltungshauptamt die Fe<strong>der</strong>führung bei »14 f 13«. Die Ärzte kamen weiterhin aus dem<br />

Umkreis <strong>der</strong> »Euthanasie«, mussten nun aber <strong>der</strong> SS und Polizei angehören. Zu den Opfern <strong>der</strong><br />

»Son<strong>der</strong>behandlung« gehörten jetzt auch arbeitsfähige Häftlinge, die als Juden, Zigeuner o<strong>der</strong><br />

Homosexuelle inhaftiert waren und nun systematisch ausgesucht und umgebracht wurden.<br />

Bis Ende 1943 sind dem Komplex »14 f 13« bis zu 20.000 Menschen zum Opfer gefallen.<br />

6. . Parallele Parallele Verbrechen:<br />

Verbrechen: Verbrechen: Patienten <strong>Patientenmorde</strong> Patienten morde <strong>der</strong> SS nach ach ach Kriegsbeginn<br />

Während die Berliner Zentrale im Herbst 1939 noch den Gasmord an Patienten plante, schritt<br />

<strong>der</strong> NSDAP-Gauleiter von Pommern, Franz Schwede, bereits zur Tat. Er ließ die<br />

Anstaltsbewohner pommerscher Anstalten zusammenziehen und in den Gau Danzig-<br />

Westpreußen, in den ehemaligen polnischen Korridor, bringen. Dort wurden sie durch eine<br />

SS-Einheit erschossen. Dieses Verbrechen an deutschen Patienten war Teil <strong>der</strong> bereits im<br />

September 1939 angelaufenen Massenmorde im besetzten Polen, denen 80.000 Angehörige<br />

<strong>der</strong> polnischen Oberschicht und bis zu 17.000 psychisch Kranke zum Opfer fielen. Auch die<br />

Gauleiter des Warthegaus und Ostpreußens, Greiser und Koch, waren an <strong>Patientenmorde</strong>n<br />

beteiligt. So wurden über 1.500 Bewohner ostpreußischer Provinzialanstalten und bis zu 300<br />

Patienten aus Polen im Mai und Juni 1940 in Soldau, das in <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit zu Polen<br />

gehört hatte, durch das SS-Son<strong>der</strong>kommando Lange erschossen o<strong>der</strong> in einem Gaswagen<br />

ermordet. In Posen wurden bereits zuvor, im Oktober und November 1939, verschleppte<br />

12


Heimbewohner bzw. Patienten in einer stationären Gaskammer im Festungswerk Fort VII<br />

ermordet. Die Tötungsmethode – Giftgas – stimmte nicht zufällig mit jener überein, die die<br />

Berliner »T 4-Zentrale« für ihre Verbrechen wählte. Mit großer Wahrscheinlichkeit beteiligte<br />

sich <strong>der</strong> »Chemiker <strong>der</strong> Vernichtung« Albert Widmann, auf den <strong>der</strong> Einsatz von Kohlenmonoxid<br />

im Rahmen von »T 4« zurückgeht, auch an <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Gaswagen für das<br />

Son<strong>der</strong>kommando Lange.<br />

Am 22. Juni 1941 marschierte die Wehrmacht in die Sowjetunion ein. In ihrem Gefolge führten<br />

Einsatzgruppen <strong>der</strong> SS Massenmorde an über einer Million Juden, an Kommunisten, Roma<br />

und psychisch kranken Menschen aus. Sie wurden erschossen o<strong>der</strong> – im Falle von Minsk – in<br />

geschlossenen Räumen mit Sprengstoff getötet; zusätzlich waren auch etwa 30 sogenannte<br />

Gaswagen im Einsatz. Im weißrussischen Mogilew richteten die deutschen Besatzer auch<br />

eine stationäre Gaskammer ein, die mit Autoabgasen betrieben wurde. Neuere Schätzungen<br />

gehen von einer Zahl von 20.000 ermordeten Patienten in <strong>der</strong> besetzten Sowjetunion aus.<br />

Mittlerweile hatte ein Transfer <strong>der</strong> Tötungstechniken stattgefunden: Die an Behin<strong>der</strong>ten und<br />

Kranken ›erprobte‹ Mordmethode wurde nun auch massenhaft an Juden verübt, und dies nicht<br />

nur in den besetzten sowjetischen Gebieten. Im Herbst 1941 richtete das Son<strong>der</strong>kommando<br />

Lange in Kulmhof (Chełmno nad Nerem) im Warthegau, nördlich <strong>der</strong> polnischen Stadt Lodz, ein<br />

Vernichtungslager mit Gaswagen ein. Am 8. Dezember 1941 begann dort <strong>der</strong> Mord an über<br />

150.000 Menschen – vornehmlich an Juden, aber auch an Sinti, Roma und an<strong>der</strong>en.<br />

7. Einstellung Einstellung de <strong>der</strong> de r Tötungen durch Gas, » »T »<br />

4« und und die die Ermordung Ermordung <strong>der</strong> <strong>der</strong> Juden Juden in in Zentralpolen<br />

Zentralpolen<br />

Die wegen <strong>der</strong> <strong>Patientenmorde</strong> aufkommende Unruhe in <strong>der</strong> Bevölkerung wurde in den Augen<br />

<strong>der</strong> NS-Führung zunehmend zum Problem. Nach einer Predigt des Bischofs von Münster,<br />

Clemens August Graf von Galen, in <strong>der</strong> er die ›Euthanasie‹ geißelte, ordnete Hitler am<br />

24. August 1941 die Einstellung <strong>der</strong> Gasmorde an. In <strong>der</strong> »T 4-Zentrale« in <strong>der</strong> Tiergartenstraße<br />

4 war man von dieser Entscheidung völlig überrascht. Man ging davon aus, dass die<br />

Gasmorde nach einer Pause fortgesetzt würden. Dies geschah hinsichtlich Patienten und<br />

Anstaltsbewohnern bis Kriegsende nicht mehr; die Gaskammern von Pirna-Sonnenstein,<br />

Bernburg und Hartheim wurden allerdings, wie erwähnt, weiterhin zum Mord an<br />

Konzentrationslagerhäftlingen benutzt.<br />

Die »Kanzlei des Führers« stellte Ende 1941 und Anfang 1942 insgesamt 92 Angestellte <strong>der</strong><br />

»T 4«-Zentrale an die SS ab. Kraftfahrer, Leichenverbrenner, aber auch Bürokräfte beteiligten<br />

13


sich nun an <strong>der</strong> Umsetzung <strong>der</strong> »Aktion Reinhardt«, dem Massenmord an den Juden<br />

Zentralpolens in den drei Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Kommandant von Belzec (ab<br />

August 1942 Inspekteur aller drei Lager <strong>der</strong> »Aktion Reinhardt«) wurde Christian Wirth, <strong>der</strong><br />

frühere Büroleiter <strong>der</strong> »T 4«-Tötungsanstalten Grafeneck, Brandenburg, Hadamar und<br />

Hartheim. Irmfried Eberl, Tötungsarzt in Brandenburg und Bernburg, leitete das Lager<br />

Treblinka. Dort wurde er von Franz Stangl abgelöst, <strong>der</strong> zuvor für Wirth in Hartheim unter<br />

an<strong>der</strong>em als Leiter des Standesamtes fungiert und zahlreiche Sterbeurkunden ermordeter<br />

Patienten gefälscht hatte. Der »Aktion Reinhardt« fielen bis 1943 etwa 1,75 Millionen Juden<br />

sowie Tausende Sinti und Roma zum Opfer.<br />

8. . . DDie<br />

D<br />

ie ie dezentrale dezentralen dezentrale Krankenmord<br />

Krankenmorde Krankenmord<br />

1941 1941 – 1945 1945<br />

1945<br />

Nach dem Ende des Gasmordes endete die Tötung von Patienten und Heimbewohnern nicht;<br />

sie geschah jetzt durch Aushungern und durch die Verabreichung von Medikamenten. Das<br />

Verbrechen fand nun in vielen Heil- und Pflegeanstalten statt. Erst in jüngerer Zeit ist es <strong>der</strong><br />

historischen Forschung durch Einzelfallstudien gelungen, die den Morden vorangegangenen<br />

Patientenverlegungen detailliert zu belegen und die dafür Verantwortlichen zu benennen.<br />

Diese sind sowohl auf regionaler Ebene als auch auf Reichsebene zu finden, wo die weiter<br />

bestehende »T 4«-Zentrale in Berlin zusammen mit <strong>der</strong> Gesundheitsabteilung des<br />

Reichsinnenministeriums ein bestimmen<strong>der</strong> Akteur blieb. Der Verlauf des Verbrechens hing<br />

nun eng mit <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Kriegssituation zusammen. Die Wehrmacht befand sich in<br />

verlustreichen Rückzugsgefechten, zugleich trafen alliierte Flächenbombardements zahlreiche<br />

deutsche Großstädte. Die Wehrmacht benötigte zunehmend Raum für Lazarettzwecke; auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite suchten immer mehr Krankenhäuser durch die Folgen des Luftkrieges nach<br />

Ausweichquartieren. Die Gesundheitsverwaltung sah in psychisch Kranken »Platzhalter für<br />

den Bedarfsfall. Sie hielten die Betten warm, […] die Anstalt konnte nicht zur Kaserne<br />

umgewandelt werden« (Götz Aly). Trat <strong>der</strong> Bedarfsfall in den Augen <strong>der</strong> NS-<br />

Gesundheitspolitiker bzw. regionaler Verantwortlicher ein, wurden psychisch Kranke o<strong>der</strong><br />

Behin<strong>der</strong>te in an<strong>der</strong>e Anstalten verlegt und ihre Betten an Patienten städtischer<br />

Krankenhäuser vergeben. Die »T 4«-Zentrale koordinierte zahlreiche dieser Transporte. Mit<br />

<strong>der</strong> Einstellung <strong>der</strong> Gasmorde hatte die Verwaltung in <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4 zwar ihre<br />

Machtstellung auf Reichsebene verloren, sie übte durch die Erfassung <strong>der</strong> Pflegekapazitäten<br />

dennoch weiterhin Planungskontrolle über die Heil- und Pflegeanstalten aus.<br />

14


Zugleich entwickelte die »T 4«-Zentrale zusammen mit den führenden Psychiatern in<br />

Deutschland Pläne für die zukünftige Organisation <strong>der</strong> Psychiatrie: Für die heilbaren Kranken<br />

sollte alles therapeutisch Mögliche getan werden, während die »unheilbar Kranken« und die<br />

»Pflegefälle« einer unauffälligen »Euthanasie« anheimfallen sollten. Heilen und Vernichten<br />

lagen in diesen Vorstellungen nah beieinan<strong>der</strong>.<br />

Die Verschleppung von psychisch Kranken zur Gewinnung von Krankenhausbetten wird auch<br />

als »Aktion Brandt« bezeichnet, benannt nach Karl Brandt, <strong>der</strong> 1942 zum »Generalkommissar<br />

für das Sanitäts- und Gesundheitswesen« aufgestiegen war. Er spielte bei <strong>der</strong><br />

Verlegungspolitik schon ab 1941, und dann wie<strong>der</strong> ab 1943, eine entscheidende Rolle. Die<br />

»Aktion Brandt« kann zunächst als Deportation von psychisch kranken und gebrechlichen<br />

Patienten im Rahmen einer totalitären Katastrophenmedizin aufgefasst werden; in ihrem<br />

weiteren Verlauf wurde <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> verlegten Menschen immer weiter ausgeweitet, auch<br />

auf traumatisierte Opfer des Bombenkriegs, Wehrmachtsoldaten und psychisch und<br />

körperlich kranke Zwangsarbeiter. Zunehmend war sie an die Tötung <strong>der</strong> Patienten gekoppelt.<br />

Diese Morde wurden nun in den aufnehmenden Anstalten begangen. Ein reichsweit<br />

gesteuertes Gutachterverfahren über das Schicksal <strong>der</strong> Patienten entfiel; Ärzte, Schwestern<br />

und Pfleger vor Ort entschieden selbst. Maßgeblich waren hier die mangelnde<br />

Arbeitsfähigkeit und <strong>der</strong> Pflegeaufwand, aber auch solche Patienten wurden hingerichtet, die<br />

dem Personal lästig wurden, beispielsweise Heimbewohner, die durch Bettnässen,<br />

Fluchtversuche o<strong>der</strong> Diebstahl aufgefallen waren. Auch Unruhe, Wi<strong>der</strong>setzlichkeit,<br />

Masturbation o<strong>der</strong> Homosexualität konnten das Todesurteil bedeuten. 90.000 Menschen<br />

wurden in <strong>der</strong> Phase des dezentralen Krankenmordes allein auf dem Gebiet des Deutschen<br />

Reiches in den Grenzen von 1937 umgebracht. Zu den Toten dieser Phase des Verbrechens<br />

zählen auch zahlreiche ausländische Zwangsarbeiter, die in Sammelanstalten verbracht und<br />

dort ermordet wurden. Dies betraf nicht nur geistig erkrankte Arbeiter, son<strong>der</strong>n auch<br />

Tuberkulosekranke.<br />

15


9. Übersichtskarten zur »Euthanasie«<br />

»Euthanasie«-Aktion »Euthanasie«<br />

Aktion 1939 – 1945<br />

Quelle: Institut für Zeitgeschichte München – Berlin<br />

16


Nach Nach Kriegsende<br />

Kriegsende<br />

Kriegsende<br />

Das Sterben <strong>der</strong> Patienten in Deutschland hörte mit <strong>der</strong> Befreiung durch die Alliierten nicht<br />

auf. Im Krankenhaus Eglfing-Haar bei München gewann <strong>der</strong> Psychiater Gerhard Schmidt im<br />

Juni/Juli 1945, Wochen nach dem Einmarsch <strong>der</strong> Amerikaner den Eindruck »eines<br />

Siechenasyls. Kein Lärm. Keine Bewegung. (…) Und doch gab es einige <strong>der</strong> fast verhungerten<br />

Patienten, die ihre Situation sehr gut erkannten.« Noch bis etwa 1947 wurden<br />

Psychiatriepatienten Opfer des Hungersterbens. Die Schwächsten <strong>der</strong> Gesellschaft erhielten<br />

angesichts <strong>der</strong> allgemeinen Nahrungsmittelknappheit am wenigsten. Der Nachweis weiterer<br />

gezielter Tötungen nach dem 8. Mai 1945 ist bis jetzt nur für die Anstalt Kaufbeuren zu<br />

erbringen. Zwar war <strong>der</strong> dortige Leiter Valentin Faltlhauser, <strong>der</strong> die »Hungerkost« in Bayern<br />

eingeführt und diese 1942 auf einer Direktorenkonferenz in München vorgestellt hatte, bereits<br />

verhaftet worden. Unter seinem Stellvertreter gingen die Morde aber noch bis Anfang Juli<br />

1945 weiter. Erst elf Stunden vor Eintreffen <strong>der</strong> zur Hilfe gerufenen Amerikaner war <strong>der</strong> letzte<br />

Patient getötet worden.<br />

Am Beispiel Faltlhausers lässt sich <strong>der</strong> Umgang <strong>der</strong> Nachkriegsjustiz mit dem Thema<br />

»Euthanasie« gut belegen. Ein erstes Euthanasieverfahren hatte ein amerikanisches<br />

Militärgericht in Wiesbaden im November 1945 gegen sieben Ärzte und Angestellte aus<br />

Hadamar durchgeführt. Weitere Verfahren folgten, von denen <strong>der</strong> sogenannte Nürnberger<br />

Ärzteprozess (1946/47), in dem unter an<strong>der</strong>em Karl Brandt zum Tode verurteilt wurde, <strong>der</strong><br />

bekannteste war. Valentin Faltlhauser und vier weitere Angestellte <strong>der</strong> Anstalt Kaufbeuren<br />

standen 1949 vor dem Landgericht Augsburg. 200 Mitarbeiter <strong>der</strong> Anstalt wurden als Zeugen<br />

gehört; außer Faltlhauser selbst stritten die befragten Ärzte jedes Wissen um die Morde ab.<br />

Wi<strong>der</strong>sprüche in den Aussagen bzw. offenkundige Lügen wurden durch die Ermittler nicht<br />

weiterverfolgt, überhaupt verzichtete die bayerische Justiz auf Strafverfolgung eines großen<br />

Teils des Kaufbeurener Klinikpersonals. Faltlhauser erhielt eine Haftstrafe von drei Jahren.<br />

Während die Täter und Mittäter also nur selten zur Rechenschaft gezogen wurden,<br />

verweigerten Staat und Gesellschaft den überlebenden und den ermordeten Opfern lange<br />

Anerkennung und Mitgefühl. So blieben Zwangssterilisierten in Westdeutschland nach dem<br />

Bundesentschädigungsgesetz nur wenige Möglichkeiten, einen finanziellen Ausgleich für ihre<br />

Leiden zu erhalten; Dreh- und Angelpunkt war <strong>der</strong> Umgang mit dem »Gesetz zur Verhütung<br />

erbkranken Nachwuchses«, dem die Bundesregierung 1957 attestierte, es sei kein typisch<br />

17


nationalsozialistisches Gesetz. Erst 1988 ächtete es <strong>der</strong> Bundestag und sprach den Opfern<br />

sein Mitgefühl aus, hob das Gesetz aber nicht auf. Mit dem NS-Aufhebungsgesetz von 1998<br />

wurden schließlich die Entscheidungen <strong>der</strong> Erbgesundheitsgerichte für ungültig erklärt. Einen<br />

Rechtsanspruch auf Entschädigung haben die Opfer allerdings nicht. Sie sind bis heute nicht<br />

als Opfer <strong>der</strong> NS-Verfolgung gemäß Bundesentschädigungsgesetz anerkannt.<br />

Während hier also ein Stillstand in <strong>der</strong> Aufarbeitung historischen Unrechts und individuellen<br />

Leids zu beklagen ist, so hat sich die Situation von psychisch Kranken, von körperlich und<br />

geistig Behin<strong>der</strong>ten in den letzten Jahrzehnten in Deutschland deutlich verbessert. Dass in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik ein Wandel in <strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung von Behin<strong>der</strong>ung und<br />

psychischer Erkrankung eingetreten ist, liegt auch an <strong>der</strong> Entwicklung einer eigenständigen<br />

Behin<strong>der</strong>tenbewegung.<br />

Es sei allerdings angemerkt, dass alte Denkmuster weiter wirken und dass die UN-Konvention<br />

zur »Inklusion« von Behin<strong>der</strong>ten, die die Bundesrepublik 2008 ratifiziert hat, noch mit Leben zu<br />

füllen ist. Vorstellungen von »unwertem Leben« in <strong>der</strong> Tradition von »Euthanasie«-<br />

Verfechtern <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts existieren weiterhin in den Köpfen. Sie<br />

sind im sogenannten bioethischen Diskurs erkennbar geworden – in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

um Spätabtreibungen und die Tötungen von behin<strong>der</strong>ten Neugeborenen. Nicht aus dem Blick<br />

geraten sollte auch, dass in globaler Perspektive die Behandlung behin<strong>der</strong>ter o<strong>der</strong> psychisch<br />

kranker Menschen in vielen Staaten beklagenswert ist, – angefangen mit einigen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

ehemaligen Sowjetunion.<br />

18


Inhalte Inhalte einer einer Dokumentation Dokumentation am am historischen historischen Ort<br />

Ort<br />

Vorbemerkung<br />

Vorbemerkung<br />

Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas hat vor längerem ein Grundkonzept<br />

für eine historische Dokumentation erstellt, das den Gesamtkomplex umreißen soll. Es reicht<br />

von <strong>der</strong> Vorgeschichte zwischen 1895 und 1939 im <strong>der</strong> <strong>nationalsozialistischen</strong> Rassenideologie<br />

und den Planungen für Patiententötungen, über die Krankenmorde in Pommern, dem ehemals<br />

polnischen Westpreußen und Wartheland von September 1939 bis April 1940, die Rolle <strong>der</strong><br />

Zentrale von »T 4« und das reichsweite Morden in sechs Anstalten (Januar 1940 – August<br />

1941), »Euthanasie« und Holocaust (»Aktion Reinhardt«) sowie die Darstellung des<br />

Zusammenhangs mit dem Holocaust und die Weiterführung <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tentötung in<br />

Deutschland und den besetzten Gebieten (1941 – 1944/45) bis zur Nachkriegszeit.<br />

Hierbei sollen exemplarische Opferbiographien, die die Bandbreite des Mordens und <strong>der</strong><br />

Opfergruppen zwischen 1939 und 1945 wi<strong>der</strong>spiegeln, ein beson<strong>der</strong>es Gewicht erhalten,<br />

ebenso wie die Ausgrenzung <strong>der</strong> Betroffenen als Opfer nach dem Krieg und ihr Kampf um<br />

Anerkennung. Zugleich geht es darum, exemplarisch das Handeln <strong>der</strong> Täter und auch ihre<br />

Karrieren nach dem Krieg zu dokumentieren.<br />

Was den Umfang einer solchen Dokumentation anbelangt, so gilt <strong>der</strong> Grundsatz: So viel<br />

Wissensvermittlung wie notwendig, um einen Ort ohne historische Spuren als Ausgangspunkt<br />

eines Jahrhun<strong>der</strong>tverbrechens zum Sprechen zu bringen, und so viel Information wie am<br />

historischen Standort möglich, um Opfer und Akteure sichtbar zu machen.<br />

19


Glie<strong>der</strong>ung:<br />

Glie<strong>der</strong>ung:<br />

1) 1) 1) <strong>Geschichte</strong> <strong>Geschichte</strong> des des des Gebäudes Gebäudes<br />

Gebäudes<br />

a. Kurzer Abriss zur Vorgeschichte des Areals im Berliner Tiergartenviertel und<br />

des Gebäudes bis zu seiner Inbesitznahme für »T 4« (inkl. »Arisierung«)<br />

2) 2) 2) Eugenik, Eugenik, NS NS-Rassenideologie,<br />

NS Rassenideologie, -psychiatrie psychiatrie und -gesetzgebung<br />

gesetzgebung – die die Vorgeschichte<br />

(1 (1895 (1<br />

895 – 1939)<br />

a. Exklusion und soziale Kontrolle: Kranke und behin<strong>der</strong>te Menschen und die<br />

Entwicklung des mo<strong>der</strong>nen Fürsorgewesens.<br />

b. Erläuterung <strong>der</strong> und kurzer Abriss zur Idee <strong>der</strong> Eugenik weltweit<br />

c. Die Debatte um die ärztliche »Erlösung« unheilbar Kranker und die<br />

»Vernichtung lebensunwerten Lebens«<br />

d. NS-Rassenideologie und Propaganda (Stichwort: »<strong>der</strong> arische Mensch«)<br />

e. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« als erstes Rassegesetz<br />

(14. Juli 1933)<br />

f. Gleichschaltung <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenorganisationen<br />

g. Umgang mit behin<strong>der</strong>ten Menschen (»Erbgesundheitspflege«) und<br />

»Auskämmung von Asozialen« sowie Zwangssterilisationen, Verbot <strong>der</strong><br />

Beschulung, Exklusion und »Volksgemeinschaft«<br />

h. Planung <strong>der</strong> »Euthanasie« bis 1. September 1939<br />

i. Rolle <strong>der</strong> NS-Psychiatrie und -neurologie in <strong>der</strong> Rassenideologie, bei Planung<br />

und Durchführung des Mordens / Reaktionen (»Euphorie« angesichts<br />

erwarteter wissenschaftlicher Meriten und Fortschritte, Zusammenhang von<br />

Heilen und Vernichten)<br />

3) 3) Krankenmorde Krankenmorde Krankenmorde in in Pommern, Pommern, dem dem ehemals ehemals polnischen polnischen Westpreußen Westpreußen Westpreußen und und dem<br />

dem<br />

Wartheland Wartheland (Septembe (September (Septembe (September<br />

r 1939 1939 – April 1940)<br />

a. Angriff auf Polen und Beginn <strong>der</strong> »Vernichtung lebensunwerten Lebens« von<br />

Polen, Juden und Deutschen durch Erschießen und in Gaswagen<br />

b. Regionale Verantwortung und Rolle <strong>der</strong> SS: Platz für umgesiedelte<br />

»Volksdeutsche« und SS schaffen<br />

20


4) 4) Die Die Zentrale Zentrale <strong>der</strong> <strong>der</strong> »Euthanasie« »Euthanasie« im im Rahmen Rahmen von von »T »T 4« 4« – Organisation und Personal<br />

a. Zentrale und reichseinheitliche Organisation des <strong>Patientenmorde</strong>s – Struktur<br />

und Topographie in Berlin<br />

b. Personal; exemplarische Täterbiographien (SS, Ärzte, Juristen)<br />

c. Der rückdatierte »Führererlass« vom 1. September 1939<br />

5) 5) 5) Das Das reichsweite reichsweite Morden Morden in in Anstalten Anstalten (Januar (Januar 1940 1940 – August 1941) – »T 4« 4«-Aktion 4« Aktion<br />

a. System <strong>der</strong> Erfassung von Patienten<br />

b. System <strong>der</strong> Selektion und die Selektionskriterien <strong>der</strong> Täter<br />

c. die Tötungsanstalten (Brandenburg/Havel und Grafeneck, dann Hadamar,<br />

Pirna-Sonnenstein, Hartheim und Bernburg)<br />

d. Topographie des weitverzweigten Netzes <strong>der</strong> Durchgangsanstalten<br />

(Zwischenanstalten)<br />

e. Der angebliche Sterbeort »Irrenanstalt Cholm« bei Lublin – Son<strong>der</strong>aktion gegen<br />

jüdische Patienten<br />

f. »Euthanasie« und Gesellschaft zwischen Zustimmung, Hinnahme und<br />

Wi<strong>der</strong>stand; Abbruch <strong>der</strong> »T 4«-Aktion<br />

g. Nutznießer <strong>der</strong> »Euthanasie« (Wehrmacht, Staat und Partei sowie<br />

Wissenschaft)<br />

h. Opferzahlen<br />

6) 6) »Kin<strong>der</strong>euthanasie« »Kin<strong>der</strong>euthanasie« und und »Aktion »Aktion 14 14 f 13«<br />

13«<br />

a. Mord an geistig o<strong>der</strong> körperlich behin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />

b. Tötung von kranken und nicht mehr arbeitsfähigen KZ-Häftlingen (1941 – Winter<br />

1944/45)<br />

7) 7) »Euthanasie« »Euthanasie« und und Holocaust Holocaust (»Aktion (»Aktion Reinhardt«)<br />

Reinhardt«)<br />

Reinhardt«)<br />

a. Methoden (Selektion <strong>der</strong> Opfer durch Ärzte, Massenmord durch Giftgas, die<br />

Täuschung <strong>der</strong> Opfer durch Tarnung <strong>der</strong> Gaskammer als Duschraum, das<br />

Fled<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Leichen durch Ausbrechen des Zahngoldes und die<br />

wissenschaftliche Verwertung innerer Organe, Beseitigung <strong>der</strong> Leichen, die<br />

Täuschung <strong>der</strong> Angehörigen durch Sterbedokumente mit falschen Daten)<br />

21


. Personal: über 100 <strong>der</strong> in <strong>der</strong> »Euthanasie« ausgebildeten und tätigen<br />

Beschäftigten stellten das »Fachpersonal« für die Durchführung des<br />

Massenmordes durch Giftgas im besetzten Polen<br />

c. »Aktion Reinhardt« 1942/43 (Belzec, Sobibor, Treblinka mit etwa 1,75 Millionen<br />

ermordeten Juden)<br />

8) 8) 8) Weiterführung Weiterführung <strong>der</strong> <strong>der</strong> Krankenmorde Krankenmorde / Behin<strong>der</strong>tentötung Behin<strong>der</strong>tentötung in in Deutschland Deutschland und und den<br />

den<br />

besetzten besetzten Gebieten Gebieten (1941 (1941 – 1944/45)<br />

a. Deutsches Reich: Wechsel <strong>der</strong> Tötungsmethode (statt Gas Vernachlässigung<br />

<strong>der</strong> medizinischen Pflege, Hungerkost o<strong>der</strong> Überdosen von Medikamenten) –<br />

regionaler (Hadamar und Meseritz-Obrawalde) und dezentraler Mord<br />

b. Verdrängung und Vernichtung <strong>der</strong> Psychiatriepatienten unter den Bedingungen<br />

des »totalen Krieges«<br />

i. Zusätzliche Opfergruppen: erkrankte Zwangsarbeiter, durch den<br />

Bombenkrieg Verwirrte sowie nervenzerrüttete Soldaten<br />

c. Besetztes Europa: Massenmord auf sowjetischem (Lettland, Ukraine und<br />

Weißrussland) und auf ehemals tschechoslowakischem Gebiet, in Elsass-<br />

Lothringen sowie Planungen für Italien (Vernichtungslager Risiera di San<br />

Sabba in Triest)<br />

9) 9) Nachkriegszeit<br />

Nachkriegszeit<br />

a. Strafverfolgung <strong>der</strong> Täter seit 1945 (Bundesrepublik, DDR und Österreich)<br />

b. Kontinuität von Denkweisen, Strukturen und Fragestellungen in <strong>der</strong> Ärzteschaft<br />

c. Täterbiographien (Karrieren in <strong>der</strong> Nachkriegszeit)<br />

d. Psychiatriereform und Behin<strong>der</strong>tenbewegung in <strong>der</strong> Bundesrepublik und<br />

Westeuropa bis 1989<br />

e. Behin<strong>der</strong>ung und Krankheit im »bioethischen Diskurs« heute<br />

10) 10) Exemplarische Exemplarische Opferbiographien<br />

Opferbiographien, Opferbiographien die die Bandbreite des Mordens und <strong>der</strong><br />

Opfergruppen zwischen 1939 und 1945 wi<strong>der</strong>spiegeln (inkl. Berliner, jüdischer und<br />

zweier ausländischer, zum Beispiel polnischer, lettischer o<strong>der</strong> ukrainischer,<br />

Mordopfer; Opfer kamen aus allen Schichten <strong>der</strong> Bevölkerung.)<br />

22


11) 11) Ausgrenzung <strong>der</strong> Betroffenen als Opfer nach dem Krieg, Kampf Kampf um um Anerkennung,<br />

Anerkennung,<br />

rechtliche rechtliche rechtliche Rehabilitierung Rehabilitierung Rehabilitierung und und und Erinnerung Erinnerung Erinnerung an die Ermordeten sowie ihre<br />

traumatisierten Kin<strong>der</strong>, Auftreten als Zeugen in »Euthanasie«-Prozessen, Gründung<br />

des Bundes <strong>der</strong> »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. 1987;<br />

Engagement <strong>der</strong> Angehörige, Recherchen in- und außerhalb <strong>der</strong> eigenen Familien,<br />

Stolpersteinverlegungen<br />

12) 12) 12) Verweis Verweis auf auf Gedenkstätten Gedenkstätten an historischen Orten und <strong>der</strong>en Entstehung bzw. Hinweis<br />

auf das Fehlen eines angemessenen Gedenkens (zum Beispiel: Computerterminals)<br />

23


Dimensionen Dimensionen des des Verbrechens: Verbrechens: Biographien von Opfern und Tätern<br />

Vorbemerkung<br />

Vorbemerkung<br />

»Das Vergessen <strong>der</strong> Vernichtung ist Teil <strong>der</strong> Vernichtung selbst!«, schrieb <strong>der</strong> französische<br />

Philosoph Jean Baudrillard, denn es gehörte zum Kalkül <strong>der</strong> Täter, auch die Erinnerung an die<br />

Ermordeten auszulöschen. Wesentliches Element <strong>der</strong> Erinnerungskultur sind daher die<br />

Bemühungen, den Opfern des Nationalsozialismus wie<strong>der</strong> »ein Gesicht« zu geben.<br />

Seit gut einem Jahrzehnt hat sich in <strong>der</strong> Gedenkstättenarbeit darüber hinaus <strong>der</strong> Ansatz <strong>der</strong><br />

»Personalisierung« etabliert: Unstrittig ist mittlerweile, dass es darum gehen muss, Verfolgte<br />

und Ermordete als Menschen zu schil<strong>der</strong>n, <strong>der</strong>en Existenz sich eben nicht ausschließlich auf<br />

das Opfersein beschränkte, als Menschen also, die vor <strong>der</strong> <strong>nationalsozialistischen</strong> Zeit ein wie<br />

auch immer geartetes gesellschaftliches Leben führten. Dies gilt auch für (geistig) behin<strong>der</strong>te<br />

o<strong>der</strong> erkrankte Menschen, auch wenn diese schon vor 1933 oft in prekären Verhältnissen<br />

leben mussten.<br />

Umgekehrt geht es darum, in an<strong>der</strong>er Form auch die Täter in ihren biographischen<br />

Zusammenhängen und insbeson<strong>der</strong>e in ihren Handlungsspielräumen zu zeigen.<br />

Die folgenden vier Biographien von Opfern <strong>der</strong> Verfolgung und von zwei Tätern stellen nur<br />

eine weitere Einführung in das Thema dar. Ihre Auswahl, die Art <strong>der</strong> Erzählung und auch <strong>der</strong><br />

Umfang <strong>der</strong> Texte dienen allein <strong>der</strong> Veranschaulichung und sind nicht als konkrete Vorschläge<br />

für die Umsetzung zu verstehen.<br />

24


Biographien Biographien von von Opfern<br />

Opfern<br />

Maria Maria W. W. (1899 (1899 – 1941) 1941) und Hermine W. W. (1900 – 1941)<br />

Das Leben und Sterben dieser beiden aus dem bayerischen Allgäu stammenden Schwestern<br />

ist aus zwei im Berliner Bundesarchiv erhaltenen Krankenakten zumindest bruchstückhaft<br />

ablesbar. Über die Kindheit von Maria und Hermine ist wenig bekannt; beide besuchen die<br />

Schule, wobei die jüngere Hermine in allen Fächern unterrichtet wurde, Maria sich jedoch nur<br />

am Lese- und Schönschreibeunterricht, am mündlichen Rechnen und an <strong>der</strong> Heimatkunde<br />

teilnahm. Mit 12 bzw. 13 Jahren brachten sie die Eltern in das »Schutzengelheim Deybach«,<br />

das unter <strong>der</strong> Leitung von Franziskanerinnen stand. Knapp vier Jahre blieben die Mädchen<br />

dort, bis sie, nach dem Tod <strong>der</strong> Eltern, zu einer Tante kamen. 1921 nahm sie die Heil- und<br />

Pflegeanstalt Kaufbeuren auf. Nach Ansicht <strong>der</strong> dortigen Gutachter litt Hermine W. an<br />

»angeborenem Schwachsinn höheren Grades«, ihre Schwester Maria stehe »auf noch<br />

wesentlich niedrigerem geistigen Niveau, nämlich dem <strong>der</strong> Idiotie«. Schutz, Pflege, Führung<br />

und Aufsicht könnten nur in einer geschlossenen Anstalt gewährleistet werden. Diese<br />

Aussage hatte beson<strong>der</strong>e Bedeutung, da <strong>der</strong> Landarmenverband Schwaben zunächst die<br />

Anstaltsbedürftigkeit <strong>der</strong> beiden bestritten hatte, um als zuständiger Kostenträger nicht<br />

belastet zu werden. Die Kostenfrage war vermutlich <strong>der</strong> Grund, warum die mittlerweile<br />

volljährigen Frauen im folgenden Jahr von Kaufbeuren-Irsee wie<strong>der</strong> nach Deybach gegeben<br />

wurden – die Pflegesätze in nichtstaatlichen Einrichtungen waren geringer. 18 Jahre<br />

verbrachten sie dort. 1940 erreichten die Mordplanungen <strong>der</strong> Berliner »T 4«-Zentrale auch<br />

Deybach. An<strong>der</strong>s als in an<strong>der</strong>en Teilen des Deutschen Reichs wurden Bewohner <strong>der</strong><br />

konfessionellen Heime in Bayern zunächst in staatliche Anstalten gebracht; dort erfolgte <strong>der</strong><br />

Selektionsprozess. Maria und Hermine trafen im November 1940 also wie<strong>der</strong> in Kaufbeuren-<br />

Irsee ein. Ein Arzt mit dem Kürzel W. hielt im Februar 1941 fest, Hermine habe etwas Scheues<br />

und Furchtsames an sich. Auch Maria sei »immer furchtsam und verzweifelt«, sie zeige sich<br />

wie ihre Schwester sehr ängstlich gegenüber <strong>der</strong> medizinischen Untersuchung, dabei zittere<br />

sie »am ganzen Leib wie Espenlaub«. Für den 8. August 1941 findet sich in beiden Akten <strong>der</strong><br />

letzte, gleichlautende Eintrag für die Schwestern »wird heute verlegt«. Dieser Tag ist als ihr<br />

Todestag anzusehen. In einem Transport mit 131 weiteren Patientinnen wurden Maria und<br />

Hermine nach Hartheim verschleppt und dort noch am gleichen Tag in <strong>der</strong> Gaskammer<br />

ermordet. Sie waren 41 und 42 Jahre alt.<br />

25


Ernst Ernst Loss Lossa Loss a (1929 (1929 (1929 – 1944) 1944)<br />

1944)<br />

Ernst Lossas Familie gehörte zur Gruppe <strong>der</strong> Jenischen. Sein Vater war als Hausierer tätig. In<br />

den Wintermonaten lebt die Familie in Augsburg, im Sommer reisten sie als fahrende Händler<br />

über Land. Mit <strong>der</strong> Machterlangung <strong>der</strong> Nationalsozialisten än<strong>der</strong>te sich ihre Situation:<br />

Landfahrer wurden stärker als bisher durch die Polizei überwacht und verfolgt. Die Geschäfte<br />

gingen immer schlechter. Im September 1933 starb die Mutter an den Folgen einer Erkrankung.<br />

Schon zuvor, im Juli des gleichen Jahres, wies die zuständige Augsburger Fürsorgebehörde<br />

die Kin<strong>der</strong> in Heime ein. Als »Zigeuner« abgestempelt, wuchs Ernst in einer rauhen<br />

Hackordnung zu einem Jungen heran, <strong>der</strong> stahl und log und immer wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

erzwungenen Ordnung in Konflikt geriet. 1936 wurde Ernsts Vater Christian Lossa in das<br />

Konzentrationslager Dachau eingewiesen, als Haftart findet sich <strong>der</strong> Begriff »Arbeitszwang« in<br />

den Akten. Zwar erfolgte zu Weihnachten 1938 seine Entlassung, 1941 verhafteten die<br />

Nationalsozialisten Christian Lossa ein zweites Mal und internierten ihn als »BV«-Häftling im<br />

Konzentrationslager Flossenbürg. Dort kam er im Mai 1942 zu Tode. Ernst, seinen ältesten<br />

Sohn, verlegten die Behörden in ein Jugen<strong>der</strong>ziehungsheim. In einem dort erstellten<br />

Gutachten hieß es, es handele sich bei dem Jungen »zweifellos um einen an sich gutmütigen,<br />

aber völlig willenlosen, haltlosen, fast durchschnittlich begabten, triebhaften Psychopathen«.<br />

Dieses Gutachten war <strong>der</strong> Grund für Ernsts Überstellung nach Kaufbeuren. Er verhielt sich<br />

weiterhin auffällig und unangepasst, wurde aber nach späteren Aussagen von Mitarbeitern<br />

<strong>der</strong> Heil- und Pflegeanstalt aufgrund seiner Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft auch<br />

geschätzt. Mehrfach versuchte er, hungernden Kranken Nahrungsmittel zu geben, die er zuvor<br />

gestohlen hatte. Von Kaufbeuren kam Ernst im Mai 1943 in die Nebenanstalt Irsee. An<strong>der</strong>s als<br />

zur Zeit des Aufenthaltes <strong>der</strong> beiden Schwestern Hermine und Maria W. gingen nun von hier<br />

keine Todestransporte nach Hartheim mehr ab. Vielmehr wurden die Patienten mit <strong>der</strong> von<br />

Valentin Faltlhauser entwickelten Hungerkost o<strong>der</strong> mit Medikamenten ermordet. Mitarbeiter<br />

äußerten später, Ernst Lossa habe das Tötungssystem durchschaut. Sie vermuteten, dass dies<br />

den Verwaltungsleiter Josef Frick und wohl auch Valentin Faltlhauser zusätzlich zur Tötung<br />

von Lossa motiviert habe. In Ernst Lossas »Entlassungsunterlagen« ist <strong>der</strong> Zeile mit »Entlassen<br />

am« <strong>der</strong> »9.8.44« eingetragen, <strong>der</strong> nächste Begriff »nach« ist durchgestrichen und statt eines<br />

neuen Ortes ist dort »Euthanasiert!« eingetragen. Nachdem er sich geweigert hatte, Tabletten<br />

einzunehmen, verabreichte man ihm am Abend des 8. August zwei Spritzen mit Morphium-<br />

Scopolamin (Luminal), an <strong>der</strong>en Folgen er am Folgetag starb. Im Leichenschauschein ist als<br />

26


»Grundleiden« »Asocialer Psychopath« eingetragen. Ein Pfleger berichtete nach dem Krieg bei<br />

seiner Vernehmung: »Am 8. August 1944 schenkte er [Ernst Lossa] mir im Garten <strong>der</strong> Anstalt<br />

ein Bild von sich mit <strong>der</strong> Aufschrift ›zum Andenken‹. Ich frage ihn, warum er mir das Bild<br />

schenkt, er meinte ich lebe doch nicht mehr lange und erklärte mir, er möchte lieber doch<br />

sterben, solange ich noch da wäre weil Lossa dann wüsste, dass er schön eingesargt werde.«<br />

Fritz Fritz Fritz Niemand Niemand Niemand (*1915) (*1915)<br />

(*1915)<br />

Fritz Niemands Leidenszeit in <strong>der</strong> Psychiatrie begann 1935, nachdem er während seiner<br />

militärischen Ausbildung bei <strong>der</strong> Marine an Depressionen erkrankte. Ein Neurologe verordnete<br />

die Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Schleswig; dort wurde Niemand Zeuge <strong>der</strong><br />

brutalen Behandlungsmethoden mit Elektro-, Kardiazol- und Insulinschocks und er verfolgte<br />

die Qualen <strong>der</strong> betroffenen Patienten. Zweimal versuchte er, zu fliehen und wurde deshalb in<br />

eine geschlossene Abteilung eingewiesen. Ein »Erbgesundheitsgericht« stufte ihn als<br />

schizophren ein. Nach dem seit 1933 geltenden »Gesetz zur Verhütung erbkranken<br />

Nachwuchses« wurde er im Juni 1936 zwangssterilisiert. Fritz Niemands Mutter gelang es,<br />

ihren Sohn im Februar 1940 aus <strong>der</strong> Anstalt nach Hause zu holen, nachdem sie gerüchteweise<br />

vom angelaufenen Patientenmord erfahren hatte. Fritz fand eine Anstellung als Arbeiter und<br />

machte den Führerschein. Die strapaziösen Anstaltsaufenthalte waren nicht ohne Folgen<br />

geblieben; während eines Montageaufenthaltes in Norwegen durchlebte er immer wie<strong>der</strong><br />

kollapsartige Schwächezustände. Es folgten ein weiterer Klinikaufenthalt, die Entlassung und<br />

erneute Berufstätigkeit. Nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg entwickelte er<br />

schwere Angstzustände. Das Universitätsklinikum Eppendorf überstellte ihn nach Langenhorn,<br />

<strong>der</strong> Sammelanstalt für die Hamburger Deportationen in die Sterbeanstalt Meseritz-Obrawalde<br />

in <strong>der</strong> brandenburgischen Neumark. Fritz Niemand überlebte dort als einer <strong>der</strong> wenigen seines<br />

Transportes den Medikamentenmord. Vor dem Einrücken <strong>der</strong> Roten Armee entkam er aus <strong>der</strong><br />

Klinik und schloss sich einem Flüchtlingstreck an. Seine Versuche, nach dem Krieg eine<br />

Entschädigung zu erhalten, scheiterten. Das Landesentschädigungsamt Schleswig-Holstein<br />

erteilte ihm einen negativen Bescheid. Als Begründung gaben die Beamten an, seine<br />

Verfolgung sei nicht politisch begründet gewesen. Beim Amtsgericht Kiel suchte Niemand<br />

1957 um Aufhebung jener richterlichen Entscheidung nach, die seine Sterilisation ermöglicht<br />

hatte. Auch dort lehnte man seinen Antrag ab; die Erklärung <strong>der</strong> Richter zeigt die Kontinuität<br />

des Denkens. Man sei »allein schon aufgrund des persönlichen Eindrucks ebenso wie<br />

27


seinerzeit das Erbgesundheitsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Antragsteller<br />

eine Krankheit im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933<br />

vorliege.« Fritz Niemand, zutiefst verletzt, unternahm zunächst nichts, ging später jedoch an<br />

die Öffentlichkeit und berichtete ausführlich über sein Schicksal. 1986 hob das Amtsgericht die<br />

Entscheidung aus den 1930er Jahren schließlich auf.<br />

28


Exemplarische Exemplarische Täterbiographien<br />

Täterbiographien<br />

Horst Horst Horst Schuma Schumann Schuma Schuma nn (1906 (1906 – 1983) 1983)<br />

Horst Schumann, Jahrgang 1906, stammte aus Halle an <strong>der</strong> Saale, sein Vater war praktischer<br />

Arzt. Horst Schumann trat bereits 1930, ein Jahr vor seiner eigenen Approbation als Arzt, in die<br />

NSDAP ein, zwei Jahre später in die SA. Kurz vor Beginn des Zeiten Weltkriegs erhielt er seine<br />

Einberufung als Unterarzt bei <strong>der</strong> Luftwaffe. Viktor Brack, stellvertreten<strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> »Kanzlei<br />

des Führers« for<strong>der</strong>te ihn im Oktober 1939 in Berlin zur Mitarbeit an <strong>der</strong> »Euthanasie«-Aktion<br />

auf; Schumann willigte ein. Er wurde zunächst <strong>der</strong> erste ärztliche Direktor <strong>der</strong> neu<br />

geschaffenen »Landespfleganstalt« Grafeneck in Württemberg. Dort befand sich ein bis dahin<br />

als Behin<strong>der</strong>tenheim genutztes Schloss, das für »Zwecke des Reichs« beschlagnahmt worden<br />

war. Unter Schumanns Leitung entstand in Grafeneck die erste Mordanstalt <strong>der</strong> »Euthanasie«-<br />

Aktion im Deutschen Reich, <strong>der</strong> erste Ort systematischen Tötens überhaupt im Einflussbereich<br />

<strong>der</strong> Nationalsozialisten. 1940 wechselte Schumann in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein,<br />

im Herbst 1942 nach Auschwitz. An <strong>der</strong> Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau<br />

nahm er Selektionen unter ankommenden Deportierten vor und führte an Häftlingen grausame<br />

Röntgensterilisationsversuche durch. In <strong>der</strong> Nachkriegszeit konnte er zunächst weiter als<br />

städtischer Arzt in Gladbeck, dann in eigener Praxis arbeiten. Um seiner Verhaftung zu<br />

entgehen, floh er 1951 aus Deutschland. 1966 wurde er von Ghana an die Bundesrepublik<br />

ausgeliefert. Erst 1970 begann in Frankfurt ein Verfahren gegen ihn, das im darauffolgenden<br />

Jahr eingestellt wurde. Schumann starb 1983.<br />

Carl Carl Schnei<strong>der</strong> Schnei<strong>der</strong> (1891 – 1946)<br />

Carl Schnei<strong>der</strong> wurde 1891 geboren; er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, nachdem sein<br />

Vater die Familie verlassen und als Wan<strong>der</strong>musiker nach Amerika gegangen war. Aufgrund<br />

seiner Schulleistungen nahm ihn ein sächsisches Eliteinternat auf. Nach dem Ersten Weltkrieg<br />

beendete er sein Medizinstudium, wurde Assistenzarzt an <strong>der</strong> Universitätsklinik in Leipzig,<br />

dann in <strong>der</strong> Anstalt Arnsdorf, 1930 Chefarzt in Bethel. Bereits seit 1932 gehörte er <strong>der</strong> NSDAP<br />

an; im darauffolgenden Jahr übernahm er den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an <strong>der</strong><br />

Universität Heidelberg, nachdem sein Vorgänger nach Machtübernahme <strong>der</strong> NSDAP aus dem<br />

Amt gejagt worden war. In Heidelberg initiierte Schnei<strong>der</strong> bahnbrechende Reformen; er führte<br />

die Arbeitstherapie ein und sprach sich für psychiatrische Abteilungen an<br />

29


Allgemeinkrankenhäusern aus; doch das Plädoyer für ein geduldiges Eingehen auf den<br />

Patienten war gekoppelt an den Gedanken <strong>der</strong> Ausson<strong>der</strong>ung. Heilen und Vernichten waren<br />

für Carl Schnei<strong>der</strong> ganz eng miteinan<strong>der</strong> verknüpft. Nach den Worten <strong>der</strong> Historikerin<br />

Christine Teller sah sich Carl Schnei<strong>der</strong> ganz im Sinne <strong>der</strong> Nationalsozialisten nicht mehr »nur<br />

als Arzt einzelner Patienten, son<strong>der</strong>n als Arzt <strong>der</strong> ›Volksgemeinschaft‹«. Nach dem Beginn des<br />

Massenmordes im Rahmen <strong>der</strong> »Aktion T 4« war es Schnei<strong>der</strong>, <strong>der</strong> das Verbrechen<br />

wissenschaftlich begleiten sollte. Er war auch als »T 4«-Gutachter tätig. Vernichten war in<br />

seinen Augen »wie das Heilen auf Ordnung angewiesen« (Christine Teller). Eine Basis <strong>der</strong><br />

Untersuchungen bildeten histologische und pathologisch-anatomische Untersuchungen. Der<br />

Mord, meist an behin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong>n, diente nur als »notwendiger« Zwischenschritt bei einer<br />

wissenschaftlichen Studie. Schnei<strong>der</strong> und seine Kollegen fühlten sich unter großem Zeitdruck.<br />

Sie rechneten damit, dass selbst dann, wenn die Nationalsozialisten den Krieg gewinnen<br />

sollten, weitere mit <strong>Patientenmorde</strong>n verbundene Forschungen nicht mehr zugelassen<br />

würden. Nach dem Krieg wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Carl Schnei<strong>der</strong><br />

aufgenommen; zudem sollte er gegen einen Kollegen aussagen. Im Dezember 1946 erhängte<br />

er sich im Untersuchungsgefängnis Frankfurt. Seine Assistenten konnten unbehelligt in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik, und in einem Fall in <strong>der</strong> DDR, Karriere machen.<br />

30


Photographische Photographische Überlieferung<br />

Überlieferung<br />

Die in den vergangenen Jahrzehnten betriebene Aufarbeitung <strong>der</strong> <strong>nationalsozialistischen</strong><br />

<strong>Patientenmorde</strong> führte dazu, dass Teile <strong>der</strong> Öffentlichkeit heute auch historische Bil<strong>der</strong> mit<br />

dem Verbrechen in Zusammenhang bringen. Ähnlich wie für den Holocaust, wo das Motiv <strong>der</strong><br />

Deportation (beispielsweise Bahngleise, auch die Gleise im Vernichtungslager Auschwitz)<br />

eine wichtige Rolle spielt, steht beim Patientenmord <strong>der</strong> Transport im Mittelpunkt, sinnbildlich<br />

über die »Grauen Busse« <strong>der</strong> Tarnfirma »Gemeinnützigen Krankentransport GmbH«.<br />

Nahaufnahmen des Mordes selbst wurden nicht gemacht o<strong>der</strong> sind zumindest nicht erhalten.<br />

Es existieren allerdings einzelne Aufnahmen von Patienten unmittelbar vor ihrer Ermordung.<br />

Inwieweit diese an dem zu gestaltenden Erinnerungsort Tiergartenstraße 4 dargestellt werden<br />

können und sollen, wird noch einer öffentlichen Aussprache bedürfen. Im Folgenden seien<br />

einzelne Bil<strong>der</strong> zur Anschauung vorgestellt.<br />

31


Bruckberg (Mittelfranken), Frühjahr 1941: Deportation von Patienten aus <strong>der</strong> Anstalt,<br />

Quelle: Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau.<br />

32


Liebenau (Württemberg), gerahmtes Farbdiapositiv, ca. 1940: Deportation von Patienten. Aus<br />

Notizen von Hermann Link (†), aktualisiert von Susanne Droste-Gräff: »Der auf dem Dia<br />

abgebildete Vorgang entspricht <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung, wie sie Auguste Blank später zu Protokoll<br />

gegeben hat. Links prüfen <strong>der</strong> Arzt <strong>der</strong> Anstalt und seine Sekretärin (die Ordensschwester)<br />

anhand einer Liste die Identität <strong>der</strong> beiden vor ihnen stehenden Männer. Rechts bringt ein<br />

Angehöriger des Transportpersonals einen Stempelabdruck auf den Unterarm eines vor ihm<br />

stehenden Mannes. Zwischen den beiden Gruppen ein Hocker mit weißem Waschbecken.<br />

Rechts neben dem Stempelnden ein Assistent mit Liste und am rechten Bildrand ein robuster<br />

Transportbegleiter.« (»Die Stiftung Liebenau unter Direktor Josef Wilhelm 1910–1953«, S. 47)<br />

Quelle: Stiftung Liebenau.<br />

33


Hadamar (Hessen), 1941: rauchen<strong>der</strong> Schornstein <strong>der</strong> Tötungsanstalt,<br />

Quelle: Landeswohlfahrtsverband Hessen.<br />

34


Aktenblatt mit Photographie von Elsa W. unmittelbar vor ihrer Ermordung in Pirna-<br />

Sonnenstein, angefertigt zu Dokumentationszwecken <strong>der</strong> Täter. Erkennbar sind zwei<br />

Stempelaufdrucke auf <strong>der</strong> Brust von Elsa W.; auf dem rechten Bild hält eine Hand ihren Kopf.<br />

Das Photo befand sich in ihrer Krankengeschichte und wurde veröffentlicht in dem von dem<br />

von Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter und Christoph Mundt und<br />

Wolfgang U. Eckart herausgegebenen Band: »Die nationalsozialistische ›Euthanasie‹-Aktion<br />

T 4 und ihre Opfer: Historische Bedingungen und ethische Konsequenzen für die Gegenwart.«<br />

Die Gruppe <strong>der</strong> Herausgeber hatte zuvor lange und kontrovers diskutiert, ob sie diese von<br />

Tätern angefertigten Aufnahmen veröffentlichen soll.<br />

Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 179/12572.<br />

35


Gesellige Zusammenkunft von Mitarbeitern <strong>der</strong> Tötungsanstalt Hartheim bei Linz,<br />

Quelle: Dokumentationsstelle Linz (Original: NARA II, RG 549, Records of HQ USAEUR, War<br />

Crimes Branch, War Crimes Case Files (»Cases Not Tried«) BOX 490 CASE 000-12-463<br />

Hartheim).<br />

36


Verhungerte Patienten im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren, 1945, Aufnahme <strong>der</strong><br />

Amerikanischen Besatzungstruppen,<br />

Quelle: Dokumentationsstelle Hartheim (Original: Archiv Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren).<br />

37


<strong>Geschichte</strong> <strong>Geschichte</strong> des des Hauses Hauses Tiergartenstraße 44<br />

4<br />

und und seiner städtischen Umgebung<br />

1. 1. Ort <strong>der</strong> Täter<br />

Die Tiergartenstraße 4 ist <strong>der</strong> Ort, an dem Parteifunktionäre, Ärzte und Ministerialbeamte den<br />

Massenmord an Patienten und behin<strong>der</strong>ten Menschen erdachten und verwalteten, an dem<br />

dieses Verbrechen jedoch nicht unmittelbar ausgeführt wurde. Als Sitz <strong>der</strong> Tarnorganisation<br />

<strong>der</strong> Täter verweist er sinnbildlich auf jene Stätten, an denen Patienten und behin<strong>der</strong>te<br />

Menschen starben: auf die sechs Gas-Tötungsanstalten, auf Heime, Krankenhäuser sowie<br />

Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich sowie auf Erschießungs- und an<strong>der</strong>e Todesorte<br />

im besetzen Ausland.<br />

Einmalig für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ist, dass die Täter im Fall <strong>der</strong><br />

»Euthanasie«-Aktion ihre Mordpolitik mit dem Kürzel einer Verwaltungsanschrift (T 4 =<br />

Tiergartenstraße 4) tarnten. Die heutige Gedenkkultur verwendet die Bezeichnung über die<br />

historische Adresse hinaus als ein Synonym für die europaweite Dimension <strong>der</strong><br />

<strong>Patientenmorde</strong> und damit schlagwortartig für eines <strong>der</strong> größten systematischen Verbrechen<br />

<strong>der</strong> Nationalsozialisten. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche <strong>Geschichte</strong> das<br />

Gebäude <strong>der</strong> Dienstvilla und das sogenannte Berliner Tiergartenviertel, in dem sie stand,<br />

hatte.<br />

2. 2. Stadtpalais im Villenviertel<br />

Auf <strong>der</strong> Internetseite http://gedenkort-t4.eu/vergangenheit/die-villa befindet sich ein 3 D-<br />

Modell des Hauses Tiergartenstraße 4, das auf historischen Photographien und drei Bänden<br />

<strong>der</strong> Bauakten des Hauses (Landesarchiv Berlin) beruht. Den zugrundeliegenden Recherchen<br />

zufolge ließ es <strong>der</strong> Bankier, Mäzen und Sozialreformer Valentin Weisbach, <strong>der</strong><br />

Schwiegervater des Berliner Stadtbaurates Ludwig Hoffmann, errichten. Die Entwürfe<br />

stammten von Christian Heidecke, einem renommierten Villenarchitekten des<br />

Großbürgertums, die Innengestaltung von dessen berühmten Kollegen Alfred Messel.<br />

38


Das Gebäude Tiergartenstraße 4, Quelle: Landesarchiv Berlin.<br />

Valentin Weisbach ließ sich in einem <strong>der</strong> elegantesten Berliner Stadtquartiere nie<strong>der</strong>, unweit<br />

des Potsdamer Platzes und zentral gelegen, zugleich in <strong>der</strong> Nähe des Tiergartens.<br />

Ursprünglich Ansiedlungsort französischer Glaubensflüchtlinge (Refugiés), die hier auch ihre<br />

Nutzgärten hatten, war das Gelände 1828 durch den preußischen König als<br />

»Friedrichsvorstadt« zu Bauland erklärt worden. 1839 entstand die heutige<br />

Stauffenbergstraße, 1845/46 wurde die Matthäikirche errichtet. Der Süden des Viertels konnte<br />

bebaut werden, nachdem <strong>der</strong> sogenannte Schafgraben nach Plänen von Peter Joseph Lenné<br />

kanalisiert und die Uferstraßen des so entstandenen Landwehrkanals trassiert worden waren.<br />

Das Viertel nahe des großen städtischen Parks wurde für einige Jahrzehnte zur Heimat des<br />

Berliner Großbürgertums, so <strong>der</strong> Familien Wertheim, Tietz, Rathenau, Mosse, Ullstein,<br />

Goldschmidt-Rothschild o<strong>der</strong> Simon. 1<br />

1 http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/staedtebau-projekte/kulturforum/de/geschichte/bewohner/index.shtml<br />

39


Tiergartenviertel, Margarethenstraße / Ecke Viktoriastraße, um 1900. Rechts <strong>der</strong> Bebauungsblock, an dessen<br />

nördlichem Ende die Villa Tiergartenstraße 4 stand (nicht auf dem Photo), Quelle: Landesarchiv Berlin.<br />

Der Architekturhistoriker Wolfgang Schäche hat vor allem zwei Typen von Häusern im<br />

Tiergartenviertel ausgemacht, die freistehende zweigeschossige Villa und den Typus <strong>der</strong><br />

»städtischen Villa« mit zwei bis vier Geschossen, zu denen auch die Tiergartenstraße 4 zu<br />

rechnen ist. Im Jahr 1910 kaufte <strong>der</strong> damals 66-jährige Fabrikbesitzer Georg Liebermann,<br />

Bru<strong>der</strong> des Malers Max Liebermann, das Haus und stattete es mit mo<strong>der</strong>nem Komfort aus.<br />

Kommerzienrat Georg Liebermann starb 1926 und wurde auf dem jüdischen Friedhof an <strong>der</strong><br />

Schönhauser Allee begraben. Seine Kin<strong>der</strong>, Hans-Heinrich Liebermann, außerordentlicher<br />

Professor für Chemie, und dessen Schwester Eva Köbner geb. Liebermann hatten kein<br />

Interesse, einzuziehen. Schon zu Lebzeiten ihres Vaters waren Räumlichkeiten in <strong>der</strong><br />

Tiergartenstraße 4 vermietet; das Berliner Adressbuch für 1926 nennt einen Gärtner<br />

(möglicherweise im Dienst <strong>der</strong> Eigentümer), eine Aktiengesellschaft, eine<br />

Vermögensverwaltung und die Filiale von »H. Ball, Antiquitäten«. Das Haus war damals eine<br />

prominente Adresse für den Berliner Kunsthandel. Hier befand sich die Berliner Nie<strong>der</strong>lassung<br />

<strong>der</strong> Dresdner Firma Hermann Ball, mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> angesehene Auktionator Paul Graupe 1927 dann<br />

40


sein Geschäft zusammenschloss. 2 Der »Starauktionator« Graupe wurde jüngst in <strong>der</strong><br />

Ausstellung »Gute Geschäfte. Kunsthandel in Berlin 1933 – 1945« des »Aktiven Museums<br />

Faschismus und Wi<strong>der</strong>stand in Berlin e.V.« gewürdigt. Er mietete zwei Obergeschosse <strong>der</strong><br />

Villa an. Die Weltwirtschaftskrise und die finanziellen Sorgen von Sammlern ließen die<br />

Geschäfte gedeihen. Unter dem Namen »Ball & Graupe« wurden von <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4<br />

einem internationalen Publikum wertvolle Sammlungen zur Versteigerung angeboten. Graupe<br />

zog später in die benachbarte Bellevuestraße 3 um. Nach 1933 wandten sich viele Verfolgte an<br />

Graupe, <strong>der</strong> seinerseits den Nationalsozialisten als »Volljude« galt. Aufgrund seines<br />

internationalen Renommees hatte Graupe den Ruf als erste Adresse für Notverkäufe. Graupe<br />

emigrierte nach Paris und lebte später einige Jahre in New York.<br />

Die prominenten Mieter Ball und Graupe in <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4 repräsentierten eine neue<br />

Kategorie von Zuzügen und Mietern im Tiergartenviertel: In den Jahren nach dem Ersten<br />

Weltkrieg verän<strong>der</strong>te das Stadtquartier langsam seinen Charakter. Durch die Wirtschaftskrise<br />

war es manchen Bewohnern nicht mehr möglich, ihre großen Häuser zu halten. Neben dem<br />

Dienstleistungsgewerbe, zu dem <strong>der</strong> erwähnte Kunsthandel gehörte, wurde das Viertel<br />

zunehmend zum Sitz von Verwaltungen bzw. von Botschaften ausländischer Staaten. Waren<br />

hier zur Kaiserzeit nur die Vertretungen Spaniens, Italiens, Schwedens und Japans zu finden<br />

gewesen, so ließen sich nun Afghanistan, Ägypten, Chile, Griechenland, <strong>der</strong> Iran, Kuba,<br />

Lettland, Mexiko, die Nie<strong>der</strong>lande, Portugal, Rumänien, die Türkei, die Tschechoslowakei und<br />

<strong>der</strong> Vatikan nie<strong>der</strong>.<br />

3. 3. Die Villa als Verbrechenszentrale<br />

Einige Jahre nach ihrer Machtübernahme begannen die Nationalsozialisten, umfangreiche<br />

Umbaupläne für Berlin zu entwickeln. Die am 30. Januar 1937 geschaffene Dienststelle des<br />

»Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt Berlin« (G. B. I., Leitung: Albert Speer) wurde<br />

Motor und Planungsinstanz. Eines <strong>der</strong> Hauptmerkmale des Vorhabens war eine neue Nord-<br />

Südachse; für sie sah <strong>der</strong> G.B.I. die Nie<strong>der</strong>legung ganzer Stadtquartiere vor. Das östliche<br />

Tiergartenviertel vom Potsdamer Platz bis kurz vor den »Bendlerblock« sollte einem<br />

gigantischen Neubau für das Oberkommando des Heeres und einem »Runden Platz« weichen,<br />

2 Aus den Geschäftsräumen <strong>der</strong> Firma Hermann Ball sind Innenaufnahmen <strong>der</strong> Photographin Martha Huth<br />

überliefert (http://vm.gedenkort-t4.eu/vergangenheit/die-villa).<br />

41


folglich war auch für das Grundstück Tiergartenstraße 4 Abriss und Neugestaltung<br />

vorgesehen. Bekanntermaßen konnte Speer seine Pläne jedoch nur im Ansatz verwirklichen.<br />

Eine detaillierte <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Stadtvilla zwischen <strong>der</strong> Machtübernahme und dem Beginn <strong>der</strong><br />

Nutzung durch die »Zentraldienststelle T 4« liegt noch nicht vor. Die Berliner Adressbücher<br />

werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben, wichtige Hinweise finden sich jedoch in<br />

den Bauakten <strong>der</strong> ehemaligen Bezirksverwaltung Tiergarten und in <strong>der</strong> Restitutionsakte zum<br />

Grundstück (beide im Landesarchiv Berlin). Nach Angaben eines Familienmitglieds <strong>der</strong><br />

Liebermanns (1950/1951) zog bereits 1933 o<strong>der</strong> 1934 die NSDAP bzw. die SA in das Gebäude,<br />

die Partei o<strong>der</strong> ihre Glie<strong>der</strong>ung legte selbstherrlich eine Miete von 650 Reichsmark fest. Im<br />

Rahmen dieser Nutzung befand sich hier auch die Auslandsorganisation <strong>der</strong><br />

Nationalsozialisten (NSDAP/AO). Sie verwaltete von <strong>der</strong> Villa aus, in die sie bis März 1935<br />

einzuziehen beabsichtigte, die Mitgliedschaften von Nationalsozialisten im Ausland; die<br />

Organisation besaß innerhalb <strong>der</strong> Partei den Status des 43. Gaus unter Führung eines eigenen<br />

Gauleiters.<br />

Unterdessen än<strong>der</strong>ten sich Besitzverhältnisse. Hans-Heinrich Liebermann übertrug im Juni<br />

1936 seinen Anteil am Gebäude seiner Ehefrau Clara, die den Nationalsozialisten nicht als<br />

Jüdin galt. Zwei Jahre später, im September 1938, nahm sich Hans-Heinrich, längst aus <strong>der</strong><br />

Universität entlassen, das Leben. Seine kin<strong>der</strong>los gebliebene Schwester Eva Köbner folgte ihm<br />

1939 in den Freitod. Zuvor hatte sie bestimmt, dass ihr Anteil am Grundstück als Erbe an die<br />

Jüdische Gemeinde zu Berlin fallen sollte. Hans-Heinrichs Witwe Clara Liebermann musste<br />

das Haus o<strong>der</strong> ihren Anteil daran 1940 im Rahmen <strong>der</strong> Speer´ schen Grundstückerwerbungen<br />

im Tiergartenviertel verkaufen. Sie wurde genötigt, über einen Notar ein Haus in <strong>der</strong> Steglitzer<br />

Schlossstraße zu erwerben, das seinerseits einem Eigentümer gehört hatte, <strong>der</strong> den<br />

Nationalsozialisten als »Volljude« galt. Nach Kriegsende fiel dieses Grundstück unter die<br />

Rückerstattungsvorschriften, so dass es den Liebermanns nicht mehr zur Verfügung stand. Die<br />

Familie kämpfte nun um die Rückgabe <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4. Die Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

sollten sich bis über die Mitte <strong>der</strong> 1950er Jahre hinziehen. Der Kernpunkt <strong>der</strong> Streitigkeiten<br />

ging um die Frage, ob Clara Liebermann im damaligen Jargon als »rassisch« Verfolgte<br />

anzusehen war, und um den Kaufpreis für das Anwesen. Die Familie konnte sich im<br />

Wesentlichen durchsetzen. Nach Ansicht des Berliner Landgerichtes (1954) sei <strong>der</strong> Wille zur<br />

Veräußerung <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4 wegen <strong>der</strong> Drohung mit <strong>der</strong> bevorstehenden Enteignung<br />

»unfrei« und <strong>der</strong> Verkaufspreis wegen <strong>der</strong> »rassischen« Verfolgung unangemessen niedrig<br />

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gewesen. Obschon »Arierin« habe Clara Liebermann das wirtschaftliche und kulturelle<br />

Schicksal ihres Ehepartners geteilt und wie eine Jüdin existiert.<br />

4. 4. Vom Tiergartenviertel zum Kulturforum<br />

Das Tiergartenviertel war bei Kriegsende im Mai 1945 zu großen Teilen zerstört; darunter auch<br />

die die Villa in <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4, wo die Gebäudeschäden wohl in den letzten<br />

Kriegstagen eingetreten waren. Im Mai 1949 wird das Haus als Vollruine bezeichnet. Sie<br />

wurden offenbar im Frühjahr 1950 gesprengt, die endgültige Abräumung auf dem Grundstück<br />

sollte aber noch zehn Jahre auf sich warten lassen. Die Enttrümmerung <strong>der</strong> Tiergartenstraße 4<br />

war kein Einzelfall. In großen Teilen des östlichen Tiergartenviertels wurden die Ruinen<br />

beseitigt. Mit Ausnahme <strong>der</strong> Matthäikirche, die von 1956 bis 1960 wie<strong>der</strong> erstand, und wenigen<br />

an<strong>der</strong>en Gebäuden, war das alte Stadtquartier untergegangen. Unterdessen fand im Westteil<br />

<strong>der</strong> Stadt <strong>der</strong> städtebauliche Wettbewerb »Hauptstadt Berlin« statt. Der Architekt Hans<br />

Scharoun gewann mit seiner Idee, ein »geistiges Band <strong>der</strong> Kultur« zwischen Ost- und<br />

Westberlin entstehen zu lassen, einen zweiten Preis. Das Band sollte das östliche<br />

Tiergartenviertel mit <strong>der</strong> Museumsinsel in Berlin-Mitte verbinden. 1959 erhielt Scharoun den<br />

Auftrag, den ersten Neubau im ehemaligen Tiergartenviertel zu errichten: die Philharmonie.<br />

Die gedachte Verbindung mit den Ost-Berliner Kulturstätten ließ sich dann jedoch nicht<br />

umsetzen. Im August 1961 vereitelte <strong>der</strong> Bau <strong>der</strong> Berliner Mauer diesen Plan. Die Philharmonie<br />

wurde im Oktober 1963 eingeweiht; sie befindet sich zum Teil auf dem Grundstück <strong>der</strong><br />

Tiergartenstraße 4.<br />

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Fünf Jahre später konnte die nach den Plänen Mies van <strong>der</strong> Rohes errichtete »Galerie für das<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>t« dem Publikum übergeben werden, die ihren Platz neben <strong>der</strong> Matthäikirche<br />

fand; schon 1964 hatte ein Realisierungswettbewerb für eine Neue Staatsbibliothek<br />

stattgefunden, den Hans Scharoun für sich entschied. Scharoun war es auch, <strong>der</strong> mit dem<br />

Landschaftsarchitekten Hermann Mattern die Gesamtplanung für das Kulturforum vornahm;<br />

sie wurde jedoch nur teilweise umgesetzt.<br />

5. 5. Das Das Kulturforum Kulturforum Kulturforum heute<br />

heute<br />

Der Fall <strong>der</strong> Mauer und die Wie<strong>der</strong>bebauung des Potsdamer Platzes in verdichteter Form<br />

än<strong>der</strong>te die städtebauliche Situation am Kulturforum. Die Senatsverwaltung für<br />

Stadtentwicklung beschreibt die Situation wie folgt: »Die hoch verdichtete Bebauung des<br />

Potsdamer/Leipziger Platzes, die Neuorientierung im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs<br />

(…) und <strong>der</strong> Straßenplanung im Bereich <strong>der</strong> Innenstadt sowie die neue Einbindung des<br />

Kulturforums in eine Raumabfolge zwischen <strong>der</strong> grün<strong>der</strong>zeitlichen City West und <strong>der</strong><br />

baulichen Struktur <strong>der</strong> historischen Mitte än<strong>der</strong>ten das Bezugssystem für das Kulturforum<br />

entscheidend. (…) 1996 nahm die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Arbeit am<br />

Planwerk Innenstadt auf, welches auch den Bereich des Kulturforums einschließt. In <strong>der</strong><br />

›Planungswerkstatt Kulturforum‹ wurden Vorschläge für die zukünftige Entwicklung des<br />

wie<strong>der</strong> in das Stadtzentrum gerückten Ortes entwickelt. (…) Das Freihalten <strong>der</strong> Mitte und eine<br />

behutsame Nachverdichtung an den Rän<strong>der</strong>n, das Herausnehmen von überflüssigen Straßen<br />

und Parkplätzen und die Beibehaltung <strong>der</strong> Sichtbeziehungen zwischen den architektonischen<br />

Solitären wurden als städtebauliche Grundsätze erarbeitet. Alle Parkplätze sollten unterirdisch<br />

bereitgestellt werden, insbeson<strong>der</strong>e in den in <strong>der</strong> Nachbarschaft entstehenden Tiefgaragen.<br />

Die Innenfläche des Kulturforums war als ein ›grüner Teppich‹ geplant, dessen räumliche<br />

Struktur – zusätzlich zu den gartenarchitektonischen Maßnahmen – durch kleinere Follies<br />

o<strong>der</strong> Skulpturen als Kunstgarten ergänzt werden sollte. Entsprechend den verän<strong>der</strong>ten<br />

Besucherströmen sollte die Philharmonie zusätzlich einen östlichen Eingang erhalten. (…) Das<br />

Planwerk war zu diesem Zeitpunkt keine verbindliche Vorgabe. Doch gab es dem 1997 von <strong>der</strong><br />

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ausgelobten landschaftsplanerischen Ideen- und<br />

Realisierungswettbewerb Kulturforum maßgebliche Orientierung. Die Eröffnung <strong>der</strong><br />

Gemäldegalerie im Jahr 1998 und die Fertigstellung des neuen Stadtviertels am Potsdamer<br />

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Platz verlangte von <strong>der</strong> Stadt Berlin schnelles Handeln und vom Siegerentwurf kurzfristig<br />

realisierbare Teilergebnisse ebenso wie langfristige Perspektiven für das Gebiet. Das<br />

Wettbewerbsergebnis berücksichtigt die neue Situation des Kulturforums, indem ein<br />

eigenständiger städtischer Platz inmitten <strong>der</strong> umgebenden Architektursolitäre nun zum<br />

Aufenthalt einlädt. Der Blick auf die großartigen Bauten wird nicht verstellt, son<strong>der</strong>n vom Platz<br />

aus durch die hochkronige Bepflanzung konzentriert. Entstanden ist ein neuer Zusammenhalt<br />

des Berliner Kulturforums in Anknüpfung an die gestalterischen Prinzipien in <strong>der</strong> Tradition<br />

Hans Scharouns und Hermann Matterns und in bewusster Unterscheidung zum benachbarten,<br />

hochurbanen Potsdamer Platz-Quartier.«<br />

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Schwarzpläne Schwarzpläne <strong>der</strong> <strong>der</strong> Senatsverwaltung Senatsverwaltung für für für Stadtentwicklung<br />

Als Schwarzpläne werden Kartierungen bezeichnet, die ausschließlich die bebaute Fläche<br />

abbilden und auf die Ausweisung von Straßen verzichten, im Fall des Tiergartenviertels bzw.<br />

Kulturforums verdeutlichen sie die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> städtischen Topographie.<br />

Städtebauliche Situation 1933, rot: Areal des heutigen Kulturforums.<br />

Städtebauliche Situation 1953 nach Kriegszerstörungen und Abrissen.<br />

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Städtische Planung bis 2010, rot: Kulturforum, nördlicher Rand: Philharmonie.<br />

Quelle:<br />

http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/staedtebau-projekte/kulturforum/de/geschichte/schwarzplaene/index.shtml<br />

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