Kongress-Dokumentation Nr. 1 (1997) herunterladen - Renovabis
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Kirche in<br />
Osteuropa:<br />
Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen?<br />
herrschen<br />
oder<br />
dienen?<br />
4. – 6. September <strong>1997</strong><br />
in Freising<br />
<strong>Dokumentation</strong><br />
Internationaler<br />
Kongreß<br />
<strong>Renovabis</strong>
Internationale <strong>Kongress</strong>e <strong>Renovabis</strong><br />
1/<strong>1997</strong>
1. Internationaler Kongreß<br />
<strong>Renovabis</strong><br />
<strong>1997</strong><br />
Kirche in Osteuropa:<br />
herrschen<br />
oder<br />
dienen?<br />
Veranstalter und Herausgeber:<br />
<strong>Renovabis</strong> – Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken<br />
mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa
Redaktion: Wolfgang Grycz<br />
Zu beziehen durch:<br />
Misereor Medienvertriebsgesellschaft<br />
Postfach 1450, 52015 Aachen; Bestell-<strong>Nr</strong>. 351898<br />
Die hier abgedruckten Beiträge sind autorisiert. Sie stimmen nicht unbedingt und in jedem Fall<br />
mit der Meinung des Veranstalters und der Teilnehmer des <strong>Kongress</strong>es überein.<br />
© <strong>Renovabis</strong> – Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken<br />
mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa,<br />
Kardinal-Döpfner-Haus, Domberg 27, D-85354 Freising.<br />
Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Herausgebers.<br />
Umschlag: Grafik-Design Willweber, München<br />
Bildnachweis S. 197<br />
„Gottesmutter – Der nicht verbrennende Dornbusch“<br />
Russische Ikone 19. Jh., entnommen aus:<br />
Ikonen. Aus der Sammlung Dr. Jörgen Schmidt-Voigt, Frankfurt a.M., Inv.-<strong>Nr</strong>. IH 481<br />
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Museums für Kunsthandwerk, Frankfurt a.M.<br />
Satz: Vollnhals Fotosatz, Mühlhausen<br />
Druck: WB-Druck GmbH & Co., Rieden
INHALT<br />
Vorwort ...................................................................................... 7<br />
Zum Verlauf des <strong>Kongress</strong>es ........................................................ 9<br />
Aus Grußbotschaften an den<br />
Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> .............................................. 13<br />
I. KIRCHE IN OSTEUROPA: HERRSCHEN ODER DIENEN?<br />
P. Eugen Hillengass SJ, Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong>:<br />
Zur Eröffnung des <strong>Kongress</strong>es. ..................................................... 39<br />
Kardinal Dr. Friedrich Wetter, Erzbischof von München und Freising:<br />
Grußwort zur Eröffnung des<br />
„Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>“ . ..................................... 42<br />
Miloslav Kardinal Vlk, Erzbischof von Prag:<br />
Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen? ................................. 46<br />
Prof. Dr. Konrad Feiereis, Erfurt:<br />
Umgang mit der Vergangenheit (1945–1989):<br />
Fragen an die Kirchen. ................................................................. 61<br />
Prof. Dr. Tomásˇ Halík, Prag:<br />
Rückzug auf Feindbilder oder Mut zur Öffnung? ........................... 79<br />
Prof. Dr. Aniela Dylus, Warschau:<br />
Polens Kirche: fähig zum Brückenbau? ......................................... 91<br />
Prof. Dr. Franjo Topić, Sarajevo:<br />
Kirchen im ehemaligen Jugoslawien:<br />
Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?. ........................................... 115<br />
5
Erzpriester Slobodan M. Milunović, München:<br />
Kirchen im ehemaligen Jugoslawien:<br />
Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?. ........................................... 124<br />
Prof. Dr. Robert Hotz SJ, Zürich:<br />
Wie dienen die Kirchen den Menschen in Rußland? ....................... 136<br />
P. Eugen Hillengass SJ:<br />
Schlußwort ................................................................................. 149<br />
II. BERICHTE ÜBER DIE LAGE DER KIRCHE<br />
IN EINZELNEN LÄNDERN<br />
Dr. Ernst Benz, Königstein/Ts.:<br />
Bericht zur Lage der katholischen Kirche<br />
in den baltischen Staaten .............................................................. 153<br />
Dr. Anna-Halja Horbatsch, Reichelsheim:<br />
Kirchen in der Ukraine. ................................................................ 168<br />
Prof. Dr. Miklós Tomka, Budapest:<br />
Dienstbereitschaft und/oder herrschaftliche<br />
Bedrohlichkeit der Kirche:<br />
Dilemmata der katholischen Kirche Ungarns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />
III.PREDIGT UND MEDITATION IN DEN EUCHARISTIEFEIERN<br />
Bischof Prof. Dr.Dr. Karl Lehmann, Mainz<br />
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz:<br />
Predigt beim ersten Internationalen Kongreß RENOVABIS<br />
in der Eucharistiefeier am 5. September <strong>1997</strong> ................................ 191<br />
Weihbischof Leo Schwarz, Trier<br />
Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong>:<br />
Meditation in der Eucharistiefeier am 6. September <strong>1997</strong> ............... 196<br />
Liste der Referenten und Podiumsteilnehmer ................................. 200<br />
6
Vorwort<br />
Vom 4. bis 6. September <strong>1997</strong> veranstaltete <strong>Renovabis</strong> - die Solidaritätsaktion<br />
der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa<br />
– in Freising den 1. INTERNATIONALEN KONGRESS RENO-<br />
VABIS. Im Auftrag der Kommission für weltkirchliche Aufgaben der<br />
Deutschen Bischofskonferenz knüpfte <strong>Renovabis</strong> damit an die Tradition<br />
der bisherigen über 40 Königsteiner Internationalen <strong>Kongress</strong>e „Kirche<br />
in Not“ an und entwickelte dafür eine neue Konzeption. Diese <strong>Kongress</strong>e<br />
wurden seit 1951 von katholischen Heimatvertriebenen und Exulanten<br />
aus Osteuropa unter maßgeblicher Beteiligung von P. Werenfried van<br />
Straaten und dem späteren Weihbischof Adolf Kindermann initiiert und<br />
durch das Albertus-Magnus-Kolleg in Königstein/Taunus fortgeführt.<br />
Der INTERNATIONALE KONGRESS RENOVABIS mißt dem Dialog<br />
mit den Partnern in Ostmittel- und Südosteuropa einen besonders großen<br />
Stellenwert bei. Er bemüht sich darum, Probleme der Kirchen offenzulegen<br />
und unverkürzt darzustellen. Die Leistungen der Kirchen in diesem<br />
Gebiet sollen gewürdigt, Mängel und Fehlentwicklungen sowie Schwierigkeiten<br />
im Miteinander von Ost und West offen dargelegt werden.<br />
Nach langen Überlegungen haben wir uns entschlossen, den ersten<br />
INTERNATIONALEN KONGRESS RENOVABIS unter das Thema zu<br />
stellen: „Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen?“ Dabei sollte<br />
gezeigt werden, wie die Lage von Gläubigen und Kirchen in diesen<br />
Ländern ist, wie sie mit der Freiheit umgehen, wie sie den Menschen in<br />
dieser Zeit helfen. Schließlich handelt es sich nach über 40 Jahren Kommunismus<br />
um vielfach unversöhnte Gesellschaften: entweder wegen<br />
ihrer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit, wegen ethnisch begründeter<br />
Spannungen, auch wegen neuer Gräben zwischen Reichen und Armen<br />
oder wegen neuer Feindbilder, die aus den Schwierigkeiten der Transformation<br />
erwachsen. Wie im Westen hat auch die Kirche in Ost- und<br />
Mitteleuropa mit der Gefahr zu ringen, daß sie ihren Versöhnungsauftrag<br />
vernachlässigt.<br />
7
Oder, wie es ein deutscher Politiker in seinem Grußwort an den Kongreß<br />
in Freising formulierte: „Auch die Verantwortlichen der Kirchen<br />
sehen sich vor neue Fragen gestellt: wie umgehen mit der neuen Freiheit?<br />
Wie die sich bietenden Chancen und Herausforderungen dieser Zeit<br />
annehmen? Wie der Versuchung widerstehen, selbst nach Einfluß und<br />
Macht zu streben?“<br />
Diese und ähnliche Zuschriften von Persönlichkeiten des kirchlichen<br />
und öffentlichen Lebens, die Referate auf dem Kongreß wie auch der rege<br />
Zuspruch, den er fand, zeigten, daß ein wichtiges und aktuelles Thema<br />
aufgegriffen worden ist. Immerhin konnten wir bei dieser Veranstaltung,<br />
die im Freisinger Kardinal-Döpfner-Haus sowie in der Aula des benachbarten<br />
Domgymnasiums stattfand, 270 Teilnehmer aus dem In- und Ausland<br />
begrüßen, ein Viertel davon aus den Ländern Ostmitteleuropas.<br />
Die große Zahl von Medienvertretern während des <strong>Kongress</strong>es hatte<br />
bereits deutlich gemacht, daß das Thema des ersten INTERNATIONA-<br />
LEN KONGRESSES RENOVABIS auf lebhaftes Interesse gestoßen<br />
war. Nach Auswertung der Presseberichte können wir sagen, daß Referate<br />
und Diskussionen dieser Veranstaltung ein positives Echo vor allem<br />
in den Printmedien gefunden haben. Allen Journalistinnen und Journalisten<br />
danken wir für ihre Berichterstattung und Kritik; letztere wollen wir<br />
nach Möglichkeit berücksichtigen.<br />
Der Leser findet in dieser <strong>Dokumentation</strong> die Beiträge des <strong>Kongress</strong>es,<br />
ferner die bei dieser Veranstaltung schriftlich vorgelegten Situationsberichte<br />
über die Kirche im Baltikum, in der Ukraine und in Ungarn.<br />
Wir verweisen auf den bevorstehenden 2. INTERNATIONALEN<br />
KONRESS RENOVABIS, der vom 3. bis 5. September 1998 im Kardinal-Döpfner-Haus<br />
in Freising unter dem Thema „Säkularisierung und<br />
Pluralismus in Europa: Was wird aus der Kirche?“ stattfinden wird.<br />
Pater Eugen Hillengass SJ<br />
Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong><br />
8
Zum Verlauf des <strong>Kongress</strong>es<br />
Nach der Begrüßung durch den Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong>, P. Eugen<br />
Hillengass SJ, eröffnete Friedrich Kardinal Wetter, der Erzbischof von<br />
München und Freising, am Donnerstag, dem 4. September <strong>1997</strong>, den<br />
Kongreß, er übermittelte ihm den Gruß des Papstes und verwies auf die<br />
enge historische Verbindung des Tagungsortes zum christlichen Osten.<br />
Die Kirchen in Europa stünden „heute vor großen Herausforderungen.<br />
Ihre Probleme haben unterschiedliche Wurzeln, doch können und sollen<br />
wir voneinander lernen.“<br />
Danach sprach Miloslav Kardinal Vlk, Erzbischof von Prag und Präsident<br />
des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen, über: „Kirche in<br />
Osteuropa: herrschen oder dienen?“ Unter besonderer Berücksichtigung<br />
der Geschichte und der Probleme der tschechischen katholischen Kirche<br />
zeigte er, wie sich Kirche und Gläubige nach so langer kommunistischer<br />
Herrschaft den Herausforderungen der Gegenwart stellen. Eine Polarisierung<br />
unterschiedlicher Gruppen in der Kirche behindere den Dialog. Es<br />
gelte, eine echte Erneuerung durchzuführen, die dem Verständnis von<br />
Freiheit als totaler Unabhängigkeit die „trinitarische Einstellung des<br />
Dienens“ entgegenstelle. Dazu werde ein langer organischer Prozeß<br />
erforderlich sein, keine bloße „Strukturreform“. Das gelte für den Osten<br />
wie für den Westen.<br />
Am Abend des gleichen Tages fand ein Podiumsgespräch „Chancen<br />
und Aufgaben der Kirche in einer glaubensfremden Welt“ statt. Unter den<br />
Teilnehmern waren Prof. Dr. Aniela Dylus, Prof. Dr. Konrad Feiereis,<br />
Prof. Dr. Tomásˇ Halík, Prof. P. Dr. Robert Hotz SJ sowie Erzabt Imre<br />
Asztrik Várszegi; die Moderation hatte Dr. Michael Albus.<br />
Der zweite Kongreßtag, Freitag der 5. September, begann mit einer<br />
gemeinsamen Eucharistiefeier. Hauptzelebrant war Bischof Karl Lehmann,<br />
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. In seiner Predigt<br />
verwies er auf die Vorgeschichte der <strong>Kongress</strong>e, auf Entstehen und Bedeutung<br />
der Solidaritätsaktion <strong>Renovabis</strong>, auf die im Osten ab 1989 entstandene<br />
Umbruchssituation. Er machte klar, daß „zur Einführung der<br />
9
Demokratie als Staatsform und zum Gebrauch der neuen Freiheit mehr<br />
Offenheit und Auseinandersetzung, Mut zum Dialog und zum geistigen<br />
Wettbewerb gehören.“ Der Westen seinerseits mußte „erst Einsicht darin<br />
gewinnen, daß die östlichen Kirchen Sorge hatten, ihre in der Verfolgung<br />
bewährte, lebendige Glaubenssubstanz könnte bei den unumgänglichen<br />
Modernisierungsschüben schweren Schaden leiden; der Schatz des Glaubens<br />
hätte die Unfreiheit überstanden, aber nicht die Freiheit überlebt.“<br />
Der erste Vortrag des Vormittags war einem schwierigen Thema gewidmet.<br />
Prof. Dr. Konrad Feiereis von der Philosophisch-Theologischen<br />
Hochschule in Erfurt sprach über: „Umgang mit der eigenen Vergangenheit<br />
(1945–1989): Fragen an die Kirchen.“ Er zeichnete offen und kritisch<br />
die Jahre der katholischen Kirche in der DDR nach. Dabei machte er<br />
deutlich, aus welchen Gründen die Verantwortlichen der Kirche in Ostdeutschland<br />
ihre Prioritäten unter dem totalitären Regime gesetzt haben.<br />
Neben Fällen von Versagen und Kleinmut stehen großartige Zeugnisse<br />
des Bekennens und des Mutes.<br />
Der Prager Theologe Prof. Dr. Tomásˇ Halík befaßte sich in seinem Vortrag<br />
mit dem Thema „Rückzug auf Feindbilder oder Mut zur Öffnung?“<br />
Der Referent ging auf die Befürchtungen und Sorgen ein, die in der Kirche<br />
seiner tschechischen Heimat bestehen, und nannte die Gründe dafür. Solche<br />
Schwierigkeiten gebe es auch in anderen Teilen der Welt, aber er wolle „erst<br />
vor seiner eigenen Tür kehren“ und versuchen, „die Angst auf seiten der<br />
Kirchen der postkommunistischen Welt zu diagnostizieren“. Schließlich<br />
schlug er „in Hinsicht auf den künftigen Dialog zwischen den Christen des<br />
Ostens und des Westens“ vor, „daß wir die Feindbilder weglegen und versuchen,<br />
den Mut aufzubringen, sich der Gabe der reifen Liebe zu öffnen.“<br />
Daran schloß sich ein Referat von Frau Prof. Dr. Aniela Dylus aus Warschau<br />
über „Polens Kirche: fähig zum Brückenbau?“ Sie zeigte in ihrem<br />
Vortrag, wie schwierig es für Polens katholische Kirche sei, Trennungslinien<br />
in Volk und Kirche zu überwinden. Sie machte aber auch klar, daß<br />
diese fähig sei „zum Bau von Brücken, auch wenn diese Bauwerke noch<br />
immer von Vollkommenheit weit entfernt sind.“ Energisch verwahrte sie<br />
sich gegen allzu vereinfachende Darstellungen über die Kirche in Polen,<br />
wie sie in westlichen Presseorganen zu finden seien.<br />
Am Nachmittag wandte sich der Kongreß jenem Gebiet Europas zu,<br />
wo Kirchen und Gläubige, aber auch die unterschiedlichen Völker zu be-<br />
10
sonderer Gewissenserforschung angehalten sind. Professor Dr. Franjo<br />
Topić aus Sarajevo und der serbisch-orthodoxe Erzpriester Slobodan<br />
Milunović aus München gingen der Frage nach: „Kirchen im ehemaligen<br />
Jugoslawien: Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?“ Beide versuchten<br />
aus ihrer Sicht, unter dem Gebot christlicher Nächstenliebe Ansätze und<br />
Wege zu einer Versöhnung zwischen beiden Nationen – Kroaten und<br />
Serben – darzulegen und dabei auf die besondere Verpflichtung der jeweiligen<br />
Kirche hinzuweisen.<br />
Danach fanden parallel vier Arbeitskreise statt, die sich den Themen<br />
dieses Tages widmeten:<br />
„Wie stellen sich die Kirchen im Osten zu ihrer Vergangenheit?“<br />
„Wieviel Mut zur Öffnung haben die Kirchen seit dem ,Schock der Freiheit‘?“<br />
„Polens Kirche und die Gräben in der Gesellschaft.“<br />
„Christlicher Versöhnungsdienst im ehemaligen Jugoslawien.“<br />
Hier hatten die zahlreichen Teilnehmer Gelegenheit, in der Diskussion<br />
mit Referenten und untereinander die gestellten Themen zu vertiefen. In<br />
diesen Arbeitskreisen entwickelten sich lebhafte, häufig auch kontroverse<br />
Gespräche.<br />
Der Tag endete mit einer Veranstaltung im Freisinger Dom. Kirchenmusikdirektor<br />
Wolfgang Kiechle und Kunsthistoriker Dr. Peter Steiner,<br />
der Direktor des Diözesanmuseums der Erzdiözese München und Freising,<br />
gestalteten diesen „Tagesausklang mit Orgelmusik“, der unter dem<br />
Thema stand: „Der Dom zu Freising, seine Geschichte, seine europäische<br />
Bedeutung, sein Gottesbild.“ Angesichts der engen Verbindung<br />
Freisings und seines Doms zu Osteuropa fand dieser Abend besonders bei<br />
den aus dem Osten kommenden Teilnehmern ein dankbares Publikum.<br />
Der letzte Kongreßtag, Samstag der 6. September, wurde wiederum<br />
durch eine gemeinsame Eucharistiefeier eingeleitet. In seiner Meditation<br />
dankte Weihbischof Leo Schwarz, Trier, Vorsitzender des Aktionsausschusses<br />
von <strong>Renovabis</strong>, den „Kirchen des Ostens für ihre Treue und ihre<br />
Glaubwürdigkeit“. Er drückte auch den Wunsch aus, „daß sie ihren Auftrag<br />
begreifen, der angeschlagenen westlichen Kirche auf ihrer Wegsuche<br />
entgegenzukommen, damit wir im Westen und im Osten die Feuerprobe<br />
bestehen“.<br />
11
Dieser Tag stand ganz im Zeichen der Probleme in der Russischen<br />
Föderation. In seinem Referat fragte Prof. P. Robert Hotz SJ aus Zürich:<br />
„Wie dienen die Kirchen den Menschen in Rußland?“. Der Redner gab<br />
ein ungeschminktes, illusionsloses Bild von der Lage. Das anschließende<br />
Podiumsgespräch, das der stellvertretende Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong>,<br />
Dr. Gerhard Albert, moderierte und an dem neben dem Referenten<br />
auch der russisch-orthodoxe Erzpriester Vladimir Ivanov aus Berlin/<br />
München und der Ostkirchenexperte Dr. Gerd Stricker aus Zollikon/<br />
Schweiz teilnahmen, hatte das Thema: „Kirche und Gesellschaft im<br />
heutigen Rußland.“ Hier wurden die Thesen des Referats hinterfragt,<br />
unterschiedliche Meinungen stießen aufeinander.<br />
Der Kongreß endete mit einem Schlußwort des Geschäftsführers von<br />
<strong>Renovabis</strong>, der sich bei Mitwirkenden und Teilnehmern für die Zusammenarbeit<br />
bedankte und um Anregungen für die Gestaltung späterer<br />
<strong>Kongress</strong>e bat.<br />
12
Aus Grußbotschaften<br />
an den Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />
Der Erzbischof von Berlin<br />
Den Teilnehmern am „Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong>“ im Kardinal-<br />
Döpfner-Haus in Freising übermittle ich einen herzlichen Gruß und<br />
meinen Segenswunsch für ein gutes Gelingen.<br />
In neuer Konzeption führen Sie die bewährte Tradition der Königsteiner<br />
Internationalen <strong>Kongress</strong>e „Kirche in Not“ fort. Mit Dankbarkeit<br />
gegen Gott und gegenüber allen, die zur Befreiung der Völker, der einzelnen<br />
Menschen – und nicht zuletzt der Kirche als dem Volk Gottes – vom<br />
sowjetischen Totalitarismus beigetragen haben, möchte ich Sie ermutigen:<br />
Stellen Sie sich den Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft! Die<br />
frühere Bedrohung des Menschen durch ein inhumanes politisches<br />
System ist aufgehoben. Die Gefahr einer neuerlichen Bedrohung des<br />
Menschen und seiner Würde im Namen einer mißverstandenen und damit<br />
leicht mißbrauchbaren Freiheit ist für viele unverkennbar.<br />
In dieser Situation kommt es entscheidend darauf an, „Christus als den<br />
Weg des Menschen“ (Johannes Paul II.) zu erkennen und anzuerkennen;<br />
denn nur durch IHN werden die Völker bleibend befreit von allen den<br />
Menschen bedrohenden Mächten und Gewalten.<br />
In herzlicher Verbundenheit<br />
Georg Kardinal Sterzinsky<br />
13
Bundesrepublik Deutschland<br />
Der Bundeskanzler<br />
… Sie haben für diesen ersten Kongreß das Thema „Kirche in Osteuropa:<br />
Herrschen oder Dienen“ gewählt. Vielen gilt das Wort „Dienen“ als altmodisch.<br />
Dabei brauchen wir auch heute die Bereitschaft zum Dienst am<br />
Mitmenschen – und dazu gehört nicht zuletzt der Wille, sich mit seinen<br />
Anliegen in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Gerade in einer Zeit<br />
dramatischen Wandels, die zu weitreichenden Veränderungen des gesamten<br />
Lebens – nicht nur in Gesellschaft und Wirtschaft, sondern auch für<br />
jeden einzelnen – führt, brauchen wir mehr denn je die Stimme der Kirchen,<br />
die Orientierungshilfen bei der Suche nach Antworten auf neuartige<br />
Fragen zu geben vermag.<br />
Eine eigene Standortbestimmung über nationale Grenzen hinweg und<br />
angesichts unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklungen vorzunehmen,<br />
ist die Aufgabe des ersten Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>.<br />
Mit dieser Veranstaltung setzen Sie deshalb ein wichtiges Zeichen der<br />
völkerverbindenden Kraft christlichen Glaubens. Indem sich Christen für<br />
den notwendigen Dialog in Ost und West einsetzen, leisten sie einen bedeutsamen<br />
Beitrag zur Gestaltung eines vereinten Europa in Frieden und<br />
Freiheit. Denn wir wissen, daß der Geist der Frohen Botschaft ein<br />
wirkungsvoller Damm gegen jegliche Form von Haß, Gewalt und ideologisch<br />
begründeten Wahrheits- und Machtansprüchen ist. Eine christliche<br />
Lebenseinstellung ist nach meiner Überzeugung auch die beste Grundlage<br />
dafür, daß wir mit unserer Freiheit verantwortungsvoll umgehen.<br />
Deshalb brauchen wir das Engagement von Christen in Politik und<br />
Gesellschaft.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihren Arbeitskreisen und Gesprächen,<br />
daß dort eine Atmosphäre der Verständigung und Versöhnung herrsche,<br />
die dem Bau des Hauses Europa auf dem Fundament christlich geprägter<br />
Grundwerte dient. Der Solidaritätsaktion <strong>Renovabis</strong> der deutschen<br />
Katholiken für die Menschen in Mittel- und Osteuropa wünsche ich für<br />
ihre weitere Arbeit viel Erfolg…<br />
Dr. Helmut Kohl<br />
14
Der Bundesminister des Auswärtigen<br />
In den vergangenen Jahrzehnten war die Hilfe der deutschen Katholiken<br />
für viele Menschen in Mittel- und Osteuropa Hoffnung und Erleichterung.<br />
Durch ihre beharrliche Arbeit gegen alle Widerstände hat sich die<br />
Katholische Kirche in Mittel- und Osteuropa eine Grundlage geschaffen,<br />
auf der sie heute aufbauen kann.<br />
<strong>Renovabis</strong>, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den<br />
Menschen in Mittel- und Osteuropa, spielt dabei seit seiner Gründung<br />
1993 eine besonders wichtige Rolle. Auf vielfältige Weise trägt <strong>Renovabis</strong><br />
dazu bei, die Folgen eines halben Jahrhunderts europäischer Spaltung,<br />
eines halben Jahrhunderts kommunistischer Herrschaft zu überwinden.<br />
Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche und soziale Fragen,<br />
sondern vor allem auch um Meinungs- und Erfahrungsaustausch.<br />
Ob <strong>Renovabis</strong> Begegnungsschulen für alle Volksgruppen in Bosnien<br />
und Herzegowina baut, ein Pastoral- und Begegnungszentrum in einem<br />
Neubaugebiet in Weißrußland fördert oder albanischen Frauen zu einer<br />
Ausbildung verhilft, immer stehen der Dienst am Nächsten und der Dialog<br />
mit ihm im Mittelpunkt. <strong>Renovabis</strong> bedeutet die Verbindung von<br />
praktischer Lebenshilfe zur Selbsthilfe mit der Vermittlung der christlichen<br />
Grundwerte.<br />
Der erste <strong>Renovabis</strong> Kongreß <strong>1997</strong>, den <strong>Renovabis</strong> im Auftrag der<br />
Deutschen Bischofskonferenz in der Tradition der Königsteiner <strong>Kongress</strong>e<br />
von „Kirche in Not“ veranstaltet, wird Gelegenheit zur Reflexion,<br />
zum Dialog und zum Gebet bieten. Ich danke den Veranstaltern des<br />
<strong>Renovabis</strong> <strong>Kongress</strong>es <strong>1997</strong> für ihre Arbeit und wünsche allen Teilnehmern<br />
fruchtbare, in die Zukunft weisende Gespräche und Begegnungen.<br />
Dr. Klaus Kinkel<br />
15
Der Vorsitzende der Christlich-Sozialen Union<br />
Der Bundesminister der Finanzen<br />
Zum Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> der deutschen Katholiken übermittle<br />
ich Ihnen persönlich und im Namen der Christlich-Sozialen Union<br />
herzliche Grüße. Im Mittelpunkt Ihrer Zusammenkunft steht das Thema<br />
„Kirche in Osteuropa: Herrschen oder Dienen?“ Mit Ihrer Solidaritätsaktion<br />
vermitteln Sie wesentliche Impulse für einen intensiven Dialog<br />
zwischen den Christen und für eine dauerhafte Aussöhnung in einem<br />
freien und ungeteilten Europa. Mit dem Motto Ihres <strong>Kongress</strong>es leisten<br />
Sie darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung des Auftrages<br />
der Kirche im zusammenwachsenden Europa.<br />
Das Prinzip der auf Gerechtigkeit gegründeten Solidarität ist für die<br />
europäische Tradition und für die Soziallehre der Kirche das zentrale<br />
Baugesetz menschlichen Zusammenlebens. Solidarität wurzelt in der<br />
Freiheit, Eigenverantwortung und Würde der menschlichen Person. Freiheit<br />
und Solidarität sind unauflöslich aufeinander bezogen.<br />
Erzwungene Einheit ohne Freiheit muß scheitern, wie der Zusammenbruch<br />
des kommunistischen Systems gezeigt hat. Freiheit ohne Solidarität<br />
dagegen entartet zu Beliebigkeit und zu Willkür, welche die<br />
Grundlagen der Gesellschaft aushöhlen. Solidarität in und zwischen den<br />
Gesellschaften und Nationen muß daher zum Ferment des künftigen<br />
gemeinsamen Europas werden.<br />
Solidarität ist unteilbar. Europa darf sich deshalb nicht auf sich selbst<br />
zurückziehen und einem überholten Eurozentrismus huldigen. Es muß<br />
sich vielmehr für weltweite Solidarität öffnen und sich für Freiheit, Frieden<br />
und Gerechtigkeit für alle Menschen einsetzen.<br />
Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Achtung der Menschenrechte<br />
bilden das einzig tragfähige Fundament eines dauerhaften Friedens. Indem<br />
sich die Kirchen im Westen und Osten unseres Kontinents für diese<br />
Werte einsetzen und sie verteidigen, dienen sie dem Frieden der europäischen<br />
Völker. Das Bemühen um Verständigung und Versöhnung unter<br />
den Menschen ist zugleich grundlegend für den Frieden und die Verständigung<br />
ganz Europas.<br />
Das Christentum hat Europa in den 2000 Jahren seiner wechselvollen<br />
Geschichte geformt und mitbestimmt. Die Strahlkraft des von den Kir-<br />
16
chen im Westen und Osten Europas vertretenen Menschenbildes erwächst<br />
aus der überzeugenden Verbindung von Glaube und Hoffnung. Das verpflichtet<br />
zu Offenheit und Toleranz ebenso wie zu Bescheidenheit und<br />
Demut.<br />
Die Kirchen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa stehen angesichts der<br />
umfassenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandlungsprozesse<br />
in den Reformstaaten vor der ehrgeizigen Aufgabe, den Menschen<br />
verläßliche ethisch-moralische Wert- und Orientierungsmaßstäbe zu vermitteln<br />
sowie Lebenssinn und Orientierung zu geben. Die Kirche im<br />
Osten hat heute vor allem eine dienende Funktion im Sinne eines Wegbereiters<br />
wahrzunehmen. Es geht vor allem darum, in den sich neu orientierenden<br />
Gesellschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas ein christliches<br />
Wertefundament zu verankern und zu pflegen.<br />
Der Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, hat die<br />
Mission der Kirche mit Blick auf die Neugestaltung Europas bei der<br />
Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda im<br />
September 1991 folgendermaßen beschrieben: „Wenn man von einer<br />
Mission der Kirche in Europa spricht, geschieht dies besonders in bezug<br />
auf die öffentlichen Tatsachen und Prozesse, die das politische, wirtschaftliche<br />
und gesellschaftliche Gesicht Europas beeinflussen. Das<br />
heißt, daß die Kirchen… sich einzusetzen haben für eine Förderung der<br />
Sensibilität der Öffentlichkeit für übersehene oder verdeckte Aspekte der<br />
menschlichen Würde.<br />
Heute ist die Kirche viel besser imstande als viele andere Institutionen<br />
in Europa, sich dafür einzusetzen, daß die Prinzipien der unverletzlichen<br />
Würde des Menschen, der Gerechtigkeit, der Solidarität und des richtigen<br />
Umgehens mit der Schöpfung besser geachtet werden.“<br />
Für diese Aufgabe muß aus der Kraft des christlichen Glaubens der<br />
Optimismus erwachsen, der ein Europa zusammenfinden läßt, das die<br />
Freiheit und Menschenwürde des einzelnen und damit allen Menschen<br />
den Frieden garantiert…<br />
Dr. Theo Waigel<br />
17
Der Bundesminister des Innern<br />
Nach dem Zusammenbruch der totalitären kommunistischen Systeme in<br />
den Ländern Mittel- und Osteuropas eröffnen sich den Kirchen in diesen<br />
Ländern neue Möglichkeiten, das Evangelium zu verkünden und bei der<br />
Erneuerung der Gesellschaft in Gerechtigkeit und Freiheit mitzuwirken.<br />
Die Veranstalter des <strong>Kongress</strong>es sehen aber offenbar auch die Gefahr, daß<br />
die Kirchen versuchen könnten, Positionen der Vergangenheit wiederzugewinnen<br />
und nach Macht und Prestige zu streben. Das Thema: „Kirche<br />
in Osteuropa – Herrschen oder dienen?“ zeigt, daß es hierzu eine Alternative<br />
gibt; nämlich die, daß sich die Kirche zum Dienst an den Menschen<br />
bekennt. Ich hoffe, daß der erste „Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong>“<br />
diese Fragen mit großem Ernst und mit guten Ergebnissen erörtert.<br />
Die Aktion <strong>Renovabis</strong> selbst hat in der kurzen Zeit ihrer Tätigkeit überzeugend<br />
nachgewiesen, daß für sie der Dienst an den Menschen im Vordergrund<br />
steht. Sie hat bisher nicht nur in erheblichem Umfang finanzielle<br />
Hilfen geleistet, sondern die Christen in den Ländern in Mittel- und<br />
Osteuropa in ihren seelsorgerlichen Anliegen unterstützt. Die Tätigkeit<br />
der Aktion <strong>Renovabis</strong> könnte so vorbildhaft für die Kirchen in Mittel-<br />
und Osteuropa sein.<br />
Das geschichtlich gewachsene Verhältnis zwischen Staat und den<br />
christlichen Kirchen ist partnerschaftlich und kooperativ. Der Staat erkennt<br />
an, daß den Kirchen eine besondere Bedeutung für die Bildung und<br />
Bewahrung ethischer Grundpositionen zukommt…<br />
Manfred Kanther<br />
18
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung<br />
…Dieser Kongreß stellt sich der zukunftsweisenden Frage „Kirche in<br />
Osteuropa: herrschen oder dienen?“<br />
Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Transformationsprozeß der<br />
ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas auf kirchlicher Ebene zu begleiten.<br />
Die neue Freiheit in diesen Ländern hat nicht nur Chancen und Hoffnungen,<br />
sondern auch viele Gefahren und Probleme mit sich gebracht. Alles ist<br />
– nach Jahrzehnten der scheinbaren Sicherheit – ins Wanken geraten. Auch<br />
die Verantwortlichen der Kirchen sehen sich vor neue Fragen gestellt:<br />
Wie umgehen mit der neuen Freiheit? Wie die sich bietenden Chancen<br />
und Herausforderungen dieser Zeit annehmen? Wie der Versuchung<br />
widerstehen, selbst nach Einfluß und Macht zu streben?<br />
Fragen, auf die es keine erschöpfenden und abschließenden Antworten<br />
geben kann, die Sie jedoch im Rahmen Ihres <strong>Kongress</strong>es ausführlich diskutieren<br />
werden. Der polnische Kardinalprimas Wyszynski hat über die<br />
Kirche in seinem Land einmal gesagt, ihr wichtigstes Ziel müsse es sein,<br />
dem Volk und den Menschen zu dienen. Genau hier liegt die Botschaft<br />
des Evangeliums und das Vermächtnis Jesu Christi. Wenn die Kirchen in<br />
Osteuropa dieses Vermächtnis fortführen und ihren Versöhnungsauftrag<br />
erfüllen, werden sie auch eine ganz wichtige Rolle im sich nun nach<br />
Osten erstreckenden europäischen Integrationsprozeß spielen.<br />
Der Weg zu Freiheit und Frieden ist ein hartes Stück Arbeit. Die Kirchen in<br />
Osteuropa haben diese Arbeit – oft unter schlimmen Entbehrungen – auf sich<br />
genommen. Heute können sie die Früchte dieser Anstrengungen ernten. Jetzt<br />
muß die Kirche den Menschen Hilfestellung beim Umgang mit den neu gewonnenen<br />
Freiheiten geben. Der Frieden braucht Menschen mit Standpunkten,<br />
mit der Fähigkeit zum Kompromiß, mit der Intuition für das Gemeinwohl,<br />
mit dem Wissen um die Menschenwürde und mit dem Elan, sich gewaltlos<br />
und ohne Besserwisserei dafür zu engagieren. Wo, wenn nicht in den Kirchen,<br />
können Menschen mit diesen Eigenschaften Hilfe und Unterstützung finden?<br />
Der 1. Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> soll ein offenes europäisches<br />
Forum darstellen, auf dem sich ein dialogbereiter, ökumenisch handelnder<br />
Katholizismus artikuliert. Das Zusammenwachsen der Christen in Ost und<br />
West in allen kirchlichen Aktivitäten ist ihr vorrangiges Ziel. Dabei wünsche<br />
ich Ihnen viel Erfolg und gutes Gelingen.<br />
Dr. Norbert Blüm<br />
19
Der Bundesminister für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
Wer heute die Entwicklung in Europa betrachtet, muß zwangsläufig auch<br />
unsere osteuropäischen Nachbarländer in den Blickwinkel nehmen. Ost-<br />
und Westeuropa sind auf eine vielfältige Weise miteinander verknüpft.<br />
Unsere Geschichte ist eine gemeinsame Geschichte; ebenso läßt sich<br />
heute keine Frage unserer politischen, sozialen und wirtschaftlichen<br />
Zukunft mehr beantworten ohne Einbezug unserer osteuropäischen<br />
Nachbarn.<br />
Die anfangs mit dem Umbruch von 1989 freigewordenen Hoffnungen<br />
haben sich noch nicht erfüllen können. Vielfach scheint es, daß die Probleme<br />
noch komplexer wurden oder daß sie durch die Freiheit noch klarer<br />
sichtbar wurden. In den nächsten Jahren geht es entscheidend darum, den<br />
Menschen einerseits Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln, andrerseits<br />
auch orientierende Hilfe, wie sie mit dem kostbaren Gut der Freiheit verantwortungsvoll<br />
umgehen können.<br />
Immer deutlicher zeigen sich die Folgen des Atheismus, der eine<br />
geistige Leere verursacht hat. Sie hat ganze Generationen ohne Orientierung<br />
gelassen. Der Marxismus hatte den Menschen versprochen, das<br />
Verlangen nach Gott aus dem Herzen des Menschen zu tilgen. Die Ergebnisse<br />
haben bewiesen, daß dies nicht gelingen kann, ohne dieses Herz<br />
selbst zu zerrütten. Dies erschwert die Suche nach der eigenen Identität<br />
der Menschen und ist zugleich Ursache für viele Formen der sozialen<br />
Desintegration.<br />
Letzten Endes ist auch die Schaffung einer wahren Demokratie nur in<br />
einem Rechtsstaat und auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes<br />
möglich, welches die Erziehung und Heranbildung von Idealen<br />
befördert, gesellschaftliche Strukturen der Eigenverantwortung und<br />
Selbsthilfe, der Beteiligung und Mitverantwortung schafft.<br />
Der Aufbau gesellschaftlicher Institutionen ist ohne Vertrauen der<br />
Menschen in ein gemeinsames Miteinander nicht möglich. Vertrauen<br />
muß sich heranbilden im Bewußtsein auf die Würde des Menschen und<br />
der Achtung der Standpunkte der jeweils anders Denkenden. Hier stellt<br />
sich die vielleicht wichtigste Aufgabe der Kirchen in Osteuropa, wie die<br />
Vermittlung von Werten, die eine Gesellschaft tragen und Orientierung<br />
20
geben für ein politisches Handeln, welches Ideen und Überzeugungen<br />
nicht für Machtzwecke mißbraucht. Der Beitrag der Kirche zur demokratischen<br />
Ordnung der Gesellschaft ist die „Sicht von der Würde der Person,<br />
die sich im Geheimnis des Mensch gewordenen Wortes in ihrer ganzen<br />
Fülle offenbart“ (Enzyklika Centesimus Annus <strong>Nr</strong>. 47).<br />
In diesem Sinne wünsche ich dem Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />
in Freising <strong>1997</strong> ein gutes Gelingen. Es soll ein Forum sein, wo die drängenden<br />
Fragen von Kirche und Gesellschaft in Europa nach dem Umbruch<br />
von 1989 Antworten finden können.<br />
Möge der gute Geist dieser historischen Stätte walten, von der in<br />
der Vergangenheit vielfältige Impulse auf das geistige Leben und die<br />
europäische Kultur ausgingen.<br />
Carl-Dieter Spranger<br />
21
Der Ministerpräsident<br />
des Landes Baden-Württemberg<br />
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sind die tiefgreifenden<br />
politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in den Staaten Mittel-<br />
und Osteuropas noch immer nicht abgeschlossen. Menschen, die jahrzehntelang<br />
ihrer Rechte und Chancen beraubt waren, stehen vor der Aufgabe,<br />
im Zeichen von Demokratie und Freiheit einen Neuanfang zu gestalten.<br />
Maßgeblich unterstützt werden sie dabei von den Kirchen. Der Glaube,<br />
jahrzehntelang unterdrückt und verfolgt, gibt den Menschen neuen Halt.<br />
Und er vermittelt der Gemeinschaft jene humanistischen Grundwerte, die<br />
sie brauchen, um menschenwürdige Lebensumstände und eine stabile<br />
Friedensordnung zu schaffen.<br />
Als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, das enge Partnerschaften<br />
zu Ländern aus Mittel- und Osteuropa pflegt, weiß ich, welche<br />
tragende Rolle der Glaube und die Religiosität beim Aufbau einer<br />
demokratischen Struktur in diesen Staaten spielen. Die Kirchen sehen<br />
sich allerdings auch mit zahlreichen Problemen konfrontiert, die sich aus<br />
den veränderten Gesellschafts- und Lebensformen ergeben.<br />
Ich begrüße die Veranstaltung des Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>,<br />
die unter dem Titel „Kirche in Osteuropa – Herrschen oder Dienen?“ steht.<br />
Sie bietet ein europäisches und ökumenisches Forum für den Dialog über<br />
die aktuellen Probleme der Kirchen in den postkommunistischen Staaten.<br />
Teilnehmer aus Ost und West beschäftigen sich drei Tage lang im bayrischen<br />
Freising mit der Vergangenheit der Kirchen in Osteuropa, bestimmen<br />
deren Standort in den einzelnen Ländern und zeigen für sie Zukunftsperspektiven<br />
auf.<br />
Ich danke den Veranstaltern der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken,<br />
<strong>Renovabis</strong>, ganz herzlich für ihren Einsatz und den Mut, diese<br />
drängenden Fragen einmal offen zu diskutieren. Allen Teilnehmern wünsche<br />
ich informative und konstruktive Gespräche. Vielleicht münden sie<br />
in neue Ideen und Lösungsansätze, die den Menschen in Mittel- und Osteuropa<br />
dann ein glücklicheres und gerechteres Leben ermöglichen.<br />
22<br />
Erwin Teufel
Der Bayerische Ministerpräsident<br />
…Dieser Kongreß widmet sich der Frage, wie die katholische Kirche in<br />
solidarischer und ökumenischer Weise zur Entwicklung in Mittel-, Ost-<br />
und Südosteuropa beitragen kann. Politische, soziale und nicht zuletzt<br />
auch theologische Gegensätze und Spannungen erweisen sich gegenwärtig<br />
als Hemmnisse des Fortschritts, den unsere Nachbarn im Osten jahrzehntelang<br />
ersehnt haben. Schon aber tritt gelegentlich die paradoxe<br />
Tendenz zu Tage, daß die kommunistische Ideologie, die nach einem<br />
ebenso gründlichen wie schrecklichen Experiment endgültig widerlegt<br />
sein sollte, in den Augen einer nicht geringen Zahl von Menschen einen<br />
romantischen Glanz gewinnt, der uns überrascht – der vielleicht aber verständlicher<br />
wird, wenn man beobachtet, daß an die Stelle des alten Unterdrückungsapparats<br />
inzwischen teilweise Korruption, mafiose Strukturen<br />
und rücksichtslose Konjunkturritter getreten sind: Die neue Wirklichkeit<br />
wird oft weniger vom freudigen Gefühl der Freiheit geprägt als von<br />
Armut, Desorganisation und Kriminalität.<br />
In dieser Situation können die Kirchen einen entscheidenden Beitrag<br />
zur Neuorientierung und zum Vertrauen in neu gewonnene Freiheiten<br />
leisten, damit sie eben nicht von anarchischen oder nihilistischen Zügen<br />
überdeckt werden: Unsere Hoffnung beruht darauf, daß die Menschen,<br />
die guten Willens sind, zusammenfinden. Ich wünsche dem Internationalen<br />
Kongreß <strong>Renovabis</strong>, daß er dazu beitragen möge.<br />
Dr. Edmund Stoiber<br />
23
Der Regierende Bürgermeister von Berlin<br />
Die Öffnung der Grenzen und der Zusammenbruch des kommunistischen<br />
Systems wurden nicht nur von den westlichen Demokratien, sondern<br />
auch von den Kirchen als Herausforderung betrachtet. Marktwirtschaftlich-demokratische<br />
Strukturen brauchten genauso westliche Unterstützung<br />
wie kirchliche. Dabei ist gerade nach den ersten Aufbaujahren Behutsamkeit<br />
und Fingerspitzengefühl vonnöten, will man irrationale<br />
Überfremdungs- und Vereinnahmungsängste von vorne herein vermeiden.<br />
50, mitunter gar 70 Jahre einer totalitären Gewaltherrschaft haben im<br />
ehemaligen sowjetischen Machtbereich nicht nur einen Mangel an materiellen<br />
Werten, an Marktfähigkeit, Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit<br />
verursacht, sondern auch soziale und religiöse Werte in den<br />
Hintergrund und in die Vereinsamung gedrängt. Es gehört zu den großen<br />
Aufgaben der Kirchen, insbesondere der katholischen Weltkirche, den<br />
Ortskirchen Beratung und Unterstützung zu ermöglichen, damit diese<br />
den Menschen in einer schwierigen Umbruchsphase Orientierung und<br />
Identität geben können.<br />
Von daher wünsche ich dem Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> anregende<br />
Diskussionen, fruchtbare Kontakte und jeden Erfolg, denn wir alle<br />
müssen unseren Beitrag dazu leisten, um das Angesicht der Erde zu<br />
erneuern.<br />
Eberhard Diepgen<br />
24
Der Ministerpräsident<br />
des Landes Brandenburg<br />
…<strong>Renovabis</strong>, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den<br />
Menschen in Mittel- und Osteuropa, hat den Kongreß unter das provozierende<br />
Thema „Kirche in Osteuropa: Herrschen oder dienen?“ gestellt.<br />
Christen aus mittel- und osteuropäischen Ländern werden hier die Gelegenheit<br />
haben, in einen Ost-West-Diskurs einzutreten, aber auch die Ost-<br />
Ost-Diskussion untereinander zu befördern. Mehr als 200 Tagungsteilnehmer<br />
aus dem In- und Ausland werden erwartet und stehen mit ihren<br />
unterschiedlichen Auffassungen für eine fruchtbare und kontrovers<br />
geführte Auseinandersetzung. Auf die Ergebnisse dürfen alle, die sich mit<br />
den politischen Veränderungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten<br />
beschäftigen, gespannt sein.<br />
Die kulturellen, geistigen und auch geistlichen Traditionen dieser Staaten<br />
sind reichhaltig und verdienen es, in den künftigen Entwicklungsprozessen<br />
Europas Beachtung und Würdigung zu finden. Zuweilen<br />
überdecken die sozialen Nöte und wirtschaftlichen Verwerfungen der<br />
Umbruchprozesse diesen Reichtum. <strong>Renovabis</strong> – in 27 Ländern Mittel-<br />
und Osteuropas aktiv – gebührt Dank dafür, auf <strong>Kongress</strong>en wie diesem<br />
einmal mehr zu beweisen, daß seine Aktionen als Hilfe zur Selbsthilfe<br />
gedacht sind, daß seine partnerschaftliche Unterstützung vor allem den<br />
Dialog befördern will.<br />
<strong>Renovabis</strong> faciem terrae – Du erneuerst das Antlitz der Erde! Getreu<br />
diesem Motto wollen deutsche Katholiken an der gesellschaftlichen<br />
Erneuerung mitwirken. Ihre Projektarbeit bezieht sich auf mehr als 1000<br />
konkrete Unternehmungen, die gemeinsam mit den Ortskirchen durchgeführt<br />
werden und auf eine effiziente ökumenische Zusammenarbeit<br />
bauen. Nur in Harmonie von wirtschaftlichen, sozialen und geistlichen<br />
Entwicklungsprozessen wird der Umbau in Mittel- und Osteuropa<br />
gelingen…<br />
Manfred Stolpe<br />
25
Der Ministerpräsident des Landes<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
<strong>Renovabis</strong> faciem terrae, Du erneuerst das Antlitz der Erde, heißt es im<br />
Psalm 104. „<strong>Renovabis</strong>“ versteht den Lobpreis Gottes auch als Verpflichtung<br />
zum eigenen Tun und setzt sich ein für den Dialog zwischen den<br />
Christen in Ost und West. Ich begrüße dieses Engagement angesichts<br />
riesiger sozialer und wirtschaftlicher Probleme in den Staaten Mittel- und<br />
Osteuropas. „Kirche in Osteuropa: Herrschen oder dienen“ lautet das<br />
Thema, unter dem sich die Tagungsteilnehmer zusammenfinden, um sich<br />
Rechenschaft zu geben über die unterschiedlichen Bedingungen ihrer<br />
Kirchen in den postkommunistischen Ländern und über die mancherorts<br />
katastrophale Lage der Menschen.<br />
Besonders freue ich mich darüber, daß Priester aus den betroffenen<br />
Ländern so zahlreich nach Freising kommen. Sie werden aus erster Hand<br />
berichten über ihre Schwierigkeiten und Bedrängnisse. Diese Informationen<br />
bieten die Gewähr dafür, daß die Vertreter des Westens einen ungeschminkten<br />
Eindruck bekommen vom „Schock der Freiheit“, der die<br />
Länder des ehemaligen Ostblocks nach 1989 getroffen hat. Nur wenige<br />
Menschen profitieren bisher von den Vorzügen des liberalen Wirtschaftssystems;<br />
für die Mehrzahl hingegen hat sich wenig zum Positiven verändert,<br />
und das führt oft genug zur trügerischen Sehnsucht nach den alten<br />
Verhältnissen. In dieser Situation Wege in die Zukunft zu zeigen und den<br />
Menschen Hoffnung zu geben, kommt einer Herkules-Aufgabe gleich.<br />
Aber sie muß getan werden, damit die Gesellschaften nicht zurückfallen<br />
in Apathie und Hoffnungslosigkeit. Auch wenn die Sorge der Kirchen um<br />
die Wiederherstellung und die Sicherung ihrer eigenen Stellung nur<br />
zu verständlich ist, bleibt der Dienst am Menschen doch ihre wichtigste<br />
Aufgabe.<br />
Hoffen wir, daß die Selbstverpflichtung von „<strong>Renovabis</strong>“ im Laufe der<br />
Zeit einen Beitrag dazu leistet, daß die Menschen Mittel- und Osteuropas,<br />
in den Worten des 104. Psalms, „mit Gut gesättigt werden“…<br />
26<br />
Dr. h.c. Johannes Rau
Der Ministerpräsident<br />
des Freistaates Sachsen<br />
Der Zusammenbruch eines politischen Systems ist in vielerlei Hinsicht<br />
umwälzend. Wie ein Kartenhaus stürzt die schützende Mauer zusammen.<br />
So gibt es Stützen der bisherigen Ordnung, die den Anspruch verlieren,<br />
Grundpfeiler der Gesellschaft zu sein. Und es gibt andere, deren Berechtigung<br />
unzweifelhaft ist. Menschen sammeln in diesem Prozeß verschiedene<br />
Erfahrungen. Einige sehen darin die Chance des Lebens und nutzen<br />
diese. Andere hingegen vermissen eben noch gültige Sicherheiten und<br />
haben das Gefühl, den Halt zu verlieren.<br />
Daß die Kirche in einer solchen Situation hilft und Partner sein kann<br />
auf dem Weg zu einem Neuanfang, haben unsere östlichen Nachbar länder<br />
in den letzten Jahren unterschiedlich erlebt. Da waren innere Schwierigkeiten<br />
zu meistern, Fragen zu beantworten, bei denen es um den Umgang<br />
mit der Freiheit ging, wie die eigene Rolle neu definiert wird, ob eine kritische<br />
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfolgen soll, wo die<br />
Grenzen des Handelns sind, wie es weitergeht, ohne die Menschen aus<br />
den Augen zu verlieren. Zahlreiche Antworten gab und gibt es, aber keine<br />
Rezepte. Um so wichtiger ist es, sich auszutauschen, einen Dialog zu führen<br />
über Gemeinsames, Trennendes, Bekanntes und Unbekanntes. Der<br />
Internationale <strong>Renovabis</strong> Kongreß <strong>1997</strong> hat sich dies zum Ziel gesetzt<br />
und wird sich erstmalig dem Thema „Kirche in Ost europa: herrschen<br />
oder dienen“ widmen. Eine Aktion von deutschen Katholiken für Osteuropa,<br />
um den aufgetragenen Dienst am Menschen, vor allem auch den<br />
Dienst der Versöhnung, weiterzutragen…<br />
Prof. Dr. Kurt Biedenkopf<br />
27
Der Thüringer Ministerpräsident<br />
…Ihrem ersten internationalen Kongreß haben Sie ein anregendes und<br />
zugleich nachdenklich stimmendes Leitwort gegeben: „Kirche in Osteuropa:<br />
herrschen oder dienen?“ Allein die Tatsache, daß Sie sich mit der<br />
Kirche in Osteuropa beschäftigen, verdient Anerkennung. Der Osten<br />
Europas ist für viele Westeuropäer noch immer terra incognita. Den Fall<br />
von Mauer und Stacheldraht und den Zusammenbruch des Kommunismus<br />
haben fast alle begrüßt. Die Folgen der Überwindung der Spaltung<br />
Europas aber haben viele nur unzureichend bedacht.<br />
Der geteilte Kontinent Europa, der durch den Zweiten Weltkrieg zum<br />
Abbild der Bipolarität in der Welt wurde, ist am Ende dieses Jahrhunderts<br />
wieder zusammengerückt. Die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang,<br />
die sich diesem Europa immer zugehörig fühlten, schauen voller Erwartung<br />
und Hoffnung auf uns. Die Solidarität, die das freie Westeuropa den<br />
Menschen während der Dauer der kommunistischen Regimes in ihren<br />
Ländern zugesichert und zuteil werden ließ, wird heute vermehrt eingefordert.<br />
Konkret heißt das: Die jungen Reformstaaten sind bestrebt,<br />
möglichst schnell Organisationen wie Europäischer Union und NATO<br />
beitreten zu können, um ihre politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung<br />
voranzubringen und abzusichern.<br />
Noch ist der schwierige Transformationsprozeß in den einstigen kommunistischen<br />
Diktaturen zu demokratisch verfaßten Gesellschaften mit<br />
einer sozialen marktwirtschaftlichen Ordnung überwiegend in vollem<br />
Gange. Deshalb entfaltet schon eine zeitliche Perspektive für eine Mitgliedschaft<br />
in einer der beiden Organisationen bei den beitrittswilligen<br />
Ländern stabilisierende Wirkung. Schon die Option ist von erheblicher<br />
Bedeutung, denn so verständlich der Wunsch vieler Länder nach einem<br />
sofortigen oder baldigen Beitritt ist, so ist er auf Grund objektiv fehlender<br />
Voraussetzungen nicht sofort zu realisieren.<br />
Das Wort von Vaclav Havel hat seinen Sinn: „Wenn der Westen nicht<br />
den Osten stabilisiert, destabilisiert der Osten den Westen.“ Die Konflikte<br />
auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und auch in Bereichen der<br />
früheren Sowjetunion zeigen uns, daß die Gefahren von mit Waffengewalt<br />
ausgetragenen Konflikten nach dem Ende des Ost-West-Gegen-<br />
28
satzes eher größer geworden sind. Ethnisch, aber auch religiös begründete<br />
Auseinandersetzungen könnten sich als gefährliche Sprengsätze für<br />
das in sich noch instabile Gefüge einer sich in Konturen abzeichnenden<br />
europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung erweisen.<br />
Vier Jahrzehnte, im Falle Rußlands sogar sieben Jahrzehnte, führten<br />
die Kirchen und christlichen Minderheiten in vielen Ländern des sogenannten<br />
Ostblocks einen Kampf ums Überleben. Nicht überall war die<br />
Kirche so widerstandsfähig wie in Polen, wo die Christen allen Ver suchen<br />
des kommunistischen Regimes, zwischen sie und die Kirche einen Keil<br />
zu treiben, widerstanden und wo viele Menschen in der Zeit der Bedrängnis<br />
Schutz, Trost und Kraft im Schoß der Kirche fanden. Die katholische<br />
Kirche hat sich aber nicht nur in Polen als stärker als die ebenso menschenverachtenden<br />
wie auch kirchen- und christenfeind lichen Regierungen<br />
erwiesen, weil sie ihren Auftrag immer im Dienste der Menschen und<br />
der Stärkung ihrer Glaubensgemeinschaft verstanden hat. Deshalb kann<br />
die Antwort auf die in dem Leitwort geäußerte Fragestellung auch nur<br />
lauten: Kirche hat stets dienende Funktion. Das gilt für ihre Aufgaben im<br />
demokratischen Staat, wie auch für ihre Existenz in Ländern, die noch<br />
dabei sind, sich zu demokratischen Staats wesen zu entwickeln. Kirche<br />
hat nicht zu herrschen, sondern muß in erster Linie dienen, und das ganz<br />
unabhängig von der jeweiligen staat lichen Ordnung.<br />
Wie in Westeuropa ist auch in fast allen Ländern Mittel- und Osteuropas<br />
die kulturelle Tradition wesentlich durch den christlichen Glauben<br />
geprägt. Diese christliche Tradition wie auch die damit verbundenen<br />
Werte gilt es zu bewahren und für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft<br />
und einer sozial verantworteten Marktordnung einzubringen<br />
und weiterzuentwickeln.<br />
„Solidarität ist unteilbar“, heißt ein Prinzip von <strong>Renovabis</strong>. Die Kirche<br />
in Ost- und Mitteleuropa – und das gilt für die gesamte katholische Kirche<br />
– braucht Solidarität, und vor allem die Menschen bedürfen der praktischen<br />
Solidarität. Deshalb ist die Arbeit von <strong>Renovabis</strong>, 1993 auf Anregung<br />
katholischer Laien als eigenständige Aktion gegründet, so wertvoll,<br />
so unverzichtbar. So wichtig es ist, politisch die Konsequenzen aus dem<br />
Zusammenbruch des Kommunismus zu ziehen und die Weichen für ein<br />
vereintes Europa zu stellen, das Mittel- und Osteuropa ganz selbstver-<br />
29
ständlich einbezieht, so wichtig ist dies auch die Arbeit für die Menschen.<br />
Ich freue mich, daß die Idee, Partnerschaften zwischen West und Ost<br />
unter Pfarrgemeinden zu gründen, immer mehr Verbreitung findet. Wir<br />
brauchen Brücken für die Hilfe, und wir brauchen zunächst Brücken zur<br />
Verständigung und zum gegenseitigen Verständnis. Denn nur wer den<br />
anderen kennt, um seine Sorgen und Nöte weiß, hat Verständnis für ihn<br />
und kann helfen…<br />
Dr. Bernhard Vogel<br />
30
Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU<br />
im Deutschen Bundestag<br />
…Mit diesem Kongreß unter dem Thema „Kirche in Osteuropa: Herrschen<br />
oder Dienen?“ führt <strong>Renovabis</strong> die langjährige und bewährte Tradition<br />
der zahlreichen Königsteiner „Internationalen <strong>Kongress</strong>e Kirche in<br />
Not“ auf sehr verdienstvolle Weise fort. Auch acht Jahre nach dem<br />
Umbruch von 1989 hat die Orientierung von <strong>Renovabis</strong> nach Osten, hat<br />
die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in<br />
Mittel- und Osteuropa nichts von ihrer Dringlichkeit und ihrer Aktualität<br />
verloren. Zum einen kommt der Kirche in der geistigen Wüste und Leere,<br />
die ein halbes Jahrhundert Diktatur, die Kommunismus und Materialismus<br />
in den verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas hinterlassen<br />
haben, eine unersetzliche Rolle für die Wiederherstellung der kulturellen<br />
und moralischen Grundlagen zu, die für Bestand und Zusammenhalt der<br />
frei gewordenen Gesellschaften unentbehrlich sind. Zum anderen können<br />
die Christen auch einen wesentlichen Beitrag leisten, ja eine Vorreiterrolle<br />
einnehmen in den verschiedenen Versöhnungsprozessen, die in<br />
Mittel- und Osteuropa, wie es scheint, noch lange nicht zum Abschluß<br />
gekommen sind: Die Versöhnung zwischen den einzelnen Völkern und<br />
Volksgruppen einerseits, die Versöhnung aber auch unter den verschiedenen<br />
Konfessionen, zwischen Kirche und Staat, zwischen den neuen und<br />
alten politischen Kräften andererseits. Versöhnung, die der Bischof von<br />
Oppeln, Dr. Alfons Nossol, als „geheilte Erinnerungen“ beschrieben hat,<br />
ist dabei nicht nur eine rückwärtsgewandte Auseinandersetzung mit der<br />
eigenen Vergangenheit, sie ist vielmehr unabdingbare Voraussetzung zur<br />
befreiten und kraftvollen Gestaltung einer gemeinsamen, friedlichen<br />
Zukunft. Und wenn diese Zukunft gründen soll auf einem Verständnis<br />
von Europa, das sich seiner historischen Wurzeln und seines christlichen<br />
Erbes bewußt bleibt, dann hat die Kirche mit ihrem unabdingbaren Missionsauftrag<br />
noch weithin unbestellte Aufgabenfelder vor sich.<br />
Auf dem Weg zu diesem Ziel kann der Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />
wertvolle Hilfe und weiterführende Beiträge leisten. Referenten<br />
und Diskussionsthemen versprechen, eine an den jeweiligen Verhältnissen<br />
in den verschiedenen Ländern ausgerichtete Bestandsaufnahme zu<br />
leisten und wichtige Impulse für die Arbeit vor Ort zu geben. Es besteht<br />
31
guter Grund zu der Hoffnung, daß die Solidaritätsaktion der deutschen<br />
Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa auch über diese<br />
Tagung hinaus Bestand haben wird und so für eine Vertiefung der Beziehungen,<br />
für ein echtes Zusammenwachsen Europas auch in seinen östlicheren<br />
Teilen eine Pionierrolle übernehmen kann…<br />
Dr. Wolfgang Schäuble<br />
32
Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen<br />
Bundestagsfraktion<br />
…Mit der Frage „Kirche in Osteuropa: Herrschen oder Dienen?“ greifen<br />
Sie ein wichtiges Thema in den mittel- und osteuropäischen Ländern auf.<br />
Diese Länder befinden sich immer noch mitten im Transformationsprozeß<br />
von den über Jahrzehnte kommunistisch und damit atheistisch indoktrinierten<br />
Gesellschaften zu demokratischen Strukturen und liberalen<br />
Lebensformen.<br />
Die erstaunliche Renaissance der Kirchen in all diesen Ländern zeigt,<br />
wie tief das Bedürfnis des Menschen nach Religion gerade in Mittel- und<br />
Osteuropa verwurzelt ist. Um so wichtiger ist eine Standortbestimmung<br />
der Kirchen in den entstehenden postkommunistischen Gesellschaften.<br />
Dabei sind Fragen zu beantworten wie nach der Rolle der Kirche in der<br />
kommunistischen Diktatur, nach ihrer politischen Rolle in ethnisch und<br />
religiös gespaltenen Gesellschaften, nach ihrer Rolle in Bürgerkriegssituationen,<br />
nach ihrer Fähigkeit zu ökumenischer Zusammenarbeit und<br />
vor allem nach ihrer heutigen gesellschaftlichen Verantwortung und den<br />
damit zusammenhängenden Aufgaben im sozialen Bereich…<br />
Rudolf Scharping<br />
33
Der Vorsitzende des Auswärtigen<br />
Ausschusses des Deutschen Bundestages<br />
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes bietet sich uns zum ersten Mal<br />
die Chance zur Gestaltung eines auf Frieden und Freiheit gegründeten<br />
Europas. Auch wenn wir in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte<br />
gemacht haben, liegen noch immer große Aufgaben vor uns. Vor allem<br />
gilt es zu bedenken, daß Europa nur auf einer Wertegemeinschaft der<br />
Demokratien errichtet werden kann. Das Gelingen des Reformprozesses<br />
in Mittel-, Ost- und Südosteuropa ist darum nicht nur für die betroffenen<br />
Staaten selbst, sondern für die Sicherheit und Stabilität in ganz Europa<br />
entscheidend. Die jungen Demokratien in diesen Ländern bedürfen der<br />
Unterstützung und Solidarität bei der Bewältigung ihrer politischen, wirtschaftlichen<br />
und vor allem auch sozialen Probleme.<br />
Es besteht kein Zweifel, daß die Kirchen hier eine wichtige Rolle spielen,<br />
indem sie den Menschen nicht nur materielle Hilfe, sondern auch<br />
Orientierung auf ihrem Weg in freiheitliche Gesellschaften geben. Die<br />
Gestaltung Europas ist ohne die Kraft und das Engagement der Kirchen<br />
nicht denkbar. Dazu gehört auch der Dialog der Kirchen untereinander.<br />
Die Kirchen in den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas müssen in<br />
die Lage versetzt werden, ihren Beitrag bei der Umgestaltung und den<br />
schwierigen Transformationsprozessen tatsächlich leisten zu können.<br />
Dies kann nur durch einen Erfahrungsaustausch geschehen, der die Probleme<br />
offen benennt und zugleich das Bewußtsein dafür weckt, daß die<br />
Herausforderungen in Europa gemeinsam bewältigt werden müssen.<br />
Ich bin sicher, daß das Projekt von <strong>Renovabis</strong>, mit seinem ersten internationalen<br />
Kongreß ein Forum zu schaffen, auf dem Ziele und Selbstverständnis<br />
kirchlicher Arbeit in den Gesellschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas<br />
kritisch und offen diskutiert werden, in die richtige Richtung<br />
weist. Ein solches Forum stärkt das Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung<br />
und fördert die Bereitschaft zu tatkräftiger Solidarität…<br />
34<br />
Prof. Dr. Karl-Heinz Hornhues
Der Oberbürgermeister von Freising<br />
Alle Wege führen nach Freising, auf den Domberg, der über ein Jahrtausend<br />
ein leuchtender Mittelpunkt des Glaubens, der Künste und der<br />
Wissenschaft war.<br />
Dieser langen Tradition hat sich seit der Gründung im Jahre 1993 auch<br />
die Solidaritätsaktion „<strong>Renovabis</strong>“ verschrieben. Im Freisinger Kardinal-<br />
Döpfner-Haus fühlen sich mittlerweile über 30 Mitarbeiter des Instituts<br />
heimisch, sofern sie nicht gerade unterwegs sind in vielen Ländern<br />
Mittel- und Osteuropas.<br />
Als Oberbürgermeister der Stadt Freising freut es mich ganz besonders,<br />
daß <strong>Renovabis</strong> mit dem Geschäftsführer Pater Eugen Hillengass SJ<br />
an der Spitze den ersten internationalen Kongreß hier ausrichtet. Diese<br />
Tagung stellt eine gute Möglichkeit dar, den geistigen Austausch zwischen<br />
West und Ost zu fördern.<br />
Den vielen Teilnehmern aus dem In- und Ausland wünsche ich einen<br />
guten Verlauf der Tagung, viel Erfolg für ihre zukünftige Arbeit und noch<br />
etwas Zeit für einen Rundgang durch die schöne Altstadt Freisings.<br />
Dieter Thalhammer<br />
35
I. Kirche in Osteuropa:<br />
herrschen oder dienen?
P. Eugen Hillengass SJ, Freising<br />
Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong><br />
Zur Eröffnung des <strong>Kongress</strong>es<br />
Zum ersten Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong>, zu dem sich etwa 270 Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer aus 18 europäischen Ländern (darunter 14<br />
aus Mittel- und Osteuropa) eingefunden haben, begrüße ich Sie sehr herzlich.<br />
Etwa ein Viertel der Teilnehmer stammt aus Mittel- und Ost europa.<br />
Weitere 60 Anmeldungen konnten wir leider nicht berücksichtigen.<br />
Zur Vorgeschichte: Die <strong>Kongress</strong>e „Kirche in Not“ – begonnen 1951 in<br />
Hilversum – wurden 44 Jahre lang in Königstein/Taunus durch das Albertus-Magnus-Kolleg<br />
fortgeführt. Initiatoren der ersten Stunde waren<br />
Weihbischof Dr. Adolf Kindermann, P. Werenfried van Straaten und die<br />
katholischen Heimatvertriebenen. Seit Ende der achtziger Jahre trug die<br />
Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz die Königsteiner<br />
<strong>Kongress</strong>e mit.<br />
Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz setzt <strong>Renovabis</strong> die Tradition<br />
der Königsteiner <strong>Kongress</strong>e fort und will sie unter den heutigen,<br />
von Grund auf veränderten Bedingungen weiterentwickeln – zu einem<br />
Ort der Begegnung und des Austausches in einem Europa, das immer<br />
mehr zusammenwachsen muß und will.<br />
Das erfreulich große Interesse am Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />
ist eine Bestätigung und Ermutigung auch für den Weg und die Arbeit von<br />
<strong>Renovabis</strong> seit seiner Gründung im Jahre 1993.<br />
Im Mittelpunkt des Interesses steht das Thema: „Kirche in Osteuropa:<br />
herrschen oder dienen?“. Dabei geht es nicht um den Blick zurück,<br />
sondern um die Zukunft der Kirche, das Wachstum der Gemeinden und<br />
ihren Weg der Versöhnung. Es geht um den Dienst der Christen an den<br />
Menschen unserer Zeit, inmitten tiefgreifender Umbrüche. „Der Weg der<br />
Kirche ist der Mensch“, sagt Papst Johannes Paul II. Und das gilt auch<br />
hierfür.<br />
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Begrüßen möchte ich namentlich – und bitte entschuldigen Sie die<br />
Kürze im Hinblick auf unser Programm:<br />
– Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter von München und Freising, den<br />
Hausherrn des Dombergs;<br />
– Erzbischof Miloslav Kardinal Vlk, Prag, den Vorsitzenden des Rates<br />
der Europäischen Bischofskonferenzen.<br />
Aus der Reihe der Bischöfe stellvertretend:<br />
– Erzbischof Franc Perko, Belgrad;<br />
– Bischof Frantisˇek Radkovsky´, Pilsen/Plzeň, der fast unser Nachbar ist;<br />
– Bischof Hil Kabashi aus Albanien, einen jungen Bischof, der lange in<br />
Deutschland pastoral tätig war;<br />
– Weihbischof Leo Schwarz, den Vorsitzenden des Aktionsausschusses<br />
von <strong>Renovabis</strong>.<br />
– Herrn Prälat Winfried König, der uns bei der Vorbereitung des <strong>Kongress</strong>es<br />
geholfen hat;<br />
– Herrn Kirchenrat Christof Hechtel (i.V. für den Ratsvorsitzenden der<br />
EKD, Bischof Engelhardt), München;<br />
– Frau Marlene Lenz, MdEP, Bonn, die dem <strong>Renovabis</strong>-Aktionsausschuß<br />
angehört, als Vertreterin all der Freunde, denen wir viel verdanken.<br />
Eine große Zahl von Repräsentanten des Staates und des öffentlichen<br />
Lebens haben uns in Grußworten ihre Wünsche zum Gelingen dieses<br />
<strong>Kongress</strong>es übersandt. Andere haben ausdrücklich ihr Bedauern ausgesprochen,<br />
daß sie an dem Kongreß nicht teilnehmen können. Ich nenne<br />
aus dieser ganzen Gruppe im besonderen:<br />
– Herrn Bundespräsident Roman Herzog;<br />
– Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl;<br />
– die Präsidentin des Deutschen Bundestages,<br />
Frau Prof.Dr. Rita Süss muth;<br />
– den Bayerischen Ministerpräsidenten Herrn Dr. Edmund Stoiber;<br />
– den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg<br />
Erwin Teufel, der dieses Jahr die <strong>Renovabis</strong>-Aktion eröffnete;<br />
– den Bundesminister des Auswärtigen, Herrn Dr. Klaus Kinkel;<br />
– den Bundesminister der Finanzen und Vorsitzenden der CSU,<br />
Herrn Dr. Theo Waigel;<br />
40
– den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,<br />
Herrn Dr. Carl-Dieter Spranger, mit dessen Ministerium <strong>Renovabis</strong><br />
zusammenarbeitet;<br />
– des weiteren viele Bundes- und Länderminister;<br />
– den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,<br />
Herrn Dr. Wolfgang Schäuble;<br />
– den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion,<br />
Herrn Rudolf Scharping.<br />
Abschließend möchte ich schon jetzt allen sehr herzlich danken, die für<br />
die Vorbereitung und Durchführung unseres Zusammenkommens Sorge<br />
getragen haben und Sorge tragen: Herrn Direktor Guido Anneser mit dem<br />
Team des Kardinal-Döpfner-Hauses und dem <strong>Renovabis</strong>-Team. Besonders<br />
nenne ich auch den scheidenden Direktor des Freisinger Dom-Gymnasiums,<br />
Herrn Oberstudiendirektor Hans Niedermayer, der uns diese<br />
schöne Aula als Tagungsort zur Verfügung stellt, weil die Zahl der<br />
Anmeldungen alle Erwartungen übertroffen hat und wir im Kardinal-<br />
Döpfner-Haus in Raumnot gekommen wären.<br />
Nun bitte ich Sie, sehr verehrter Herr Kardinal Wetter, als Erzbischof<br />
von München und Freising den ersten Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />
zu eröffnen.<br />
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Kardinal Dr. Friedrich Wetter<br />
Erzbischof von München und Freising<br />
Grußwort zur Eröffnung<br />
des „Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>“<br />
Zu Beginn des <strong>Kongress</strong>es möchte ich Sie in Freising willkommen heißen<br />
und Ihnen allen ein herzliches „Grüß Gott“ entbieten.<br />
Vor allem aber darf ich Ihnen den Gruß des Heiligen Vaters überbringen,<br />
den er mir gestern bei der Audienz für den Kongreß mitgegeben hat.<br />
Ich freue mich, daß der 1. Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> in Freising<br />
stattfindet, den zu eröffnen ich die Ehre habe.<br />
Zuerst möchte ich als Ortsbischof Ihnen etwas zum genius loci sagen.<br />
Sie hätten kaum einen besseren Ort für diesen Kongreß wählen können.<br />
Denn seit dem frühen Mittelalter ist der Blick vom Freisinger Domberg<br />
nach dem Osten gerichtet.<br />
739 hat Bonifatius im Auftrag des Papstes die Kirche in Altbayern organisatorisch<br />
gefestigt und die Bistümer Freising, Passau, Regensburg und<br />
Salzburg kanonisch errichtet. Nur kurze Zeit danach nahmen die jungen<br />
Bistümer eine intensive missionarische Tätigkeit nach dem Osten hin auf.<br />
Von Freising aus wurde der Glaube nach Kärnten und Slowenien getragen.<br />
Die ältesten uns erhaltenen Dokumente einer slawischen Sprache<br />
wurden hier in der berühmten Schreibstube auf dem Freisinger Domberg<br />
geschrieben. Sie sind bekannt unter dem Namen „Die Freisinger Denkmäler“.<br />
Regensburg missionierte Böhmen. Der hl. Bischof Wolfgang von<br />
Regensburg verzichtete auf den Ostteil seines Bistums, und so entstand<br />
das Bistum Prag.<br />
Von Passau aus zogen die Glaubensboten die Donau abwärts nach<br />
Wien und darüber hinaus bis nach Esztergom. Daß der Dom in Wien ein<br />
Stephansdom ist, kommt daher, daß die Mutterkirche, der Dom zu Passau,<br />
dem hl. Stephanus geweiht ist.<br />
42
Aus dem gleichen Grund wird der erste ungarische König auf den<br />
Namen Stephan getauft. Und seine Frau Gisela, die erste Königin Ungarns,<br />
kommt wiederum aus Bayern.<br />
Schließlich darf ich auch Bamberg erwähnen, das damals noch nicht zu<br />
Bayern gehörte. Der hl. Bischof Otto von Bamberg brachte den Pommern<br />
das Christentum.<br />
Das Gebiet, in dem Sie Ihren Kongreß abhalten, und speziell Ihr<br />
Tagungsort, der Freisinger Domberg, sind seit weit über 1000 Jahren<br />
nach dem Osten hin geöffnet. Unsere Brüder und Schwestern, die aus<br />
östlichen Ländern angereist sind, befinden sich hier also nicht in der<br />
Fremde; sie finden vielmehr ein Stück Glaubensheimat vor. Ich hoffe, sie<br />
spüren das auch.<br />
<strong>Renovabis</strong> entstand als Hilfsaktion der deutschen Katholiken nach dem<br />
Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa. Es galt,<br />
die mit dieser Wende gegebene historische Chance nicht zu verspielen.<br />
Jahrzehnte war der Osten Europas gewaltsam vom Westen getrennt und<br />
elementarer Freiheiten beraubt. Nun galt es, wieder zu verbinden, was<br />
seit vielen Jahrhunderten zusammengehört. Der Osten darf nicht abgehängt<br />
werden, er darf den Anschluß an die europäische Zukunft nicht<br />
verpassen.<br />
Mit <strong>Renovabis</strong> wollen die deutschen Katholiken einen Beitrag zu der<br />
großen historischen Aufgabe leisten. Sie wollen helfen, Schäden zu beheben,<br />
Not zu lindern, Wege in die gemeinsame Zukunft zu bahnen.<br />
Unmittelbarer Anlaß zu Gründung von <strong>Renovabis</strong> war die materielle<br />
Not, die nach Hilfe rief. Materieller Not muß man mit materieller Hilfe<br />
begegnen. So wurde <strong>Renovabis</strong> zuerst als Kollekte ins Leben gerufen.<br />
Aber es geht um mehr. Materielle Not ist immer auch menschliche<br />
Not. Sie muß gelindert und schließlich behoben werden. Materielle Hilfe<br />
ist Konkretisierung unserer menschlichen Zuwendung. In ihr wird greifbar,<br />
daß wir den Menschen im Osten geschwisterlich verbunden sind;<br />
daß wir zueinander gehören und miteinander das Haus des geeinten<br />
Europas bauen wollen, errichtet auf einer Werteordnung, wie sie uns<br />
unser christlicher Glaube lehrt. Wir wollen gemeinsam an einem Europa<br />
bauen, das mit den beiden Lungenflügeln Ost und West atmet, um ein<br />
Wort aufzugreifen, das der Hl. Vater im ökumenischen Zusammenhang<br />
geprägt hat. Es geht uns um das gemeinsame Haus Europa, in dem<br />
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Freiheit, Gerechtigkeit und Friede herrschen, ein Haus, das von einer<br />
Kultur der Liebe beseelt ist.<br />
Diese Aufgabe ist eines der großen Anliegen des Hl. Vaters. Ich erinnere<br />
an seine programmatische Predigt am 3. Juni beim Gottesdienst in<br />
Gnesen, an dem sieben Staatsoberhäupter aus Mittel- und Osteuropa<br />
teilnahmen, sowie an die Worte, die er am 24. August beim Weltjugendtag<br />
in Paris an die Jugendlichen gerichtet hat.<br />
Wenn <strong>Renovabis</strong> eine Hilfsaktion ist, die den osteuropäischen Ländern<br />
zunächst materielle Hilfe bringt, so heißt das nicht, es handle sich bei<br />
diesem Werk um eine Einbahnstraße. Es geht vielmehr um einen Austausch.<br />
Beide Seiten sind Gebende und Empfangende.<br />
Denken wir nur an die vielen mutigen Menschen, die unter der Knechtschaft<br />
des Kommunismus ihr Zeugnis für den Glauben und ihren Einsatz<br />
für Menschenrecht und Menschenwürde mit gesellschaftlicher Be nachteiligung,<br />
mit Gefängnis und Verbannung und sogar mit dem Leben<br />
bezahlt haben.<br />
Sanguis martyrum semen christianorum. Das Blut der Martyrer ist<br />
Same für Christen – dieses Wort Tertullians hat heute nicht seine Geltung<br />
ver loren. Durch den Austausch der Gaben dürfen wir im Westen geistliche<br />
Fruchtbarkeit erhoffen, die uns von den Zeugen des Glaubens und<br />
der Menschlichkeit zufließt.<br />
<strong>Renovabis</strong> wurde als Hilfsaktion der deutschen Katholiken ins Leben<br />
gerufen. Das heißt aber nicht, es sei ein Menschenwerk. Bewußt wurde<br />
dieses Werk mit dem Heiligen Geist in Verbindung gebracht. Der Name<br />
<strong>Renovabis</strong> ist dem Ruf des Psalmisten entnommen, mit dem wir um das<br />
Kommen des göttlichen Geistes bitten: „Emitte spiritum tuum et creabuntur<br />
et renovabis faciem terrae.“ „Sende aus deinen Geist und alles<br />
wird neu geschaffen und du wirst das Antlitz der Erde erneuern.“ Der<br />
Spiritus Creator ist es, der die Welt neu macht. Aus diesem Grund wurde<br />
auch die jährliche <strong>Renovabis</strong>-Aktion mit dem Pfingstfest verbunden.<br />
Mit <strong>Renovabis</strong> wollen wir unseren Beitrag leisten zu dem großen Werk<br />
der Erneuerung, das Gottes Geist vollbringt. Es ist wie am Anfang der<br />
Kirche. Die Apostelgeschichte berichtet, daß der Heilige Geist bei der<br />
Feier des Gottesdienstes in Antiochia in Syrien sprach: „Wählt mir<br />
Barnabas und Saulus zu dem Werk aus, zu dem ich sie mir berufen habe“<br />
(Apg 13,2). „Vom Heiligen Geist ausgesandt“, machten sie sich auf die<br />
44
erste Missionsreise, die sie über Zypern nach Kleinasien führte. Nach ihrer<br />
Rückkehr nach Antiochia „riefen sie die Gemeinde zusammen und<br />
berichteten alles, was Gott mit ihnen zusammen getan hat“ (Apg 14,27).<br />
Das gilt auch für <strong>Renovabis</strong>. Es soll ein Werk sein, das Gott zusammen<br />
mit uns tut.<br />
Der Kongreß verläuft im Dialog. Sie tauschen Erfahrungen, Pläne und<br />
Vorhaben aus. Sie wollen damit auch Vergangenes aufarbeiten, Wunden<br />
heilen, Getrenntes verbinden, Altes erneuern und an der Zukunft bauen.<br />
Die Kirchen in Europa – im Westen wie im Osten – stehen heute vor<br />
großen Herausforderungen. Ihre Probleme haben unterschiedliche Wurzeln,<br />
doch können und sollen wir voneinander lernen.<br />
„Herrschen oder Dienen?“ Dieser fordernden Frage wollen Sie sich in<br />
diesen Tagen stellen. Herrschen und Dienen, beides gehört zur Kirche.<br />
Denn in ihrem Leben und Wirken geht es um die Herrschaft Jesu Christi<br />
und um den Dienst, den Jesus zu unserem Heil ausübt. „Ich aber bin unter<br />
euch wie der, der dient“ (Lk 22,26), sagt der Herr am Abend, da er mit den<br />
Jüngern Mahl feiert und sein Todesleiden beginnt. Jesus, der herrscht und<br />
dient, der sein Herrschen ausübt als Dienst für uns Menschen, ist verbindliches<br />
Maß für uns alle.<br />
Unsere Aufgabe ist es, in der geschichtlichen Stunde, in der wir leben,<br />
das Dienen Jesu nachzuvollziehen. Dann wird unser Tun zu einem Werk,<br />
das Gott zusammen mit uns tut. Er ist es doch, der die Wunden heilt, das<br />
Getrennte verbindet, Kirche und Welt erneuert und in die Zukunft führt.<br />
Tragen wir darum unsere Erfahrungen und Pläne nicht nur uns gegenseitig<br />
vor. Tragen wir sie auch vor Gott und seinen Heiligen Geist. Wir<br />
brauchen den Dialog untereinander, aber auch den Dialog mit Gottes<br />
Geist, damit <strong>Renovabis</strong> ein Werk werde, das er zusammen mit uns tut und<br />
wir zusammen mit ihm tun.<br />
So eröffne ich den 1. Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> mit dem<br />
Wunsch, daß er ein pfingstliches Ereignis werde, fruchtbar für die Menschen<br />
in Ost und West.<br />
45
Miloslav Kardinal Vlk, Erzbischof von Prag<br />
Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen?<br />
Einführung<br />
1. Am Anfang möchte ich gerne ein Bild gebrauchen, das mir für unsere<br />
Überlegung grundlegend scheint: Jesus steht vor Pilatus, er ist angeklagt,<br />
den politischen Umsturz und die Machtübernahme beabsichtigt zu haben.<br />
Ein politischer Prozeß. Dabei haben ihn die Juden schon vorher verurteilt,<br />
weil er sich als gottähnlich erklärte und sie seine Machtkonkurrenz<br />
spürten. Mehrmals hatten sie ihn gefragt, woher er seine Macht habe. Sie<br />
hatten Angst, ihre Macht zu verlieren: „(Die Pharisäer) sagten: Was sollen<br />
wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Wenn wir ihn gewähren<br />
lassen, werden alle an ihn glauben. Dann werden die Römer kommen und<br />
uns die heilige Stätte und das Volk nehmen“ (Joh 11,47f). Also ein religiöser<br />
und ein politischer Prozeß: in beiden ging es um die Macht. Man hat<br />
über sehen und überhört, daß Jesus gesagt hat: „Ich bin unter euch wie der,<br />
der bedient“ (Lk 22,27). „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen,<br />
um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben<br />
hinzu geben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Vor Pilatus gesteht er,<br />
daß er ein König ist, aber er sagt auch ganz klar, daß sein Königreich<br />
keine Sache des Machtanspruchs im weltlichen Sinne ist. „Mein Königtum<br />
ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Er ist gekommen, etwas ganz<br />
anderes zu bringen, aus einer anderen Welt, einen anderen Lebensstil, einen<br />
anderen Gesellschaftsstil. Er ist gekommen, um von der eigentlichen,<br />
jenseits der irdischen Realität liegenden Wahrheit Zeugnis abzulegen und<br />
neue Horizonte zu eröffnen.<br />
Wir können unmöglich irgendwo anders unsere Überlegung beginnen.<br />
Es wäre heute eine sehr wichtige und verdienstvolle theologische oder<br />
historisch-kritische Arbeit, das Schicksal jenes Satzes und jener Szene –<br />
Christus vor Pilatus – im Laufe der Kirchengeschichte zu verfolgen und<br />
46
ihre Realisierung zu überprüfen. Heute versucht man, viele Ereignisse<br />
der Geschichte im Licht des Evangeliums zu überdenken, Fehler von uns<br />
Christen zu entdecken, denn historia magistra vitae, die Geschichte ist<br />
die Lehrmeisterin des Lebens. Daraus ergeben sich zum Beispiel einige<br />
Fragen, die für uns heute wichtig sind: der Stil der Evangelisierung, die<br />
Autorität, die Machtausübung in der Kirche, die Weise, wie in den ersten<br />
Jahrhunderten und im Mittelalter gerade im Licht des Verständnisses<br />
und der Ausübung von Autorität unterschiedliche theologische Ansichten<br />
gelöst wurden. Das wäre nicht nur sehr notwendig für eine historische<br />
Gewissenserforschung im Spiegel des Evangeliums und auf der<br />
Grundlage der pastoralen Konstitution des II. Vatikums Gaudium et<br />
spes, sondern auch, um der Welt klar zu sagen, welche Einstellung wir<br />
heute zu den eigenen Fehlern von damals haben, zum Beispiel zur Ausübung<br />
von Macht.<br />
2. Mein heutiges Thema lautet: Kirche in Osteuropa: herrschen oder<br />
dienen? Dabei ist es undenkbar, die letzten vierzig Jahre in diese Überlegung<br />
nicht mit einzubeziehen und nicht besonders zu betrachten,<br />
welche Erfahrung die Kirche gemacht hat und welche Konsequenzen wir<br />
daraus gezogen haben. Dabei sehe ich aber, wie die in der Vergangenheit<br />
eingewurzelten Gewohnheiten bis heute nachwirken.<br />
Am Beginn des Kommunismus waren in der Tschechoslowakei<br />
ca. 75% Katholiken. Die Kirche repräsentierte die Mehrheit der Gesellschaft.<br />
Sie hat damals viel Positives getan, sie spielte eine wichtige geistliche<br />
Rolle in der Gesellschaft. Aber oft wurde sie auch so als eine Institution<br />
gesehen, die einen bestimmten politischen Einfluß hatte. Damals war es<br />
normal, daß sie eine gewisse Verbindung zu einigen politischen Parteien<br />
hatte und eine gewisse ökonomische Kraft darstellte. Die Feinde der Kirche<br />
– und das waren viele – sahen sie als eine Institution, die Macht ausübte.<br />
Dieses negative Bild, diese Etikettierung der Kirche wurde noch<br />
sehr verstärkt durch das dunkle Bild in unserer Geschichte, das einige<br />
Schriftsteller historischer Romane gemalt haben – siehe Hussiten,<br />
Schlacht am Weißen Berg, die Verbindung mit den Habs burgern.<br />
47
I. Der Kommunismus<br />
1. Als die Kommunisten kamen, haben sie das alles sehr gut gegen die<br />
Kirche ausgenützt und aus der Vergangenheit noch alle ihre Fehler im<br />
sozialen Bereich „ausgegraben“. Die kommunistische Propaganda hat<br />
die Kirche als eine obskure Machtinstitution dargestellt, die, im Verbund<br />
mit ausländischen Mächten, immer gegen die Nation und gegen die<br />
Schwachen und Armen war. Sie sah sie als die Macht, die im Augenblick<br />
des beginnenden Aufbaus einer endlich wirklich demokratischen und<br />
freien Gesellschaft, die das Paradies auf Erden bringen sollte, diesen Aufbau<br />
gesellschaftlich zerstören wollte. Die Bischöfe und wichtige Vertreter<br />
des kirchlichen Lebens wurden verhaftet und aus politischen Gründen<br />
als Leute verurteilt, die gegen den Fortschritt und gegen das Glück des<br />
Volkes gearbeitet haben. Das war der Ausgangspunkt für die Zerstörung<br />
der Machtposition der Kirche und für ihre Austreibung aus der Öffentlichkeit,<br />
aus der Gesellschaft.<br />
Die Kommunisten wollten jede Machtkonkurrenz mit allen Mitteln ausmerzen.<br />
Überzeugte, praktizierende Christen durften keine einflußreichen<br />
Stellen einnehmen. Der Einfluß auf die Jugend – und damit auf die Zukunft<br />
– war der Kirche streng verboten. Zu Fernsehen und Rundfunk und zu fast<br />
allen Druckmedien hatte sie keinen Zugang. Wenn das Regime ihr noch<br />
eine Möglichkeit zu öffentlichem Auftritt ließ, dann nur, um gegenüber<br />
dem Westen mit einem freundlicheren Gesicht dazustehen. Die Tätigkeit<br />
der Kirche war im großen und ganzen nur noch innerhalb der Kirchen und<br />
Sakristeien möglich, wo sie leicht völlig zu kontrollieren war.<br />
Man könnte diese Situation noch ausführlicher und differenzierter in<br />
einzelnen ehemaligen Ostblockstaaten schildern. Der Kommunismus<br />
kämpfte hart gegen alle „Klassenfeinde“, und dieses Etikett hatte man<br />
auch der Kirche angeheftet: eine Machtideologie, eine Machtinstitution<br />
wie alle anderen politischen Organismen. Die Kirche so anzuprangern,<br />
war nicht nur eine kommunistische Etikettierung, um den einflußreichen<br />
Konkurrenten vernichten zu können, sondern griff ein damals schon verblaßtes<br />
Bild der Kirche aus mittelalterlichen Zeiten des Kampfes um die<br />
Macht, um die Herrschaft auf. Die Machtposition der Kirche war schon<br />
lange vorbei. In Frankreich hat die Französische Revolution sie zerstört,<br />
in anderen Staaten Europas hat der Kulturkampf dies fortgesetzt. In der<br />
48
habsburgischen Monarchie stand die Kirche zwar eigentlich ein wenig<br />
unter dem Schutz der katholischen Dynastie, aber im Grunde war sie in<br />
der Hand des absolutistischen Staates. Der lange historische Prozeß der<br />
„Entmachtung“ der Kirche oder ihrer „Befreiung“ von der Macht wurde<br />
erst im Kommunismus vollendet.<br />
2. Die positiven prophetischen Kräfte in der Kirche vor dem Beginn des<br />
Kommunismus, besonders meine ich die Ordensspitzen, wurden zerstört,<br />
ebenso die führende Elite der Diözesen.<br />
In dieser Situation konnte sich keine Diskussion über „herrschen oder<br />
dienen“ entwickeln. Sie war nicht möglich, weder in der Gesellschaft<br />
noch in der Kirche. Dialog gab es nicht. Und dienen durfte die Kirche<br />
auch nicht – ich meine im sozialen und karitativen Bereich. Zum echten<br />
Dienen der Kirche auf der geistlichen Ebene braucht man eine tiefe<br />
Erneuerung, eine Änderung der geistlichen paternalistischen „Machtmentalität“.<br />
Herrschen im politischen und gesellschaftlichen Sinn konnte<br />
die Kirche sowieso nicht. Man hat zuerst nicht verstanden, daß es sich<br />
hier und heute nicht um grobe politische Macht und Herrschaft handelt,<br />
sondern manchmal um die Mentalität einer inneren Überlegenheit von<br />
Priestern und Gläubigen, um die Mentalität der Besserwisserei, des<br />
Wahrheitsbesitzes, der Ablehnung der anderen.<br />
Das alles haben die kommunistischen Ideologen schon früh sehr gut<br />
verstanden. Sie nützten alle diese Fehler der ihrer äußeren Macht beraubten<br />
Kirche aus. Diese Fehler machten sie zur Lebensnorm für die Kirche<br />
im Kommunismus. Die Kirche war zu ihren Fehlern verurteilt. Deswegen<br />
bremste der Kommunismus auch die volle Entfaltung und Verwirklichung<br />
des II. Vatikanums: neue Formen ja, aber ohne ihren Geist. Insbesondere<br />
verhinderte er die offizielle Veröffentlichung der Konstitution<br />
Gaudium et spes über die Kirche in der modernen Welt. Eigentlich war<br />
das konsequent. Der größte Teil der Gläubigen – besonders auf dem<br />
Lande – fand sich mit dieser Situation gewissermaßen ab. Für sie war es<br />
die Fortsetzung dessen, was immer schon war: sich selbst zu retten, Kirche<br />
als Ghetto – die Kirche als etwas „Besonderes“. Man hat den Gläubigen<br />
eigentlich keine Erneuerung, keine neue Mentalität beigebracht.<br />
Ein wenig anders war es in der Stadt, wo manchmal verschiedene<br />
Inseln des Neuen entstanden sind.<br />
49
Allmählich haben sich im Kommunismus innerhalb der Kirche vier<br />
verschiedene Orientierungen herausgebildet:<br />
a) Die erste war die streng bewachte „offizielle“, öffentliche Kirche,<br />
meistens ohne eine solide Führung. Besonders in dieser Gruppe wurde<br />
klar, daß die Vernichtung der bestimmenden Macht der Kirche sie<br />
(menschlich betrachtet) schwach und wirkungslos gemacht hat. In dieser<br />
Situation sind oft die Schatten der Kirche von früher sehr zu spüren. Ich<br />
meine damit eine gewisse Verschlossenheit gegenüber der Gesellschaft,<br />
Verschlossenheit in sich selbst, ins Ghetto, eine Haltung, der nach außen<br />
die Dynamik des Evangeliums und die Fähigkeit zum Dialog fehlt. Ich<br />
spreche von einem gewissen Individualismus und Paternalismus, einem<br />
Autoritatismus, die die echte Communio überhaupt nicht verstehen und<br />
ihre Entstehung und Entwicklung in der Kirche unbewußt bremsen.<br />
b) Die Kommunisten spalteten dann diesen offiziellen Teil der Kirche.<br />
So entstand die Gruppe Pacem in terris und aller, die mehr oder weniger<br />
freiwillig, mehr offen oder mehr geheim mitgearbeitet haben. Sie waren<br />
auf Kompromisse hin orientiert und versuchten den Platz der Kirche im<br />
Sozialismus zu finden. Die notwendige Diskussion über die Frage „herrschen<br />
oder dienen“ konnte bei ihnen nicht stattfinden. Selbstverständlich<br />
konnte diese Gruppe keine Erneuerung und Neuorientierung bringen. Sie<br />
hatte den status quo, das heißt die Zementierung der Situation, akzeptiert<br />
und strebte überhaupt keine Veränderungen an, vor allem weil die Machthaber<br />
sie nicht wünschten. Ihre Sicht war es, durch kleine Kompromisse<br />
noch so lange wie möglich zu überleben. Diese Gruppe wußte aber nicht,<br />
daß die einzige „Möglichkeit“ zu überleben die Grundveränderung der<br />
gewohnten Mentalität war, eine Bekehrung, die die Zeichen der Zeit<br />
erkannte, von denen auch der Kommunismus ein starker Ausdruck war.<br />
c) Die letzten beiden Gruppen werden oft mit demselben Namen<br />
bezeichnet, als Untergrundkirche, und dabei sind doch beide sehr verschieden.<br />
Die dritte Gruppe – die „Geheimkirche“ im eigentlichen Sinn – konnte<br />
keine tiefgreifende Veränderung der Mentalität und Einstellung der breiten<br />
Schichten der Kirche bringen. Diese Gruppe, die in den 60er Jahren<br />
entstand, erwartete die Zerstörung der Kirche, besonders des Priestertums,<br />
als unmittelbar bevorstehend. Deshalb sah sie ihre Hauptaufgabe<br />
darin, das Priestertum der Priester und der Bischöfe für die Zeit der harten<br />
50
Verfolgung zu erhalten und sich so auf die Katakomben vorzubereiten.<br />
Sie hat neue Strukturen entwickelt, wobei sie an die nicht gelungene<br />
Erfahrung der französischen Arbeiterpriester und an verschiedene postkonziliare<br />
Experimente der freien westlichen Welt anknüpfte. Sie versuchte,<br />
die Priester im geheimen provisorisch auszubilden, und ordinierte<br />
sie manchmal auch auf eine provisorische Weise. Darunter waren verheiratete<br />
Männer und auch einige Frauen. Sie verstanden sich als Reserve<br />
für die Verfolgungszeit. Sie lebten als Priester in kleinen Kommunitäten,<br />
die ihnen in der schwierigen Situation helfen sollten. Wegen der gefährlichen<br />
Lage war ihr Tätigkeitsradius beschränkt. Auf der inoffiziellen<br />
Ebene der Arbeitswelt haben sie viel getan. Sie kritisierten zwar die<br />
Schwäche der offiziellen Kirche, aber es gab damals eigentlich kein einheitliches<br />
und ganzheitliches Programm der Erneuerung.<br />
d) Daneben gab es viele Gläubige – besonders Jugendliche, Angehörige<br />
der Intelligenz, vor allem in den größeren Städten, meistens<br />
Laien –, die sich geheim in kleinen Gruppen zu Gebets-, Studien- oder<br />
Bibelkreisen trafen oder sonstige kleine Gruppen des Lebens bildeten.<br />
Das ist die vierte Gruppe. Sie wurden meistens von gut vorbereiteten<br />
Laien oder jüngeren Priestern, sehr oft Ordenspriestern, oder von Priestern<br />
verschiedener Bewegungen geleitet. Diese Gruppen hatten meistens<br />
als Ziel, moderne Christen mit einer modernen Mentalität im Sinne des<br />
Konzils heranzubilden. Diese Christen verstanden die Communio als die<br />
entscheidende Existenzform der Kirche, waren offen für andersdenkende<br />
Menschen in der Gesellschaft und lebten eine Dynamik des Apostolates,<br />
der Evangelisierung. Diese Gruppe hat vielleicht am meisten für die<br />
Erneuerung der Identität der Kirche getan.<br />
3. Wir sehen die kommunistische Zeit, die Verfolgung und das Leid der<br />
Kirche oft zu sehr unter dem Gesichtspunkt der verletzten Freiheit und<br />
der niedergetretenen Menschenrechte, also aus dem Blickwinkel der<br />
menschlichen, weltlichen Werte. Die Kirche hat sich zwar im II.Vatikanum<br />
zu all diesen Werten bekannt, aber sie sind nicht die ersten Werte in<br />
der Wertehierarchie des Evangeliums. Diese verfolgte, schwache Kirche,<br />
die keine Macht in der Gesellschaft hatte und nur dienen konnte, war für<br />
so manche Leute während des Kommunismus anziehend, sie war die<br />
Verbündete derer, die gegen Unrecht kämpften und keine Macht hatten.<br />
51
Man muß die Analyse der Situation der Kirche von damals mit dem<br />
Bild verbinden, das wir uns eingangs vorgestellt haben: Christus vor Pilatus.<br />
Wir sollten uns dabei auch an die Ablehnung der Macht erinnern, die<br />
Christus so entschieden ausspricht, als die Jünger darum streiten, wer an<br />
seiner rechten oder linken Seite sitzen wird, oder als Petrus Christus<br />
davon abbringen will, den Weg des Leidens und der Ohnmacht zu gehen.<br />
Er sagt zu ihm: „Weiche von mir, Satan!“ Das sind dieselben Worte wie<br />
bei der Versuchung in der Wüste. Die kommunistische Zeit als eine mögliche<br />
„Gnadenzeit“ zu sehen – ich weiß, das klingt hart –, als einen göttlichen<br />
Versuch, die Kirche durch die Feinde von der Versuchung der<br />
verschiedenen Restbestände ihrer Macht zu befreien – das ist heute, an<br />
der Schwelle des dritten Millenniums, in der Zeit der Suche nach neuen<br />
Evangelisierungsmodellen, unabdingbar.<br />
II. Die neue Freiheit<br />
1. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat sich die Lage der<br />
Kirche verändert. In der allerersten Zeit nach dem Zusammenbruch blieb<br />
sie die Verbündete der neuen politischen Mächte. Die zuerst einheitliche<br />
antikommunistische Front spaltete sich aber sehr rasch in verschiedene<br />
politische Gruppen, Orientierungen und Parteien, und es entstand eine<br />
neue Situation der Machtkonkurrenz, nicht mehr zwischen dem Kommunismus<br />
und seinen Gegnern, sondern zwischen mehreren Gruppierungen.<br />
Die Kirche durfte sich zu keiner bestimmten „Machtposition“, zu keiner<br />
Partei bekennen, wenn diese auch christlich sein mochte. In dieser politischen<br />
Zersplitterung gegenseitig konkurrierender Gruppen wurde sie im<br />
Sinne der kommunistischen Ideologie und Politik als eine weitere mögliche<br />
Konkurrenz gesehen.<br />
In den alten Demokratien sind gewisse Spannungen normal, gibt es<br />
doch zugleich eine große demokratische Tradition. Bei uns ist diese<br />
Tradition durch den Kommunismus verlorengegangen. Die Führer der<br />
postkommunistischen politischen Parteien sind im Kommunismus aufgewachsen.<br />
Davon sind alle Versuche in der letzten Periode gekennzeichnet,<br />
die neue Position der Kirche in der neuen politischen Lage zu finden<br />
und das Verhältnis Kirche-Staat neu zu regeln. Die Träger der alten<br />
52
Ansichten haben diese Neuordnung gebremst. Die Angst vor der Kirche<br />
als dem möglichen Konkurrenten um die Macht, der erneut nach der verlorenen<br />
Machtposition strebt und auch ökonomisch stark werden möchte,<br />
wurde manchmal auch direkt ausgesprochen.<br />
2. In dieser Periode öffnete sich für die gesamte Gesellschaft die volle,<br />
so lange erwartete und erkämpfte Freiheit.<br />
In ihrer Euphorie meinten viele, daß die neue Freiheit alles und alle<br />
erneuern werde. Viele hofften, daß der Kommunismus erledigt sei und<br />
jetzt alle Kräfte, die gegen ihn gekämpft haben, zusammenarbeiten<br />
würden. Dabei haben wir meist übersehen, daß der Kommunismus in den<br />
Köpfen und Herzen aller Menschen, auch der Antikommunisten, irgendwie<br />
verblieben ist. Wir haben vergessen, daß das negative Erbe der kommunistischen<br />
Indoktrination schwere Folgen für die ganze Generation<br />
hat und daß die Transformation, die Umwandlung der Herzen, lange dauern<br />
wird. Das gilt für die politische Gesellschaft ebenso wie für die Kirche.<br />
In den Leitungsstrukturen der Gesellschaft sind die obersten Spitzen<br />
verändert worden, die niedrigeren Strukturen sind geblieben.<br />
Der Kommunismus hat die gesamte Entwicklung der Kirche hart<br />
gebremst. In der neuen Epoche geht es darum, die Entwicklung der<br />
postkonziliaren Zeit nachzuholen.<br />
3. In allen postkommunistischen Ländern (mit Ausnahme von Polen) hat<br />
die Kirche nicht nur zahlenmäßig abgenommen, sondern auch den politischen<br />
Einfluß und ihre ökonomische Kraft verloren. Das alles muß die<br />
Veränderung der Mentalität bestimmen. In der Tschechischen Republik<br />
haben wir – meinem Eindruck nach – noch nicht genug zur Kenntnis<br />
genommen, daß wir eine Minderheit von etwas mehr als 30% geworden<br />
sind. Dies müssen nicht nur die Laien – besonders die älteren – zur<br />
Kenntnis nehmen, sondern auch manche Priester und besonders wir Bischöfe.<br />
Sehr oft täuschen die immer noch gleich gebliebenen alten Strukturen<br />
des Pfarrsystems. Zum Beispiel gibt es in einem Dekanat der Prager<br />
Erzdiözese mit 26 Pfarreien aus der vorkommunistischen Zeit nur 5 Priester.<br />
Dort leben 8780 Gläubige zerstreut, von denen 492 praktizieren. Das<br />
ist zwar ein extremes Beispiel, aber doch bezeichnend. Das heißt, im<br />
Durchschnitt hat eine Pfarrei ca. 300 Gläubige, von denen 20 praktizie-<br />
53
en. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte man gehofft,<br />
daß die Menschen in der neuen Freiheit wieder die Kirchen füllen würden.<br />
Das war eine große Täuschung, weil die neue Freiheit alte materielle<br />
Hoffnungen (oder besser: Versuchungen), auf eigene Faust das früher<br />
nicht erreichte Paradies zu erreichen, genährt hat. Neue Christen werden<br />
weder bloß als Frucht des politischen Drucks im Kommunismus noch<br />
bloß aus der Freiheit selbst heranwachsen. Nur das Zeugnis erneu erter<br />
Christen bringt sie hervor.<br />
Zur Bewußtwerdung, daß wir eine kleine Herde sind, muß noch eine<br />
neue Selbstreflexion hinzukommen: daß wir aus uns selbst heraus nicht<br />
besser sind als die anderen. Vielleicht hat man im Kommunismus, aber<br />
auch schon vorher, gelernt, die anderen, besonders die Atheisten, zu verachten.<br />
Die jetzt geforderte Bewußtseinsänderung kann der neuen Identität<br />
helfen: daß wir keine herrschende Kirche mehr sind, sondern eine<br />
dienende – die durch das Zeugnis ihres Lebens die Welt ändern wird.<br />
4. Die Kirche als Ganzes hat keine politische Macht. Doch in den postkommunistischen<br />
Ländern lebt auch bei manchen Politikern die Auffassung<br />
weiter – und das ist vielleicht nicht nur ein Erbe des Kommunismus<br />
–, daß die Kirche eine politische Gruppierung ist und eine politische<br />
Konkurrenz werden will. Dabei haben wir in der Tschechischen Republik<br />
wiederholt betont, daß das neue Selbstverständnis der Kirche das einer<br />
dienenden Kirche nach dem Konzil ist. Diese Angst hat bis jetzt die Normalisierung<br />
der Beziehungen zwischen Staat und Kirche gebremst.<br />
Worin besteht die Angst? Daß die Kirche ihre Mitglieder parteipolitisch<br />
beeinflussen und ihnen zum Beispiel direkt vorschreiben könnte, welche<br />
Partei sie wählen sollen. Diese paternalistische Tendenz, so unmittelbar<br />
in die Politik einzugreifen, kann – vor allem bei einer Kirche, die die<br />
Mehrheit hat – eine Versuchung sein. Es gibt dafür Beispiele. Diese Tendenz<br />
hat sich in den postkommunistischen Ländern als kontraproduktiv<br />
erwiesen. Die Freiheit hat der Kirche keine neue Machtposition zurückgegeben.<br />
Und das ist richtig so. Die Kirche darf so nicht herrschen.<br />
5. Aber die neue Situation eröffnet auch eine neue Chance: die gemeinsamen<br />
politischen Angelegenheiten durch reife christliche Wähler zu beeinflussen.<br />
In der Politik, in den Parteien arbeiten in den postkommunisti-<br />
54
schen Ländern viele Christen. Aber hier gibt es eine Schwierigkeit: die<br />
Christen in den postkommunistischen Ländern konnten nicht zu selbständiger<br />
politischer Tätigkeit erzogen und darauf vorbereitet werden,<br />
daß sie in dieser Form eine dienende Einstellung annehmen könnten.<br />
In unserer Republik haben wir am Anfang der neuen Zeit überlegt, ob<br />
die Christen eine einzige Partei in der Gesellschaft bilden oder lieber als<br />
Sauerteig in mehreren möglichen Parteien wirken sollen. Obwohl bei uns<br />
heute eine christliche Partei existiert, haben unsere Christen das zweite<br />
Modell gewählt. Die Zukunft wird die Richtigkeit dieser politischen<br />
Lösung zeigen.<br />
Besonders auf dieser Ebene kann die Kirche ganz klar zeigen, daß sie<br />
als Ganzes keine politische Macht ausüben will. Aber gerade die einzelnen<br />
Christen in der einen oder in mehreren politischen Parteien können<br />
zeigen, daß die Kirche nicht herrschen will, sondern dienen. In der<br />
tschechischen Regierung sind heute ca. 50% der Minister praktizierende<br />
Christen.<br />
Die Kirche will sich mit keiner Partei verbinden, auch nicht, wenn sie<br />
das Wort „christlich“ in ihrem Namen trägt. In den letzten Jahren hat sich<br />
dies in der italienischen Situation bitter bestätigt. In der sehr sensiblen<br />
politischen Situation der postkommunistischen Länder könnte so etwas<br />
das Image einer Kirche, die sich als dienende bezeichnet, beschädigen.<br />
6. In den postkommunistischen Ländern hat sich ein neuer gesellschaftlicher<br />
Raum aufgetan, in dem die Kirche ihr dienendes Gesicht zeigen<br />
kann. Es gibt sogenannte Kooperationsbereiche, zum Beispiel das<br />
Schulwesen, den Sozialbereich, das Gesundheitswesen. Es ist manchmal<br />
sehr notwendig, das gute Funktionieren des Dienstes vertraglich abzusichern,<br />
meistens auch unter Mitwirkung des Vatikans. Es geht eigentlich<br />
um die „Versöhnung“ von staatlicher Gesetzgebung und von Normen<br />
der Kirche, also dem Kodex des kanonischen Rechts. Hier darf die Ortshierarchie<br />
eigentlich kein Partner des Staates sein, weil sie die Anpassung<br />
des Kodexes mit dem Staat nicht aushandeln darf. Dazu hat sie<br />
keine Kompetenz.<br />
Es gibt zwei Bereiche, in denen die Kirche ihre dienende Funktion unter<br />
Beweis stellen kann: in den Gefängnissen und in der Armee. Besonders<br />
hier ist ihre Aufgabe sehr stark von der Einstellung des Dienens<br />
55
abhängig. In der Tschechischen Republik, wo man mit dem Ausbau der<br />
Seelsorge in der Armee begonnen hat, sahen wir, daß man kein System<br />
von Feldkuraten mit einem Militärbischof an der Spitze errichten soll,<br />
sondern eher ein Netz von Militärkaplänen, die in der solidarischen Gemeinschaft<br />
mit den Soldaten ihre Mission erfüllen können. Die Früchte<br />
einer solchen Idee hat man in Bosnien-Herzegowina verifiziert.<br />
7. Damit man diese Einstellung des Dienens nach außen, zur Welt gut<br />
leben kann, muß man sie zuerst in den inneren kirchlichen Beziehungen<br />
leben. In den postkommunistischen Ländern gibt es unterschiedliche<br />
politische und kirchliche Situationen, die Säkularisierung ist mehr oder<br />
weniger weit fortgeschritten. Wenn man die Situation in Polen, in der<br />
Slowakei oder in der Tschechischen Republik vergleicht, sieht man sofort<br />
die Unterschiede. Allen diesen Situationen ist gemeinsam, daß man nirgends<br />
eine herrschende Kirche möchte. Die historische Entwicklung, die<br />
aktuelle politische Situation wie auch die weltweite Entwicklung der<br />
Kirche verlangen, daß sie eine dienende Kirche wird. Die jetzige Situation<br />
im Osten bietet dazu eine große Chance. Man braucht aber vor allem<br />
das Umdenken von oben bis nach unten, auf allen Ebenen, um so die<br />
Kirche von heute und für die Zukunft zu sichern – um der Versuchung, in<br />
die frühere gewohnte und bekannte Situation der Kirche zurückzukehren,<br />
zu widerstehen.<br />
Dieses Umdenken geht zuerst uns Bischöfe an. Die tiefe innere geistliche<br />
Öffnung für die brüderliche Gemeinschaft mit den Priestern und die<br />
echte Einbeziehung aller Beratungsorgane des Bischofs bei der Vorbereitung<br />
der Entscheidungen – das ist der Ausgangspunkt.<br />
Dabei fehlt uns die Gewohnheit des Dialogs, weil es ihn im Kommunismus<br />
in der Gesellschaft wie auch in der Kirche überhaupt nicht gab.<br />
Diese Mentalität ist noch stärker unter den Priestern verbreitet, die 40<br />
Jahre gezwungen waren, sich allein auf sich selbst zu stützen, jeder selbst<br />
zu entscheiden. Jeder war sozusagen sein eigener „Bischof“. Die Priester<br />
lebten aus der gewohnten theologischen Einstellung, wie sie sich im<br />
Laufe des Mittelalters entwickelt hat: der Priester hat in der Kirche die<br />
ihm von Christus zugewiesene geistliche Macht. Diese Einstellung wurde<br />
unter dem Einfluß der kommunistischen Politik verstärkt, sie wollte einen<br />
dem Volk fernen Priester. Die Perspektive des Abendmahlssaales, der<br />
56
Fußwaschung bleibt – auch wegen des Alters der Priester – immer noch<br />
in weiter Ferne. Hier wirkt das Erbe der obengenannten ersten Gruppe<br />
nach. Es fehlt aber auch ein systematisches Programm, das zu der neuen<br />
Mentalität erzieht.<br />
8. Auf diesem Weg der Umkehr existieren einige bremsende Phänomene.<br />
Wie unter dem Kommunismus gibt es auch heute – unter anderen<br />
Bedingungen – Gruppen mit unterschiedlichen Auffassungen. Sie verursachen<br />
die Polarisierung der kirchlichen Szene bei uns und bremsen die<br />
echte Erneuerung des Lebens. Die erste Gruppe sieht es als notwendig an,<br />
in der Vergangenheit zu bleiben, nichts zu verändern, weil es damals<br />
keine Probleme und keinen Zerfall der Kirche gab. Manchmal machen<br />
sie das Konzil für die negativen Erscheinungen verantwortlich, besonders<br />
die Liturgiereform. Sie suchen Bestätigung, Zuflucht und Schutz in verschiedenen<br />
Marienerscheinungen. Die Angst ist ihre Charakteristik, besonders<br />
die Angst vor dem Geist und Einfluß des Westens, wo man in der<br />
Tat auch im kirchlichen Raum tiefe Schatten feststellen kann. Dazu<br />
kommt noch die Angst vor Freimaurern in der Kirche. Und ihre „Methode“:<br />
auf eigene Faust und mit eigenen Kräften, mit eigener „Macht“<br />
die Kirche für den Herrn zu retten. Sie arbeiten besonders in den traditionalistischen<br />
Gegenden unserer Republik. Sie bremsen jede Erneuerung.<br />
Es gibt mehrere Schattierungen in dieser Gruppe, von den Bewunderern<br />
der alten Theologie bis zu den Anhängern von Lefebvre.<br />
Den anderen Pol bilden diejenigen, die die Kirche mehr dem Einfluß<br />
von westlichen Strömungen öffnen möchten. Hierhin gehören eher die<br />
tschechischen katholischen Intellektuellen. Manche von ihnen möchten<br />
die Kirche vor allem durch den Geist der Freiheit und durch Demokratie<br />
retten, denn sie sehen auch das viele Gute, das im Westen in der Kirche<br />
existiert. Ihre Tätigkeit verstärkt manchmal noch die Angst der ersten<br />
Gruppe. Beide Gruppen beeinflussen sich gegenseitig.<br />
Bei der Polarisierung bleibt es aber aus, daß man einen regen Dialog<br />
führt und über die Standpunkte diskutiert. Die verschiedenen Pole bleiben<br />
jeder in seinem Bereich. Man versucht, diesen Bereich zu erweitern<br />
und die eigene Position zu festigen. Und hier sind wir wieder am Anfang:<br />
aus der Position eigener Wahrheit will man die Macht ausüben, die<br />
„Macht der Wahrheit“, nicht den Dienst der Wahrheit.<br />
57
Diese Einstellungen ergeben sich aus dem Bild des Priesters. Die vatikanischen<br />
Dokumente sprechen vom „Sacerdotium ministeriale“. Hier<br />
kommt mir das Bild der Fußwaschung in demselben Abendmahlssaal, in<br />
dem Christus dieses dienende Priestertum eingesetzt hat. Diese Realität<br />
ist uns noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Manchmal ist unser<br />
Priestertum mehr ein herrschendes Priestertum. Ich bin nicht ganz sicher,<br />
ob hinter dem Streben von Frauen nach der Priesterweihe nicht die Tendenz<br />
steckt, an der Macht in der Kirche teilzuhaben. Hier braucht man<br />
zuerst eine tiefe Erneuerung.<br />
Man muß noch tiefer ansetzen. Die Taufe ist auch eine Weitergabe des<br />
trinitarischen Lebens; der Christ muß es entwickeln, indem er es lebt.<br />
Dieser Stil bedeutet: für den anderen, in dem anderen leben. Mit anderen<br />
Worten gesagt: er muß dem anderen dienen. Christus hat diesen Lebensstil<br />
auch in seinem Leben hier auf Erden realisiert, und er setzt ihn in der<br />
Kirche in den Sakramenten fort. Die Glaubenden aber verstehen oft ihr<br />
Wachstum im geistlichen Leben als Aufwand eigener Kräfte und eigener<br />
Bemühungen und versuchen nicht, zuerst diese trinitarische Einstellung<br />
des Dienens zu leben.<br />
Das Verständnis von Freiheit als totaler Unabhängigkeit steht dieser<br />
trinitarischen Einstellung des Dienens entgegen.<br />
In dieser Tiefe muß die Erneuerung ansetzen. Es wird ein langer organischer<br />
Prozeß. Keine bloße „Strukturreform“. Das gilt für den Osten wie<br />
für den Westen.<br />
In unserer tschechischen Bischofskonferenz haben wir uns entschieden,<br />
die Synode aller Bistümer in einem synodalen Prozeß vorzubereiten,<br />
in den alle einbezogen werden können und der diese Umkehr, diese<br />
Erneuerung anstoßen soll.<br />
Man muß zu Christus zurück, zu seiner Einstellung, und man muß eine<br />
innere Erneuerung der Mentalität aus dem Geist Christi durchführen. Erst<br />
dann kann man die Erneuerung der Strukturen erwarten. Weder eine so<br />
breit entwickelte Freiheit wie im Westen noch die harte Gewalt, wie sie<br />
im Osten angewandt wurde, sind imstande, diese echte Revolution zu<br />
vollenden.<br />
58
V.l.: Weihbischof Leo Schwarz, Kardinal Miloslav Vlk und <strong>Renovabis</strong>-Geschäftsführer<br />
P. Eugen Hillengass SJ vor Beginn des <strong>Kongress</strong>es. Foto: KNA-Bild<br />
Blick in das Kongreß-Plenum am Eröffnungstag. Am Podium v.l.: Dr. Albus, Prof.<br />
Dylus, Prof. Halík, Prof. Feiereis, Prof. Hotz, Erzabt Várszegi. Foto: KNA-Bild<br />
59
Vor der Eucharistiefeier: Kardinal Miloslav Vlk, Prag, mit dem Vorsitzenden der<br />
Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Karl Lehmann, Mainz.<br />
Foto: Marianne Grycz<br />
Erzabt Imre Asztrik Várszegi OSB aus<br />
Pannonhalma/Ungarn bei der Diskussion.<br />
Foto: Marianne Grycz<br />
60<br />
Friedrich Kardinal Wetter, Erzbischof<br />
von München und Freising, eröffnete<br />
den Kongreß. Foto: KNA-Bild
Prof. Dr. Konrad Feiereis, Erfurt<br />
Umgang mit der Vergangenheit (1945–1989):<br />
Fragen an die Kirchen<br />
Vergangenheit kann aus unterschiedlichen Gründen und unter verschiedenen<br />
Gesichtspunkten reflektiert werden: Der einzelne, besonders der<br />
Christ, sucht in der Rückschau eine Bewertung seines Lebens und der in<br />
ihm geforderten existentiellen Entscheidungen zu finden. Er wird Dankbarkeit<br />
empfinden, wenn er zu dem Ergebnis kommen kann, daß sein<br />
Denken und Handeln sich nach dem Urteil seines Gewissens und dessen<br />
sittlichen Maximen ausgerichtet haben; er stellt sich aber auch ehrlich<br />
dem Versagen, verabscheut die Verdrängung und zieht Folgerungen für<br />
die Zukunft. Der Historiker sucht aus einer gleichsam den personalen Interessen<br />
übergeordneten Position heraus mit den für sein Fachgebiet spezifischen<br />
Methoden ein objektives Bild eines Abschnittes der Zeitgeschichte<br />
zu gewinnen. Andersgeartet wiederum ist der Umgang der<br />
Kirche mit ihrer Vergangenheit. Sie setzt die streng wissenschaftliche<br />
Reflexion voraus und wird sie unterstützen, auch wenn Kirchengeschichte<br />
nicht selten zum Objekt des Streites der Historiker gemacht<br />
wird, besonders in dem so sensiblen Bereich der Kirchenpolitik. Kirchengeschichte<br />
und Umgang der Kirche mit ihrer Vergangenheit berühren<br />
sich zwar, sind aber nicht miteinander identisch.<br />
Wichtige Aspekte der Geschichte der katholischen Kirche in der DDR<br />
wurden und werden von den Historikern erarbeitet; sie werden gewiß<br />
auch Gegenstand der Auseinandersetzung bleiben, denken wir etwa an<br />
das Problem des Verhältnisses der Kirche zu Staat, Partei und Gesellschaft,<br />
an ihre Rolle innerhalb dieser Gesellschaft, an die Kirchenpolitik,<br />
deren Methoden und Ziele oder an die Verstrickung von Mitgliedern der<br />
Kirche in den Apparat des Staatssicherheitsdienstes. Von größerer Bedeutung,<br />
doch bisher kaum beachtet von den Historikern, waren die Existenz<br />
des Christen im Alltagsleben der DDR, speziell in Familie, Schule und<br />
61
Beruf, das Spannungsverhältnis des Christen zu dem von der Ideologie<br />
beherrschten Staat, das Zeugnis der Glaubenden im Alltag und die Sanktionen,<br />
welche über sie verhängt wurden.<br />
Hier soll der Versuch unternommen werden, das gestellte Thema<br />
– Umgang unserer Kirche mit ihrer Vergangenheit – unter einem theologischen<br />
Blickwinkel zu behandeln. Dadurch wird auch deutlich, daß sich<br />
die Auseinandersetzung mit der Geschichte einer kleinen, soziologisch<br />
gesehen recht unbedeutenden Ortskirche tieferen Einsichten nähern kann,<br />
von denen scheinbar Unbeteiligte, wie die Christen in den west lichen Industrienationen,<br />
ebenfalls berührt sind, denken wir an das heute gemeinsame<br />
Problem der wachsenden Säkularisierung, an die Aufgaben der<br />
Kirche in einer entchristlichten Gesellschaft. Nur auf diese Weise des gemeinsamen<br />
Austausches über die verschiedenartig erfahrene Geschichte<br />
in Ost und West werden wir zu Schlußfolgerungen kommen, die unsere<br />
Zukunft in Deutschland und Europa betreffen, wir werden uns vor Irr-<br />
und Umwegen rechtzeitig warnen können und Kraft für eine zweite<br />
Evangelisierung gerade im Osten suchen und finden.<br />
Als theologische Kriterien kommen für unseren Blick auf die jüngste<br />
Geschichte solche in Frage, welche die grundlegenden und wesentlichen<br />
Funktionen einer Gemeinde oder Ortskirche beschreiben. Ich habe dafür<br />
die drei klassischen – Rahner kennt sechs – Begriffe gewählt: Leiturgia,<br />
Diakonia und Martyria. Sie sind biblischen Ursprungs, ihr Zusammenhang<br />
wird in den Dokumenten des Zweiten Vatikanums sichtbar, in herausragender<br />
Weise aber prägen sie die Texte der großen Synoden, die vor<br />
mehr als zwei Jahrzehnten in West- und Ostdeutschland stattgefunden<br />
haben. Im Westen Deutschlands waren diese Begriffe charakteristisch für<br />
das Denken und Leben etwa von Kardinal Höffner, im Osten sind sie<br />
Hintergrund und Leitbild besonders für das pastorale Wirken des Erfurter<br />
Bischofs Aufderbeck gewesen.<br />
Der Rückgriff auf theologische Begriffe wird uns davor bewahren, vorschnelle,<br />
einseitige Urteile über historische Prozesse zu fällen oder Vorurteile<br />
zu bestätigen; sie werden uns daran hindern, uns in Glorifizierung<br />
der eigenen Geschichte zu gefallen oder im nachhinein unrealistische<br />
Maßstäbe an diejenigen anzulegen, welche innerhalb des jeweiligen geschichtlichen<br />
Raumes für sich, für ihre Familie oder gar für eine ganze<br />
Ortskirche irreversible Entscheidungen treffen mußten. Die Theologie<br />
62
lenkt den Blick auch auf uns selbst, auf das Hier und Heute und die Aufgaben,<br />
die es nun zu erfüllen gilt.<br />
Leiturgia<br />
Im profanen Griechisch bedeutet dieser Begriff eine Leistung für eine<br />
Volksgemeinschaft oder eine Stiftung 1 . Die theologische Klärung dieses<br />
Begriffs beginnt erst mit der Enzyklika „Mediator Dei“ von 1947. Leiturgia<br />
ist demnach der integre öffentliche Kult des mystischen Leibes Christi,<br />
und zwar des Hauptes und seiner Glieder. Hier wird ausgesagt, daß<br />
Christi Priestertum durch alle Zeiten fortwirkt, wie auch, daß Christus im<br />
Heiligen Geist Kult geschuldet wird 2 . Das II. Vatikanum betont in Fortführung<br />
dieses Gedankens einerseits, daß sich in der Liturgie das Werk<br />
unserer Erlösung vollzieht, andererseits das Leben der Gläubigen Ausdruck<br />
und Offenbarung des Mysteriums Christi und des eigentlichen<br />
Wesens der wahren Kirche sei: „Die Liturgie stellt denen, die draußen<br />
sind, die Kirche vor Augen als Zeichen, das aufgerichtet ist unter den<br />
Völkern.“ 3<br />
Diesem Verständnis von Gottesverehrung und Religion, der Leiturgia<br />
also, wurde zweifellos vom Episkopat in der DDR die Priorität eingeräumt.<br />
Er griff damit auf, was schon in der ersten, der NS-Diktatur, der<br />
maßgebende Gesichtspunkt für Pastoral und Kirchenpolitik war: Leiturgia<br />
muß am Leben erhalten, ermöglicht und gesichert sein, denn sie ist<br />
der Quell der salus animarum. Schon im ersten Hirtenbrief aller deutschen<br />
Bischöfe nach dem Ende des letzten furchtbaren Krieges gipfeln<br />
alle Aussagen in diesem theologisch wichtigen Grundgedanken: „…laßt<br />
uns die Lehren der jüngsten Vergangenheit beachten! Hatte man nicht das<br />
Haus bauen wollen, ohne daß der Herrgott mitbaute? Ist es nicht letztlich<br />
darum zum Turm von Babel geworden? …Das wird das erste beim Wiederaufbau<br />
sein müssen, daß Gott wieder im Leben des einzelnen und der<br />
Gemeinschaft jene Stelle zuerkannt wird, die ihm als dem höchsten Herrn<br />
1) B. Fischer, Art. „Liturgie“ in LThK Bd. 6(1961), 1085.<br />
2) ebd.<br />
3) Konstitution über die hl. Liturgie 2.<br />
63
gebührt und die man anderen, zweitrangigen Werten zuerkannt hatte,<br />
dem Staat, der Rasse, der Nation… Wir müssen wieder zurückfinden zu<br />
einem lebendigen Gottesglauben“. 4<br />
In allen wichtigen Einschnitten der nun folgenden Geschichte wird von<br />
den Bischöfen in der DDR auf die Leiturgia Bezug genommen; die Glaubenden<br />
werden verwiesen auf den Kult als das Werk der Erlösung wie auf<br />
die Kirche als das Zeichen unter den Menschen. So wird in dem wichtigen,<br />
dem ersten und in seiner Einfühlsamkeit noch heute beeindruckenden<br />
Hirtenbrief nach dem Bau der Mauer – er ist datiert vom 11. Oktober<br />
1961 – erkennbar, wie dem Erschrecken und Leiden der nun vollständig<br />
eingekerkerten ostdeutschen Menschen durch die Kraft und den Trost des<br />
Glaubens begegnet werden kann. Es heißt dort: „…die Kirche und der<br />
Christ bestehen nicht kraft der Klugheit und Weitsicht menschlicher Art,<br />
sondern aus dem Glauben“; Gott sei der einzige feste Grund; es gebe<br />
keinen Ort der Erde, „an dem der Glaube, das heiligste Erbgut, das er<br />
besitzt, nicht lebendig bleiben kann. So wie es keinen Ort der Erde gibt,<br />
von dem aus nicht euer Gebet … vor seinen Thron dringen kann“. 5<br />
Dieses theologische Grundverständnis von Kirche in glaubensfeindlicher<br />
Gesellschaft läßt sich als wesentliches Strukturelement des Hirtenamtes<br />
und der Pastoral in der ostdeutschen katholischen Kirche über die<br />
Jahrzehnte hindurch leicht nachweisen und nachzeichnen. Der Bogen<br />
schließt sich in dem von der Berliner Bischofskonferenz verfaßten, eigenen<br />
Hirtenwort zur Einheit Deutschlands vom 18.9.1990. In ihm weisen<br />
die Bischöfe darauf hin, was Christen aus dem Osten mit in das vereinte<br />
Land einbringen: „Wir haben versucht, an Gott und seiner Kirche in einer<br />
atheistischen Gesellschaft festzuhalten. Viele von uns haben Nachteile<br />
um des Glaubens willen auf sich genommen. Wir bringen mit unsere ökumenischen<br />
Erfahrungen, die uns als Christen in der Bedrängnis und Anfechtung<br />
geschenkt wurden.“ 6<br />
In einem anderen, dem gemeinsamen Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz<br />
vom 27.9.1990 zum Tag der Vereinigung lesen wir den<br />
4) Katholische Kirche – Sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945–<br />
1990. (Hrsg. von G. Lange, U. Pruß, F. Schrader, S. Seifert) Leipzig 1992, 3f.(=Dok.)<br />
5) Dok 190f.<br />
6) Dok 411.<br />
64
wichtigen Satz: „Wenn wir der wahrhaft geschichtlichen Stunde gerecht<br />
werden wollen, dann müssen wir uns jetzt bewähren“, und unter Hinweis<br />
auf das Reich Gottes, wie es im Römerbrief vorgestellt wird: „…wer<br />
Christus so dient, wird von Gott anerkannt und ist bei den Menschen<br />
geachtet(Röm 14,18)“. 7<br />
Daß sich alle Christen in diesem Verständnis von religio und Gottesverehrung<br />
wiederfinden können, sei belegt durch das gemeinsame Hirtenwort<br />
aller katholischen und evangelischen Bischöfe aus Ost- und<br />
Westdeutschland vom 26. Juni 1990. Hier wird der Blick auf die Folgen<br />
der Vergangenheit wie auf die Gestaltung der nunmehr gemeinsamen<br />
Zukunft Deutschlands und Europas gelenkt: „Ohne eine neue Vitalität<br />
des christlichen Glaubens bauen wir Häuser, in denen die Menschen nicht<br />
wirklich atmen können und krank werden.“ 8<br />
Leiturgia als Vergegenwärtigung des Erlösungswerkes Christi und Präsenz<br />
der Kirche als Zeichen Gottes war der theologisch substantielle,<br />
zugleich der spirituelle und missionarische Anspruch, unter den sich<br />
diese Ortskirche – nicht nur die in der DDR – gestellt sah. An ihm muß sie<br />
sich nun auch messen lassen, hier ist der entscheidende Ansatzpunkt für<br />
Kritik und Selbstkritik. An zwei Beispielen soll dieser Gedanke veranschaulicht<br />
werden.<br />
In der historischen Aufarbeitung der Geschichte aller christlichen Kirchen<br />
im Ostblock rücken die Aspekte in der Kirchenpolitik, die Distanz<br />
oder Nähe zu den Machthabern oder mögliche Verstrickungen in die<br />
Fänge des Geheimdienstes in den Vordergrund des Interesses. Dadurch<br />
wird aber nur ein Ausschnitt – gewiß ein wichtiger – des ganzen Lebens<br />
einer Ortskirche erfaßt. Historiker müssen die Frage stellen und Antworten<br />
darauf suchen, nach welchen Kriterien die Kirchenpolitik einer Ortskirche<br />
zu beurteilen ist, ob sie von prinzipieller Gegnerschaft zu Staat<br />
und Gesellschaft, von Akzeptanz der Realität in zugleich kritischem Gegenüber<br />
oder von Anpassung oder gar Unterwerfung unter die Interessen<br />
der Repräsentanten des Staates bestimmt gewesen ist. Darüber darf aber<br />
nicht übersehen werden, daß auch kirchenpolitischem Handeln theologische<br />
Konzeptionen und Motivationen vorauslagen. Schon in der Beurtei-<br />
7) Dok 414.<br />
8) Dok 410.<br />
65
lung von Kardinal Bertram und seiner Tätigkeit als Vorsitzender der<br />
deutschen Bischofskonferenz z.Zt. des Nationalsozialismus ergeben sich<br />
differierende Auffassungen: Welche Konsequenzen – gerade für Leiturgia<br />
im weitesten Sinn – hätte eine entschiedener dokumentierte Gegnerschaft<br />
zur Diktatur für das Leben der Kirche und der Gläubigen gezeitigt?<br />
In ähnlicher Weise wird es unterschiedliche Beurteilungen geben, wohl<br />
auch geben müssen, wenn kirchenpolitische Standpunkte und Handlungsweisen<br />
der hierin maßgeblichen Bischöfe zu Zeiten der DDR einer<br />
Bewertung unterzogen werden, denken wir etwa an die Kardinäle Döpfner,<br />
Bengsch und Meisner, an die Verhandlungen von Bischof Wiencken<br />
mit den zuständigen militärischen und staatlichen Behörden, an die für<br />
Kirchenpolitik und Caritas zuständigen Prälaten. Der wissenschaftliche<br />
Streit der Historiker wird gewiß zu tieferer und zunehmend objektiverer<br />
Erkenntnis führen; er darf aber nicht sein Ziel in der Darstellung von<br />
Handlungsabläufen sehen, die Erfolge oder Niederlagen auf die kirchenpolitische<br />
Dimension reduzieren, also der jeweiligen Strategie und Taktik<br />
– sei es auf seiten des Staates, sei es auf seiten der Kirche – zuschreiben.<br />
Vielmehr muß das entscheidende Kriterium für den Christen sein, ob die<br />
intendierten und bewirkten Ergebnisse zum Nutzen oder zum Schaden<br />
der Kirche und des Volkes Gottes gereichten. Fehler und Fehlentwicklungen<br />
einzugestehen, ist für den möglich, der sich in seiner Verantwortung<br />
vor Gottes Urteil gestellt sieht. Er weiß, daß die Dimension des Versagens<br />
zu unserem Dasein gehört, daß Vergebung geschenkt wird, wo Schuld<br />
eingesehen und eingestanden wird; schon deshalb ist dem Glaubenden<br />
jeder Versuch der Verdrängung oder der Schönfärberei zutiefst zuwider.<br />
Differenziertes Urteil ist auch dort erforderlich, wo theologische Weichenstellungen<br />
im Leben einer Ortskirche vorgenommen wurden. Hier<br />
sei erinnert an das Spannungsverhältnis, welches sich für Kardinal<br />
Bengsch aus der Leitungsverantwortung einerseits, aus der Theologie des<br />
II. Vatikanums andererseits ergab. Es ist bekannt, daß Kardinal Bengsch<br />
der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ bei der Schlußabstimmung<br />
seine Zustimmung verweigerte. Nur zögerlich freundete er sich auch mit<br />
dem Gedanken einer Pastoralsynode an, die dann doch von 1972 bis 1975<br />
abgehalten wurde. Innerhalb des Bischofskollegiums, besonders aber an<br />
der Basis des Kirchenvolkes, gab es durchaus differierende Auffassungen<br />
darüber, inwieweit Laien Verantwortung in der Kirche übertragen werden<br />
66
sollte und durfte. Der Vorwurf, die Kirche werde zentralistisch geleitet<br />
und sei – entgegen den Intentionen des Konzils – eine Klerikerkirche<br />
geblieben, verstummte nie. Um Kardinal Bengsch aus heutiger Sicht gerecht<br />
werden zu können, darf man nicht außer acht lassen, daß auch er der<br />
Leiturgia die Priorität einräumte. Er sah letztlich die Präsenz von Kult<br />
und Kirche bedroht, wo Gefährdungen der Einheit der Kirche, besonders<br />
der Einheit mit dem Papst, der Einheit innerhalb des Bischofskollegiums<br />
oder Gefährdungen der Einheit des Gottesvolkes durch Spaltungsversuche<br />
seitens staatlicher Stellen gegeben schienen. Heutige Bewertungen<br />
mögen unerschiedlich sein: Waren Angst und Sorge bei manchen Hirten<br />
der Kirche übertrieben und grundlos? Mußte unsere Kirche so straff und<br />
zentral geleitet werden, daß viele diesen Stil als Reglementierung empfanden?<br />
Liegen hier die Ursachen für die in mancher Hinsicht, besonders<br />
den Dienst der Laien betreffend, zögerliche oder zu geringe Adaption von<br />
Konzil und Pastoralsynode? Welche Stellung wurde der Frau in der<br />
Kirche der DDR eingeräumt? Bei allem notwendigen Streit über diese<br />
Probleme: Die diesen pastoralen Fragen zugrunde liegenden theologischen<br />
Sichtweisen und Motivationen sollten nicht übersehen, sondern<br />
müssen herausgearbeitet werden.<br />
Schmerzlich wurden vor Ort manche Konsequenzen aus diesem Spannungsverhältnis<br />
zwischen theologischer Orientierung und pastoralem<br />
Leben empfunden. Tieferes Nachdenken verdienen etwa die bischöf lichen<br />
Begründungen für die über lange Jahre gültigen Restriktionen gegenüber<br />
den Teilnehmern der Jugendweihe; ihr Status war dem der öffentlichen<br />
Sünder nicht unähnlich. Tiefe Verletzungen entstanden innerhalb der<br />
Pfarrgemeinden zwischen Familien, die ihre Kinder – meist aus nackter<br />
Existenzangst – schickten, und den Verweigerern. Oder denken wir an den<br />
Abbruch der Meißener Diözesansynode nach dem Tode von Bischof<br />
Spülbeck: Dienten diese und ähnliche Entscheidungen der Einheit des<br />
Gottesvolkes oder erstickten sie die participatio der Glaubenden?<br />
Andererseits darf nicht vergessen werden, daß von der Kirche in der<br />
DDR auch mutige, wegweisende Schritte in der Pastoral gegangen<br />
wurden. So sorgte Bischof Aufderbeck sofort nach dem Konzil dafür, daß<br />
der Dienst des Diakonatshelfers begründet wurde, worin er für die Gesamtkirche<br />
in nicht geringem Maße wegweisend geworden ist: Laien<br />
hielten dort, wo die Eucharistiefeier nicht möglich war, Stationsgottes-<br />
67
dienste und spendeten die hl. Kommunion. Schon 1967 finden wir in<br />
Erfurt auch den ständigen geweihten Diakon und bereits 1969 eine Frau,<br />
die berufen wurde als Referatsleiterin im Seelsorgeamt, zuständig für<br />
Kinderseelsorge. 9<br />
Im Blick zurück darf gesagt werden, daß Leiturgia als Wesensfunktion<br />
der Kirche in der DDR weniger eingeschränkt und gefährdet war als in<br />
anderen Ländern des Ostblocks. Zwar wurden Kirchenbauten erst in den<br />
70er Jahren durch viele Verhandlungen und manche Konzessionen<br />
seitens der Kirche mitunter ermöglicht, doch war unter dem Titel „Ausübung<br />
von Religion“ manches realisierbar, was sonst als undenkbar<br />
erschien. Zu erinnern wäre an Wallfahrten, die über den Rahmen kultischer<br />
Handlungen weit hinausgingen und Gemeinschaft ermöglichten –<br />
Studentenwallfahrten, die großen Wallfahrten der Bistümer, das Katholikentreffen<br />
in Dresden 1987 –, aber auch an die religiösen Kinderwochen,<br />
die aus unserem kirchlichen Leben nicht wegzudenken sind. Leiturgia<br />
trug und trägt bis heute das Leben unserer Kirche.<br />
Diakonia<br />
Diakonia gilt seit der Urkirche als Spiegelbild der Gemeinde (Apg 2,42–<br />
47). Diese Wesensdimension der Kirche bildet mit der Leiturgia dieselbe<br />
Einheit wie das Abendmahl mit der Fußwaschung. Die Eucharistie bedarf<br />
der Bruderliebe, um den Leib des Herrn aufzubauen. Diakonia soll den<br />
Weg bahnen zur Teilnahme am Leben Gottes, der die Liebe ist<br />
(1 Joh 4,8.16). 10 Das II. Vatikanum bezeichnet die Diakonia als Erkennungszeichen<br />
des Christen, der offen ist gegenüber allen Menschen und<br />
ihren Nöten. Diakonie und das ihr spezifische caritative Wirken werden<br />
als „originär christliches Handeln“ bezeichnet (GS 42,LG 8). Die Synode<br />
der Bistümer in der Bundesrepublik forderte, die Diakonie der Gemeinde<br />
sei neu zu entdecken, sie sei Selbstvollzug der Kirche. 11 Nach den Aus-<br />
9) Vgl. H. Mondschein, Bischof Hugo Aufderbeck. Lebenszeugnis. Heiligenstadt 39–41.<br />
10) Vgl. M. Mitzscherlich, Caritas als Wesensdimension und Grundfunktion der Kirche. Leipzig<br />
<strong>1997</strong>. 6–10.<br />
11) aaO 14.<br />
68
sagen der Bistümer in der Schweiz begegnet uns in der Diakonie der Gemeinde<br />
der fortlebende und fortliebende Christus. 12 Die Pastoralsynode<br />
in Dresden widmet der Diakonie der Gemeinde ein eigenes Beschlußpapier,<br />
worin betont wird, daß Diakonie niemals auf Amtsträger oder<br />
kirchliche Einrichtungen begrenzt werden darf, sondern Anliegen der<br />
ganzen Gemeinde und jedes einzelnen Christen sein muß. Der zunächst<br />
anonymen caritativen Organisation ist zugeordnet, ja übergeordnet die<br />
personal und existentiell geübte Diakonie, ohne die Caritas zur leeren<br />
Hülse, zu seelenloser Institution werden würde. 13<br />
Im Rückblick auf die Geschichte unserer Kirche darf festgestellt werden,<br />
daß die Diakonie mehr als anderswo eine Wesensfunktion der Kirche<br />
bilden mußte, da sie von aller anderen Präsenz in der Gesellschaft nahezu<br />
gänzlich ausgeschlossen wurde. Nach der Wende haben wir uns oft daran<br />
erinnert, daß die caritative Tätigkeit der großen christlichen Kirchen von<br />
unermeßlichem Segen gewesen ist, sei es in den Krankenhäusern, den<br />
Kindergärten, den Pflege- und Altersheimen wie auch in der Betreuung<br />
Behinderter. 14 Wer in diesen Häusern arbeitete, sollte nach dem Willen<br />
der Kirche seinen Beruf als Berufung begreifen. Menschen, die seit den<br />
70er Jahren kein Wissen mehr über Religion und Kirche erwarben, begegneten<br />
ihr wenigstens noch in den Repräsentanten der institutionellen<br />
und gemeindlichen Caritas.<br />
Zur Diakonie gehört aber über alle soziale Tätigkeit hinaus das Eintreten<br />
für die, welche keine Stimme in der Gesellschaft besitzen. Zur<br />
Diakonie der Kirche in einer Diktatur zählt daher nicht zuletzt das Wachhalten<br />
oder die Weckung des Bewußtseins für personale und geistige<br />
Werte. An zwei Beispielen soll diese Verpflichtung verdeutlicht werden.<br />
Um ein menschenwürdiges Leben führen zu können, müssen Menschenrechte<br />
anerkannt und gesichert sein. Die katholische Kirche in der<br />
12) aaO 15, Anm.66.<br />
13) aaO 24.<br />
14) Vgl. Feiereis: Einig Vaterland – zerrissene Gesellschaft? Familie in Ost und West. Publikation<br />
des Familienbundes der deutschen Katholiken/Katholische Elternschaft Deutschlands – Diözesanverband<br />
Bamberg. Bamberg 1992. Es wurden 34 Krankenhäuser, 19 Pflegeheime, mehr als<br />
hundert Altenheime, 40 Kur- und Erholungsheime, 36 Kinderheime und 150 katholische Kindergärten<br />
am Leben erhalten, der Mauer zum Trotz, dank auch der Solidarität der Kirche in der<br />
Bundesrepublik.<br />
69
DDR hätte die Einforderung der Menschenrechte für die Bürger in der<br />
DDR der evangelischen Kirche überlassen können, denn diese war nach<br />
dem Ende des Krieges in unserer Region die „Volkskirche“, der diese<br />
Aufgabe naturgemäß zunächst zukam. Tatsächlich hat die katholische<br />
Kirche zumeist die Rechte ihrer Gläubigen eingeklagt, besonders dann,<br />
wenn es sich um das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit handelte.<br />
Man wird aus heutiger Sicht gegenüber der katholischen Kirche<br />
nicht undifferenziert Vorwürfe erheben dürfen, daß sie nicht bei jedem<br />
eklatanten Verstoß des Staates gegen die Menschenrechte ihre Stimme<br />
direkt und massiv erhoben hat. Wer im Ostblock gelebt hat, weiß, daß<br />
eine wesentliche Anklage des Staates gegenüber allen christlichen Kirchen<br />
und Gemeinschaften darin bestand, sie mischten sich in Probleme<br />
ein, welche nur die Gesellschaft, nicht aber die Kirchen etwas angingen.<br />
Entsprechend der Ideologie durfte die Kirche nicht als „gesellschaft liche“<br />
Kraft in Erscheinung treten; sie durfte sich schon gar nicht als Sprecherin<br />
der nichtchristlichen Bürger betrachten. Man wird nur in Abwägung aller<br />
Umstände diese Frage stellen dürfen: Warum hat die katholische Kirche<br />
nicht laut protestiert, als die Mauer gebaut wurde, als der Einmarsch in<br />
die ČSSR erfolgte, als in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde? Bei<br />
diesen Fragen ist stets auch zu bedenken: Welche Folgerungen hätten<br />
sich daraus ergeben, für die Gläubigen an der Basis, für Katechese und<br />
Gottesdienst? Wie weit gingen diplomatische Beschwerden und Eingaben,<br />
von denen in der Öffentlichkeit meist keiner etwas erfuhr? Auch die<br />
christliche Basis kannte die Gefährlichkeit des direkten, massiven Widerstandes<br />
und wählte daher einen anderen Weg. Es entstanden Gruppen, die<br />
für den Frieden und gegen die Militarisierung der Gesellschaft, besonders<br />
in der Schule, eintraten; ihnen folgten die Basisbewegungen für Ökologie<br />
und Gerechtigkeit. Sie bildeten sich besonders im evangelischen Raum<br />
heraus, ihnen schlosssen sich katholische Christen an. Die Leitungen beider<br />
Kirchen taten sich mit diesen Strömungen schwer, sie bildeten ständigen<br />
Konfliktstoff für die Kirchenpolitik. Doch ist es gerade diesen Basisgruppen<br />
zu verdanken, daß es zur Ökumenischen Versammlung kam und<br />
darauf zum Umsturz des Regimes.<br />
Die katholische Kirche hat die Verpflichtung, für die Menschenrechte<br />
einzutreten, nicht aus den Augen verloren. Entscheidend aber war, in welcher<br />
Form etwas bewirkt werden konnte. Am 18.10.1973 verabschiedete<br />
70
die DDR ihr 3. Jugendgesetz. In ihm beanspruchte die Partei unverkennbar<br />
das Monopol auf Bildung und Erziehung. Berücksichtigen wir, daß<br />
sich die politische Situation von Grund auf gewandelt hatte: Beide deutsche<br />
Staaten hatten den Grundlagenvertrag am 21.12.1972 abgeschlossen.<br />
Im September 1973 wurden sie in die UNO aufgenommen. Im Mai<br />
1974 wurden die „Ständigen Vertretungen“ eröffnet. Am 1.8.1975 sollte<br />
der KSZE-Prozeß zum erfolgreichen Abschluß gebracht werden. In<br />
diesem Umfeld – die DDR hatte den Gipfel ihrer Diplomatie erreicht, der<br />
Westen behandelte die DDR mit Samthandschuhen – scheute unsere<br />
Kirche nicht davor zurück, den inhumamen Charakter dieses Systems<br />
bloßzustellen, in einer Schärfe, wie es in der auf Entspannung und Harmonie<br />
bedachten Zeit sonst niemand wagte. So treten die Bischöfe in ihrem<br />
Hirtenbrief „Zur christlichen Erziehung“ vom 17.11.1974 nicht nur<br />
für die Glaubens- und Gewissensfreiheit, sondern für Menschenrechte<br />
überhaupt ein, insbesondere für das Recht auf Bildung wie für ganzheitliche<br />
Erziehung. Sie erheben ihre Stimme für die Eltern, auch die nichtchristlichen,<br />
die das erste Recht und die Verpflichtung zur Erziehung ihrer<br />
Kinder haben, das ihnen aber vorenthalten wird. Sie sprechen davon,<br />
daß Kinder in „wahrer Freiheit“ heranwachsen müßten und der Staat kein<br />
Erziehungsmonopol beanspruchen dürfe. Sie prangern – wie zuvor häufig<br />
– das Menschenbild des dialektischen Materialismus an und berufen<br />
sich ausdrücklich auf Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,<br />
welche die DDR unterzeichnet hatte. Sie nennen die Erziehung<br />
zum Haß in den Schulen unverblümt beim Namen und verwerfen die sozialistische<br />
Moral und die Indoktrination zum Atheismus. Sie decken auf,<br />
daß die Politik des Staates auf die Auslöschung von Glaube und Religion<br />
ausgerichtet ist. 15<br />
„Sei es gelegen oder ungelegen…“ War hier eine Grenze ausgelotet<br />
und erreicht worden, über die hinaus Widerstand kaum denkbar erschien?<br />
Innerhalb der Partei wurde dieser Hirtenbrief als Provokation empfunden;<br />
es wurden Drohungen gegen die kirchliche Jugendarbeit erhoben.<br />
Tatsächlich bestand die Strategie der Kommunisten darin, gleichzeitig<br />
mit der Entspannung nach außen den ideologischen Kampf im Innern,<br />
gegen das Christentum, aber auch gegen Repräsentanten der Kultur,<br />
15) Dok 257–262.<br />
71
esonders von Kunst und Literatur, zu verschärfen. Im Mai 1976 stellte<br />
die SED die Weichen zur kommunistischen Erziehung im gesamten Bildungs-<br />
und Erziehungswesen, im November 1976 erfolgte die Ausweisung<br />
Biermanns, und im Zusammenhang damit setzte eine geistig-kulturelle<br />
Eiszeit ein. Es bedarf noch eingehender Untersuchungen, ob, wie zu<br />
vermuten ist, diese gesamte Entwicklung entscheidend zu dem Exodus<br />
des Großteils der Bevölkerung aus dem Christentum beigetragen hat. 16<br />
Ähnlich scharfe Reaktionen und Drohungen des Staates gab es auch nach<br />
der Veröffentlichung des Hirtenbriefes zum Weltfriedenstag 1983 17 – das<br />
„Neue Deutschland“ diffamierte am 7.1. die Bischöfe als Vasallen Roms,<br />
die in der DDR nicht ihr Zuhause hätten 18 – wie auch nach dem Pastoralschreiben<br />
„Katholische Kirche im sozialistischen Staat“ vom 8.9.1986,<br />
das auch in der FAZ abgedruckt wurde. 19<br />
Wie Untersuchungen von Historikern zeigen, wurde innerhalb des Episkopats<br />
kontrovers diskutiert, in welcher Weise die Stellung der Kirche in<br />
der DDR-Gesellschaft theologisch aufzufassen und dementsprechend in<br />
Hirtenworten wiederzugeben sei, nicht zuletzt divergierten in diesem<br />
Punkte Kardinal Bengsch und Bischof Aufderbeck. 20 Die Frage, ob die<br />
Kirche ihren Dienst, Sachwalter des Menschen zu sein, der Weisung ihres<br />
Herrn entsprechend erfülle, verstummte nie, weder innerhalb der Bischofskonferenz<br />
noch in den Pfarrgemeinden. Von Bischof Theissing in<br />
Schwerin beispielsweise wissen wir, daß er sich ohne Zögern für Christen<br />
einsetzte, die wegen ihres Glaubens benachteiligt wurden. Gegenüber<br />
dem Staatsapparat wies er darauf hin, daß die freie Religionsausübung<br />
kein Privileg, sondern ein Menschenrecht sei. 21 Selbstzufriedenheit war<br />
seinem Charakter fremd. Am 20. Jahrestag seiner Bischofsweihe im Jahr<br />
1983 schildert er seine Situation sehr nüchtern und in aller Demut: „Ich<br />
16) Vgl. meinen Beitrag „Weltanschauliche Strukturen in der DDR und die Folgen für die Existenz<br />
der katholischen Christen“ in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte<br />
und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages,<br />
hrsg. vom Deutschen Bundestag, 9 Bd. in 18 Teilbänden, Frankfurt am Main 1995,<br />
Bd. VI.1, 583–614.<br />
17) Dok 306–311.<br />
18) vgl. Anm. 16, S. 608f.<br />
19) Dok 320–331.<br />
20) vgl. B. Schäfer, Staat und katholische Kirche in der SBZ/DDR – 1945–1989, Dissertation (Manuskript),<br />
Halle <strong>1997</strong>, 237ff.<br />
21) R. Krüger, Bischof Heinrich Theissing. Ein Lebensbild. Leipzig 1993, 46.<br />
72
habe … immer in Gesellschaftsordnungen gelebt, in denen die Bischöfe<br />
sich schützend vor das Volk Gottes … stellen mußten.“ Bedrückend habe<br />
er erfahren müssen, „daß der Bischof nicht jedem einzelnen helfen kann.“<br />
Seine Verantwortung sah Bischof Theissing darin, „für die Glaubensfreiheit<br />
und die Menschenrechte der ihm Anvertrauten einzutreten durch…<br />
Gebet, Eingaben, Beschwerden und Verhandlungen, durch Predigten und<br />
Hirtenworte. Dabei liegt Erfolg und Mißerfolg nicht in seiner Hand.“ 22<br />
Die Verbannung aus dem öffentlichen Leben suchten die christlichen<br />
Kirchen nicht zuletzt durch ihre Bildungsarbeit zu kompensieren. Wenn<br />
geistiges Leben und Wertebegründung, hergeleitet aus christlich-abendländischer<br />
Tradition, überhaupt noch im Osten Deutschlands spurenhaft<br />
vorzufinden sind, dann ist das dem Beitrag der Kirchen zu verdanken. 23<br />
Die Bildungshäuser auch der katholischen Kirche waren zumeist ausgebucht,<br />
in Zeiten der Bedrängung sogar überfüllt, wenn Wochenenden<br />
für Jugendliche und Oberschüler, für Studenten und Akademiker über<br />
philosophische und weltanschauliche Themen angeboten wurden. Wir<br />
sollten nicht vergessen, daß jeder Teilnehmer einen polizeilichen Meldeschein<br />
ausfüllen mußte; nur unter derartigen Schikanen konnte kirchliche<br />
Bildungsarbeit geleistet werden. Diese erstreckte sich auf alle Bereiche<br />
des geistig-kulturellen Lebens, behandelte Themen der Kunst und Literatur<br />
wie solche der Pädagogik, der Naturwissenschaft, der Ethik und<br />
selbstverständlich Fragen der Religion und des Glaubens. Gerade für<br />
Studenten und Akademiker ersetzte die Kirche in hohem Maße das in der<br />
DDR fehlende „studium generale“ und suchte den geistigen Horizont zu<br />
erweitern. 24<br />
Kritisch ist zu fragen, ob die Kirche die ihr gebotenen Möglichkeiten<br />
für diesen Dienst an den Menschen voll genutzt und ausgeschöpft hat.<br />
22) aaO 29.<br />
23) Vgl. hierzu E. Neubert, „gründlich ausgetrieben“. Eine Studie zum Profil und zur psychosozialen,<br />
kulturellen und religiösen Situation von Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland und den<br />
Voraussetzungen kirchlicher Arbeit (Mission). Begegnungen 13 (Hrsg. von der Studien- und Begegnungsstätte<br />
Berlin), Berlin 1996, vor allem die Seiten 27–29, 48, 97–99. Vgl. meinen Beitrag<br />
„Gedanken zur Evangelisierung in den neuen Bundesländern. Ein Blick auf das geistige Erbe der<br />
Vergangenheit.“ In: Unterwegs zum einen Glauben. Festschrift für Lothar Ullrich zum 65. Geburtstag.<br />
EThST 74, Leipzig <strong>1997</strong>, 274–291. Vgl. in diesem Band auch die Beiträge von U. Kühn<br />
(256–273) und F.G.Friemel (292–301).<br />
24) Vgl. P.-P. Straube, Katholische Studentengemeinden in der DDR als Ort eines außeruniversitären<br />
Studium generale. Leipzig 1976 (EThSt 70).<br />
73
Gewiß, die Bildungshäuser standen auch den Nichtgetauften offen und<br />
wurden auch von diesen besucht; doch zeigten gerade wir Katholiken oft<br />
wenig Bereitschaft, Risiken einzugehen, die den – oft einzigen – Raum<br />
der freien Meinungsäußerung gefährden konnten; es fiel uns schwer, dem<br />
Nichtchristen Vertrauen entgegenzubringen. Daß hier ein Weg offenstand,<br />
dem Missionsauftrag des Herrn zu entsprechen, wurde von uns<br />
allen zu wenig beachtet, wir blieben lieber unter uns. Daß die katholische<br />
Kirche im Osten Deutschlands von vielen Bürgern weiterhin als Fremdkörper<br />
betrachtet wird, der mit ihrer eigenen Herkunft nichts gemeinsam<br />
zu haben scheint, ist – neben der Propagierung des historischen Materialismus<br />
– auch unserer Verhaftung an unsere Binnenstrukturen und der<br />
kaum stattfindenden Kommunikation mit den Nichtglaubenden über die<br />
Gottesfrage zuzuschreiben.<br />
Martyria<br />
Nach der Schrift ist der Martys Gottes Knecht, der durch sein Zeugnis<br />
und sein Leiden Versöhnung mit Gott bewirkt. Schon in Israel ist Martyria<br />
ein Zeichen für den Anbruch der Gottesherrschaft. In der Urkirche<br />
wurde unter Martyria zuerst das Zeugnis des Wortes verstanden, im<br />
2. Jahrhundert kam hinzu das Zeugnis des Blutes. Die Jünger des Herrn<br />
kennen Lebensangst und Todesfurcht. Sie wissen sich berufen zum Zeugnis<br />
für den Herrn, gerade gegen die Macht des totalen Staates und den<br />
Absolutheitsanspruch der Welt. Sie vertrauen in ihrem Zeugnis auf den<br />
„neuen Zeugen“ (1 Petr 1,5; 3,14) und geben sich restlos in die Verfügung<br />
Gottes. Sie sind angefochten durch das rätselhafte Nein des Menschen<br />
gegenüber dem Angebot der Liebe Gottes. Wer Zeuge Jesu Christi ist,<br />
folgt einem Ruf Gottes, wird mit den Gaben des Geistes beschenkt und<br />
dem Herrn in der Einheit von Leid und Liebe gleichgestaltet. 25<br />
Angesichts der in der Geschichte Europas unvergleichlichen Entchristlichung<br />
wie der in Ostdeutschland stehen wir erst am Anfang einer Antwort<br />
auf die Frage, ob unsere Kirche der von Gott gewollten Martyria,<br />
der Verkündigung und dem Zeugnis, gerecht geworden ist. Das II. Vatika-<br />
25) Vgl. E. Neuhäusler. Art. Martyrium in: LThK Bd. 7 (1962), 134–136.<br />
74
num spricht davon, daß Voraussetzung der Weitergabe des Glaubens die<br />
tiefe Verwurzelung der Gemeinschaft der Gläubigen im eigenen Volk,<br />
auch in dessen kulturellen Reichtümern, sei. 26 Das Apostolat der Laien<br />
soll demnach die ganze Gesellschaft mit „evangelischem Geist durchdringen“,<br />
dabei mit den getrennten Brüdern und Schwestern zusammenarbeiten<br />
im „gemeinsamen Bekenntnis des Glaubens an Gott und an<br />
Jesus Christus vor den Heiden“. 27<br />
Im Blick auf unsere jüngste Geschichte müssen wir bekennen, daß der<br />
kommenden Generation in der Kirche nicht wie in anderen Regionen eine<br />
Neuevangelisierung aufgetragen ist, sondern daß sie sich in einer Situation<br />
vorfindet, die der der ersten Missionare vergleichbar ist: sie müssen<br />
ganz von vorn beginnen. Die Missionare vor mehr als tausend Jahren<br />
halfen den Menschen, sich eine Existenzgrundlage zu schaffen, sie linderten<br />
ihre Not durch Caritas und Hospitäler und schufen die Grundlagen<br />
für ihre Kultur durch ein großartiges Schul- und Bildungswesen.<br />
Im Osten Deutschlands geht es schon kaum mehr um Mitgliederzahlen<br />
und kirchliche Strukturen, sondern um die Folgen der fortschreitenden<br />
Säkularisierung für die ganze Gesellschaft. Der Beziehungsverlust der<br />
Menschen zu ihrer geistig-kulturellen Tradition, damit zu ihrer eigenen<br />
Geschichte, ist tiefer als bei den Bürgern der alten Bundesländer. Den<br />
Wurzeln unserer Kultur ist die Mehrheit der Bürger im Osten entfremdet;<br />
die Indoktrination des Atheismus hat ihre bittere Frucht getragen. Nicht<br />
nur Defizite des Wissens sind zu beklagen, schier unausrottbare Zerrbilder<br />
von Religion und Kirche werden noch über lange Zeit hin wirksam<br />
sein. Selbst eine zur Allgemeinbildung zählende Kenntnis von religiösen<br />
und christlichen Symbolen und der aus dem Christentum stammenden<br />
Sprach- und Bilderwelt ist bei der Mehrheit nicht mehr vorhanden. Wer<br />
aber die geistigen Wurzeln seiner Herkunft nicht mehr kennt, wird in einem<br />
gestörten Verhältnis zur eigenen Geschichte leben.<br />
Es fällt schwer, sich bei der Frage nach der Martyria seiner eigenen<br />
Vergangenheit zu stellen. Wir können nicht genug an die Menschen erinnern,<br />
die durch ihr Leben Zeugnis für Christus gegeben haben. Daß den<br />
Kirchen im Osten noch weithin mit Respekt begegnet wird, ist wesentlich<br />
26) Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche 15.<br />
27) ebd.<br />
75
der Einstellung und Lebensweise dieser „Alltagschristen“ zu danken.<br />
Dieses Zeugnis in Alltag und Gesellschaft ist unsere eigentliche und<br />
wahre Kirchengeschichte, nicht manche Abgründe der Kirchenpolitik<br />
oder gar der Stasiverstrickungen. Dieses Zeugnis ermöglichte eine ganz<br />
enge Koinonia innerhalb der Pfarrgemeinden, es befähigte dazu, kleine<br />
Wege zu gehen und, wenn nötig, sich auch als einzelner auf den Weg zu<br />
machen. Die Nichtchristen fühlten sich vor der Wende zu diesen Gruppen<br />
hingezogen, weil in ihnen das nicht Denkbare im Traum antizipiert<br />
wurde. Bevor die politischen Umwälzungen eintraten, fanden sich die<br />
Menschen in den Gotteshäusern zusammen, suchten und formulierten<br />
dort ihre Grundüberzeugungen, mit denen sie dann die Diktatur stürzten<br />
und den Weg zur Einheit Deutschlands bahnten.<br />
Das Glaubenszeugnis wird dort beachtet, wo der Mensch erfahren<br />
kann, daß er ganz persönlich gemeint ist, und wo er erkennt, hier werde<br />
ich ernst genommen, es handelt sich um mein Leben und um meine Zukunft.<br />
Unsere Martyria heute wird auf lange Zeit nicht damit rechnen<br />
können, daß sich die Nichtchristen in größerer Zahl taufen lassen. Unsere<br />
Martyria kann aber das Bewußtsein dafür wecken, daß diese heutige Gesellschaft<br />
das Christentum braucht. Welche Grundüberzeugungen können<br />
Menschen einen und befähigen, die Zukunft zu gestalten? Doch nur solche,<br />
die aus unserer gemeinsamen Geschichte stammen. Von welchem<br />
Menschenbild, von welchen Wertüberzeugungen soll unser Zusammenleben<br />
– von Bürgern aus Ost und West, von Christen und Nichtchristen –<br />
getragen sein und unserer politischen Verfassung, dem Grundgesetz, zugrunde<br />
liegen? Welche geistigen Strukturen überhaupt ermöglichen das<br />
geistige Zusammenwachsen in unserem Land und in Europa?<br />
Statt zu klagen oder entmutigt zu sein über die offensichtliche Vergeblichkeit<br />
christlicher Verkündigung – es gab Priester, die nach der Wende<br />
zu uns kamen und diese Art von Atheismus nicht ertragen konnten –, sollten<br />
wir behutsam darauf aufmerksam machen, daß Christen und Nichtchristen<br />
eine gemeinsame Geschichte besitzen. So sind Hunderte von<br />
Kirchen in den neuen Ländern dem Verfall ausgesetzt; diese Gebäude mit<br />
ihren Kunstwerken repräsentieren nicht nur die Tradition der Christen eines<br />
Dorfes, sondern die Geschichte des ganzen Dorfes und aller seiner<br />
Bewohner. Ethische Maßstäbe zu suchen und als Grundlage des Zusammenlebens<br />
anzuerkennen, ist nur möglich in der Einsicht, daß der Huma-<br />
76
nismus unseres Kulturkreises ohne das Christentum und seine Bergpredigt<br />
nicht denkbar ist und nicht Bestand haben wird. Auch der Nichtchrist<br />
kann nicht einfach aus seiner eigenen Geschichte aussteigen; Einheit eines<br />
Volkes setzt ethische wie kulturelle Integration voraus. Die vom Christentum<br />
inspirierte Kultur, Kunst und Literatur hat Früchte hervorgebracht,<br />
die Allgemeingut der Gesellschaft sind, aber auch der Verantwortung<br />
aller anvertraut sind. Ist es nicht denkbar, daß die Menschen das<br />
Angebot der Kirchen erkennen und daran mitwirken, der geistigen<br />
Zersplitterung in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken? Sollten nicht<br />
auch die dem Christentum Entfremdeten erkennen, daß unser bisheriger<br />
kultureller Horizont schwindet, wenn an seine Stelle die bloße technische<br />
Zivilisation tritt mit ihrem Primat der Wirtschaftsstrukturen? Im II.Vatikanum<br />
wird ausgesagt, es gebe in „manchen Gegenden Gruppen von<br />
Menschen,… die von der Annahme des katholischen Glaubens dadurch<br />
abgehalten werden, daß sie sich der besonderen Erscheinungsweise der<br />
Kirche in ihrer Gegend nicht anpassen können“; für eine „solche Situation“<br />
soll „in besonderer Weise Sorge getragen“ werden. 28 Was heißt das<br />
anderes, als daß die Kirche Phantasie, Inspiration und Visionen braucht!<br />
Ausblick<br />
Nicht nur unsere sozialen und gesellschaftlichen Strukturen haben sich<br />
seit 1989 verändert, auch die der Kirche sind dem Wandel unterworfen.<br />
Wir sind dankbar für die wiedergeschenkte Einheit, gerade auch in unserer<br />
Kirche in Deutschland. Wir freuen uns darüber, daß sowohl Rom wie<br />
die Kirche des Westens die Schwestern und Brüder im Osten weitgehend<br />
mit Rücksicht und Behutsamkeit behandelt. Unsere Bischöfe behielten<br />
wir, als die neuen Bistümer entstanden sind. Bildung und Caritas empfangen<br />
weiterhin großzügige Hilfe, weil wir als Glieder an einem Leibe betrachtet<br />
werden. Wir durften unsere Hochschule mit dem Priesterseminar<br />
in Erfurt behalten. Aus unseren Erfahrungen möchten wir aber einladen<br />
zum gemeinsamen Nachdenken über die Zukunft der Kirche und ihren<br />
Dienst an den Menschen. Dafür seien einige Stichpunkte genannt.<br />
28) aaO 20.<br />
77
Institutionen, Verwaltungen, Behörden dürfen nicht Selbstzweck sein,<br />
sondern erhalten ihre Berechtigung wegen ihres Dienstes für die Wesensstrukturen<br />
der Kirche, Leiturgia, Diakonia, Martyria, also in Unterordnung<br />
unter sie. Das Leben unserer Ortskirchen im Osten speiste sich aus<br />
der lebendigen Gemeinde, in welcher zuerst das Gesicht und der Name<br />
des einzelnen von Bedeutung sind. Glaubensgemeinschaft war und ist bei<br />
uns noch gleichzeitig Lebens- und Weggemeinschaft. Zusammenkunft<br />
im Namen Christi war ohne den Höhepunkt und die Quelle des Lebens 29 ,<br />
die Leiturgia in der Eucharistie, nicht denkbar; wir mußten inzwischen<br />
zur Kenntnis nehmen, daß nicht alle Verbände im Westen ebenso denken.<br />
Die Diakonia wird als spezifisch christliche Dimension ihre Bedeutung<br />
bewahren, wenn sie sich nicht dem Leistungsprinzip, der quantitativen<br />
Abrechnung der Dienste, beispielsweise der Apparatenmedizin, unterwirft.<br />
Erhaltung und Ausbau christlicher Bildungseinrichtungen dienen<br />
nicht primär der Selbsterhaltung der Kirche, sondern sind ein unverzichtbarer<br />
Dienst an der Gesellschaft; an ihnen sollte gerade in Ostdeutschland<br />
zuletzt gespart werden. Die Martyria darf nicht auf dem Gegensatz von<br />
Kirche und Welt aufbauen, sondern muß den Weg der Kirche als den Weg<br />
mit den Menschen suchen. 30 Die Kirche ist in der Welt zugegen und zugleich<br />
unterwegs. Sie richtet den Ruf nach Glaube und Bekehrung nicht<br />
nur an ihre Umwelt, sondern zuerst an sich selbst. 31<br />
29) Liturgie 10.<br />
30) Der konkrete Mensch ist „der Weg der Kirche, der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens, ihrer<br />
Aufgaben und Mühen“. Redemptor hominis 14, vgl. 13.<br />
31) Liturgie 7.<br />
78
Prof. Dr. Tomásˇ Halík, Prag<br />
Rückzug auf Feindbilder oder<br />
Mut zur Öffnung?<br />
„Rückzug auf Feindbilder oder Mut zur Öffnung“ – so wurde die Frage,<br />
zu der ich mich in meinem Beitrag äußern soll, formuliert. Geben wir<br />
zu, daß es eine ziemlich suggestive Frage ist. Gibt es etwa jemanden, der<br />
nicht mutig sein möchte und der sich zu Bestrebungen, die Feindbilder<br />
neu zu beleben, bekennen würde? Es handelt sich daher nicht um eine<br />
Entscheidung der Art „Entweder-Oder“, es geht eher darum, zu fragen,<br />
wie man die Last unserer Vorurteile loswerden und den Mut zur Offenheit<br />
finden kann. Zur Offenheit wofür?<br />
„<strong>Renovabis</strong>“ soll ein Instrument des Dialogs und des „Austausches von<br />
Gaben“ zwischen Ost und West sein. Es geht daher anscheinend vor<br />
allem um die gegenseitige Offenheit zwischen den Christen in beiden<br />
Teilen Europas. Auf den ersten Blick scheint es völlig klar zu sein, welche<br />
der beiden Seiten gemeint ist, wenn man von der Versuchung, zu den<br />
Feindbildern zurückzukehren, und von der Angst vor der Offenheit<br />
spricht. Oder gibt es etwa auch auf seiten des Westens einen zu geringen<br />
Willen zur Offenheit – zur gegenseitigen Offenheit? Können wir von<br />
unserer gegenseitigen Offenheit sprechen, ohne dabei die Frage nach<br />
unserer gemeinsamen Offenheit für die „Zeichen der Zeit“, für die Sprache,<br />
in der Gott mit uns spricht, zu erwähnen?<br />
Doch es soll jeder erst vor seiner eigenen Tür kehren. Und deshalb versuche<br />
ich, zuerst mein eigenes Gewissen zu erforschen und die Angst auf<br />
seiten der Kirchen der postkommunistischen Welt zu diagnostizieren.<br />
Es handelt sich nicht um eine theologische Frage, obwohl das Problem<br />
der Beziehungen zwischen den Kirchen in verschiedenen Teilen Europas<br />
die Theologie betrifft. Es handelt sich primär um ein sozial-psychologisches<br />
Problem. Gestatten Sie deshalb, daß ich dabei auf mein ursprüngliches<br />
Fach zurückgehe.<br />
79
In den Kirchen des postkommunistischen Europas geht ein Gespenst<br />
um – das Gespenst des „Westens“. Würde man diejenigen, die dieses<br />
Gespenst verbreiten, einem Assoziationstest unterziehen, könnte man<br />
ihre Vorstellung vom „Westen“ rekonstruieren. Dieses Bild würde wahrscheinlich<br />
demjenigen ähnlich sein, das Jona über Ninive, das unsere<br />
Urgroßväter in den Dörfern der Österreichisch-Ungarischen Monarchie<br />
über das sündhafte Paris hatten und das sich ein etwas ängstliches Kind<br />
über die komplizierte und unverständliche Welt der Erwachsenen macht.<br />
Der „Westen“ ist aus dieser Sicht eine „Stadt ohne Gott“, secular city,<br />
civitas terrena, ein reiches, gefährliches, dekadentes Babel, etwas, was<br />
wir entschieden zurückweisen.<br />
In dieser „finsteren Schlucht“ der „Kultur des Todes“ leben unsere<br />
Brüder und Schwestern, die westlichen Christen. Wie erscheint aus dieser<br />
schematischen Sicht die westliche Kirche? Diese Kirche ist verdorben,<br />
wie der Westen selbst: es herrscht dort eine Krise des Gehorsams gegenüber<br />
Autoritäten, es fehlt eine „gesunde Lehre“, jeder sagt und tut, was er<br />
will, jeder streitet sich mit jedem. Es ist eine „horizontalistische“, dem<br />
Konsum und dem Materialismus verfallene Kirche. Kann man dort überhaupt<br />
noch einen Glauben finden?<br />
Die „Kirche im Westen“ sehen wir so, wie im Evangelium der gehorsame<br />
ältere Sohn den „verlorenen Sohn“ sah, der den Vater verließ, um<br />
sein Vermögen mit Dirnen durchzubringen. Ein solches Bild etwa steckt<br />
hinter den Phrasen folgender Art: „Ex oriente lux, ex occidente luxus“,<br />
„Der Kommunismus ist gefallen, jetzt ist der Hauptgegner der Liberalismus<br />
aus dem Westen“, der Westen ist eine säkularisierte Konsumgesellschaft,<br />
eine Gesellschaft der „Kultur des Todes“ – usw.usf. Dies kann<br />
man wiederholt hören und lesen. Anstelle einer sachlichen Analyse, einer<br />
differenzierten kritischen Sicht dringen „killing words“ und pauschale<br />
Phrasen hervor.<br />
Es muß hinzugefügt werden, daß diese im Osten gebrauchten Bewertungen<br />
ausnahmslos im Westen entstanden sind. Dort haben sie jedoch –<br />
meiner Ansicht nach – eine andere Funktion. Sie können prinzipiell nicht<br />
wörtlich verstanden werden – ausgenommen von Menschen, die sich<br />
völlig in ihrer persönlichen Verbitterung verschließen –, denn sie sprechen<br />
von einer Welt, die es hier gibt, die den Sprechenden und Zuhörenden<br />
bekannt ist. Solche Äußerungen haben im Westen den Charakter ei-<br />
80
ner Auseinandersetzung, einer der möglichen Deutungen, die versucht,<br />
eine andere Deutung, mit der sie rechnet, zu korrigieren. Diejenigen, die<br />
die verschiedenen Bewertungen und verschiedenen Interpretationen ihrer<br />
eigenen Gesellschaft formulieren, rechnen damit, daß sie alle zusammen<br />
die Realität der westlichen Welt in ihrer gesamten Verwickeltheit vor<br />
Augen haben. Diese Verwickeltheit fordert direkt zum „Konflikt der<br />
Interpretationen“ auf.<br />
Einen völlig anderen Charakter bekommen solche bewertenden Aussagen<br />
über den Westen und die westliche Kirche im Osten ausgesprochen<br />
bei Leuten, die mit der westlichen Realität entweder überhaupt keine<br />
Erfahrung oder nur fragmentarische, traumatisierende Erlebnisse haben,<br />
die mit einem „Kulturschock“ verbunden sind. Sie wenden sich außerdem<br />
an Menschen, die vom Westen zwanghaft isoliert wurden und ihn<br />
meistens nicht kennen oder ihn nicht verstehen. Da haben die Aussagen<br />
über Konsum, Kultur des Todes und ähnliche nicht den Charakter einer<br />
möglichen Interpretation, die eine ähnlich einseitige, nur von einem<br />
anderen Gesichtspunkt ausgehende Interpretation korrigiert. Im Osten<br />
haben solche Losungen den Charakter einer Information über Unbekanntes,<br />
die Angst einjagt und eine Barriere des Mißtrauens und Mißverständnisses<br />
aufbaut. Wenn der westliche Mensch im westlichen Milieu die<br />
Gesellschaft, in der er lebt, als „Kultur des Todes“ bezeichnet, dann<br />
wissen – bis auf einige „Nekrophile“ – alle, daß es höchstwahrscheinlich<br />
um ein provozierendes Bonmot geht, das die Versuchung zum anfänglichen<br />
Optimismus korrigieren soll – falls es noch Menschen geben sollte,<br />
die einem solchen Optimismus erliegen. Sagt man dasselbe im Osten<br />
über den Westen, kann es die Bischöfe der postkommunistischen Länder<br />
zu der Fehlentscheidung verleiten, junge Theologen nicht zum Studium<br />
in den Westen zu schicken.<br />
Warum sprechen manche Christen der postkommunistischen Länder so<br />
gern negativ über den „Westen“ und die „Kirche im Westen“, und warum<br />
hören andere so gern zu? Versuchen wir, diese unbewußten und uneingestandenen<br />
Wurzeln solcher Einstellungen des Ostens gegenüber dem<br />
Westen zu untersuchen. Ich glaube, man würde dabei namentlich auf<br />
folgende Motive treffen:<br />
– man ist seit Jahren gewöhnt, sich gegenüber dem anderen negativ abzugrenzen,<br />
und man ist nicht fähig, ohne Feind zu leben;<br />
81
– man braucht ein „Opferlamm“, auf das man sein Frustrationsgefühl<br />
und seine Aggressivität übertragen kann, wenn der reale Feind und<br />
Verursacher des Leidens „unbestraft“ verschwunden ist;<br />
– man hat es nötig, seine eigene, durch die radikalen äußeren und inneren<br />
Veränderungen verunsicherte Identität zu stärken;<br />
– man möchte die eigenen Reihen schließen, ist durch den Prozeß der<br />
Differenzierung und Polarisierung innerhalb der eigenen Gruppe nervös<br />
geworden;<br />
– man benötigt einen festen Punkt, eine Orientierung in der überaus<br />
komplizierten neuen Umgebung;<br />
– man leidet unter „Agoraphobie“, der Angst vor offenen Räumen, die<br />
häufig eben freigelassenen Häftlingen zu schaffen macht;<br />
– man ist eifersüchtig auf den erfolgreicheren, reicheren und erfahreneren<br />
Bruder und beneidet ihn;<br />
– man leidet unter einem Minderwertigkeitskomplex, einer Angst vor der<br />
durch erzwungene Isolierung entstandenen Benachteiligung;<br />
– man versucht, seine angegriffene Selbstachtung durch Herabsetzen<br />
und Dämonisieren anderer zu steigern;<br />
– man hat den „Kulturschock“ aus der Begegnung mit einem Milieu, in<br />
dem man nicht fähig war, sich mit dem anderen auf einer Partnerbasis<br />
zu verständigen, nicht verkraftet;<br />
– man fühlt sich ungerecht behandelt, verletzt, vom Partner nicht ernst<br />
genug genommen;<br />
– man projiziert den eigenen „Schatten“: in Konfrontierung mit dem<br />
anderen versucht man, mit denjenigen alternativen Formen und Möglichkeiten<br />
– die einem selbst unerfüllt blieben, die vernachlässigt und<br />
unterdrückt wurden – fertig zu werden;<br />
– man fürchtet Probleme, Krisen und Konflikte, die der Niedergang des<br />
Kommunismus mit sich brachte; erklärt man sie sich als „Ansteckung von<br />
außen“, kann man hoffen, daß man den eigenen, im Grunde gesunden Organismus<br />
künftig durch Einhalten einer „Quarantäne“ abschirmen kann.<br />
Zu diesen allgemein psychologischen Zügen kommen spezielle Idiosynkrasien<br />
hinzu: alte nationale Vorurteile (Widerwille gegen die Deutschen),<br />
allgemeine Xenophobie, Ablehnung der Müdegewordenen gegen<br />
alles, was sich bewegt, dynamisch ist, sich ändert und entwickelt usw.<br />
82
Wir dürfen nicht vergessen, daß viele von denen, die heute in den Kirchen<br />
Mittel- und Osteuropas eine wichtige Stimme haben, Leute sind, die<br />
nach jahrzehntelangem Leben unter dem Druck des totalitären Regimes<br />
müde und verbraucht sind. Sie gewöhnten sich an eine bestimmte Überlebensart<br />
in einem ziemlich beschränkten Raum und rechneten praktisch<br />
nicht mehr damit, daß sie einmal unter komplizierten Bedingungen einer<br />
dynamischen Pluralitätsgesellschaft werden leben können, ja sogar<br />
werden leben müssen, daß sie auf anspruchsvolle Anforderungen von<br />
Situationen, mit denen sie keinerlei Erfahrung hatten, werden reagieren<br />
müssen. Das freie Leben war etwas, womit sie längst nicht mehr rechneten,<br />
worauf sie sich nicht vorbereiteten, was Gegenstand ihrer Träume<br />
war. Um so größer ist der Zusammenstoß von Traum und Realität. Dieser<br />
Unterschied weckt Frust und Verbitterung: „So haben wir es uns nicht<br />
vorgestellt!“<br />
Die Menschen versuchen, ihren Gefühlen der Enttäuschung zu entfliehen,<br />
sie suchen einen Schuldigen. Die totalitäre Gesellschaft hatte den<br />
Zauber der Unschuld zu bieten – der Mensch hatte keine Verantwortung<br />
und war nie schuld. Schuld waren „die oben“. Diese Einstellung gegenüber<br />
der Regierung, dem Regime, dem Staat, gegenüber fast jeder Autorität<br />
lebt im Osten weiter. Die Menschen haben meistens nicht gelernt, die<br />
neuen demokratischen Strukturen als ihren eigenen Staat, ihre eigene Regierung,<br />
ihre eigenen Institutionen aufzufassen, sie haben nicht gelernt,<br />
die Verantwortung auf sich zu nehmen. Die Christen unterscheiden sich<br />
in diesem Punkt nicht besonders vom Großteil der Gesellschaft. Die politischen<br />
Erfolge der Rechtsextremisten und der Kommunisten sind damit<br />
zu erklären, daß diese Gruppen eben eine solche Stimmung zu nutzen<br />
wissen: wir sind frustriert, schuld sind „die dort oben“. Die Suche nach<br />
dem Opferlamm führt zu verschiedenen Theorien von allgemeinen Verschwörungen:<br />
die allgegenwärtigen ehemaligen Kommunisten, die Mafia,<br />
die Juden und die Freimaurer, das deutsche Kapital, die nach Macht<br />
trachtende Kirche. Im Falle der „ehemaligen Kommunisten und der<br />
neuen Mafia“ haben diese Theorien von feindlichen Netzen sogar einen<br />
gewissen rationalen Kern. Der „verrottete Westen“ ist ebenfalls einer der<br />
Kandidaten für die Rolle des Schuldigen, der überall dort verantwortlich<br />
ist, wo die komplizierte Realität die vorigen Träume unter dem Federbett<br />
des Totalitarismus nicht erfüllte.<br />
83
Man darf auch nicht vergessen, daß die Menschen im kommunistischen<br />
System jahrzehntelang dem Brainwashing der Propaganda ausgesetzt<br />
waren, deren tausendmal wiederholte Stereotypen im Unterbewußtsein<br />
haften blieben. Ein Teil der Gesellschaft lebte in der Vorstellung, daß die<br />
Kirche nach Macht und Besitz trachte, Feind der Wissenschaft und des<br />
Fortschritts und bereit sei, bei nächster Gelegenheit das Volk auszubeuten,<br />
Ketzer zu verfolgen und Ablässe zu verkaufen. Andere vermochten<br />
sich nicht vom ähnlichen den Westen betreffenden Stereotyp der kommunistischen<br />
Propaganda zu befreien. Der Westen sei „verrottet“, ver dorben,<br />
sittenlos. Die Reinheit der Ideologie muß gegen die zerstörenden Einflüsse<br />
der bürgerlichen Lehren des Westens verteidigt werden. (Gestatten<br />
Sie mir eine kleine subjektive, emotionale Bemerkung. Kann sich überhaupt<br />
jemand vorstellen, wie es auf die Intelligenz in unseren Ländern,<br />
die jahrzehntelang durch die Phrasen der kommunistischen Zensoren und<br />
Politruks terrorisiert wurde, jetzt wirkt, wenn sie die gleichen stupiden<br />
Phrasen aus dem Munde von Kirchenvertretern hört? Ich gehöre zur Generation<br />
von Intellektuellen, die sich in Böhmen, Polen, Ungarn und weiteren<br />
Ländern mindestens zwanzig Jahre lang für das Abtragen der mentalen<br />
Berliner Mauer sowie für die politische und kulturelle Rückkehr<br />
unserer Länder zum Westen einsetzten, zu dem wir mit unserer gesamten<br />
geistigen Tradition gehören und von dem wir gewaltsam abgetrennt wurden.<br />
Kann sich jemand vorstellen, wie uns diese Dämonisierung des Westens<br />
von seiten einiger Kirchenkreise irritiert? Und noch eine persönliche<br />
Bemerkung. Ich schlage Ihnen vor, einen Test zu versuchen, der mich<br />
noch nie enttäuscht hat. Je geringer die fachliche, intellektuelle und persönliche<br />
Kompetenz eines Kirchenvertreters aus Mittel- und Osteuropa<br />
ist, desto öfter spricht er diese pauschalen negativen Urteile an die<br />
Adresse des Westens aus.)<br />
Die Vorstellung von der „Kirche im Westen“ entspricht dann wiederum<br />
dem Bild, das die kommunistische Propaganda den Leuten über die<br />
Emigranten einprägte: „Es sind Versager, die im Wohlstand leben. Sie<br />
entfremdeten sich, sie dienen fremden Interessen, sie streiten dauernd<br />
untereinander.“<br />
Ist es möglich, diese unbewußten und uneingestandenen Wurzeln der<br />
antiwestlichen Einstellungen ans Licht zu bringen und dadurch zur Genesung<br />
der Beziehungen beizutragen?<br />
84
Jeder Komplex hat jedoch seinen rationalen Kern.<br />
Versuchen wir es, darüber nachzudenken, wie konkret diese „Feindbilder“<br />
entstehen.<br />
Gestatten Sie mir, eine kleine Kasuistik aus meiner eigenen Erfahrung<br />
vorzulegen:<br />
Im Jahre 1967 war ich zum ersten Mal im Westen. Es handelte sich um<br />
den Besuch einer katholischen Universität in Holland im Rahmen eines<br />
Studentenaustausches. Ein Jahr zuvor hatte ich konvertiert und freute<br />
mich maßlos, daß ich zum ersten Mal die „freie Welt“ und eine katholische<br />
Universität zu sehen bekam; in der etwa zwanzigköpfigen Gruppe<br />
tschechischer Studenten war ich der einzige Gläubige. Die Kirche in Holland<br />
befand sich gerade mitten in nachkonziliaren Turbulenzen. Das einzige<br />
Buch, das sich mit neuerer katholischer Denkweise befaßte und das<br />
ich damals zur Verfügung hatte – es war aus dem tschechischen Exilverlag<br />
in Rom geschmuggelt worden –, war „Der integrale Humanismus“<br />
von Maritain. Ich konnte es fast auswendig. Als ich voller Begierde die<br />
holländischen Studenten fragte, ob man da andere Bücher von Maritain<br />
bekomme, lachten sie mich aus: solche Blödsinnigkeiten lese da seit dreißig<br />
Jahren kein Mensch mehr! Ich glaube, das war in der Generation ihrer<br />
Großväter! Sie nannten eine Menge Namen von Autoren, die sie<br />
ansprachen – ich kannte keinen. Ich erfuhr, daß am Abend eine Debatte<br />
zum Thema „Gott ist tot und hat soeben sein Mausoleum, die katholische<br />
Kirche, verlassen“ stattfinden sollte. Der Studentenpfarrer war frisch verheiratet.<br />
Ich hörte eine an die Adresse des „rückschrittlichen“ Papstes<br />
Paul VI. gerichtete Kritik. Aber das sagten doch bei uns die Kommunisten,<br />
nämlich, daß die Kirche rückschrittlich sei! Treue und Liebe zum<br />
Papst war für uns einer der Werte, für den unsere Priester sich viele Jahre<br />
im Gefängnis aufopferten!<br />
Ich kehrte völlig verwirrt und voller Überdruß zurück. Mein Urteil<br />
über den Westen und die westliche Kirche stand fest. (Nach einer Woche<br />
fällt es einem viel leichter, sich ein einheitliches, „endgültiges Urteil“<br />
über ein Land zu machen, als wenn man sich dort ein Jahr lang aufhält.)<br />
Ich begegnete gewissen katholischen Kreisen in Prag, die mir sofort eine<br />
Ideologie lieferten, die äußerst treffend meine Empfindungen interpretierte<br />
und meine fragmentarischen Erlebnisse um den fehlenden Kontext<br />
ergänzten: das ganze Konzil und die nachkonziliare Entwicklung seien<br />
85
Dekadenz, Abfall von gesunder Tradition, feiger Kompromiß mit der<br />
gottlosen Welt, ein Werk der im Leibe der Kirche verborgenen Feinde.<br />
Ein Trojanisches Pferd im Hause Gottes! Unsere Hauptaufgabe sei es,<br />
sich mit aller Kraft gegen diese giftigen Einflüsse zu wehren. (Viele meiner<br />
Mitbrüder erlebten etwas Ähnliches ein Vierteljahrhundert später,<br />
nach dem Jahre 1989.)<br />
Ich verbrachte einige Monate in der herrlichen widerspruchslosen Welt<br />
der integralistischen Mythologie. Es war eine wertvolle und ganz nette<br />
Erfahrung. Ich kann es gut begreifen, warum sich ein gewisser Typ von<br />
Menschen in diesem Milieu so wohl fühlt. Im Laufe einiger Monate während<br />
des Prager Frühlings lernte ich eine Reihe von Priestern kennen, die<br />
erst vor kurzem aus dem Gefängnis zurückgekehrt waren, wo man sie am<br />
Anfang der fünfziger Jahre eingesperrt hatte, darunter die Theologen<br />
Zvěrˇina, Mádr und Mandl. Diese Leute stellten die intellektuelle Elite des<br />
tschechischen Katholizismus dar. Überwiegend hatten sie während des<br />
Krieges in Rom studiert; über ihre Treue zum Glauben, zur Kirche und<br />
zum Papst, für die sie mit jahrelangem Leiden zahlen mußten, gab es<br />
keine Zweifel. Diese Leute kehrten aus dem Gefängnis in gewisser Hinsicht<br />
verändert zurück. Sie waren weder verbittert noch gebrochen. Sie<br />
waren gereift. Unter extremen Bedingungen wurden sie sich bewußt,<br />
wovon der Glaube und die Kirche wirklich leben. Sie strahlten eine gewaltige<br />
Einfalt der Weisheit aus. Im Gefängnis hatten sie sich nach einer<br />
Wiedergeburt der Kirche, nach einer Kirche gesehnt, die sich von Äußerlichkeiten<br />
befreien und eine Vertiefung ansteuern würde.<br />
Gut belegt dies eine Begebenheit aus dem Gefängnis, die man mir<br />
erzählte. Ein junger Mann teilte die Zelle mit einem mährischen Weihbischof.<br />
Er konnte sich daran erinnern, wie der Bischof in voller Pracht<br />
durch die Straßen seiner Stadt geschritten war. Jetzt waren beide in Sträflingskleidern<br />
und schleißten Federn. Der junge Mann sagte zum Bischof:<br />
„Ich bringe Ihnen noch ein wenig Federn, Euer Exzellenz.“ Der Bischof<br />
antwortete: „Sag nicht Exzellenz zu mir.“ – „Wie soll ich denn zu Ihnen<br />
sagen, Euer Exzellenz“, fragte der junge Mann. „Sag Bruder zu mir“,<br />
antwortete der Bischof.<br />
Die Leute, die aus dem Gefängnis zurückkehrten, wollten nicht, daß<br />
die Kirche auf dem teuer erkauften Weg von Exzellenzen zu Brüdern<br />
wieder einen Rückschlag erlitte. Diejenigen, die aus den Kerkern zurück-<br />
86
kamen, teilten mir noch zwei weitere Gedanken mit. Früher bewegten sie<br />
sich überwiegend in ihrem katholischen und vor allem priesterlichen<br />
Milieu. Im Gefängnis kamen sie in Kontakt mit vielen andersgesinnten<br />
Leuten, namentlich Demokraten, die sich zu den „Idealen der Humanität“<br />
im Sinne von Masaryk bekannten, mit Protestanten, mit Sozialdemokraten<br />
sowie mit nichtkonformen Kommunisten. Dort kam es zu einem wahren<br />
Dialog und einem wahren „Austausch von Gaben“. Viele Vertreter<br />
des säkularen Humanismus wurden sich bewußt, daß sie im Angesicht<br />
des kommunistischen Totalitarismus und der extremen Situation im Gefängnis<br />
noch eine andere, tiefere Dimension brauchten. Viele von ihnen<br />
konvertierten oder bekamen zumindest Ehrfurcht vor dem Glauben und<br />
vor der Kirche. Andererseits wurden sich die Katholiken bewußt, daß sie<br />
im Himmel womöglich nicht allein sein werden und daß sie auch auf Erden<br />
lernen müssen, mit andersgesinnten Nächsten zu leben und zu kommunizieren,<br />
denn diese stehen ihnen näher, als sie bisher gedacht haben.<br />
Und zweitens: einige der inhaftierten Christen empfanden das Gefängnis<br />
nicht nur als eine Ungerechtigkeit von seiten der bösen Kommunisten.<br />
Sie verstanden ihr Leiden biblisch: Gott reinigt sein Volk, tilgt seine Sünden,<br />
vertieft und lehrt es. Sie verstanden ihr Leiden und nahmen es auf<br />
sich als Buße dafür, daß die Kirche in der Vergangenheit nicht so gewesen<br />
war, wie sie sein sollte. Sie beteten und sehnten sich nach der großen<br />
Erneuerung der Kirche.<br />
Diese Leute waren, als sie das Gefängnis verließen und vom Konzil<br />
erfuhren, nicht verwirrt. Sie begrüßten die Botschaft des Konzils als das,<br />
was ihrer Vision der Kirche entsprach, einer Kirche, die sich ihrer bisherigen<br />
Fehler bewußt wurde, die sich vom Triumphalismus und von Äußerlichkeiten<br />
befreite, die viel offener gegenüber der heutigen Welt, den andersgesinnten<br />
Nächsten sein würde und die das Evangelium als Aufforderung<br />
Gottes zu Freiheit und Brüderlichkeit lesen würde.<br />
Dies war etwas anderes als der adoleszente, ödipale Widerstand der<br />
holländischen Studenten gegen Autorität und Tradition. Hier widerfuhr<br />
mir zum ersten Mal „das reife Christentum“.<br />
Man erzählte mir, daß ein Bischof aus einem gewissen postkommunistischen<br />
Land vor der Bischofssynode zum Thema Europa im auszufüllenden<br />
Fragebogen auf die Frage, was kann die Kirche im Osten den<br />
westlichen Christen bieten, folgenderweise antwortete: „Das Beispiel<br />
87
eines unerschütterlichen Glaubens und echter Treue zum Heiligen Vater.“<br />
Auf die Frage, was kann die Kirche im Westen dem Osten bieten, antwortete<br />
er dann: „Geld.“ Es erscheint mir äußerst riskant zu sein, mit einem<br />
solchen Bild von sich selbst und von dem anderen in den Prozeß des<br />
„Austausches von Gaben“ einzutreten.<br />
Ich glaube, wir sollten vor allem einander gegenseitig helfen, zu christlicher<br />
Reife heranzuwachsen.<br />
Die „Reife des Christen“ darf keine billige Phrase werden. Im Hinblick<br />
auf die Kirche und auf die persönliche Entwicklungsgeschichte des<br />
Glaubens eines jeden einzelnen Christen kann dieser psychologische und<br />
pädagogische Begriff nur „per analogiam“ benutzt werden. Das „Erwachsensein“,<br />
die Reife, ist hier letztendlich eine eschatologische Kategorie.<br />
Trotzdem fordert uns der heilige Paulus auf, den Infantilismus<br />
abzulegen und sich auf den Weg des Reifens zu begeben. Wir können uns<br />
im Groben vorstellen, was es auf der individuellen Ebene, auf dem Weg<br />
des einzelnen, bedeutet. Was bedeutet es aber auf dem Weg der Kirche<br />
durch die Geschichte, auf der Ebene der Communio?<br />
Das Evolutionsmodell kann sichtlich auf die Geschichte der Kirche<br />
nicht unkritisch angewandt werden. Das Reifen der Kirche verläuft nicht<br />
linear. Infantilismus, Pubertätskrisen sowie Altersrigidität kommen im<br />
Laufe der Kirchengeschichte immer wieder in tausend verschiedenen<br />
Formen vor. Reife scheint eine seltene Erscheinung zu sein. Man kann sie<br />
im Umfeld der Heiligen beobachten (ich meine hier nicht nur die Persönlichkeiten<br />
der amtlich kanonisierten Heiligen), besonders in dem Zeitabschnitt,<br />
bevor das, womit sie die Kirche bereichert haben, institutionalisiert<br />
und unifiziert wurde und dadurch häufig seine Originalität und<br />
inspirierende Schaffenskraft verlor.<br />
Ich glaube, daß es für die gegenseitig bereichernde Offenheit und den<br />
„Austausch von Gaben“ am nützlichsten wäre, wenn wir darüber nachdenken<br />
würden, wo wir in der Erfahrung mit unserer eigenen Kirche einem<br />
Schimmer von christlicher Reife begegnet sind und was wir dafür<br />
tun können, daß diese Funken nicht verlöschen.<br />
Ich erwähnte am Anfang, daß man die Überlegungen über die gegenseitige<br />
Offenheit der Christen in verschiedenen Teilen unseres Kontinents<br />
nicht von der Frage danach trennen kann, ob wir gemeinsam für das offen<br />
sind, was uns Gott mittels der „Zeichen der Zeit“ mitteilt.<br />
88
Unsere Zeit mag eher einem Herbst als einem Frühling ähneln. Manche<br />
sprechen von Dekadenz, Nihilismus und Tod. Ich würde lieber die Frage<br />
nach der Reife stellen.<br />
Was geschah mit den Integralisten, die mir vor einem Vierteljahrhundert<br />
ihre fertige Interpretation meiner fragmentarischen Erfahrung mit<br />
dem Westen geboten hatten? Sie bleiben immer die gleichen. Die sie umgebende<br />
Welt sowie das Leben der Kirche bringt ihnen nichts anderes als<br />
nur immer neue Beweise für jüdisch-freimaurerische Verschwörungen.<br />
Was geschah mit den Priestern, die aus dem Gefängnis gekommen<br />
waren und an denen ich zum ersten Mal die Zeichen jener Reife, über die<br />
ich spreche, beobachten konnte? Einige starben, andere wurden körperlich<br />
und seelisch alt. Und wieder andere zogen sich verbittert zurück,<br />
nachdem sie zum Schluß gekommen waren, daß unsere Kirche die<br />
Gaben, mit denen sie sie bereichern wollten, nicht angenommen habe.<br />
Andere erzogen ihre Schüler, aber auch die müssen jetzt den langen Weg<br />
zur eigenen Reife hinter sich bringen: Die Reife kann man nicht als ein<br />
fertiges Gut erben, sondern man kann sie nur als einen Impuls und eine<br />
Inspiration für den eigenen Weg wahrnehmen. Das ist gar nicht wenig.<br />
Darin sehe ich eine Hoffnung.<br />
Was geschah mit den Studenten, denen ich vor einem Vierteljahrhundert<br />
in Holland begegnet war? Unser Versuch, einen Dialog zu führen,<br />
scheiterte damals, weil wir nicht darauf vorbereitet waren. Wie reiften<br />
sie, was können sie – und ihre ganze Generation im Westen – uns heute<br />
als die Früchte ihres Weges anbieten? Die Antwort auf diese Frage würde<br />
ich eher von Ihnen (die hier versammelt sind) erwarten.<br />
Wir leben heute in einer gemeinsamen Welt. Wenn ich sehe, wie tief die<br />
Generation der großen deutschen Philosophen und der englischen Historiker<br />
die Französische Revolution reflektiert hat, wundere ich mich darüber,<br />
daß die geschichtliche Wende um genau zweihundert Jahre später, die nicht<br />
weniger schwerwiegend ist, der oberflächlichen Deutung von Journalisten<br />
überlassen wird. Nur auf diese Weise konnte die naive Vorstellung entstehen,<br />
daß das Jahr 1989 allein den Osten verändern und den Westen nur<br />
insofern berühren werde, als er in seinen Reihen die befreiten armen Verwandten<br />
begrüßen und ihnen für die Übergangszeit etwas materielle Hilfe<br />
sowie für den neuen Anfang ein paar gute Ratschläge leisten wird (etwa so,<br />
wie man es einst bei der Aufnahme von Emigranten zu tun pflegte).<br />
89
Keineswegs – die Folgen des Jahres 1989 verändern die ganze Welt.<br />
Sie treffen Ost wie West tief und werden sich auch in Nord und Süd<br />
niederschlagen. Es geht dabei um tiefgreifende kulturelle, mentale und<br />
geistliche Veränderungen.<br />
Wir müssen es lernen, in einer Welt ohne Grenzen zu leben, die nicht<br />
einfacher, sondern verwickelter ist, in einer „kleinen“, aber dafür multidimensionalen<br />
Welt. Es mag die Nacht kommen – doch in der Nacht sieht<br />
man, daß „die Welt tiefer ist, als je der Tag gedacht hat“ – so sprach Zarathustra.<br />
Nietzsche, einer der Männer, die das Wort Nihilismus nicht als<br />
ein billiges Schlagwort, sondern als eine tief ambivalente Tatsache handhabten,<br />
wies gleichzeitig auf die Hoffnung und Zuversicht hin, daß nämlich<br />
„das Herz der Erde aus Gold sei“. Ich glaube, damit äußerte er nur<br />
mit anderen Worten und von einem anderen Standpunkt gesehen das, was<br />
der heilige Paulus sagt, indem er behauptet, daß das, was am größten sei,<br />
das, was alles ertrage, die Liebe ist.<br />
In diesem Sinne wäre ich in Hinsicht auf den künftigen Dialog zwischen<br />
den Christen des Ostens und des Westens dafür, daß wir die Feindbilder<br />
weglegen und versuchen, den Mut aufzubringen, sich der Gabe der<br />
reifen Liebe zu öffnen.<br />
90
Prof. Dr. Aniela Dylus, Warschau<br />
Polens Kirche: fähig zum Brückenbau?<br />
Einführung<br />
Die Kirche ist zum Brückenbau, theologisch gesprochen – zur Versöhnung:<br />
des Menschen mit Gott, mit sich selbst, mit anderen und mit der<br />
Schöpfung – berufen. Da Versöhnung Gnade Gottes ist, wie dies z.B.<br />
das Thema der zweiten ökumenischen Begegnung in Graz formuliert:<br />
„Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens“, ist auch die<br />
Kirche grundsätzlich zum Brückenbau fähig. Das gilt sowohl für die<br />
Weltkirche als auch für die Ortskirchen. Die im Titel meines Referates<br />
enthaltene Frage, ob die Kirche in Polen zum Brückenbau fähig sei, ist<br />
also keine fundamentaltheologische Frage. Das Problem liegt eher auf<br />
der soziologischen Ebene, betrifft ihre gesellschaftlich-politische Fähigkeit<br />
und Wirksamkeit. Es geht hier um das einheitsstiftende Potential der<br />
Kirche in Polen. Doch zwischen diesen beiden Ebenen besteht ein gewisser<br />
Zusammenhang. In dem Maße, in dem die Kirche fähig und bereit ist,<br />
die gnadenhaft geschenkte Versöhnung und Einheit vorzuleben, hat sie<br />
allen rein innerweltlichen Bemühungen um die Einheit etwas voraus.<br />
Und umgekehrt: insofern die Kirche selbst schuldhaft gespalten ist und<br />
sogar zu Spaltungen in der Gesellschaft beiträgt, hat sie ihre einigende<br />
Funktion innerhalb der Gesellschaft preisgegeben. 1<br />
Wie steht es also in dieser Hinsicht mit Polens Kirche? Die Formulierung<br />
des Themas setzt einige Gräben in der polnischen Gesellschaft bzw.<br />
Nation in ihrem Verhältnis zum Nachbarn und in der Kirche selbst voraus.<br />
Ist diese Voraussetzung zu rechtfertigen? Eine Brücke wird doch<br />
1) Vgl. P. Jaskóla, Jednos´ć Kos´ciola, jednos´ć ludzkos´ci (Einheit der Kirche, Einheit der Menschheit),<br />
in: P. Jaskóla (Red.), Pojednanie narodów i Kos´ciolów (Versöhnung der Völker und<br />
Kirchen), Opole/Oppeln <strong>1997</strong>, S. 56.<br />
91
über Täler gelegt. Sie verbindet zwei verschiedene Ufer. Was ist also in<br />
Polen zu einigen? Welche Zerwürfnisse, welche schmerzlichen Konflikte<br />
trennen die Gesellschaft, teilen die Kirche? Was für Hindernisse stehen<br />
der Einheit im Weg?<br />
1. Ein Mosaik der Trennungslinien in Polen<br />
Ein paar Monate vor Beginn dieses <strong>Kongress</strong>es begründete der Geschäftsführer<br />
von „<strong>Renovabis</strong>“, Eugen Hillengass, dessen Thema folgendermaßen:<br />
„Es gibt im Osten unversöhnte Gesellschaften, entweder<br />
wegen ihrer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit, wegen ethnisch begründeter<br />
Spannungen, auch wegen neuer Gräben zwischen Armen und<br />
Reichen oder wegen neuer Feindbilder, die aus den Schwierigkeiten der<br />
gegenwärtigen Wandlungen erwachsen.“ 2<br />
Eine solche Beschreibung der Situation „im Osten“ charakterisiert in<br />
allgemeinen Umrissen treffend auch die Trennungslinien, wie sie in<br />
meinem Vaterland zu verzeichnen sind. Nur müßte man im Falle Polens<br />
die Akzente etwas anders setzen. Gewiß stehen hier „ethnisch begründete<br />
Spannungen“ nicht im Vordergrund. In der Tat, mit unseren südlichen<br />
und östlichen Nachbarn gibt es manchmal von beiden Seiten verschuldete<br />
Konflikte, ja sogar Ärgernis erregende Ausschreitungen. Das Grenzland<br />
ist eine Region, wo die Kulturen, die Konfessionen und die Völkerschaften<br />
aufeinandertreffen. Die fruchtbare Mischung von Kulturen ist<br />
auch konfliktbeladen. Andererseits haben sich die Beziehungen zwischen<br />
Polen und Deutschen in den letzten Jahren deutlich gebessert. Die „Versöhnungsarbeit“<br />
zeitigt sichtbare Ergebnisse. Weiterhin sind jedoch bei<br />
einem gewissen Teil insbesondere der älteren Generation noch antideutsche<br />
und manchmal – überhaupt – antiwestliche Stereotype lebendig.<br />
Zweifellos ist das Zusammenleben der Polen mit nationalen Minderheiten<br />
noch weit von einem Ideal entfernt. Um so mehr, als zu den von<br />
einer komplizierten historischen Vergangenheit bedingten nationalen<br />
Trennungslinien noch konfessionelle und kulturelle Trennungslinien<br />
kommen.<br />
2) Zitiert nach: Christ in der Gegenwart, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 19.<br />
92
Selbst wenn ich das alles berücksichtige und auch die mit der Versöhnung<br />
zwischen uns und unseren Nachbarn zusammenhängenden Herausforderungen<br />
nicht unterschätze, meine ich jedoch, daß die ethnischen<br />
oder nationalen Konflikte heute in Polen nur eine marginale Bedeutung<br />
haben. Polen ist zwar tief geteilt, aber aus ganz anderen Gründen als jene,<br />
von denen in manchen westlichen Publikationen die Rede ist. Deren Verfasser<br />
übertreiben aus Unwissen oder bösem Willen unsere ethnischen<br />
Trennungslinien. Die Feststellung des für objektive, ausgewogene Urteile<br />
bekannten FAZ-Korrespondenten Michael Ludwig, daß „Polen noch<br />
immer auch von den überkommenen ethnischen und konfessionellen<br />
Gemengelagen geprägt ist“ 3 , muß diesmal als deutlich übertrieben angesehen<br />
werden. Zutiefst ungerecht ist es auch, wenn man westlichen<br />
Lesern suggerieren will, als sei der Pole per Definition ein Nationalist.<br />
Mit Erstaunen las ich kürzlich folgende Meinungsäußerung: „Die klassischen<br />
Spannungen zwischen Rußland und Polen, die man durchaus als<br />
eine mehr oder weniger unterdrückte Feindschaft bezeichnen darf, die<br />
sich teilweise in blankem Haß austobt, belasten nicht nur die politischen,<br />
sondern auch die kirchlich-ökumenischen Beziehungen in Osteuropa.“ 4<br />
Angesichts dieses angeblichen Hasses der Polen auf die Russen wären<br />
zumindest die umfassenden wirtschaftlichen Kontakte, die sich nach der<br />
Wende entwickelt haben, ganz unbegreiflich. Jedes Jahr überschreiten<br />
etwa 8 bis 9 Millionen unserer Nachbarn die östliche Grenze, um bei uns<br />
– nicht immer ganz legale – Geschäfte zu betreiben. Auf den Märkten<br />
ganz Polens treiben Millionen unserer Nachbarn in russischer Sprache<br />
Handel, aber ich habe noch von keinerlei Unruhen oder Haßausbrüchen<br />
gehört. Im Gegenteil, beide Seiten sind zufrieden. Bei dieser Gelegenheit<br />
lernen sie sich besser kennen und lernen es, voreinander Achtung zu haben.<br />
Die oben zitierte Meinung beweist, daß die Einheit nicht nur von<br />
tatsächlichen Konflikten bedroht ist, sondern auch davon, daß man sie in<br />
stereotyper Weise darstellt.<br />
Eine Gelegenheit, über die Verfassung unserer Gesellschaft nachzudenken,<br />
war die letzte Pilgerreise Johannes’ Pauls II. in Polen. Zahlreiche<br />
Gruppen haben in der Vorbereitung auf den Empfang des Papstes eine<br />
3) M. Ludwig, Pilger im eigenen Land, FAZ, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 133.<br />
4) Christ in der Gegenwart, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 19.<br />
93
eigene Art von Gewissenserforschung angestellt. Die Antworten auf die<br />
Frage „In was für ein Polen kommt der Papst?“ fielen nicht erbaulich aus.<br />
In ihnen herrschte das Bewußtsein vor, daß tiefe Trennungslinien durch<br />
unser Vaterland gehen. Und in der Tat kam Johannes Paul II. in ein Polen,<br />
– das politisch tief geteilt,<br />
– ökonomisch aufgespalten ist,<br />
– das gespannte Beziehungen zwischen Staat und Kirche aufweist,<br />
– in dem die Kirche innerlich zerstritten ist,<br />
– zu Landsleuten, die das äußere Chaos in ihre Herzen projiziert haben,<br />
wie das die Journalistin der Regierungszeitung „Rzeczpospolita“ treffend<br />
beschrieben hat. 5<br />
Die politischen Eliten sind tief gespalten in Postkommunisten und die<br />
Opposition. Aber auch die Nachfolgeparteien der „Solidarnos´ć“ sind<br />
zerstritten. Als der gemeinsame Gegner verschwand, schwanden auch die<br />
Bürgertugenden: wechselseitige Achtung, Vertrauen und Toleranz unter<br />
den bis jetzt Verbündeten. Nach Meinung des Papstes liegt hier irgendwie<br />
eine polnische Untugend vor, eine uralte Untugend, nämlich ein übertriebener<br />
Individualismus, der zur Aufspaltung der sozio-politischen<br />
Szene führt. 6 Ob es der neugegründeten Wahlaktion „Solidarnos´ć“ gelingen<br />
wird, die rechte Seite der politischen Szene zu einen, bleibt noch<br />
offen. Diese Polarisierung wird zusätzlich durch den Dissens zwischen<br />
den nationalistisch gefärbten Eliten der Bauernpartei (PSL) und der<br />
christlichen Parteien auf der einen Seite sowie den Liberalen und Laizisten<br />
auf der anderen verschärft. Die undurchsichtigen Machtspiele an der<br />
Spitze, der unerträgliche Parteienstreit, die aufeinanderfolgenden Wahlkampagnen,<br />
die sich auf die Diffamierung des politischen Gegners<br />
konzentrierten und das „Blaue vom Himmel“ versprachen, trugen zu<br />
erheblichem Vertrauensverlust der Bürger in die neuen politischen Eliten<br />
bei. Soziologen sprechen sogar von einer „ungastlichen politischen<br />
Szene“ (Pawel S´piewak), die die Bürger kaum zu politischer Teilnahme<br />
5) Vgl. E. Czaczkowska, Prawdziwa wolnos´ć wymaga ladu (Wahre Freiheit erfordert gute Ordnung),<br />
Rzeczpospolita, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 137.<br />
6) Vgl. „Wo sind wir vom Evangelium abgewichen?“ Eine Gewissenserforschung für die Welt an<br />
der Schwelle zum Jahr 2000, L’Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache,<br />
1993, <strong>Nr</strong>. 45.<br />
94
einlädt und wiederum Anlaß gibt, sich von „denen da oben“ zu distanzieren.<br />
Außerdem ist das Respektdefizit der Polen gegenüber der Regierung<br />
geschichtlich bedingt. Die unbeholfene, oft korrumpierte Verwaltung<br />
fördert den Verfall politischer Autorität.<br />
Nach Meinung von Krzysztof Piesiewicz, einem berühmten Anwalt,<br />
beobachten wir im Laufe der letzten Monate eine evidente Ablehnung der<br />
historischen Chance für gesellschaftlichen Frieden und gemeinsame<br />
Arbeit zugunsten Polens. Diese Ablehnung erfolgt von seiten des ehemaligen<br />
Apparates der Volksrepublik Polen. Man könne ein Fiasko der<br />
sogenannten Konzeption des „dicken Striches“ (unter die Vergangenheit)<br />
feststellen. Die so Beschenkten erwiesen sich als zynisch und trügerisch.<br />
Ähnlich bewertet ein konservativer Politiker, Aleksander Hall, die postkommunistische<br />
Formation. Das „Bündnis der Demokratischen Linken“<br />
behandele den Staat wie einen eigenen Gutshof.<br />
Die gesellschaftliche Stimmung ist auch dadurch vergiftet, daß die<br />
Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit gar nicht<br />
oder nur höchst unvollkommen durchgeführt wurde. Daß es keine wirkliche<br />
Abrechnung mit dem Kommunismus gab, hat nach Ansicht von<br />
Adam Strzembosz, dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, auch<br />
weitere schlimme Folgen. Die Tatsache, daß Historiker oder Publizisten<br />
nicht von der Verantwortung sprechen, zerstöre die Moral der Gesellschaft.<br />
Auf diese Weise werden jene, die zynisch handeln, nicht gewarnt,<br />
daß sie für ihre Verbrechen Strafe erwartet. Krzysztof Piesiewicz meint<br />
sogar, daß es zur „kollektiven Verantwortungslosigkeit“ gekommen ist. 7<br />
Schon jetzt sei bei den Führern des politischen Lebens in Polen ein Nihilismus<br />
im Bereich der Werte sichtbar. Indifferentismus wurde zur inoffiziellen<br />
Staatsideologie erhoben. Natürlich wird dadurch die Entstehung<br />
einer echten, auf Bürgertugenden gegründeten Zivilgesellschaft, wo<br />
sozialer Friede herrscht, behindert. Außerdem sind die Polen aus<br />
geschichtlich bedingten Gründen eher ein Volk oder eine Nation als eine<br />
bürgerliche Gesellschaft.<br />
Tiefe Gräben in Polen sind ferner durch die wirtschaftlichen Wandlun-<br />
7) Alle Aussagen aus einer Diskussion, die im Herbst 1996 im Krakauer Institut „Tertio Millennio“<br />
stattgefunden hat. Vgl. Tygodnik Powszechny, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 1, und Bericht darüber: W. Grycz, Vor<br />
der Heimatreise Johannes’ Pauls II.: In was für ein Polen kommt der Papst?, Ost-West Informationsdienst<br />
des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 193, S.26–40.<br />
95
gen bewirkt. Die Schocktherapie, die zurecht als schnellster Weg der<br />
Wirtschaftsreformen gewählt wurde, führte zwar zu beachtlichen Erfolgen,<br />
jedoch bedeutete sie gleichzeitig für die Gesellschaft ein tiefes und<br />
breites „Tal der Tränen“ (Ralf Dahrendorf). Ohne Vorbereitung wurde die<br />
Bevölkerung äußersten Belastungen, ganz unbekannten Herausforderungen<br />
und völlig neuen Spielregeln ausgesetzt. Als Folge davon scheuen<br />
die einen vor rücksichtslosem Konkurrenzkampf nicht zurück, andere<br />
dagegen verfallen – angesichts weitverbreiteter Arbeitslosigkeit, Armut<br />
und Kriminalität – in Unzufriedenheit, Unsicherheit und Lebensangst.<br />
Eigentum wurde in den Händen evident unmoralischer Menschen angehäuft.<br />
Durch die sogenannte „Nomenklatura-Privatisierung“ ist ein Zustand<br />
gewaltiger Chancenungleichheit entstanden. Ein Großteil der ehemaligen<br />
Führungsschicht in Politik und Wirtschaft hat es verstanden, aus<br />
der Privatisierung Vorteile zu ziehen und sich zu bereichern. Große Bevölkerungsgruppen<br />
sind mit dem wirtschaftlichen Umbruch im Lebensstandard<br />
deutlich abgesunken, nicht wenige in kaum erträgliche Armut.<br />
Ohne Zweifel kann man heute eine starke Polarisierung der Gesellschaft<br />
feststellen. Die Kluft zwischen dem Lebensstandard der Armen und der<br />
Reichen wird immer größer. Die Menschen, die aus finanziellen Gründen<br />
an dem neuen Warenangebot nicht teilnehmen können, sind frustriert und<br />
blicken neidisch auf die Reicheren. Die wirtschaftliche Entwicklung des<br />
freien Marktes setzt den Kauf immer neuer, kurzlebiger Waren voraus. Es<br />
geht um den sogenannten Prestigekonsum, der ständig neue Bedürfnisse<br />
weckt. Die Menschen sind den attraktiven Angeboten gegenüber zunehmend<br />
ratlos.<br />
In einer solchen Gesellschaft, wie die polnische, könnte die Kirche den<br />
sozialen Frieden entscheidend fördern. Allerdings muß sie vom Staat als<br />
Verbündete anerkannt werden. Mit der Ablehnung des Konkordats durch<br />
den Sejm (genauer gesagt: durch die Verschiebung seiner Ratifizierung<br />
ad Calendas Graecas) haben jedoch die laizistische Linke und die Altkommunisten<br />
der Kirche den offenen Krieg erklärt. Schon vorher waren<br />
kirchenfeindliche Stimmen zu hören, die von einer Bedrohung durch den<br />
angeblich angestrebten Konfessionsstaat sprechen. Viele politisierende<br />
Intellektuelle und Ideologen haben sich, statt Probleme der Reformen<br />
politisch zu lösen, in einen Kirchenkampf verrannt. In der öffentlichen<br />
Debatte in Polen wird ein verzerrtes Bild der Kirche entworfen. Sie wird<br />
96
nicht als Hüterin der moralischen Kraft und der geistigen Substanz des<br />
Volkes dargestellt, sondern als Macht und Druck ausübende Institution,<br />
der vor allem an der Wahrung ihrer Interessen und Privilegien gelegen<br />
sei. Ideologische Kämpfe mit der Kirche stehen deutlich dem Brückenbau<br />
im Wege, behindern ihn und müssen letzten Endes als Krieg gegen<br />
die eigene Gesellschaft betrachtet werden. 8<br />
Um vom „Brückenbau“ zu sprechen, mußte ich mich zuerst auf die<br />
Darstellung dessen konzentrieren, was unsere Gesellschaft trennt. Dagegen<br />
ließ ich die positiven Erscheinungen, unsere Erfolge und die Hoffnung<br />
weckenden Zeichen von Güte und zwischenmenschlicher Solidarität<br />
unberücksichtigt. So entstand ein etwas verzerrtes, einseitiges Bild.<br />
Doch die Wahrheit über unser Volk ist bedeutend komplizierter. In ihm<br />
steckt auch ein gewaltiges Potential an Gutem. Die Polen sind dafür<br />
bekannt, daß sie in ihrem Handeln schwer voraussehbar sind: fähig zu<br />
Heldentum und großer Opferbereitschaft, seien sie zugleich im Alltag<br />
zerstritten, durchschnittlich und kleinlich. Zumindest die letzte Papstreise<br />
enthüllte ein weiteres Mal ein anderes Bild Polens, eines Landes,<br />
das sich um die Eucharistie vereint, betet und auf die Lehre des Papstes<br />
hört, wie es solidarisch Gutes tun soll. Ähnlich hat die Reaktion auf die<br />
Hochwasserkatastrophe im Juli in unserem Land gezeigt, daß angesichts<br />
menschlichen Unglücks alle Zänkereien und Spaltungen tatsächlich an<br />
Bedeutung verlieren. Millionen Menschen kamen sofort opferwillig den<br />
Hochwassergeschädigten zu Hilfe. Andererseits legte jedoch die Überschwemmung<br />
auch gewaltige organisatorische Defizite und Schwächen<br />
im Bereich der Solidaritätsstrukturen bloß.<br />
Trotzdem ersieht man aus der obigen kurzen Charakteristik, die nur<br />
ausgewählte schwierige Fragen betrifft, wie tief und viele Ebenen umfassend<br />
die heute in Polen auftretenden Trennungslinien sind. Ihre Genese<br />
führt sich sowohl auf strukturelle wie auch mentale Hindernisse zurück.<br />
Johannes Paul II. benutzte eine andere treffende Metapher. Er sagte, daß<br />
man nach der Zerstörung der äußeren, sichtbaren Mauer die Mauer<br />
niederreißen müsse, „die durch die menschlichen Herzen verläuft“ und<br />
die „errichtet ist aus Angst und Aggression, aus mangelndem Verständnis<br />
8) Vgl. H. Juros, A. Dylus, Einige Gründe für die Stagnation des gesellschaftlich-politischen<br />
Umbaus und der wirtschaftlichen Reformen in Polen, in: H. Timmermann (Red.), Die Kontinentwerdung<br />
Europas, Festschrift für Helmut Wagner zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 299.<br />
97
für Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe, anderer religiöser Überzeugungen,<br />
aus politischem und wirtschaftlichem Egoismus sowie aus<br />
geschwächter Sensibilität für den Wert des menschlichen Lebens und die<br />
Würde jedes Menschen.“ 9<br />
Wird die Kirche in Polen diesen Herausforderungen gerecht werden<br />
können? Ist sie fähig, diese Mauer niederzureißen und Brücken zu bauen,<br />
oder trägt sie selber zur Entstehung weiterer Trennungen bei? Ist sie<br />
dialogfähig oder dialogverschlossen? Wie ist ihre Verfassung?<br />
2. Das einigende Potential der Kirche Polens<br />
Die Frage nach der Verfassung der Kirche in Polen ist ebenso schwierig<br />
wie die Frage nach der Verfassung der polnischen Gesellschaft. Das Spezifische<br />
dieser „Volkskirche“ wird durch allen Glanz und Schatten des sie<br />
bildenden Volkes mitbestimmt. Einerseits ist das eine durch den Glauben<br />
ihrer Mitglieder starke Kirche, bereit zum Dienen, eine Kirche, die Versöhnung<br />
bringt und die Menschen um gemeinsame Ziele eint. Sie ist eine<br />
Kirche mit starken Organisationsstrukturen, die sich in Zeiten der<br />
Prüfung und in bedrohlichen Situationen bewährt. Andererseits hat sich<br />
diese Kirche noch nicht restlos auf die radikal veränderten Bedingungen<br />
eingestellt, unter denen sie nach 1989 wirken muß. So wie die ganze<br />
Gesellschaft hat auch sie Schwierigkeiten, ihren eigentlichen Standort in<br />
der III. Republik zu finden und ihre Aufgaben neu zu definieren.<br />
Im Verlauf dieses schwierigen Prozesses traten in ihr selbst neue Risse<br />
auf. Im vergangenen Jahr initiierte die Redaktion der katholischen<br />
Monatszeitschrift „Wie˛z´“ eine Gewissenserforschung über „Fehler und<br />
Versäumnisse der Kirche, Fehler und Versäumnisse von uns selbst“. Aus<br />
dieser Reflexion polnischer Katholiken ergibt sich das Bild einer geteilten<br />
und innerlich zerstrittenen Kirche. Polens Katholiken haben in den<br />
letzten Jahren eine weitgehende Differenzierung erfahren. Natürlich ist<br />
das wieder nur eine Seite der Medaille. Schließlich sind Gegenstand jeder<br />
9) Johannes Paul II., Predigt zum tausendsten Todestag des heiligen Wojciech/Adalbert, Gniezno/<br />
Gnesen, 3.6. <strong>1997</strong>, in: Jan Pawel II. w Polsce. 31 maja – 10 czerwca. Przemówienia, homilie (Johannes<br />
Paul II. in Polen. 31. Mai – 10. Juni. Ansprachen, Predigten), Krakau <strong>1997</strong>,<br />
S. 78. Alle weiteren Zitate des Papstes stammen aus diesem Sammelband.<br />
98
Gewissenserforschung hauptsächlich Sünden und Fehler, nicht aber<br />
Erfolge. Trotzdem muß man mit dem Generalsekretär der Polnischen<br />
Bischofskonferenz, Tadeusz Pieronek, übereinstimmen, daß das „Hauptproblem<br />
der Kirche in Polen die Kirche selber ist“.<br />
In welchem Sinne ist die Kirche in Polen ein Problem für sie selbst?<br />
Welche Haltungen ihrer Gläubigen schwächen das ihr eignende gemeinschaftsbildende<br />
Potential und erschweren es, die Aufgabe des Brückenbaus<br />
wahrzunehmen? Welche neuen Mauern sind in ihrem Bereich entstanden?<br />
In der ersten Demokratisierungsphase tauchten – oft aus Verlegenheit<br />
– manchmal sogar antiquierte Modelle des Verhältnisses zwischen Kirche<br />
und Gesellschaft bzw. Staat auf. Vertreter der Kirchenleitung haben<br />
sich oft traditionalistisch verhalten, fühlten sich als einzige gesellschaftliche<br />
Autorität der Nation und haben dabei den Pluralismus, auch innerhalb<br />
der katholischen Kirche, übersehen. Ein Aufruf, „die Reihen zu schließen“,<br />
kann heute nicht die richtige Strategie sein.<br />
Bei den Auseinandersetzungen in der Umbruchszeit verhielt sich die<br />
Kirche nicht immer geschickt und trat gegenüber Andersdenkenden teilweise<br />
aggressiv auf. Das ist zwar psychologisch verständlich, wurde sie<br />
doch oft selbst heftig und ungerecht angegriffen. Schlimm jedoch, wenn<br />
darauf in derselben Art und Weise reagiert wurde. Im polnischen Katholizismus<br />
gibt es leider Strömungen und Gruppierungen, die überall<br />
Feinde wittern, die angeblich die Kirche vernichten wollen. Es sind<br />
Stimmen zu hören, die von einer Gefährdung christlicher und nationaler<br />
Werte sprechen. Extreme Elemente stellen die Situation der Kirche als<br />
die einer belagerten Festung dar. Die Strategie dieser Gruppierungen ist<br />
daher apologetischer Natur. Für einige christliche Kreise wird die<br />
vermeintlich säkulare Welt mit ihrer scheinbar sinkenden Religiosität zu<br />
einem Gegenüber, das nicht anerkannt, sondern bekämpft und zurückerobert<br />
werden muß. 10<br />
10) Ein extremes, ja sogar etwas komisches Beispiel für eine solche Haltung ist es, daß auf dem XII.<br />
Internationalen Festival Katholischer Filme „Niepokalanów ‘97“ dem Film „Evolution, Wirklichkeit<br />
oder Mutmaßung?“ der I. Preis zuerkannt wurde. Dieser Film, der von manchen katholischen<br />
Gruppen, u.a. von „Radio Maryja“, umfassend propagiert wurde, enthält eine… Kritik der<br />
Evolutionstheorie. Man muß jedoch zugeben, daß die Entscheidung der Jury auf die sofortige<br />
kritische Reaktion anderer polnischer katholischer Gruppen und Zentren stieß. Dazu äußerte sich<br />
u.a. Erzbischof Józef Z · yciński.<br />
99
Der schon zitierte Bischof Tadeusz Pieronek bezeichnet eine solche<br />
radikalisierte Haltung, bei der man sich dem Dialog mit kritisch eingestellten<br />
Menschen verschließt, als „falschen Radikalismus“, der mit<br />
dem Evangelium nichts zu tun hat. Nach seiner Meinung bilden sich<br />
gewisse geschlossene Gruppen in Polens Kirche. Sie sind nicht bereit<br />
zum Dialog, sie verharren auf ihrem Standpunkt. Manche Geistliche wie<br />
auch einige katholische Laien wollen keine anderen anhören, nehmen<br />
keine Argumente an. Sie rücken Andersdenkende an den Rand und werfen<br />
ihnen allzuschnell Kirchenuntreue vor. In großem Maße ist das eine<br />
Folge der politischen Lage, die sich auf die innerkirchlichen Beziehungen<br />
übertragen hat. 11<br />
Es schien öfter, als wolle die Kirche direkt auf die Politik Einfluß<br />
nehmen. Zu diesem Eindruck trugen u.a. Vertreter national-christlicher<br />
Parteien bei, die die kirchliche Autorität für ihre politischen Interessen zu<br />
nutzen suchten. Noch vor kurzem stand die Kirche in Polen verzweifelt<br />
vor einem akuten Dilemma: politische Einheit der Katholiken oder<br />
Einheit der Katholiken in der Politik? Alle Versuche, in Richtung der<br />
ersten Alternative zu handeln, erwiesen sich, obwohl sie ab und zu kurzfristige<br />
Erfolge brachten, letzten Endes als schädlich. Sie provozierten<br />
die kirchenfeindlich gesinnten Kreise dazu, von einer Bedrohung durch<br />
den angeblich angestrebten Konfessionsstaat zu sprechen, und stärkten<br />
den Verdacht, die Kirche wolle sich in die Politik einmischen. Sie wurde<br />
dann nicht als Hüterin der moralischen Kraft, der geistigen Substanz und<br />
Einheit des Volkes dargestellt, sondern als Macht und Druck ausübende<br />
Institution.<br />
Doch nach den ersten Fehlentscheidungen ist die Kirche heute politisch<br />
klüger geworden. Großenteils verzichtete sie darauf, manche sog. extensive<br />
Stellvertreterfunktionen wahrzunehmen, wie sie in der Zeit des<br />
Kommunismus unerläßlich waren (z.B. die des Opponenten, des Repräsentanten,<br />
des Mittlers, des Protektors der sich selbstorganisierenden<br />
zivilen Gesellschaft), und sie übernahm andere, z.B. karitative Funktio-<br />
11) Vgl. T. Pieronek, Eine Aussage im Rahmen der Umfrage: „Ble˛dy i zaniedbania Kos´ciola, ble˛dy i<br />
zaniedbania nas samych“ (Fehler und Versäumnissse der Kirche, Fehler und Versäumnisse von<br />
uns selbst), Wie˛z´, 1996, <strong>Nr</strong>. 3, S. 144–147; Bericht darüber: W. Grycz, Eine Gewissenserforschung<br />
polnischer Katholiken: „Was haben wir nach 1989 falsch gemacht?“, Ost-West Informationsdienst<br />
des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen, 1996, <strong>Nr</strong>. 190, S. 58–<br />
60.<br />
100
nen. 12 Sie scheint auch verstanden zu haben, daß die Zeit „nach der<br />
Wende“ – die Zeit ihrer Politisierung – vorbei ist. Den Amtsträgern wurde<br />
inzwischen klar, daß die Autorität der Kirche durch die Verwicklung des<br />
Klerus in die Tagespolitik und in den Wahlkampf leidet und daß sie sich<br />
dadurch von ihrer eigentlichen einheitsstiftenden Aufgabe entfernt.<br />
Langsam haben sich die Dokumente des Konzils, die entschiedenen<br />
Aussagen des Papstes und der Bischöfe über die suprapolitische und<br />
unparteiische Aufgabe der Kirche auch in breiten Schichten der Katholiken<br />
durchgesetzt. Sie scheint in dieser Hinsicht die „Kinderkrankheiten“<br />
hinter sich zu haben. Die politische Realität acht Jahre nach der Wende<br />
bedeutet also für die Kirche in Polen ein definitives Ende ihres praktischen<br />
Denkens in Kategorien der politischen Einheit der Katholiken. Die<br />
polnischen Katholiken sollen in allen gesellschaftlichen Bereichen und<br />
politischen Gruppierungen (mit Ausnahme der extremen Positionen von<br />
Altkommunisten und Nationalisten) mitgestaltend tätig werden. 13 Aus<br />
der Freiheit des christlichen Glaubens erwächst ja doch ein unüberschätzbares<br />
Einigungspotential.<br />
Die Kirche in Polen ist heute im allgemeinen überzeugt, daß die Bereitschaft<br />
zum Dialog das Gebot der Stunde ist. Sie ist sich bewußt, daß sie<br />
die Erkenntnisse der Neuzeit anerkennen muß und sich nicht gegen das<br />
Gedankengut der Aufklärung mit deren Ideen von Autonomie und Emanzipation<br />
sperren darf. Sie kann sich nicht davon lossagen, für die moderne<br />
Entwicklung in Richtung auf eine freiheitliche und pluralistische Gesellschaft<br />
mitverantwortlich zu sein. Sie sollte deren Schrittmacher sein, statt<br />
an Gegenreformation zu denken. 14 Daß sich die Bischöfe völlig auf die<br />
Mündigkeit und Gewissensfreiheit der Gläubigen verlassen haben, be-<br />
12) Vgl. H. B. Lee, Rola i pozycja Kos´ciola rzymskokatolickiego w z · yciu spoleczno-politycznym<br />
Polski lat osiemdziesia˛tych (Die Rolle und Position der römisch-katholischen Kirche im gesellschaftlich-politischen<br />
Leben Polens der achtziger Jahre), Warschau, <strong>1997</strong>, Typoskript; P. Mazurkiewicz,<br />
Kos´ciól w spoleczeństwie otwartym. Spór o obecnos´ć Kos´ciola w spoleczeństwie<br />
polskim w okresie transformacji ustrojowej (Die Kirche in der offenen Gesellschaft. Der Streit<br />
um die Präsenz der Kirche in der polnischen Gesellschaft in der Periode der Systemtransformation),<br />
Warschau, 1996, Typoskript.<br />
13) Vgl. H. Juros, Die politische Einheit der Katholiken oder die Einheit der Katholiken in der Politik<br />
– ein polnisches Dilemma?, Hirschberg <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 2, S. 104–119.<br />
14) Vgl. H. Juros, Ökumenische Ethik der Solidarität. Eine Vision des Handelns für Europa, in: Das<br />
Christentum – Gestaltungsprinzip Europäischer Zukunft? Zum Ende der Abendländischen<br />
Geschichte, 6. Leutherheider Forum,, Krefeld-Aachen 1994, S. 54–61.<br />
101
weist die von ihnen verabschiedete Erklärung „Über die Notwendigkeit<br />
von Dialog und Toleranz unter den Bedingungen des Aufbaus der<br />
Demokratie“ (September 1995).<br />
Vor allem die Laien haben die Aufgabe, bei den Bürgern den Konsens<br />
über das Unaufgebbare zu stärken, das eine tragende Säule der Gesellschaft<br />
und des demokratischen Staates ist. Die Vertreter des Sozialkatholizismus<br />
wollen nicht nur eine kritische Funktion ausüben, sondern mit<br />
politischen Kreisen zusammenarbeiten, insbesondere auf der lokalen<br />
Ebene, auch außerhalb der Regierungsstrukturen, und auf diese Weise<br />
konstruktive Lösungen vorschlagen. Sie politisieren nicht, sondern<br />
„machen Politik möglich“, indem sie politische Ereignisse würdigen, zu<br />
aktuellen politischen Debatten Stellung nehmen und eigene alternative<br />
Projekte vorschlagen. Doch diese konsensfähige Kraft ist im polnischen<br />
Sozialkatholizismus in ihrer Fülle noch nicht erkannt. 15<br />
Die Charakteristik des einigenden Potentials der Kirche Polens wurde<br />
in großem Maße der Beschreibung gewidmet, wie nach 1989 Wege zu<br />
einem angemessenem Platz der Kirche im öffentlichen Bereich gesucht<br />
wurden, insbesondere in bezug auf die Politik. Es scheint, daß gute<br />
Gründe eben für eine solche Akzentsetzung sprechen. Die Wahrung der<br />
richtigen Verhältnisse zwischen Kirche und Politik ist etwas ungewöhnlich<br />
Schwieriges und Delikates. Wenn die Kirche sich hier benimmt wie<br />
der „Elefant im Porzellanladen“ 16 , verliert sie Autorität und Glaubwürdigkeit<br />
und dadurch die Fähigkeit, über die Trennungslinien hinweg<br />
„Brücken zu bauen“. Sie hört auf, eine einigende Kraft und ein Bezugspunkt<br />
für die Gesellschaft zu sein. Ungeschicktes politisches Verhalten<br />
der Kirche wird auch zum Hauptgrund für ihre innere Zerstrittenheit.<br />
Dann wird sie anderen wenig Frieden und Einheit offerieren können. Wie<br />
aus meiner Analyse hervorgeht, versuchte die Kirche in Polen mühsam,<br />
nach der Methode der „Versuche und Fehler“ ihren Platz in der neuen<br />
15) Vgl. H. Juros, A. Dylus, Die Rolle der katholischen Verbände und Bewegungen im polnischen<br />
Transformationsprozeß, in: M. Spieker (Hrsg.), Nach der Wende: Kirche und Gesellschaft in<br />
Polen und in Ostdeutschland. Sozialethische Probleme der Transformationsprozesse, Paderborn-<br />
München-Wien-Zürich 1995, S. 148–153.<br />
16) In den ersten Jahren nach der Wende hat sie sich auch tatsächlich so verhalten. Vgl. Z. Nosowski,<br />
Die polnische Kirche auf der „Farm der Tiere“, in: E. Kobylińska, A. Lawaty (Hrsg.), Religion<br />
und Kirche in der modernen Gesellschaft. Polnische und deutsche Erfahrungen, Wiesbaden 1994,<br />
S. 187–194.<br />
102
sozio-politischen Wirklichkeit zu finden. Ich denke, sie hat trotz vieler<br />
begangener Fehler und erlittener Niederlagen dennoch genug innere<br />
Kraft bewahrt, um einer zerstrittenen Welt ihren göttlichen Frieden anbieten<br />
zu können.<br />
Wie soll sie diese ihre grundsätzliche Aufgabe verwirklichen? Was für<br />
eine Kirche wird die Menschen von heute durch ein einleuchtendes Zeugnis<br />
der Versöhnung und Einheit ansprechen?<br />
3. Der mühsame Brückenbau<br />
Wegen der tiefen, viele Ebenen umfassenden Trennungslinien im Polen<br />
von heute, die die Kirche selbst nicht ausgespart haben, wird deren<br />
Überwindung ein schwieriger, langfristiger Prozeß sein. In einem kurzen<br />
Referat lassen sich nicht alle Initiativen oder Strategien von Handlungen<br />
zusammenfassend besprechen, die auf diesem Gebiet von der „Amtskirche“<br />
wie auch von einzelnen Diözesen, Pfarreien, katholischen Laienorganisationen<br />
oder religiösen Gruppen unternommen wurden. Eine<br />
besondere Art von Programm für den Bau der Einheit war für die Kirche<br />
in Polen die schon erwähnte letzte Pilgerreise des Papstes. Gerade so<br />
wurde sie von zahlreichen Kommentatoren bewertet. Bischof Tadeusz<br />
Pieronek stellte (auf der Konferenz nach deren Ende) ausdrücklich fest:<br />
„Der Hl. Vater kam, um zu einen und aufzurichten, was angesichts der<br />
frischen Trennungslinien nicht nur in Polen besondere Bedeutung hat.“<br />
Realistisch merkte er weiter an: „Es ist jedoch kaum zu erwarten, daß es<br />
zur Versöhnung im Laufe weniger Tage kommt.“ Auch drückte er die<br />
Hoffnung aus, daß nach dem Papstbesuch trotz der politischen Differenzierung<br />
in Polens Kirche zu manchen die Erkenntnis dringt, daß man in<br />
jedem den Menschen sehen muß. 17 In einer anderen Äußerung bemerkte<br />
er, daß Johannes Paul II. die Politiker enttäuscht, daß er keinen unmittelbar<br />
unterstützt habe. „Er erwies sich als wahrer Brückenbauer (Pontifex).“<br />
Das Bewußtsein der Unmenge uns erwartender Aufgaben drückte<br />
er in der rhetorischen Frage aus: „Wieviele dieser Brücken muß man in<br />
17) T. Pieronek, Äußerung auf der Konferenz am 8.6.<strong>1997</strong>. Zitiert nach: Rzeczpospolita, <strong>1997</strong>,<br />
<strong>Nr</strong>. 132.<br />
103
Polen errichten, damit wir eins werden, indem wir uns mit dem Wesentlichen<br />
zu verbinden imstande sind und Vielfalt in zweitrangigen Dingen<br />
zulassen?“ 18 Kennzeichnend ist auch der (in den Worten eines Kirchenliedes<br />
ausgedrückte) Aufruf, der im Kommuniqué der 289. Vollversammlung<br />
der Polnischen Bischofskonferenz vom 11. Juni <strong>1997</strong> enthalten<br />
ist: „Mögen aller Zorn und Streit aufhören, und zwischen uns möge<br />
Christus sein.“<br />
Wegen der Bedeutung dieser Pilgerreise werde ich mich jetzt vor allem<br />
auf ihre „einigenden Motive“ konzentrieren. Um so mehr, als Johannes<br />
Paul II. mit seiner Lehre den Kern der polnischen Probleme traf. Er berührte<br />
alle neuralgischen, schmerzhaften Punkte, die einer Regelung harren.<br />
Die ganze Reise war das nach 1989 erste Gemeinschaftserlebnis der<br />
Freude und des wechselseitigen Wohlwollens, das Menschen aller Stände<br />
und Generationen im Namen positiver Werte verband, nicht aber gegen<br />
etwas oder gegen irgendwen. Die Kirche in Polen erblickte erstaunt ihre<br />
eigene Stärke und Jugend.<br />
Wie bei jeder Reise, so vermittelte auch diesmal der Papst den Gläubigen<br />
das Gefühl der katholischen Einheit in der ganzen Welt. Er half der<br />
manchmal sehr provinziellen Kirche in Polen, sich in der Dimension der<br />
ihr eignenden Universalität zu sehen. Aussagekräftig in dieser Hinsicht<br />
waren selbst kleine Details, z.B. der in einer kleinen Stadt – Ludz´mierz –<br />
in Latein gebetete Rosenkranz. Hunderttausende versammelter Pilger,<br />
hauptsächlich Bauern, sahen, daß auf ihrer Heimaterde die Weltkirche<br />
präsent ist. Gelegenheit, die Universalität der Kirche zu erfahren, war<br />
auch der dem Papstbesuch vorangehende Eucharistische Weltkongreß in<br />
Wroclaw/Breslau.<br />
Eine dort verpaßte Chance, die zwischen den Katholiken selbst bestehenden<br />
Trennungen zu überwinden, bemerkte die deutsche Journalistin<br />
Annette Binninger. Die Einladung zu diesem großen Ereignis<br />
– zur Statio Orbis – der Weltkirche habe nur geringe Resonanz in der<br />
deutschen Öffentlichkeit gefunden. Nach dem Bericht der Journalistin<br />
scheint „Polen… da zu weit entfernt zu sein… durch die starke, eigene<br />
katholische Tradition und Verwurzelung Polens, die von manchem in<br />
18) T. Pieronek, Äußerung für den „Tygodnik Powszechny“: Polska po pielgrzymce (Polen nach der<br />
Pilgerreise), Tygodnik Powszechny, Krakau, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />
104
klischeeverliebter Borniertheit und selbstbestätigender Vorurteilsverklemmung<br />
eilfertig als überkommene Volksfrömmigkeit abgetan<br />
wird“ 19 . Die Meinung der Verfasserin zwingt zur Reflexion. Es ist<br />
schade um diese ungenutzte Chance, in nichtspektakulärer Weise Brükken<br />
zu bauen, fern vom „Versöhnungskitsch“ der professionellen Pseudoökumenisten,<br />
nämlich gestützt auf die tiefe Gemeinschaft mit anderen,<br />
an die Eucharistie glaubenden und sie als Quelle der Freiheit erfahrenden<br />
Christen.<br />
Die große Einigung der Kirche, wie sie von Johannes Paul II. unternommen<br />
wurde, kommt hauptsächlich in der ökumenischen Bewegung<br />
zum Ausdruck. In Wroclaw/Breslau fielen wichtige Worte zur Frage der<br />
Einheit der abendländischen Christenheit, der sich dieser Papst ganz<br />
besonders verschrieben hat: „Vom Weg der Ökumene gibt es keine<br />
Umkehr!“ Hier genügt nicht die bloße Toleranz noch die wechselseitige<br />
Akzeptierung. Christus „erwartet von uns ein deutliches Zeichen der Einheit,<br />
erwartet das gemeinsame Zeugnis“. Dahin führt der schwere Weg<br />
der Versöhnung. Dessen Voraussetzung aber ist die Vergebung, die wiederum<br />
Wandlung und Umkehr erfordert (Wroclaw, 31.5., S.18–20). Die<br />
ganze Papstreise war von zahlreichen ökumenischen Akzenten begleitet:<br />
Begegnungen mit konfessionellen und nationalen Minderheiten, Gebete<br />
und Grüße in verschiedenen Sprachen, die Bestimmung der St.Vinzenz-<br />
Kirche zur byzantinisch-ukrainischen Kathedrale u.a. Nach Tadeusz Pieronek<br />
sei das gemeinsame Gebet mit dem Oberhaupt der griechisch-katholischen<br />
Kirche Polens, Erzbischof Martyniak, vor einer Ikone und das<br />
Treffen mit den Vertretern der ukrainischen Minderheit (Krakau<br />
am 9.6.) eine Geste gewesen, die irgendwann zu den Worten führen<br />
müsse, die zwischen Ukrainern und Polen notwendig seien: „Wir gewähren<br />
Vergebung und bitten um Vergebung.“<br />
Die Eucharistie ist nicht nur in ökumenischer Dimension ein Sakrament<br />
der Einheit. Johannes Paul II. erklärte dieses Sakrament in seiner<br />
Bedeutung für das Leben jedes Christen in dessen Beziehung zum Nächsten<br />
und für die Gesellschaft – was sehr wichtig für den Aufbau der<br />
allseits vermißten Bürgergesellschaft in Polen war. Leitidee der Bürgergesellschaft<br />
muß dabei eine „Ordnung der Freiheit“ sein. Die Tradition<br />
19) A. Binninger, Eucharistie mitten im Leben, Deutsche Tagespost, 14.6.<strong>1997</strong>.<br />
105
des sich aus der Französischen Revolution ableitenden Liberalismus fand<br />
jedoch beim Papst keine Akzeptanz, er knüpfte vielmehr an die Traditionen<br />
der christlichen Aufklärung an, wo die Veranwortung eine natürliche<br />
Konsequenz der Freiheit ist. Schließlich „mißt sich wahre Freiheit am<br />
Grad der Bereitschaft, zu dienen und sich selber hinzuschenken. Nur eine<br />
so begriffene Freiheit ist wahrhaft schöpferisch, baut unser Menschtum<br />
auf, errichtet zwischenmenschliche Bande. Sie baut auf und eint, aber sie<br />
trennt nicht! Wie sehr braucht die Welt, braucht Europa, braucht Polen<br />
diese einende Freiheit!“ Der Papst merkte mit Nachdruck an, daß<br />
Anschuldigungen, die Kirche sei ein Feind der Freiheit, auf einem Mißverständnis<br />
gründen, sie sind ein „besonderer Unsinn“ in einem Land,<br />
„wo die Kirche so viele Male bewiesen hat, wie sehr sie Wächter der<br />
Freiheit ist“ (Wroclaw, 1.6., S. 34).<br />
Im politisch geteilten Land nahm der Papst überhaupt nicht zur aktuellen<br />
Politik Bezug. Er ließ sich nicht in Parteienstreit verwickeln. Er stand<br />
darüber. Er gebrauchte keine Worte, die als Ausdruck oder auch nur<br />
Anspielung für die Unterstützung oder Mißbilligung irgendeiner politischen<br />
Kraft gedeutet werden könnten. Nur einmal, und zwar inoffiziell,<br />
scherzhaft, benutzte er die Parteiterminologie. Als er sich vom Balkon<br />
des bischöflichen Palais in Gnesen (3.6.) an die Jugend wandte, sagte er:<br />
„Linke, Rechte, Zentrum. Der hl. Wojciech wird euch versöhnen.“ Auch<br />
tadelte er nicht, noch kritisierte er. Er stieß niemanden ab. Für alle<br />
– unabhängig von Bekenntnis und Nationalität, von der Erfahrung und<br />
der Situation, in der sie sich befinden – hatte er Worte des Friedens und<br />
der Liebe. So nimmt es nicht wunder, daß die politische Zerstrittenheit<br />
der Polen für die Zeit der päpstlichen Pilgerreise verstummte. Die Trennungen<br />
wurden durch Liebe und Gemeinschaftsgefühl gedämpft. Sogar<br />
die Politiker hüteten sich, den Gast parteilich zu vereinnahmen. Sie gaben<br />
selber zu, daß dies ein Versöhnungsbesuch war. Nur der ehemalige Ministerpräsident,<br />
Józef Oleksy, ein Politiker des postkommunistischen<br />
Lagers, kam zu dem Schluß, daß die sozialen Inhalte der päpstlichen<br />
Lehre den sozialdemokratischen Programmen nahe seien 20 . Wie jedoch<br />
20) Vgl. J. Oleksy, Äußerung für „Rzeczpospolita“: Nie jest niczyja˛ wlasnos´cia˛ (opr. K. Groblewski)<br />
(Er ist niemandes Eigentum) (Bearbeitung K. Groblewski), Rzeczpospolita, Warschau <strong>1997</strong>,<br />
<strong>Nr</strong>. 137.<br />
106
später Kommentatoren zeigten, „läßt sich der Papst in keine Partei einschreiben“<br />
21 , „er sprach über die Köpfe der Politiker, weil er tieferschürfend<br />
sprach“ 22 . So erteilte er der Kirche in Polen eine große Lektion. 23<br />
Dieser Besuch war gewissermaßen eine „Instruktion in politischer Kultur“<br />
24 . Johannes Paul II. überläßt den katholischen Laien die politischen<br />
Fragen (und auch die wirtschaftlichen und kulturellen). An die Bischofskonferenz<br />
gewandt, legte er dar: „Zweifellos muß man ihnen dabei<br />
hel fen, aber man darf ihnen diese Arbeit auch nicht abnehmen“ (Botschaft<br />
an die Bischöfe, Krakau, 8.6., S.176–177).<br />
Diese nur theologische „Politizität“ des Papstes bedeutet nicht, daß<br />
seine Pilgerreise keinen Einfluß auf das öffentliche Leben haben wird.<br />
Wir wurden ja schließlich zur „polnischen Tat“ und zur Reflexion über<br />
die „polnische Wahrheit“ aufgerufen. Wir sollen überlegen, ob wir diese<br />
Tat umsichtig angehen. „Ob sie die Menschen eint oder trennt? Ob sie<br />
nicht mit Haß oder Verachtung jemanden trifft?“ (Krakau 8.6., S. 168).Es<br />
ist also zu erwarten, daß Folge dieses Besuchs eine Vertiefung des politischen<br />
Diskurses, eine Verbesserung des Klimas und der politischen Sitten<br />
sein wird. Der Papst wies ja nachdrücklich darauf hin, daß man nicht verbohrt<br />
sein darf, daß Recht nicht hat, wer sich extrem verhält. Keinesfalls<br />
legte er dar, daß die beste Verteidigung der Werte ein Kreuzzug oder das<br />
Operieren mit dem Schreckgespenst der bolschewistischen Flut sei. 25 Er<br />
trennte die Menschen nicht in Anhänger „xenophobischer Rückständigkeit“<br />
und „jüdisch-freimaurerischer Verschwörung“.<br />
Im Lichte dieses Besuchs scheinen auch die Spaltungen in der polnischen<br />
Kirche etwas Kleinmütiges, geradezu etwas Unanständiges. Deutlich<br />
sichtbar in der Lehre des Papstes war es, wie er den Ärgernis erregenden<br />
inneren Konflikten eine Absage erteilte. Der Papst zeigte den Bischöfen,<br />
wie die Sprache der Kirche in Fragen des öffentlichen Lebens sein<br />
21) E. Wnuk-Lipiński. Äußerung für den „Tygodnik Powszechny“: Polska po pielgrzymce (Polen<br />
nach der Pilgerreise), Tygodnik Powszechny, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />
22) J. A. Kloczowski, Bylo inaczej… (Es war anders…), Tygodnik Powszechny, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />
23) Vgl. C. Gawrys´, Lekcja dla Kos´ciola (Eine Lektion für die Kirche), Rzeczpospolita, <strong>1997</strong>,<br />
<strong>Nr</strong>. 137.<br />
24) J. Czapiński, Äußerung für die Warschauer Zeitung „Rzeczpospolita“: Jak korzystać z wolnos´ci<br />
(opr. M.D. Zdort) (Wie die Freiheit nutzen, Bearbeitung: M.D. Zdort), Rzeczpospolita, <strong>1997</strong>,<br />
<strong>Nr</strong>. 137.<br />
25) Vgl. ebenda.<br />
107
soll. 26 Er gemahnte sie daran, daß sie verantwortlich sind für die innere<br />
Einheit der Kirche, für die Wahrheit der Glaubensvermittlung in Schulen,<br />
Hochschulen und Medien. Für die Bedeutung, die die Präsenz der Kirche<br />
in den Massenmedien hat, spricht die Tatsache, daß „mit ihrer Vermittlung…<br />
die Kirche in den Dialog mit der Welt eintritt“ (Botschaft an die<br />
Bischöfe, Krakau, 8.6., S.175). Manche Bischöfe (T. Pieronek, H. Muszyński)<br />
und Vertreter der organisierten Laien (Landesrat der katholischen<br />
Laien) zogen sofort daraus sehr konkrete Schlüsse. Sie verstanden,<br />
daß man die Fragen der umstrittenen katholischen Rundfunkstation<br />
Radio Maryja regeln muß (es geht hier um manche aufstachelnden<br />
Sendungen dieser katholischen Radiostation).<br />
Das in der Eucharistie verankerte päpstliche Programm der Einigung<br />
umfaßte auch die Spaltungen, die Ergebnis unserer ökonomischen Veränderungen<br />
sind. Der Papst mahnte mit Nachdruck, das Teilen des eucharistischen<br />
Brotes sei ein Aufruf, das tägliche Brot mit denen zu teilen, die<br />
es nicht haben. In dem Bewußtsein, daß die an den Rand Gedrängten am<br />
meisten die Stimme der Kirche brauchen, weil sie ihre Sorgen und<br />
Schmerzen nicht immer selber aussprechen können, trat er für die notleidenden<br />
kinderreichen Familien, für die alleinstehenden Mütter, für die<br />
Verlassenen, für die Alten, für die Kinder in Waisenhäusern, für Kranke<br />
und Obdachlose ein.<br />
Das Drama des infolge der Reorganisation der Unternehmen und der<br />
Landwirtschaft erfolgten Arbeitsplatzverlustes ist in gewissem Sinne<br />
auch eine christliche Herausforderung für jene, die über Produktionsmittel<br />
verfügen und imstande sind, Arbeitsplätze zu schaffen. Er warnte sie<br />
vor verschiedenen Formen der offenen oder getarnten Ausbeutung. Wenn<br />
sie sich in dieser Situation von der Vision schnellen Profits auf Kosten<br />
anderer verführen lassen, wenn sie den Beschäftigten keine Rechte<br />
garantieren, weil sie sie mit dem Gefühl der Vorläufigkeit und mit der<br />
Angst vor Arbeitsverlust unter Druck setzen, wenn sie ihnen das Recht<br />
auf Erholung, auf gerechte Entlohnung, auf Versicherungen und Gesundheitsfürsorge<br />
absprechen, dann wird jede Teilnahme an der Eucharistie<br />
für sie zur Anklage. Verantwortliche, ehrliche und solide Ausführung der<br />
26) Vgl. C. Gawrys´, a.a.O.; J. Moskwa, Triumf i co dalej (Ein Triumph und was weiter), Rzeczpospolita,<br />
<strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 137; Z. Nosowski, Zasluchanie moz · e trwać (Das Zuhören kann andauern), Tygodnik<br />
Powszechny, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />
108
anvertrauten Aufgaben wiederum ist die sich aus Glaube und Liebe ergebende<br />
Pflicht der Arbeitnehmer.<br />
Aus der päpstlichen Lehre resultiert, daß der Brückenbau sich auf<br />
wirtschaftlich-gesellschaftlichem Gebiet nicht nur auf den Appell an das<br />
christliche Gewissen der einzelnen Subjekte – der Konfliktparteien –<br />
gründen kann. Die strukturellen Disproportionen, die eine Konquenz der<br />
dynamischen Wirtschaftsentwicklung sind, erfordern auch gerechte<br />
Gesetze, eine fähige Wirtschaftsführung, eine angemessene Verwaltung<br />
des Gemeinwohls durch die Staatsmacht. Selbstverständlich erfordern<br />
die schmerzhaften Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens auch<br />
karitatives Engagement. Hilfe zu bringen, das ist „unsere gemeinsame<br />
Pflicht, die Pflicht der Liebe“. Der Papst lobte die vielfältigen karitativen<br />
Werke, die – kirchlichen und außerkirchlichen – Initiativen des ehrenamtlichen<br />
Dienstes und ermunterte zu weiteren (Legnica/Liegnitz, 2.6.,<br />
S. 51–56). Es ist gut, daß das Zeugnis der Solidarität dabei über die<br />
Grenzen unseres Landes hinausgeht. Das Gefühl der Dankbarkeit für die<br />
Hilfe, die wir selber vor kurzem erfahren haben, verlangt, daß wir sie jetzt<br />
zu erwidern verstehen (Krosno 10.6., S. 213–213).<br />
Tatsächlich gehört zu den Vorteilen der Solidarität die Tatsache, daß<br />
solidarisches Verhalten auf die Menschen ansteckend wirkt. Der Kreis<br />
der gutgesinnten, hilfsbereiten und unternehmerischen Menschen weitet<br />
sich. In den achtziger Jahren, während des Kriegszustandes und gleich<br />
danach, waren die Polen Adressaten der Auslandshilfe, insbesondere aus<br />
Deutschland. Jetzt organisieren auch sie enorme Hilfsaktionen. Die<br />
verschiedenen Unternehmungen, z.B. der „Caritas Polska“, wie die Aufnahme<br />
von Kindern aus Tschernobyl und aus anderen postsowjetischen<br />
Republiken zur Erholung bei polnischen Familien, die Medikamenten-,<br />
Kohlen- und Lebensmitteltransporte nach Bosnien, Ruanda, Tschetschenien<br />
usw. beweisen, daß die polnischen Katholiken zum christlichen<br />
Abendland gehören und von den Mitchristen gelernt haben, füreinander<br />
da zu sein. Die Zeugnisse und Taten der Solidarität können also als Ausdruck<br />
zwischenmenschlicher Verbundenheit und eine Art des Brückenbaus<br />
verstanden werden. 27<br />
27) Vgl. A. Dylus, Sozialethische Anmerkungen zur wirtschaftlichen Solidarität im europäischen<br />
Kontext, in: Solidarität ist unteilbar. Katholischer Kongreß 12.–15. September 1996 in Hildesheim<br />
(Red.: H. Bolzenius), Bonn <strong>1997</strong>, S. 112–113.<br />
109
Die auf christliche Solidarität gestützte Einheit Europas ist schon seit<br />
langem Gegenstand der Sorge von Johannes Paul II. In der seinen Landsleuten<br />
vermittelten Lehre erinnerte er daran, daß sie auch eine Herausforderung<br />
für die Kirche in Polen bleibt. Die zahlreichen „europäischen<br />
Fäden“ in seinen Predigten – sie konzentrierten sich auf die großen<br />
Gestalten des hl. Wojciech und der in Krakau kanonisierten Königin<br />
Jadwiga, die Völker und Kulturen des Ostens und Westens vereinigten –<br />
tauchten nicht nur aus äußeren Gründen auf, die vom Programm der<br />
Pilgerreise bestimmt waren. Sie mußten jenen hinterwäldlerischen Gruppen<br />
des polnischen Katholizismus zu denken geben, die bisher eine<br />
Öffnung zu Europa fürchten und den Westen ausschließlich mit Säkularisierung<br />
und Relativismus verknüpfen. Johannes Paul II. unterstützte<br />
nämlich nachdrücklich die Idee, Polen mit den europäischen Strukturen<br />
zu vereinen. Mehr noch, er stellt fest, das polnische Volk habe das Recht,<br />
„sich ebenbürtig mit anderen Nationen in den Prozeß der Schaffung eines<br />
neuen Antlitzes von Europa einzubringen“. Er merkte jedoch an, das vereinigte<br />
Europa dürfe sich nicht auf den gemeinsamen Markt beschränken.<br />
Seine Worte in dieser Hinsicht sind beredt: „Es wird keine Einheit Europas<br />
geben, solange es keine Gemeinschaft des Geistes geben wird.“ Die<br />
neueste Geschichte der Völker des ehemaligen Jugoslawiens zeugt davon,<br />
daß allein die Erweiterung politischer und ökonomischer Freiheiten<br />
nicht genügt, um europäische Einheit zu errichten. Um die europäische<br />
Identität zu bewahren, muß man zu den gemeinsamen Wurzeln zurückkehren,<br />
sie auf christliche Werte gründen. Die Mauer, die noch in den<br />
Herzen verblieben ist und „die Europa teilt, fällt nicht ohne Rückkehr<br />
zum Evangelium“. Zur geistigen Einheit des christlichen Europas gehören<br />
aber die zwei großen Traditionen: die des Westens und des Ostens.<br />
Diese „Vielfalt der es (Europa) bildenden Traditionen und Kulturen ist<br />
sein großer Reichtum“. Als Antwort auf die Ängste mancher seiner<br />
Landsleute erklärte der Papst, der offene Gang nach Westen mache es gar<br />
nicht notwendig, die Anhänglichkeit an die von der Kirche verkündeten<br />
und mit der heimischen Kultur verbundenen Werte aufzugeben. Geboten<br />
sei dagegen die „Fähigkeit, die verschiedenen Kulturen harmonisch zu<br />
verbinden“. Man könne auch nicht auf den Bau eines „gemeinsamen<br />
Hauses“ für ganz Europa ohne solidarische soziale Liebe zählen. Die<br />
Anwesenheit der Präsidenten von sieben Staaten in Gnesen zeugt – nach<br />
110
Meinung des Papstes – „von dem Willen zu friedlichem Zusammenleben<br />
und zum Bau eines neuen, durch die Bande der Solidarität vereinten<br />
Europas“ (Gniezno/Gnesen, 3.6., S.75–80). In einer besonderen Ansprache<br />
erinnerte er sie an ihre Verantwortung für die Festigung des Friedens,<br />
der demokratischen Institutionen, für die wirtschaftliche Entwicklung<br />
und die internationale Zusammenarbeit (Ansprache an die Präsidenten,<br />
Gniezno 3.6.,S.85/86).<br />
Zweifellos ist in der päpstlichen Vision eines vereinten Europas auch<br />
Platz für die „polnische Tat“. Johannes Paul II. ist überzeugt, daß seine<br />
Landsleute imstande sind, „einen schöpferischen Beitrag für den gemeinsamen<br />
Schatz der großen europäischen Völkerfamilie zu leisten“ (Krakau-Balice,<br />
10.6., S.216). Nachdrücklich definierte er auch die diesbezüglichen<br />
Möglichkeiten der Kirche. „Die Kirche in Polen kann dem sich<br />
einigenden Europa ihre Anhänglichkeit an den Glauben, ihre von Religiosität<br />
inspirierten Sitten, die pastoralen Bemühungen der Bischöfe und<br />
Priester und gewiß noch viele andere Werte bieten“ (Krakau, 8.6.,<br />
S.178).<br />
Eigentlich war die ganze Botschaft des Papstes an die Polen ein Programm,<br />
um „Brücken zu errichten“. Sie konzentrierte sich auf den Bau<br />
einer Gemeinschaft freier Menschen, auf die Schaffung eines Bandes<br />
zwischen ewigen Werten und den Herausforderungen der Welt von heute,<br />
auf die harmonische Verbindung von Werten der nationalen, europäischen<br />
und allgemein menschlichen Kultur (Motto der ganzen Reise<br />
waren die Worte: „Jesus Christus, einziger Erlöser der Welt, gestern,<br />
heute und in Ewigkeit“) 28 .Auf langfristige Früchte dieses Besuchs muß<br />
man noch warten. Dennoch weiß man schon eines heute mit Gewißheit:<br />
die im Glauben gefestigten Polen haben wieder Glauben zu sich selbst<br />
gefaßt. Indem sie Akzeptanz und Liebe des Menschen erfuhren, der wohl<br />
ihre einzige Autorität geblieben ist, sind sie still in sich gegangen und haben<br />
innerlich neue Mobilität gewonnen. Sie begriffen, daß das ein<br />
weiteres Mal erhaltene Geschenk des Glaubens und der Liebe sie zur Tat<br />
verpflichtet. Die erste Prüfung ihres konsequenten, solidarischen, aufbauenden<br />
Glaubens nach dieser Pilgerreise – in Form der Überschwemmungskatastrophe<br />
– ist wohl positiv bestanden worden. Die Kirche in<br />
28) Vgl. H. Woz´niakowski, Wolnos´ć, która jednoczy (Freiheit, die eint), Tygodnik Powszechny,<br />
<strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />
111
Polen und ihre Gläubigen sind fähig zum Bau von Brücken, auch wenn<br />
diese Bauwerke noch immer von Vollkommenheit weit entfernt sind. Sie<br />
besteht ja aus größeren und kleineren Sündern.<br />
Ich möchte meine Überlegungen mit den Worten des Dichters Franz<br />
Hodjak abschließen. Sein Gedicht trägt den Titel „Die Zugbrücke in Arles<br />
nach van Gogh“.<br />
112<br />
Dort, wohin<br />
die Brücke führt, will ich<br />
nicht hin. Doch ich könnte<br />
mir vorstellen, gäbe es<br />
die Brücke nicht, wollte ich<br />
ans andere Ufer. An diesem<br />
Ufer bin ich fremd. Nun, da es<br />
die Brücke gibt, ist<br />
es egal, so kann ich gleich<br />
an diesem Ufer bleiben<br />
und den Schiffen zusehen, die<br />
weder kommen noch gehn.<br />
Brücken bauen ist also kein Endzweck für sich. Die Kirche baut kein<br />
Zuhause auf der Brücke, sondern ist unterwegs zum Menschen, der ihr<br />
Weg ist. Brücken haben nur eine Mittelfunktion zum Ziel der Solidarität<br />
zwischen den Menschen.
Prof. Dr. Tomásˇ Halík (Prag) referierte<br />
über das Thema „Rückzug auf<br />
Feindbilder oder Mut zur Öffnung?“<br />
Foto: KNA-Bild<br />
Prof. Dr. Franjo Topić (Sarajevo) untersuchte,<br />
ob die Kirchen in Ex-Jugoslawien<br />
sich nur der eigenen Gruppe<br />
verpflichtet fühlen. Foto: KNA-Bild<br />
Prof. Dr. Aniela Dylus (Warschau)<br />
sprach über Probleme von Polens<br />
Kirche. Foto: KNA-Bild<br />
Die Situation im ehemaligen Jugoslawien<br />
behandelte auch der serbischorthodoxe<br />
Erzpriester Slobodan Milunović.<br />
Foto: KNA-Bild<br />
113
Dr. Gerhard Albert, stellv.<br />
<strong>Renovabis</strong>-Geschäftsführer,<br />
moderierte u. a. die Podiumsdiskussion<br />
über Kirche<br />
und Gesellschaft in Rußland.<br />
Foto: Marianne Grycz<br />
V. r.: Prof. Dr. Konrad Feiereis (Erfurt), der<br />
über die Kirche in Ostdeutschland referierte,<br />
im Gespräch mit Wolfgang Grycz.<br />
Foto: Marianne Grycz<br />
114<br />
V.l.: Prof. P. Dr. Robert Hotz SJ (Zürich) und<br />
Dr. Gerd Stricker (Zollikon) während des Rußland-Podiums.<br />
Foto: Marianne Grycz<br />
Der Chefredakteur der „Stim me<br />
der Orthodoxie“, der russischorthodoxe<br />
Erzpriester Vladimir<br />
Ivanov, im Podiumsgespräch.<br />
. Foto: Marianne Grycz
Prof. Dr. Franjo Topić, Sarajevo<br />
Kirchen im ehemaligen Jugoslawien:<br />
Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?<br />
Hier ist die Rede von Ex-Jugoslawien, aber ich werde mich bemühen,<br />
kurz einige Dinge über Bosnien und Herzegowina zu sagen. Weiteres<br />
dann zum Titel dieses <strong>Kongress</strong>es „Herrschen oder dienen?“ und zum<br />
Untertitel meines Vortrags: „Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?“<br />
Man weiß vieles über Bosnien und Herzegowina, weil wahrscheinlich<br />
kein Land in der Geschichte soviel in den Medien behandelt wurde wie<br />
dieses Gebiet. Trotzdem halte ich es für wichtig, an einige Dinge kurz zu<br />
erinnern. Bosnien-Herzegowina war eine der sechs Republiken Ex-<br />
Jugoslawiens. Hierher kamen die Slawen im 7. Jahrhundert. Ein Grenzland<br />
war es seit den römischen Zeiten bis heute. Im Laufe der Geschichte<br />
fanden sich hier viele Religionen, Kulturen und Nationen. Bosnien war<br />
ein Herzogtum und vom 14./15. Jahrhundert auch ein Königreich.<br />
Bosnien wurde zuerst am meisten vom westlichen Christentum geprägt.<br />
Im 11. Jahrhundert tauchten hier die Patarenen oder Bogumilen,<br />
die sogenannten „bosnischen Christen“ auf. Rom organisierte 1203 auch<br />
eine Art Synode über die Rechtgläubigkeit dieser Christen. Dann kamen<br />
hierher die Dominikaner (1233), die Franziskaner (1291), um den Katholiken<br />
zu helfen und um die „bosnischen Christen“ – man würde heute<br />
sagen – zu „rechristianisieren“.<br />
Zu dieser Zeit findet man in Bosnien eine – für jene Zeit – blühende<br />
Kultur: sehr reich geschmückte Manuskripte, Evangelienbücher und, was<br />
noch unbedingt zu nennen ist, die Stećaks – besondere Grabsteine. Diese<br />
sind ungefähr 2 m lang, 1 m hoch und 1 m breit und tragen viele künstlerische<br />
Ornamente. Es gab auch eine eigene „bosnische Schrift“.<br />
1463 kamen die Türken, mit ihnen der Islam und eine neue Kultur. Die<br />
Zahl der Katholiken war gering, so daß es in Bosnien jahrzehntelang nur<br />
drei Klöster gab. Nach dem Rückzug des österreichischen Prinzen Eugen<br />
115
von Savoyen (1697) blieben nur 30.000 Katholiken zurück. Bosnien war<br />
danach die letzte westliche ottomanische Provinz.<br />
Von 1878 bis zum I. Weltkrieg herrschte dort das Habsburger Reich.<br />
Danach entstand das erste Jugoslawien als Königreich und von 1945 bis<br />
1990 das zweite Jugoslawien als kommunistischer Staat. 1<br />
Nach der Volkszählung 1991 hatte Bosnien-Herzegowina 4,6 Millionen<br />
Einwohner, davon waren 42% Moslems, 32% Serben und 17% Kroaten.<br />
Die Fläche Bosniens und der Herzegowina umfaßt ca. 53.000 km 2 .<br />
Die Serben sind Orthodoxe, die Kroaten sind Katholiken.<br />
Im Jahre 1990 fanden in Ex-Jugoslawien demokratische Wahlen statt.<br />
Nach der Lostrennung Sloweniens und Kroatiens von Jugoslawien gab es<br />
am 1. März 1992 ein Referendum für die Unabhängigkeit Bosniens und<br />
der Herzegowina. 64% der Bürger (Moslems und Kroaten) wählten die<br />
Unabhängigkeit. Die Serben aber lehnten das Referendum ab. Schon am<br />
2. März 1992 gab es erste serbische Barrikaden in Sarajevo.<br />
Am 6. April (an diesem Datum endete 1945 der Zweite Weltkrieg für<br />
Sarajevo) begannen die Serben, Sarajevo mit Granaten zu beschießen. Es<br />
ist hier noch zu erwähnen, daß die Jugoslawische Armee im Oktober<br />
1991 den Ort Ravno im Süden der Herzegowina zerstört hatte.<br />
Die Ergebnisse des Krieges sind mehr oder weniger bekannt: ca.<br />
200.000 Tote, über 100.000 Verwundete, über 1,5 Millionen Flüchtlinge<br />
und Vertriebene (davon in Deutschland 350.000). Man schätzt die Kriegsschäden<br />
allein in der Moslemisch-Kroatischen Föderation innerhalb<br />
Bosnien-Herzegowinas auf mehr als 40 Milliarden Dollar.<br />
Heute haben in dieser Föderation ca. 20% der Menschen Arbeit. Der<br />
Durchschnittslohn betrug im Juni <strong>1997</strong> 258 DM. Im Industriebereich<br />
funktionieren ca.15% der Werke (die Lage in der serbischen Entität ist<br />
uns nicht bekannt). Auch die humanitäre Hilfe, die wirklich groß war,<br />
wurde nach dem Ende des Krieges um über 80% vermindert. Jetzt lebt<br />
man in Ruhe, aber die endgültige politische Lösung kommt immer noch<br />
nicht zustande. Deshalb gibt es keine größeren Investitionen von seiten<br />
des Auslands, und man hat keinen richtigen Willen zum Aufbau.<br />
Jetzt komme ich zu manchen anderen Fragen, was hier von mir, glaube<br />
ich, erwartet wird.<br />
1) Vgl.: Bosnien-Herzegowina (verfaßt von einem Autorenteam), Sarajevo, Svjetlost, 1986 2 . In<br />
dieser Monographie findet man nützliche Informationen über Geschichte und Kunst von Bosnien-Herzegowina.<br />
116
Nation<br />
Ich werde hier, natürlicherweise, zum Thema Nation kein theoretisches<br />
Elaborat vorlegen, jedoch sollte man dazu etwas sagen. Die Nation ist<br />
eine der Dimensionen des menschlichen Daseins. Dies ist sehr wichtig<br />
für das Verständnis des Krieges, es ist wichtig dafür, eine gute Lösung zu<br />
finden. Man sollte diese Dimension nicht unterschätzen. Ich nehme hier<br />
Nation als Synonym für Volk, für eine ethnische Gruppe. Das unterscheidet<br />
sich von der Staatsangehörigkeit. Es ist für Bosnien-Herzegowina<br />
wichtig, daß zwischen Nation und Staat unterschieden wird.<br />
In der europäischen Geschichte spielt die nationale Frage eine wichtige<br />
Rolle. Sie war sehr wichtig auch in Ex-Jugoslawien.<br />
Im Kommunismus tat man so – und es wurde immer wiederholt –, als<br />
ob diese Frage nicht wichtig sei. Leider haben wir das Gegenteil in sehr<br />
grausamer Weise erfahren. Man sollte aber nicht vergessen, daß der<br />
Mensch zu gleicher Zeit Person und soziales Wesen ist.<br />
Aber wenn jemand die Bedeutung der Nation übertreibt, wenn er<br />
versucht, die Nation zu mythologisieren und zu vergötzen, dann entwickelt<br />
sich dies zum Nationalismus und Chauvinismus, demzufolge die<br />
eigene Nation das Heiligste, Größte und Beste sei. Den anderen Nationen<br />
aber werden verschiedene Rechte – bis hin zum Recht auf Existenz – verweigert.<br />
Und hier ist es dann nur ein kleiner Schritt zum Konflikt und<br />
zum Krieg.<br />
Der Heilige Vater wiederholte mehrmals, daß der fanatische Nationalismus<br />
Hauptgrund des Krieges ist. 2 Es ist in Kroatien und in Bosnien-<br />
Herzegowina durch diesen fanatischen Nationalismus zu einem verbrecherischen<br />
Begriff und zu einer Praxis gekommen, die als „ethnische<br />
Säuberung“ bezeichnet wird. Das ist sicher einer der grausamsten Aspekte<br />
dieses Krieges.<br />
Einige gingen so weit, daß sie jedes Verbrechen im Namen der Nation<br />
als berechtigt ansahen. Für mich was dies von Anfang an verbrecherisch,<br />
2) Für den für den 8.9.1994 vorgesehenen und dann verschobenen Besuch in Sarajevo vorbereitete<br />
und in Castel Gandolfo am 8.9. 1994 gehaltene Predigt, in: V. Blazˇević, Papst Johannes Paul II.,<br />
aufrichtiger Freund Bosniens – öffentliche Äußerungen des Heiligen Vaters und der führenden<br />
Persönlichkeiten des Heiligen Stuhls für die Herstellung des Friedens in Bosnien und Herzegowina<br />
und die Erhaltung von Bosnien-Herzegowina 1991–1996, Sarajevo <strong>1997</strong>, 167.<br />
117
und meine Meinung ist in dieser Hinsicht völlig klar. Denn solches Verhalten<br />
richtet sich gegen die Natur und gegen Gott. Gegen die Natur, weil<br />
alle über fünf Milliarden Menschen schon körperlich und erst recht<br />
geistig unterschiedlich sind. Gegen Gott, weil Gott nicht nur Schöpfer<br />
aller Menschen ist, sondern diese Unterschiedlichkeit mindestens zugelassen<br />
(wenn nicht gewollt) hat.<br />
Kirche<br />
Hier ist für uns zuerst „die dienende Kirche“ interessant, wie schon der<br />
allgemeine Titel dieses <strong>Kongress</strong>es suggeriert. 3<br />
Wie in jeder menschlichen Organisation, so soll auch in der Kirche eine<br />
Art des „Herrschens“ existieren, eine Art der Ordnung und Verwaltung.<br />
Die differentia specifica der kirchlichen Verwaltung besteht darin, daß<br />
das „Herrschen“ Dienen sein soll. Jesus war sich zweifellos und ausdrücklich<br />
klar: „Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken und<br />
die Mächtigen ihre Macht über die Menschen mißbrauchen. Bei euch soll<br />
es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener<br />
sein“ (Mt 20,25–26).<br />
H.U. von Balthasar sagte bildlich, daß der umgekehrt gekreuzigte<br />
Petrus die Macht in der Kirche symbolisiert. 4<br />
Jesus belehrte seine Jünger dahingehend, er zeigte diese Doktrin an der<br />
Gestalt des barmherzigen Samariters und im Gespräch mit der samaritischen<br />
Frau. Er deutete schon da an, daß es Zweifel geben könne, ob man<br />
nur den eigenen Leuten helfen solle oder auch den anderen! Zu Leviten<br />
und Priestern sagte er, es sei möglich, daß auch den „Hauptamtlichen“<br />
und „Professionellen“ in der Religion manchmal vieles nicht klar ist. Die<br />
Botschaft lautet, daß niemand ein Monopol auf Wissen und Güte hat.<br />
Auch in diesem Krieg war dieses Dilemma selbst für einige „Professionelle“<br />
nicht klar.<br />
3) G. Ruggieri, Kirche und Welt, in: Traktat Kirche (W. Kern, H.J. Pottmeyer, M. Seckler, Herausgeber),<br />
Herder, Freiburg-Basel-Wien 1986, 260–279.<br />
4) Il complesso antiromano, Brescia 1974, S. 226.<br />
118
Caritas<br />
Die Vision des Evangeliums ist verständlich: mit der Szene des Weltgerichts<br />
oder, anders gesagt, mit dem Ende der Geschichte (Mt 25,31–46).<br />
Jesus sagte: Ich war hungrig, durstig, nackt, obdachlos, krank usw.<br />
Hier ist noch etwas außerordentlich wichtig: für die Christen ist Caritas<br />
kein Luxus, keine Nebensache, nicht eine der verschiedenen Aktivitäten.<br />
Nach diesem Abschnitt im Evangelium stellt Caritas den Grund und das<br />
letzte Kriterium unseres Lebens dar. Und was ist Caritas anderes als praktische<br />
Liebe, als Liebe und Glaube in Praxis.<br />
Noch zwei Momente möchte ich bei der Weltgerichtsszene unterstreichen:<br />
Caritas ist die Pflicht jedes Jüngers Jesu, und Caritas umfaßt alle<br />
Menschen, nicht nur die Christen. Auch hier ist die christliche Lehre klar:<br />
Wir sollen nicht nur, sondern wir dürfen nicht nur der eigenen Kirche,<br />
Gruppe, Gemeinde oder Familie dienen. 5<br />
Christliche Liebe, wie die Liebe Jesu, kennt keine Grenze, und nur sie<br />
ist echt und glaubwürdig.<br />
Im umfassenderen Sinne des Wortes ist Caritas die Folge starken Glaubens,<br />
ein Bestandteil von ihm, der zweite Teil des Diptychons. Das von Christus<br />
inspirierte Wort lehrt klar: Der Glaube ohne Werke ist tot (Jak 2,26).<br />
Und dieses Wort sollte beachtet werden. Jakobus vergleicht auf erstaunliche<br />
Weise: „Wie der Körper ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube tot ohne<br />
Werke.“ Das kann man auch mit den Worten Jesu verstärken: „Nicht jeder,<br />
der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur,<br />
wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt“ (Mt 7,21).<br />
Versöhnung<br />
Hier möchte ich zunächst eine unpopuläre, trotzdem aber, denke ich, nicht<br />
weniger realistische Bemerkung machen. Manche, die auch über uns entscheiden,<br />
benehmen sich so, als ob in Bosnien-Herzegowina und Kroatien<br />
nichts geschehen wäre. Sie wollen sagen: Egal, was passiert ist, jetzt soll<br />
man zusammen, im Frieden, „brüderlich und einheitlich“ miteinander<br />
5) Was unser Verhalten im Krieg konkret betrifft, so kann ich sagen: Unsere Caritas stand immer<br />
auch den Nicht-Katholiken offen. Persönlich kann ich für den „Kulturverein Napredak“ (dessen<br />
Vorsitzender ich bin) bezeugen: Wir haben an die Nicht-Katholiken viel verteilt. Zum Beispiel<br />
wurden im Jahre 1994 die Pakete folgendermaßen verteilt: 56% an Moslems, 26% an Katholiken<br />
und 18% an Orthodoxe.<br />
119
leben (das war schon die kommunistische Parole). Das ist ziemlich naiv<br />
und meiner Meinung nach unnatürlich. Da, wo Blut ver gossen wurde, wo<br />
die Menschen Kinder und Eltern verloren haben, darf man nicht naiv sein,<br />
sonst riskiert man es, das Ziel zu verfehlen und falsche Fundamente für<br />
die Zukunft zu legen! Längere Zeit hindurch war im übrigen der richtige<br />
Unterschied zwischen Krieg und Bürgerkrieg nicht klar genug. Aber noch<br />
weniger haben diejenigen Recht, die jetzt sagen und leider auch so handeln,<br />
als ob die Versöhnung gar nicht möglich wäre. Ich glaube zutiefst,<br />
daß die Versöhnung möglich ist. Warum und wie?<br />
In erster Linie sind Versöhnung und Vergebung für einen Gläubigen<br />
eine der wichtigsten religiösen Kategorien. Wir Christen beten in jedem<br />
„Vaterunser“: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren<br />
Schuldigern.“ Das sagt uns ganz klar: wir dürfen von Gott nur Vergebung<br />
erbitten, ersuchen und erwarten, wenn wir bereit sind, den Mitmenschen<br />
zu vergeben. Jesus belehrt uns weiter in dieser Materie: Wenn du vor den<br />
Altar kommst und dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe<br />
liegen, geh zu deinem Bruder und versöhne dich mit ihm, dann komm<br />
und opfere deine Gabe (vgl. Mt 5,23).<br />
Jesus sprach auch von dem Maß der Vergebung: siebenundsiebzigmal<br />
sollen wir vergeben, das bedeutet unendlich, immer. Es ist sicher nicht<br />
leicht, zu vergeben. In der menschlichen Natur findet sich leider mehr<br />
Rache als Vergebung. Rache ist der erste Instinkt, die erste Reaktion auf<br />
eine Beleidigung, der erste Gedanke nach erlittener Ungerechtigkeit,<br />
nach Haß und Streit. Aber der Mensch ist aufgerufen, seine Natur zu<br />
verbessern, zu perfektionieren, sich jeden Tag zu überwinden. 6<br />
Das Böse tut sich sehr leicht, für das Gute dagegen muß man sich sehr<br />
anstrengen. Auch hier gilt die Regel: Im Schweiße deines Angesichtes<br />
sollst du dein Brot essen. Unser aus Bosnien stammender Schriftsteller<br />
und Nobelpreisträger Ivo Andrić warnt uns: Ohne Vergebung ist das<br />
Leben nicht möglich. Habt Verständnis für alle Menschen. Wir brauchen<br />
alle Menschen. 7 Für den Haß, wie für das Böse überhaupt, braucht man<br />
keinen Grund, denn „Grund“ ist eine Kategorie der Vernunft, während<br />
Haß und Rache irrationale Kategorien sind.<br />
6) Ein sehr nützlicher „Führer“ für die Vergebung ist: J. Monbourquette, Comment pardonnere?<br />
Pardonner pour guerir. Guerir pour pardonner, Ottawa-Paris 1992.<br />
7) Ivo Andrić, Ex Ponto, Sarajevo 1976, S.35.<br />
120
Für den Haß genügt jeder Anlaß. Das tägliche Leben und die ganze<br />
Geschichte sind voll von verschiedensten Anlässen. Die Menschen sind<br />
sich nicht genügend dessen bewußt, daß man einen Krieg leicht herbeiführen<br />
kann, die Folgen aber jahrelanger Heilung bedürfen. Auch hier ist<br />
die Geschichte eine gute Lehrerin. Es genügt, sich nur an den Zweiten<br />
Weltkrieg zu erinnern. Noch heute sind viele seiner Wunden nicht verheilt,<br />
viele seiner Folgen nicht überwunden.<br />
Deshalb war das Thema der 2. Ökumenischen Versammlung in Graz<br />
(23. – 29. 6.<strong>1997</strong>) gut gewählt: Die Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle<br />
neuen Lebens. Die Christen aller Denominationen brauchen Versöhnung.<br />
Wie viele Wunden in der älteren, aber auch in der jüngeren Geschichte haben<br />
die Christen einander zugefügt? In dem Schlußdokument von Graz bekennt<br />
man: „Wir Christen waren wiederholt unwürdige Verkünder innerer<br />
Ver söhnung. Unser Leben und unsere Taten sind oft unversöhnt und nicht<br />
auf Gottes Gnade gegründet, die uns in Jesus Christus offenbart wurde.“ 8<br />
Alle Christen, erinnert das Grunddokument, sind aufgerufen, den<br />
Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, welcher ewige Schuld und Bestrafung,<br />
Zorn und Rache nach sich zieht. Wir müssen uns von den Ketten der<br />
Schuld und der zerbrochenen Beziehungen befreien und Gottes Frieden<br />
suchen. 9 Die Voraussetzung der menschlichen Versöhnung ist Versöhnung<br />
mit Gott, wie Paulus empfiehlt: „Laßt euch mit Gott versöhnen“<br />
(2 Kor 5,20).<br />
Gläubig und auch menschlich gesehen (gratia supponit naturam), muß<br />
man feststellen, daß es unmöglich ist, das große Werk der Versöhnung<br />
ohne den Heiligen Geist gut und gründlich zu verwirklichen. Immer und<br />
selbstverständlich – besonders nach einer solchen Katastrophe, wie es der<br />
Krieg ist – sind wir zur Metanoia, d.h. zur Umkehr und totalen Veränderung,<br />
zu einer neuen Schöpfung (2 Kor 5,17) aufgerufen, zu einem neuen<br />
Herzen statt des bisherigen steinernen Herzens.<br />
Hier herrscht doch das Prinzip des „sowohl als auch“. Es geht um Gott<br />
und Mensch! Um umzukehren, braucht man Gottes und des Heiligen<br />
Geistes Gnade, aber man bedarf auch des menschlichen Einsatzes. Wir<br />
alle sind verantwortlich, aber nicht alle in gleichem Maße.<br />
8) Das christliche Zeugnis für die Versöhnung. Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen<br />
Lebens, <strong>Nr</strong>. 8.<br />
9) Ebenda.<br />
121
Normalerweise wirkt Gott keine Wunder, nur in außerordentlichen<br />
Fällen. Er braucht unsere Hände, unsere Fähigkeit. Das ist ein Gesetz<br />
seines Handelns. Manchmal ist es nur schwer zu verstehen, auf was für<br />
Abenteuer Gott sich eingelassen hat, das aber ist Sein Wille. Und wir<br />
können Gott nicht auffordern, sich vor uns zu rechtfertigen, uns Rechenschaft<br />
zu geben. „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure<br />
Wege sind nicht meine Wege“, erinnert uns Gott (vgl. Jes 55,8). Unser<br />
Teil ist es, mehr oder weniger gut unsere Pflichten zu erfüllen, unsere<br />
Mission zu verwirklichen.<br />
Und das sollte für uns wichtig sein. Erst wenn wir alles getan haben,<br />
erst dann können wir sagen: wir sind unnütze Diener. Aber nicht früher –<br />
und nicht, bevor wir alles Menschenmögliche getan haben. Auch bei den<br />
großen Schritten der Versöhnung müssen wir alles in unseren Kräften<br />
Stehende tun: Der Erfolg liegt letztlich doch bei Gott, hängt von Ihm ab.<br />
Man vergißt das öfter, daß der Begriff des irdischen Erfolges und der des<br />
himmlischen sich unterscheiden. Rein menschlich gesehen, wurde Jesus<br />
– selber Mensch und Gott – durch seinen Mißerfolg herabgewürdigt.<br />
Seine Kreuzigung war zu jener Zeit der schlimmste, schimpflichste Tod.<br />
Es wäre andererseits falsch und praktisch eine Häresie, wollte man<br />
sagen und so tun, als ob gar nichts möglich wäre. Das wäre purer Passivismus.<br />
Manchmal wird das nur als Ausrede benutzt.<br />
Das christliche – oder hier präziser gesagt: das katholische – Prinzip<br />
besagt: Aktion und Kontemplation gehen zusammen. Für mich als Theologen<br />
und als Arbeiter war der hl. Benedikt immer das Ideal: ora et<br />
labora. Die Maria und die Martha des Evangeliums sind Patroninnen<br />
dieses Binomions. Nur wer gut betet, kann gut arbeiten, und nur aktives,<br />
„praktisches Gebet“ ist wirklich christlich. 10<br />
Neue Menschen erziehen<br />
Vor dem Schluß möchte ich besonders die Bedeutung der Erziehung<br />
„neuer Menschen“ betonen.<br />
Man hebt nur sehr selten hervor, daß viele Werte durch den Krieg<br />
zerstört worden sind. Viele Menschen, die sehr gut, sehr tolerant waren,<br />
10) Der hl. Vinzenz von Paul sagte, daß man ein Gebet unterbrechen darf, wenn man jemandem<br />
Hilfe oder ein Medikament bringen muß. Vgl. seinen Brief, den man an seinem Gedenktag, dem<br />
27. September, im Stundengebet liest.<br />
122
sind nicht mehr dieselben. Ich habe so viele konkrete Beispiele erlebt.<br />
Nach dem Krieg ist fast nichts mehr wie vor dem Krieg, auch die Menschen<br />
nicht. Ich halte die Erziehung der jungen Menschen und die Umerziehung<br />
der jetzigen für sehr wichtig (dieser Terminus hatte in der kommunistischen<br />
Zeit sehr böse Konnotationen).<br />
Ich bin davon überzeugt, daß dies im jetzigen Augenblick unsere<br />
Grund aufgabe ist. Alles, oder fast alles, hängt vom Menschen ab: Krieg<br />
und Frieden, Haß und Liebe, Haus und Betrieb, Staat und Kirche. Der<br />
liebe Gott wirkt normalerweise, wie wir schon gesagt haben, keine Wunder,<br />
nur unter außerordentlichen Umständen. Er wirkt normalerweise nur<br />
durch den Menschen. Und das Christentum bestätigt die Meinung von<br />
Thomas Carlyle, daß die Geschichte von großen Persönlichkeiten<br />
geschaffen wird. Beweisen das nicht der hl. Paulus, der hl. Benedikt, der<br />
hl. Ignatius von Loyola, die hl. Kleine Theresia, Mutter Teresa oder<br />
Augustus, Karl der Große und Adenauer?<br />
Es ist deshalb außerordentlich wichtig, vor allem den vom Krieg<br />
verwirrten und geschädigten Menschen Wissen und Güte zu vermitteln.<br />
Man braucht nicht intelligente Menschen, die aber korrupt sind, auch<br />
nicht gute, die dumm sind, sondern gut ausgebildete und dazu gut erzogene<br />
Menschen.<br />
Wissen allein genügt nicht (klug ist auch Satan). Wissen kann aufblähen,<br />
wie der hl. Paulus warnt. Viele von den Kriegsverbrechern sind sehr<br />
intelligent! Es ist jetzt eine große Aufgabe für unsere Kirche und für alle<br />
anderen Gruppen und Personen, sich an den Versuch der Erziehung einer<br />
neuen Generation zu machen. Meiner Meinung nach ist dies das größte<br />
strategische Projekt. Wenn ich davon rede, bin ich mir bewußt, wie kompliziert<br />
dieses Projekt ist.<br />
Einen anderen Weg gibt es jedoch nicht. „Der Weg der Kirche ist der<br />
Mensch.“ Dieser Satz hat eine menschliche und religiöse Dimension.<br />
Man muß auch die neuen Politiker erziehen. Es ist sehr schwer vorstellbar,<br />
daß jene Leute die Versöhnung und den Aufbau verwirklichen könnten,<br />
die selber den Krieg geführt haben. 11<br />
11) Deshalb hält es der „Kulturverein Napredak“ für seine ureigene Priorität, Stipendien für Studenten<br />
zu beschaffen. Im Jahre 1996/97 hat die Napredak-Zentrale aus Sarajevo 159 Studenten<br />
geholfen, und die Napredak-Niederlassungen haben über 100 Studenten unterstützt.<br />
123
Erzpriester Slobodan M. Milunović, München<br />
Kirchen im ehemaligen Jugoslawien:<br />
Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?<br />
Die schrecklichen Ereignisse der kriegerischen Auseinandersetzungen<br />
im ehemaligen Jugoslawien, insbesondere in Bosnien und Herzego-<br />
wina, haben dem hier gestellten Thema neue unaufschiebbare Imperative<br />
gestellt.<br />
Hat der Westen seit Augustin zwischen geistlicher und weltlicher<br />
Macht zu unterscheiden gelernt? Ist dem Osten das Idealbild der „Symphonia“<br />
zwischen Thron und Altar als absolut prägend geblieben?<br />
Kann man einen solch grausamen und schmutzigen Krieg im Namen<br />
der Religion und mit Glaubensüberzeugung führen, oder stecken dahinter<br />
die bekannten Kriegstreiber: die Kriegsprofiteure aus den Reihen der<br />
Atheisten, Nationalisten und Machtbesessenen? Hätten die heutigen<br />
Religionen auf dem Balkan mehr tun können, um den Krieg zu verhindern?<br />
Was können sie jetzt tun, um Frieden zu schaffen und Aussöhnung<br />
unter den Gruppen herbeizuführen? Sind vor allem die Kirchen und ihre<br />
Gläubigen bereit, über den Dienst an der eigenen Kirche und Nation hinaus,<br />
auch zur Versöhnung, zum Interessenausgleich und zum Kompromiß<br />
mit anderen Gruppen beizutragen? Wo sind Ansätze dafür zu finden und<br />
welche Versuche und Aktivitäten im sozialen und humanitären, insbesondere<br />
im ökumenischen und gesellschaftlichen Bereich, sind vorhanden?<br />
Inwieweit erliegen die jeweiligen kirchlichen und nationalen Kreise der<br />
Versuchung, auf Macht statt auf Dienen zu setzen? Findet eine Manipulierung<br />
durch politische Kräfte statt, und was kann getan werden, um diesem<br />
Streben entgegenzuwirken? Sind in den kirchlichen Kreisen Kräfte vorhanden,<br />
die sich dem Dienst an der Versöhnung widersetzen? Was<br />
unternehmen die Kirchen und ihre einzelnen Mitglieder zur Besserung der<br />
Situation? Fragen über Fragen, die sich dieser Kongreß zur Situation der<br />
Kirchen im ehemaligen Jugoslawien zur Aufgabe gemacht hat.<br />
124
Im Sommer 1994 richtete die Serbisch-Orthodoxe Kirche einen „Aufruf<br />
an die serbische Nation und die Weltöffentlichkeit“. Der Inhalt ist<br />
vielfach in der hiesigen Öffentlichkeit präsentiert worden. Darauf ging<br />
ein Schrei der Entrüstung durch die deutschen und europäischen Medien.<br />
Der Aufruf wurde als nationalistisch gewertet, gar als kriegstreibend<br />
bezeichnet. Einen besonderen Beitrag dazu brachte in seinem Habilitationsvortrag<br />
Heinz Ohme, gehalten am 23. 06.1995 vor der Theologischen<br />
Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (veröffentlicht<br />
in „Kerygma und Dogma“, Heft 2, April/Juni 1996).<br />
Es war sicherlich, unter anderem, ein guter Grund, das „besondere“<br />
Verhältnis von Kirche und Nation in der serbischen, aber auch in anderen<br />
osteuropäischen Kirchen genauer zu betrachten, weil nicht ganz selbstverständlich<br />
nachzuvollziehen ist, ob und wie denn die orthodoxen Christen<br />
Nation und Kirche miteinander verschmelzen. Ist das Phänomen<br />
dieser geschichtlichen Krankheit nur den Orthodoxen zuzuschreiben?<br />
Haben in diesem Land in der neueren Geschichte die Kirchen nicht eine<br />
leidvolle Erfahrung mit der Identifikation von Reich und Reichskirche<br />
gemacht?<br />
Deswegen meine ich: man soll nicht leichtfertig den ersten Stein werfen,<br />
sondern zunächst versuchen, selbstkritisch zu verstehen, um dann<br />
um so entschiedener die vorhandenen prophetischen Stimmen und ökumenischen<br />
Kräfte in der Orthodoxie, auch in der Serbisch-Orthodoxen<br />
Kirche, die den oben gestellten Fragen gerecht werden, zu unterstützen.<br />
Nicht der Sünder soll vernichtet werden, sondern die Sünde.<br />
Eine Standortbestimmung der serbischen Kirche im Spannungsfeld<br />
von Ethnizität und Katholizität ist schwer zu ermitteln. Die historischen<br />
Umstände, die Osmanenherrschaft, die k.u.k. Donaumonarchie und manches<br />
mehr müssen in die Darstellung mit einbezogen werden. Eine besondere<br />
Beziehung entstand zwischen dem Evangelium einerseits und<br />
der Kultur andererseits, die sich im Verhältnis zum Volk entwickelt hat.<br />
Demnach hat die Kirche die Entwicklung der Kultur und die Bewahrung<br />
der Identität der Nation ermutigt und unterstützt. Das Evangelium wurde<br />
gewissen örtlichen Formen unterzogen. Somit auch die Inkulturation des<br />
Evangeliums als etwas Normales betrachtet.<br />
Die Orthodoxe Kirche bildet die Gemeinschaft der autokephalen orthodoxen<br />
Kirchen, die denselben Glauben bekennen, dieselbe kirchliche<br />
125
kanonische Disziplin beachten und denselben Kult feiern. Sie drücken in<br />
den jeweiligen eigenen Formen dieselbe evangelische Wahrheit aus. Die<br />
Fülle und die Einheit der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen<br />
Kirche“ werden gemäß dem ekklesiologischen Selbstverständnis der Orthodoxen<br />
Kirche in der konkreten gottesdienstlichen Gemeinschaft mit<br />
dem Dreieinigen Gott, durch die Mysterien von Gotteswort und<br />
Eucharistie, am jeweiligen konkreten Ort verwirklicht. Eines der größten<br />
und gefährlichsten Mißverständnisse in der jetzigen unübersichtlichen<br />
Situation ist es, daß Orthodoxe Kirchen generell als „Nationalkirchen“<br />
denunziert werden. Die Serbische Orthodoxe Kirche verwaltet sich aufgrund<br />
der Kanones der Ökumenischen Konzilien und der von ihnen anerkannten<br />
apostolischen Kanones, der Kanones der Partikularsynoden und<br />
der heiligen Väter. So ist auch ihre Kirchenverfassung. Schließlich beginnt<br />
jede gottesdienstliche Handlung der Orthodoxen Kirche mit einer<br />
Friedensektenie, deren Inhalt der Friede für die ganze Welt, für das Wohlergehen<br />
und die Vereinigung aller Kirchen als Gebet voransteht.<br />
Die besondere Prägung der Verflechtung mit der eigenen Nation bis hin<br />
zur Identifikation mit dem eigenen Volk, und umgekehrt, erfuhr die Serbisch-Orthodoxe<br />
Kirche im Osmanenreich. Die Kirche war die einzige<br />
Institution, die das Volk gegenüber dem Herrscher vertreten konnte. Sie<br />
hatte die geistige Funktion des byzantinischen Reiches und des aufgelösten<br />
nationalen Staates übernommen. Die religiösen, kulturellen und<br />
nationalen Interessen des serbischen Volkes konnten auf diese Weise<br />
geschützt werden. Das Volk und seine Kirche gingen in der serbischen<br />
Geschichte einen gemeinsamen Weg, auf dem Ruhm und Demütigung<br />
zusammengehörten.<br />
Durch diese enge Verbindung zwischen Nation und Kirche nahm das<br />
Christentum einen betont nationalen Charakter an. Christsein bedeutete,<br />
das Evangelium nach der Frömmigkeit und den Ausdrucksformen des<br />
eigenen Volkes zu erleben, d.h. die Liturgie, den Kalender und die Bräuche<br />
der Nation zu bewahren.<br />
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts, und besonders am Anfang des 18.<br />
Jahrhunderts, gelang es Österreich, einige Territorien in Südosteuropa<br />
von den Türken zu erobern. Man wurde zum Teil Untertan eines christlichen<br />
Staates mit katholischem Bekenntnis. Die Metropolie von Karlowitz<br />
als eine autokephale Kirche wurde gegründet und respektiert. Mit<br />
126
den Rumänen bildeten die Serben in Österreich ein Art „Kirchen nation“,<br />
wie sie von Kirchenhistorikern genannt wurde. Sehr viele Elemente aus<br />
der damaligen Kirchenverfassung sind noch heute im Kirchengesetz dieser<br />
Kirchen enthalten. Die Autokephalie, die Autonomie wie auch die<br />
Synodalität bilden bis heute ihre Wesensprinzipien.<br />
Nun kam der Zweite Weltkrieg und die danach eingeführte und jahrzehntelang<br />
andauernde atheistisch-kommunistische Diktatur. Das Verhältnis<br />
von Staat und Kirche wurde ständig von dieser Diktatur überschattet<br />
und durch ein Sondergesetz reglementiert. Das sogenannte Kultgesetz<br />
sollte von der Kirche geachtet werden, das totalitäre System hat<br />
sich in Wirklichkeit nie daran gebunden gefühlt. Die Kirche wurde zu einer<br />
„gemeinnützigen“ Organisation degradiert und an den Rand der<br />
Gesellschaft gedrängt. Die gesellschaftspolitische Tätigkeit der serbischen<br />
Kirche und ihre Freiheit wurden streng kontrolliert, ihre Güter verstaatlicht.<br />
Die Pressefreiheit wurde entzogen, eine drastische Zensur eingeführt.<br />
Die Verbreitung kirchlicher Literatur, sogar der Bibel, wurde hart<br />
bestraft. Der Religionsunterricht wurde aus den Schulen verbannt, die<br />
Lehranstalten, wie Theologische Hochschule und Priesterseminare, wurden<br />
bis heute zu nichtöffentlichen und bedeutungslosen Privatschulen<br />
herabgestuft. Die sozialen und karitativen Tätigkeiten der Kirche wurden<br />
verboten, die geistig-geistliche Betreuung der Krankenhäuser, Altenheime,<br />
Schulen, Kindergärten, Waisenhäuser, des Militärs und anderes<br />
mehr zur lebensgefährlichen Verbotszone erklärt. Der Neubau oder Wiederaufbau<br />
von zerstörten Kirchen waren zufällige Ausnahmen.<br />
Im verzweifelten Kampf, Reste von Glaubensfreiheit zu erhalten und<br />
bessere Zeiten abzuwarten, bekundete die Kirche dem Staat manchmal<br />
überzogene Loyalität. Die tiefen Spuren dessen, besser gesagt die Wunden<br />
und Narben, die eines langen Heilungsprozesses bedürfen, werden<br />
noch lange sichtbar sein.<br />
Nach dem Versuch der neuerlichen Wende sieht man tendenziell eine<br />
gewisse Erholung und Autonomie dem Staat gegenüber aufkommen. Die<br />
Beziehung Staat-Kirche und Kirche-Nation sind gründlichst zu überprüfen<br />
und nachdenkend neu zu formulieren.<br />
Der russische Religionsphilosoph Vladimir Solovjev hat anläßlich des<br />
tausendjährigen Jubiläums der „Kiewer Rus’“ gesagt: „Wir müßten ein<br />
zweites Mal getauft werden, getauft durch den Geist der Wahrheit und<br />
127
das Feuer der Liebe. Wir müssen einem neuen Götzendienst entsagen:<br />
Jener neuen Abgötterei, jenem epidemischen Wahnsinn des Nationalismus,<br />
der die Völker dazu treibt, ihr eigenes Bild anstelle der höchsten und<br />
universalen Gottheit anzubeten. Die wahre Kirche wird stets die Lehre<br />
verurteilen, die behauptet, es gebe nichts Höheres als die nationalen<br />
Interessen; sie wird stets dieses neue Heidentum verurteilen, das die<br />
Nation zu seiner höchsten Gottheit macht, diesen falschen Patriotismus,<br />
der die Religion ersetzen will. Die Kirche erkennt die Rechte der Nationen<br />
an, bekämpft aber den nationalen Egoismus“ (V. Solovjev: Die russische<br />
Idee, Bd. 3,S.69, 81).<br />
Auch in der heutigen Serbisch-Orthodoxen Kirche gibt es solche<br />
prophetischen Stimmen:<br />
Radovan Bigović, Professor an der Theologischen Fakultät der Serbisch-<br />
Orthodoxen Kirche in Belgrad, beklagt sich über die metaphysische Zerrissenheit,<br />
in der sich sein Volk befindet. Er meint, man habe in seinem<br />
Land eine besiegte Ideologie, den Marxismus, durch eine „beschämende,<br />
nationale Ideologie“ ersetzt. „Die Nation wird in den Rang einer neuen<br />
Göttlichkeit, einer neuen Religion erhoben“, sagte Professor Bigović.<br />
Der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche, Aleksij II., wünscht<br />
keine Umfunktionierung der Kirche in eine exklusive Staatsreligion im<br />
Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern tritt für Toleranz ein, indem er sagt:<br />
„Der orthodoxe Christ darf Demokrat, Anhänger der parlamentarischen<br />
oder Präsidialrepublik, Monarchist oder sonst was sein. Nur eines darf er<br />
nicht tun: seinem Nächsten das Schlechte wünschen, danach streben, den<br />
Menschen einer anderen Nationalität, anderer Ansichten oder Überzeugungen<br />
zu schaden.“<br />
Nur in solcher Verbundenheit mit dem Schicksal des eigenen Volkes,<br />
dem sie in der Geschichte beistand, betrachtet sich die serbische Kirche<br />
als national. Dabei wird die Lokalkirche immer in Verbindung mit der<br />
universalen Kirche erfaßt. Ihre Katholizität überschreitet die Ethnizität,<br />
und die Ortskirche existiert in Wahrheit nur in der Gemeinschaft mit den<br />
Schwesterkirchen. Die Kirche darf sich nicht isolieren, andere Nationen<br />
nicht hassen. „Die Kirche betrachtet sich mit dem Schicksal des Volkes,<br />
dem sie in ihrer Geschichte beistand, verbunden, sie unterstützt jedoch<br />
nicht die Idee der Überlegenheit eines Volkes gegenüber einem anderen.<br />
Theologisch betrachtet, bleibt die Nation ein sekundäres Element“, so<br />
128
Pater Dr. Mircea Bassarab in „Ökumenische Perspektiven“ 1995: „Kirche<br />
und Nation“. Von Rassismus und Nationalismus hat sich die Orthodoxe<br />
Kirche – wie allgemein von jeder Diskriminierung – durch ihre<br />
Stellungnahme auf der III. Vorkonziliaren Panorthodoxen Konferenz in<br />
Chambesy 1986 deutlich abgewendet.<br />
Nun ist es aber Zeit, gewisse notwendige Schritte zur ökumenischen<br />
Erziehung zu unternehmen, nicht nur um pluralistisch denken zu lernen,<br />
sondern auch um die Idee der Einheit aller Christen in Christus Jesus –<br />
nach dem Zeugnis des Neuen Testaments sowie der durch Christi Kreuz<br />
ermöglichten Versöhnung der verfeindeten Völker (nach Eph 2,14–16) –<br />
zu verwirklichen. Die Idee der Solidarität der Jünger Christi (nach Gal<br />
6,2; Kor 12,12–27 und anderen Worten des N.T.). Die Idee, daß jeder<br />
Christ, jede Kirche und jedes Volk einen Dienst zu leisten hat am Reiche<br />
Gottes. Zu all diesen Worten „kommt die Tat“ (Gal 5,6).<br />
Die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien existierenden Religionen<br />
– das Christentum mit seinen kirchlichen Konfessionen, der Islam<br />
und das Judentum – brauchen in den Familien und in ihren Einrichtungen<br />
eine sogenannte multinationale, interkulturelle und interreligiöse ökumenische<br />
Bewußtseinsbildung, die das religiöse, christliche und moralischethische<br />
Menschenbild prägt und zum Überschreiten der national-geschichtlichen<br />
Bildschwelle verhilft. Durch Dialog, Kennenlernen und<br />
Aufklärung sollen wir in die Lage versetzt werden, nicht allein die heilsamen<br />
„Rezepte“ unserer heiligen Bücher – Thora, Bibel oder Koran – zu<br />
finden, sondern sie zur tatsächlichen Heilung unserer gleichermaßen<br />
erkrankten Gesellschaften anzuwenden. Wir sind keine bloßen, unbeteiligten<br />
Zuschauer, sondern in die Probleme voll verflochten. Unsere primäre<br />
gesellschaftsbezogene Aufgabe liegt in der Überwindung von jeglicher<br />
Fremdenfeindlichkeit, von Rassismus und Gewalt. Der Schutz des<br />
anderen ist nicht nur humanitäre Tat, sondern Gebot Gottes (2 Moses<br />
19,33–34). Gottesebenbildlichkeit gilt allen Menschen (1 Moses 1,27),<br />
und Seinen Segen hat er allen Menschen erteilt (1 Moses 12,3). Im Kreuz<br />
Jesu Christi sind verfeindete Völker auf den Weg der Versöhnung gerufen<br />
(Eph 2,14), und Wertunterschiede zwischen den Menschen gibt es in der<br />
Gemeinschaft durch Christus nicht (Gal 3,28).<br />
In den multinationalen und Vielvölkerstaaten kann die mögliche stabile<br />
Verbindung von Nation und Konfession in Ortskirchen ein wichtiges<br />
129
Mittel des politischen und religiösen Friedens wie auch des ökumenischen<br />
und interethnischen Miteinanders sein, obwohl dabei der Mißbrauch<br />
der Religion für nationalistische Zwecke sehr oft naheliegt. Zu<br />
warnen ist davor, sich von der Serbisch-Orthodoxen Kirche insgesamt zu<br />
distanzieren, wie das bereits gefordert wurde, indem man ihre Positionen<br />
mit denen von Nationalisten und pseudo-religiösen Fanatikern in einen<br />
Topf wirft. In dieser Perspektive ist der Krieg zwischen den südslawischen<br />
Völkern nicht ein lokaler Krieg, sondern ein fast gesamteuropäischer<br />
„Stellvertreter-Krieg“ (so Hermann Goltz, Professor für Konfessionskunde<br />
an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), in welchem<br />
nicht zuletzt Westeuropa und auch die westchristlichen Konfessionen<br />
unter unbewußtem Mißbrauch des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung<br />
den Weg hin zu nationaler und konfessionell-religiöser<br />
Koexistenz im ehemaligen jugoslawischen Bundesstaat abgeschnitten<br />
haben. Die serbische Kirche ist in ihrem Wesen ökumenisch, jedoch nicht<br />
alle ihre Mitglieder sind sich dieser Tatsache bewußt. Sie darf nicht dem<br />
militanten Laizismus und dem modernen Neophytismus gleichgestellt<br />
werden, deshalb wäre der Vorwurf des Ethnophiletismus gegen die serbische<br />
Kirche ungerecht. Es handelt sich vielmehr um eine tragikomische<br />
Verflechtung verschiedener Aktionen und Reaktionen, insbesondere hinsichtlich<br />
des brutalen gegenseitigen Vorgehens. Dieses dürfte mehr oder<br />
weniger auch auf ihre Nachbarn zutreffen.<br />
Daß das nicht immer so ist, bestätigt der Bericht des Schweizer parlamentarischen<br />
außenpolitischen Ausschusses über das Treffen der Religionsvertreter<br />
der in den Bosnienkrieg Verwickelten, das am 17. Januar<br />
1995 in Bern stattfand. Für die Katholische Kirche war Kardinal Puljić<br />
aus Sarajevo anwesend, für die Serbische Kirche Bischof Atanasije von<br />
Mostar und für die Islamische Gemeinschaft deren Reis-Ul-Ulema Cerić.<br />
Während der Anhörung, die offen und sachlich war, äußerten der Kardinal<br />
und der Bischof, sich in der Zwischenzeit mehrmals begegnet zu sein.<br />
Auf die Frage an den Reis-Ul-Ulema, ob es seinerseits zu einer Begegnung<br />
mit den Vertretern der Serbisch-Orthodoxen Kirche gekommen sei,<br />
antwortete er: „Nein, und wir wünschen auch keine!“<br />
In den Köpfen und Herzen eines jeden einzelnen Menschen beginnen<br />
Versöhnung und Frieden, nicht beim Abschluß eines internationalen Friedensvertrages.<br />
An der Versöhnung kräftig mitzuarbeiten lohnt sich. Es ist<br />
130
ein Wort, das hoffen läßt, Feindschaft überwindet, Unrecht wiedergutmacht,<br />
verletztes Leben heilt. Durch die verpflichtenden Aufgaben, die<br />
unzähligen Wunden zu heilen, zerstörte Gottes- und Wohnhäuser wiederaufzubauen,<br />
dem Haß durch Vergebung und Versöhnung ein Ende zu<br />
setzen und ein friedliches Leben mit Kroaten, Muslimen und anderen zu<br />
ermöglichen, wird man „eine neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17–21). Dazu<br />
braucht man Taten der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe.<br />
Der gottbekämpfende Atheismus hat eine viel zu große seelische und<br />
moralische Verwüstung bei den Völkern des Balkans hinterlassen. Die<br />
damals vorhandene zwischenmenschliche Ideologie war bei den meisten<br />
oberflächlich und vor allem gottlos, die Stimme der Kirche fremd, meistens<br />
überhört und nicht wahrgenommen. Als Folge dessen entstand die<br />
Ausweglosigkeit der Gesellschaft und der Kirche gleichermaßen.<br />
Die Stimmen der Einsamen verstummten nicht. Mitte Februar 1996<br />
fand in Belgrad ein ökumenisches Symposion über Versöhnung statt.<br />
Veranstaltet wurde es von der Theologischen Fakultät der Serbisch-<br />
Ortho doxen Kirche in Zusammenarbeit mit der Konferenz Europäischer<br />
Kirchen. Teilgenommen haben etwa dreißig Kirchenvertreter aus fünfzehn<br />
Ländern Europas und Nordamerikas, darunter auch aus Bosnien,<br />
Kroatien, Slowenien und Serbien als Gastgeber.<br />
In seinem Grußwort hat der serbische Patriarch Pavle betont, daß die<br />
Religionen und Kirchen nicht einen von Menschen geschaffenen, sondern<br />
einen von Gott gestifteten, ewigen Frieden anstreben müssen. „Die<br />
irdischen Interessen sind von zeitlicher Dauer. Die himmlischen haben<br />
eine ewige Gültigkeit. Kein Territorium auf dieser Erde, auch nicht eines<br />
Großserbiens, ist ein Menschenleben wert. Denn was nützt es dem Menschen,<br />
wenn er die ganze Welt besitzt und dabei seine Seele verliert,<br />
mahnt das heilige Evangelium.“<br />
Der Dekan der Theologischen Fakultät stellte fest, daß „Aufgabe und<br />
Pflicht der akademischen Bildungsstätte der Serbischen Kirche nicht<br />
allein die Wissensvermittlung ist, sondern auch die Hilfestellung für das<br />
eigene Volk und für die Völker des ehemaligen Jugoslawiens, um den<br />
Weg aus der Tragödie finden zu können.“ Nicht allein die Bereitschaft<br />
zur Versöhnung, sondern eine tiefe Buße für alle Vergehen seien unumgänglich<br />
und dringend notwendig. Ansonsten werde das Wort „Versöhnung“<br />
leer und inhaltslos bleiben. Die Versöhnung mit Gott und mitein-<br />
131
ander müsse sichtbare Frucht tragen und eine Quelle neuen Lebens werden.<br />
Denn wenn „jemand sagt: Ich liebe Gott (den er nicht sieht), aber<br />
seinen Bruder haßt (den er sieht), ist er ein Lügner“ (1 Joh 4,20).<br />
Der Rektor des Belgrader Priesterseminars mahnte, die Friedensbitte<br />
der Vaterunserbitte nach Brot gleichzusetzen. Und es wurde praktiziert.<br />
Dann die Initiativen zu den Friedenstreffen mit dem kroatischen Kardinal<br />
Kuharić in Sremski Karlovci, in Slavonski Brod, in Genf, zuletzt in<br />
Sarajevo. Der Patriarch hat sie guten Willens ergriffen und ist ihnen vorbehalts-<br />
und bedingungslos gefolgt. Manche solcher Initiativen wurden<br />
von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, übersehen oder durch den<br />
Medienkrieg verschwiegen. Schuld daran sind nicht nur die verschiedenen<br />
Interessen mancher Medienvertreter im Westen, sondern auch die<br />
bewußt kirchenfeindliche und wahrheitswidrige von den Verantwortlichen<br />
des serbischen bzw. jugoslawischen Staates gelenkte Medienpolitik.<br />
Auch weiß man kaum davon, daß in Belgrad analog zum „Unbekannten<br />
Soldaten“ ein Denkmal für den „Unbekannten Deserteur“ errichtet<br />
wurde. Ein Beweis dafür ist die neuerliche Torpedierung eines Versuchs<br />
der Annäherung der serbischen Stadt Kragujevac an die deutsche Bevölkerung<br />
zur Aufarbeitung der Folgen des II. Weltkriegs. Die staatlichen<br />
Politiker meinen, die Zeit sei noch nicht reif dafür. Ich meine: Es ist höchste<br />
Zeit dafür!!<br />
Daß die Serbisch-Orthodoxe Kirche einen unverwechselbaren Versöhnungsauftrag<br />
wahrgenommen hat, bestätigt der offizielle Bericht der<br />
Jahrestagung der Kirchensynode von Mitte Mai des Jahres <strong>1997</strong> unter<br />
Vorsitz Seiner Heiligkeit des Patriarchen Pavle. Dies kommt zum Ausdruck<br />
im folgenden Aufruf der Bischöfe zur Versöhnung und Erneuerung,<br />
in dem es heißt:<br />
„In vollem Bewußtsein der Hirtenverantwortung der Synodenmitglieder<br />
in dieser überaus schweren Zeit hat das Gremium versucht, sein Möglichstes<br />
zu tun. Ins Auge gefaßt wurden zunächst die schrecklichen geistlichen<br />
und materiellen Folgen des Bürgerkriegs, die vielen Menschen,<br />
die – auf allen beteiligten Seiten – Opfer des Krieges geworden sind, die<br />
seelisch und leiblich Kranken, die zu Hunderttausenden Vertriebenen,<br />
insbesondere Frauen und Kinder. Erst jetzt sind die tiefgreifenden Folgen<br />
der gottlosen Entwicklung der letzten Jahrzehnte sichtbar geworden: Ein<br />
Zerfall der geistigen und moralischen Grundwerte… Hoffnungslosigkeit<br />
132
und Entwürdigung der Menschen… und das alles am Vorabend des dritten<br />
Millenniums seit der Geburt unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus,<br />
der Hoffnung der Welt… Gleichzeitig werden gewisse Zeichen<br />
erblickt, die Hoffnung und Trost vermitteln und eine Wiederauferstehung<br />
versprechen. Ein geistiges Erwachen und der ehrliche Wunsch nach wahrem<br />
Frieden und nach Versöhnung, und zwar unter uns selbst wie auch<br />
mit allen anderen… Mit jedem Menschen als Ebenbild Gottes… Insbesondere<br />
setzen wir uns ein für die Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Heimatgebiete<br />
und für deren freies und friedliches Leben… Wir fordern für<br />
unsere Seelsorger in den nichtserbischen Gebieten volle Wirkungs- und<br />
Bewegungsfreiheit und unterstützen die die gleichen Rechte betreffenden<br />
Forderungen der Römisch-Katholischen Kirche und der Islamischen<br />
Gemeinschaft in der Republika Srpska…“<br />
Leider stellt auch hier, wie im Fall der „Berner Aussage“, die Synode<br />
„die Rechtlosigkeit der Serbisch-Orthodoxen Kirche im heutigen Mazedonien<br />
fest. Es ist das einzige Land der Welt, in dem durch geltendes<br />
Recht dem serbischen Klerus Zutritt und Wirken unter dem serbischen<br />
gläubigen Volk, das dort lebt, verwehrt ist.“ Der bisherige Administrator<br />
für die Serbisch-Orthodoxen in Mazedonien, Bischof Pachomius, hat aus<br />
Hoffnungslosigkeit sein Amt niedergelegt. Der Patriarch selbst hat sich<br />
der Sache angenommen und soll versuchen, die Beziehungen zu Mazedonien<br />
herzustellen.<br />
Zu Stützen der Aussöhnung zählen Ehrlichkeit und Offenheit, die alle<br />
zerstrittenen Parteien mitbringen müssen. Das Verschweigen unchristlicher<br />
und unmenschlicher Taten, die auch mißbräuchlich im Namen der<br />
Serbischen Kirche und des serbischen Volkes geschehen sind, wäre ein<br />
nicht mehr zu verzeihendes Verbrechen. Dies trifft genauso auf die<br />
anderen an den Auseinandersetzungen Beteiligten zu: Katholiken und<br />
Moslems.<br />
Die Serbische Kirche in der Diaspora, somit auch in Deutschland,<br />
schließlich auch meine Kirchengemeinde in München, für die ich die<br />
Verantwortung trage, hat all ihre zur Verfügung stehenden Mittel für<br />
Frieden und Völkerverständigung bereitgestellt. Friedensgespräche und<br />
-gebete wurden und werden initiiert, es wurde eingeladen und Einladungen<br />
gefolgt. Tage der Kriegsflüchtlinge, an denen auch katholische und<br />
muslimische Männer, Frauen und Kinder teilgenommen haben, wurden<br />
133
mit Benefizkonzerten im serbisch-orthodoxen Gemeindezentrum in<br />
München veranstaltet. Besonderen Wert lege ich dabei auf die aktive Mitarbeit<br />
meiner Gemeinde und von mir persönlich im Rahmen des internationalen,<br />
interreligiösen und interkulturellen Zentrums „Zajedno“ in<br />
München und Sarajevo unter der Leitung des Franziskanerpaters Prof.<br />
Marko Orsˇolić. Ebenfalls auch in der „Friedensrunde“ der Evangelischen<br />
Studentengemeinde in München unter der Leitung von Pfarrer Hans<br />
Löhr… Nicht selten haben wir die Grenze der Selbstverleugnung überschritten,<br />
indem man öffentliche Ermahnungen an das eigene Volk eindeutig<br />
und unmißverständlich ausgesprochen hat, das Schuldbekenntnis<br />
öffentlich ablegte, unter anderen auch beim vorletzten Evangelischen<br />
Kirchentag in Hamburg, und Gott und die Betroffenen für die durch mein<br />
Volk erlittene Ungerechtigkeit um Vergebung bat.<br />
Ein meiner Meinung nach von Gottes Vorsehung gegebenes, wichtiges<br />
und überzeugendes Ereignis hat mich zur Friedensarbeit noch weiter<br />
beflügelt:<br />
Im Sommer 1992, als der Krieg in Bosnien am heftigsten tobte, kam<br />
der in Sarajavo ansässige Franziskanerpater Prof. Marko Orsˇolić nach<br />
München. Zu unserem Patrozinium habe ich ihn eingeladen und meinem<br />
Bischof und der Gemeinde nach dem Festgottesdienst vorgestellt. Trotz<br />
aller herrschenden Umstände infolge des Krieges wurde er von allen<br />
Anwesenden – und es waren mehrere hundert Serben – sehr herzlich und<br />
begeistert willkommen geheißen. Daran habe ich erkannt: Die Menschen<br />
sind gut, zum Bösen werden sie verführt und verleitet, gar mißbraucht.<br />
Davon bin ich als Christ und Mensch fest überzeugt!<br />
Aus dieser Begegnung sind nun viele Initiativen und Brücken zwischen<br />
den Völkern des ehemaligen Jugoslawiens, besonders unter den Kriegsflüchtlingen,<br />
entstanden. Auch manche ökumenische Trauung oder Taufe,<br />
gar eine bislang nicht gekannte und ökumenisch-exemplarische Beerdigung<br />
erlebten wir und erleben wir immer wieder als lohnende Früchte der<br />
durch den Geist Gottes getragenen Versöhnungsarbeit. Die Verleihung<br />
des Abt-Emmanuel-Heufelder-Stiftungspreises der Abtei Niederaltaich<br />
für den „Mutigen Einsatz für Verständigung und Frieden zwischen orthodoxen<br />
und katholischen Christen im ehemaligen Jugoslawien“ an Pater<br />
Marko und an mich war ein zusätzlicher und kräftiger Impuls auf dem<br />
langen Weg der Aussöhnung.<br />
134
„Ohne friedvolle Menschen gibt es keinen Frieden auf Erden, weder in<br />
der Familie noch auf der Straße, noch zwischen Völkern und Kulturen“,<br />
so die Zweite Ökumenische Versammlung in Erfurt 1996. „Der christliche<br />
Glaube ist aus nationalistischen Verengungen herauszuführen, weil<br />
er, der Glaube, das Erfahrungsgeflecht einer Nation mit der Predigt vom<br />
Reich Gottes konfrontiert und damit horizonterweiternd wirkt“, heißt es<br />
weiter in der Versammlungserklärung (MD 6/96).<br />
Herr Professor Reinhard Frieling hat in „Evangelisches Profil und ökumenische<br />
Verpflichtung“ zum Ökumenischen Lagebericht 1993 geschrieben:<br />
„die jahrhundertelange national-, staats-, volks- oder freikirchliche<br />
Prägung der Kirchen in Europa wird noch lange bestimmend bleiben…<br />
Besseres gegenseitiges Kennenlernen ist immer noch eine unerläßliche<br />
Voraussetzung für mehr Gemeinschaft. Wo es nationalistische und konfessionalistische<br />
Enge in den Kirchen gibt, ist Selbstkritik und Buße nötig.<br />
Es ist dann auch notwendige Seelsorge der Kirchen aneinander, anderen<br />
Kirchen offene Worte, Klagen, Anklagen und Bitten vorzutragen…<br />
Es gibt keine rein innerkonfessionelle Angelegenheiten mehr, die andere<br />
nichts angehen würden. Es geht um gegenseitige Hilfe“ (EPD Dok, <strong>Nr</strong>.<br />
40/93).<br />
Durch die Religionen dürfen die Menschen nie mehr geteilt werden.<br />
Religionen müssen vertrauensbildend wirken durch theologische Arbeit<br />
zwischen Juden, Christen und Moslems. Dafür sind nicht primär politische,<br />
sondern vielmehr christlich-ethische Grundprinzipien als Voraussetzung<br />
notwendig.<br />
135
Prof. Dr. Robert Hotz SJ, Zürich<br />
Wie dienen die Kirchen den Menschen<br />
in Rußland?<br />
An religiösen Heilsbringern aller Art mangelt es derzeit nicht in Rußland,<br />
seit sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine Vielzahl<br />
von ausländischen Gruppierungen aus unterschiedlichen Motiven ans<br />
Werk gemacht hat, Rußland zu missionieren. Das Unheilvolle daran ist<br />
nur, daß unter den verschiedenen Religionsgemeinschaften, die derzeit in<br />
Rußlands Gefilden wirken, ein erbitterter Konkurrenzkampf ausgebrochen<br />
ist, wo das Erfolgsdenken der eigenen Gruppe nur zu oft wenig<br />
Raum für Nächstenliebe gegenüber Andersdenkenden offen läßt und wenig<br />
religiöse oder christliche Toleranz geübt wird. Insbesondere von den<br />
ausländischen Sekten wird auf die „einheimischen“ religiösen Bekenntnisse,<br />
orthodoxe Christen, Muslime und Buddhisten, kaum Rücksicht<br />
genommen. Deren Glaubensboten wissen oft auch wenig von russischer<br />
Geschichte, Kultur und Mentalität, verfügen aber dafür in vielen Fällen<br />
über erhebliche finanzielle Mittel, welche sie in karitative Aktionen investieren,<br />
um für ihre Sache zu werben.<br />
Solche karitative „Investitionen“ tragen zweifellos auch Früchte, um<br />
so mehr als das Leben für viele Bewohner Rußlands inzwischen noch<br />
weit schwieriger geworden ist als zu kommunistischen Zeiten. Da in der<br />
Orthodoxie traditionell der Kult und nicht karitative Unternehmungen im<br />
Vordergrund stehen, bedeutet der Erfolg der fremden Missionare eine<br />
schwerwiegende Herausforderung für die Russische Orthodoxe Kirche.<br />
Wenn es auch innerhalb des Moskauer Patriarchats nicht an diversen<br />
Versuchen fehlt, die karitative Tätigkeit der Kirche zu intensivieren, so<br />
mangelt es der Kirche doch sowohl an den ausgebildeten Leuten als auch<br />
am Geld. Somit vermag sie der ausländischen Caritas nichts Ebenbürtiges<br />
entgegenzusetzen.<br />
136
Um die westliche Konkurrenz zu bremsen, setzt das Moskauer Patriarchat<br />
einmal mehr in seiner langen Geschichte auf den Schutz des Staates.<br />
Durch eine Veränderung des bestehenden Religionsgesetzes soll gleichsam<br />
die privilegierte Stellung des Moskauer Patriarchats auf Kosten aller<br />
sogenannten „ausländischen Kirchen“ festgeschrieben werden. Manche<br />
orthodoxe Kirchenführer scheinen bereits die Lehren aus der Geschichte<br />
vergessen zu haben, daß eine enge Verquickung mit dem Staat gefährliche<br />
Abhängigkeiten in sich birgt. Es sind nämlich ausgerechnet nationalistische<br />
Gruppierungen aller Schattierungen sowie die Ex-Kommunisten,<br />
welche die Bestrebungen der russischen Orthodoxie zu neuem<br />
Staatskirchentum am eifrigsten unterstützen.<br />
Am 23. Juni <strong>1997</strong> votierte das russische Parlament mit 300 zu acht<br />
Stimmen für eine Gesetzesnovelle, welche der russischen Orthodoxie<br />
eine besondere Stellung einräumt und den Islam, den Buddhismus und<br />
das Judentum als „traditionelle“ Religionen der Ex-Sowjetunion anerkennt,<br />
aber zugleich den anderen religiösen Gruppierungen erhebliche<br />
Beschränkungen auferlegt. Es ist hier nicht der Platz, um im Detail auf<br />
dieses Gesetz einzugehen. Aber es kann schwerlich erstaunen, daß diese<br />
Novelle auch eine Beschränkung der karitativen Tätigkeit von Minderheitenkirchen<br />
vorsieht. Angesichts der eigenen Unfähigkeit zu weitreichenden<br />
karitativen Aktivitäten suchen das Moskauer Patriarchat und<br />
seine Helfer einfach die Caritas der „Konkurrenten“ zu unterbinden, ein<br />
aus christlicher Sicht wahrlich fragwürdiges Unterfangen.<br />
Als nicht weniger fragwürdig erscheint die Tatsache, daß das betreffende<br />
Gesetz weder der Katholischen noch der Evangelisch-Lutherischen<br />
Kirche irgendwelche Sonderrechte zuerkennt, obwohl diese beiden Kirchen<br />
auf russischem Boden Tausende von Gläubigen, vor allem Balten,<br />
Polen und Deutschstämmige, zu betreuen haben, welche im Gefolge der<br />
Stalinschen Deportationen nach Rußland verschleppt worden waren.<br />
Seit die mit Rom unierten Kirchen des byzantinischen Ritus aus ihrem<br />
Katakombendasein wieder an die Öffentlichkeit getreten sind, ist der<br />
ökumenische Honigmond zwischen Moskau und Rom einmal mehr tiefer<br />
Eiszeit gewichen. Während die Aktivitäten der Sekten vom Moskauer<br />
Patriarchat als Ärgernis empfunden werden, betrachtet es die Tätigkeiten<br />
der Katholischen Kirche als ausgesprochene Gefahr. Und während das<br />
Moskauer Patriarchat im westlichen Ausland munter missioniert, be-<br />
137
zeichnet es bereits die Betreuung von katholischen Gläubigen Rußlands<br />
durch eigene katholische Priester als „Proselytismus“ (d.h. als Abwerbung<br />
der eigenen Gläubigen). Die Angst des Moskauer Patriarchats ist<br />
nicht ganz unberechtigt, denn es ist schwerlich zu bestreiten, daß die<br />
Katholische Kirche heute gerade bei den Intellektuellen über ein beträchtliches<br />
Ansehen verfügt, weil sie sich im Gegensatz zur russischen<br />
Orthodoxie weit weniger durch Kollaboration mit den Kommunisten<br />
diskreditierte. Also soll auch dieser unbequeme Zeuge per Gesetz zum<br />
Schweigen verurteilt werden.<br />
Noch versucht Präsident Jelzin, die Unterzeichnung der intendierten<br />
Gesetzesänderung angesichts negativer Reaktionen im Ausland hinauszuzögern.<br />
Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Parlament den<br />
Präsidenten zu überstimmen vermag. Zudem ist das Moskauer Patriarchat<br />
zu keinerlei Kompromissen zu bewegen. Dabei erscheinen die derzeitigen<br />
Machtkämpfe eigentlich paradox, wenn man davon ausgeht,<br />
daß höchstens 40% der russischen Bevölkerung (nicht zu verwechseln<br />
mit der Bevölkerung Rußlands) orthodox sind oder sich zumindest der<br />
Orthodoxie zugehörig fühlen, womit im Grunde genommen 60% der<br />
russischen Bevölkerung einer seriösen Missionierung harren. Die Frage<br />
erhebt sich, ob das Moskauer Patriarchat überhaupt der Aufgabe einer<br />
Neumissionierung gewachsen ist. Denn der orthodoxe Klerus, in den<br />
letzten Jahren im Schnellverfahren herangezogen, ermangelt in vieler<br />
Hinsicht der nötigen Ausbildung, von der Kenntnis anderer religiöser<br />
Gemeinschaften als der eigenen ganz zu schweigen. Hier stoßen denn<br />
auch innerhalb der Orthodoxen Kirche die Vorstellungen einer kleinen,<br />
sozial aufgeschlossenen und modern denkenden Gruppe von Priestern<br />
mit denen der konservativen Majorität hart aufeinander und führen gelegentlich<br />
zu einem offenen Bruch.<br />
Umgekehrt sind allerdings auch viele Fragezeichen gegenüber den<br />
fremden Missionsbemühungen am Platz, welche den landeseigenen Traditionen<br />
oft wenig Rechnung tragen. Die Mischung von Ignoranz und<br />
Überheblichkeit, die meist auch noch mit religiösem Fanatismus gepaart<br />
ist, muß insbesondere bei denen Widerstand wecken, welche die Zeit der<br />
religiösen Verfolgung unter dem Kommunismus mit vielen Opfern<br />
durchlitten haben. Denn diese Glaubenszeugen fragen sich zu Recht,<br />
weshalb sie jetzt von westlichen Glaubensboten missioniert werden soll-<br />
138
ten, von denen sie in der Zeit der Verfolgung nie etwas gehört oder gesehen<br />
haben. Zudem kann man sich gelegentlich nur schwer des Eindrucks<br />
erwehren, daß bei der Mehrzahl der religiösen Gemeinschaften in<br />
Rußland gegenwärtig die eigenen Ziele und Interessen Vorrang vor dem<br />
Bemühen haben, der russischen Bevölkerung in ihrer seelischen und körperlichen<br />
Not helfen zu wollen. Zudem lehrt die Geschichte eindringlich,<br />
daß das „Reischristentum“, d.h. Bekehrungsversuche mittels Nahrungsgeschenken,<br />
meist keine dauerhaften Früchte zeitigt.<br />
Ganz allgemein drängt sich die Erkenntnis auf, daß die verschiedenen<br />
religiösen Gemeinschaften, welche zur Zeit in Rußland wirken, bisher<br />
nicht in der Lage waren, eine grundlegende Veränderung der ethischen<br />
Haltung herbeizuführen. Sie haben auch keine besondere integrative<br />
Kraft an den Tag gelegt und mit ihren Streitigkeiten nur neue Barrieren<br />
aufgerichtet. Denn letztlich geht es in Rußland für die christlichen Kirchen<br />
ja nicht in erster Linie darum, eine Mangelwirtschaft mit Almosen<br />
zu ergänzen, sondern ein geistliches Vakuum zu füllen, das mit dem Zusammenbruch<br />
des Kommunismus entstanden ist, und ein neues moralisches<br />
Bewußtsein zu entwickeln.<br />
Östliche und westliche Vorstellungen im Widerstreit<br />
Die derzeitigen Auseinandersetzungen zwischen den Kirchen in Rußland<br />
kommen allerdings nicht von ungefähr. Sie sind keineswegs nur die<br />
Folge eines egoistischen Gruppendenkens oder Machtstrebens, wie man<br />
gelegentlich vordergründig meinen könnte. Einmal mehr in der Geschichte<br />
treffen nämlich östliche und westliche Geisteshaltungen, die<br />
gegensätzlicher nicht sein könnten, auf russischem Boden hart aufeinander.<br />
Vereinfachend formuliert, könnte man sagen, daß der westliche<br />
Gläubige seinen Blick auf diese Welt richtet, die er im Geiste göttlicher<br />
Gerechtigkeit umzugestalten trachtet, während der östliche Gläubige<br />
seine Augen dem Himmel zuwendet und im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit<br />
versucht, in seinem Menschsein dem himmlischen Urbild<br />
immer besser zu entsprechen.<br />
Westliches Denken strebt nach einer Heiligung dieser Welt, derweil die<br />
östliche Spiritualität die Heiligung des Menschen, bzw. seine Vergottung<br />
139
(theosis) zum Ziele hat. Denn für den (noch immer neuplatonischem<br />
Denken verpflichteten) östlichen Gläubigen stellt diese Welt bloß ein<br />
schattenhaftes Abbild der überirdischen Wirklichkeit dar. Deshalb gilt es,<br />
den Blick auf die eigentliche, d.h. himmlische Realität zu richten. (Schatten<br />
verändern zu wollen scheint in der Tat wenig sinnvoll.)<br />
Aus östlicher Sicht verändert sich die Welt automatisch zum Besseren,<br />
wenn sich die Menschen ihrem göttlichen Vorbild angleichen. (Diese<br />
Auffassung vertritt beispielsweise auch Fjodor Dostojewskij in seinen<br />
Werken ständig.) Für den von aristotelischem Denken beeinflußten westlichen<br />
Gläubigen hingegen stellt die Welt eine Realität dar, der man sich<br />
stellen muß. Sie ist den Gläubigen als Ort der Bewährung zur Bearbeitung<br />
anvertraut, wobei bearbeiten zugleich verändern bedeutet. In einer<br />
schlechten und ungerechten Welt lasse sich schwer an Gottes Güte und<br />
Gerechtigkeit glauben, so meinen manche „Westler“ und versuchen sich<br />
deshalb eifrig als „Weltverbesserer“.<br />
Solchem Aktivismus gegenüber erscheinen die östlichen Gläubigen<br />
geradezu als Fatalisten. Eine kleine Episode mag dies vielleicht besser<br />
erhellen als alle theoretischen Erläuterungen. Als ich unlängst eine<br />
Großmutter, die sich völlig für das Wohl ihrer Kinder und Enkel aufopferte,<br />
fragte, weshalb denn niemand gegen die bestehenden Mißstände<br />
rebelliere, da antwortete diese fromme Frau mit unverhohlener Mißbilligung:<br />
„Was Gott uns schickt, das müssen wir auch tragen.“ Für sie<br />
schien es völlig unverständlich, sich gegen ein gegebenes Schicksal<br />
aufzulehnen.<br />
Es trifft sicherlich zu, was westliche Kreise immer wieder als Vorwurf<br />
an die Adresse der Orthodoxen Kirche formulieren, daß das östliche<br />
Christentum der Teilnahme am Kult, dem Gebet und der Askese (insbesondere<br />
dem Fasten und Almosenspenden für kultische Zwecke), kurz:<br />
der Hinwendung zum Überirdischen (der Spiritualität), einen weit höheren<br />
Rang einräumt als dem sozialen Engagement in dieser Welt.<br />
In den Klöstern hatte und hat auch heute noch das aktive Leben in<br />
dieser Welt gemäß dem anachoretischen Ideal der Wüstenmönche gegenüber<br />
dem kontemplativen Leben zurückzutreten. Die Arbeit der Mönche<br />
und Nonnen dient deshalb vorwiegend zur Beschaffung des Lebensunterhaltes.<br />
Werke der Nächstenliebe wie die Gastfreundschaft gegenüber<br />
Armen und Pilgern und die Betreuung von Kranken, Waisen und Alten<br />
140
sind dabei durchaus mit eingeschlossen, weil sich in diesen gleichsam die<br />
göttliche Barmherzigkeit darstellt. Diese karitativen Aktivitäten lassen<br />
sich jedoch nicht mit dem großen sozialen Einsatz westlicher Ordensgemeinschaften<br />
vergleichen. 1 Allerdings war gerade mit diesem sozialen<br />
Engagement auch stets die Gefahr verbunden, die Kirche im Endeffekt zu<br />
einer rein sozialen Institution zu degradieren.<br />
Sowohl die östliche wie auch die westliche Haltung haben demnach<br />
ihre Schwächen und Gefahren. Denn der westliche Drang zu sozialer<br />
Weltverbesserung drohte im Okzident immer wieder in einen reinen Aktivismus<br />
auf Kosten der Spiritualität auszuarten, während die Jenseitsorientierung<br />
des Ostens mit ihrer Tendenz zur Weltflucht nur zu oft geneigt<br />
war, das Diesseits zu vernachlässigen. 2 Im Grunde genommen handelt es<br />
sich in beiden Fällen um den Versuch, auf die Mängel und Mißstände dieser<br />
Welt zu reagieren, wobei Ost und West in religiöser Hinsicht bis zum<br />
heutigen Tag unterschiedliche, ja sogar oft gegensätzliche Positionen beziehen,<br />
was in der direkten Begegnung nur zu oft zu bitteren Konflikten<br />
führt. Und genau das ist heute auch in Rußland wieder der Fall.<br />
Der Kommunismus hatte als westlich orientierte Ideologie die Weltveränderung<br />
auf sein Panier geschrieben und ein irdisches Paradies versprochen.<br />
Sein erklärtes Ziel war es, den Westen nicht bloß einzuholen,<br />
sondern sogar zu überflügeln. Der Russischen Orthodoxen Kirche war<br />
dabei jede Möglichkeit eines weltlichen Wirkens entzogen worden, was<br />
deren Tendenz zur Weltflucht noch verstärkte. Ihre Aktivitäten blieben<br />
aus schließlich auf den Kult beschränkt, wobei sie sich auch dort noch<br />
schweren Behinderungen ausgesetzt sah. Der Zusammenbruch des Kommunismus<br />
kam auch für das Moskauer Patriarchat ganz überraschend<br />
und traf die Kirche völlig unvorbereitet.<br />
Zwar hatte die russische Orthodoxie jetzt plötzlich jene Freiheiten zurückerhalten,<br />
die ihr rund 70 Jahre versagt geblieben waren, aber<br />
da nun auch die Unierten wieder ihre Unabhängigkeit vom Moskauer<br />
Patriarchat verlangten, dem sie unter Stalin zwangsweise eingeglie-<br />
dert worden waren, mußte das Patriarchat gleichzeitig eine erhebliche<br />
1) Vgl. Heiler,F., Die Ostkirchen, Ernst Reinhardt Verlag, München/Basel 1971, S.437 und 274.<br />
2) Vgl. Hotz, R., Sakramente im Wechselspiel zwischen Ost und West, Benziger Verlag, Zürich/<br />
Köln 1979, S. 49.<br />
141
Schwächung in Kauf nehmen. Zwar erhielt das Moskauer Patriarchat<br />
(im Gegensatz zu den anderen christlichen Konfessionen) einen Großteil<br />
der vom Staate konfiszierten Kirchen und Klöster zurück, doch dabei<br />
handelte es sich zumeist um Ruinen, die erst wieder auf- und ausgebaut<br />
werden mußten. Außerdem fehlte es nun auch an Geistlichen für die<br />
neuen Pfarreien. Diese mußten dementsprechend im Schnellverfahren<br />
herangebildet werden, wobei schon jetzt abzusehen ist, daß sich deren<br />
mangelhafte Ausbildung in absehbarer Zeit für die Kirche zu einem<br />
Problem entwickeln könnte.<br />
Es scheint symptomatisch, daß sich der Moskauer Patriarch Aleksij II.<br />
auf der ordentlichen Bistumsversammlung der Moskauer Geistlichen, die<br />
am 12. Dezember 1996 in Moskau stattfand, recht unverblümt über bestehende<br />
Mängel im Klerus äußerte, wobei er u.a. neben Habgier, Materialismus,<br />
mangelndem Einsatz und fehlendem Kulturverständnis auch<br />
Herrschsucht, Lieblosigkeit sowie Alkoholismus als klerikale Laster<br />
anprangerte. 3<br />
Da die derzeitige Hauptsorge des Moskauer Patriarchats dem Aufbau<br />
funktionierender Kirchen und Pfarreien gilt, steht damit weiterhin der<br />
kultische Aspekt im Vordergrund, wobei nun allerdings auch der geistlichen<br />
Betreuung der Gläubigen durch Predigt und Katechese eine zusätzliche<br />
Bedeutung beigemessen wird. Hierbei steht man allerdings<br />
noch in den Anfängen, während die in den vergangenen Jahren bei der<br />
äußeren Reorganisation des Patriarchats erbrachten Leistungen durchaus<br />
verdienten, im Buch der Rekorde vermerkt zu werden. Denn in weniger<br />
als einem Jahrzehnt entstanden unter anderem Tausende neuer Kirchen<br />
und Gemeinden, über 400 neue Klöster, 18 neue Geistliche Seminare und<br />
vier neue Geistliche Akademien. Daß bei einem solchen Einsatz kaum<br />
mehr Kraft und Mittel zur Schaffung sozialer Institutionen übrigblieben,<br />
obwohl dies der Patriarch ebenfalls energisch forderte, kann eigentlich<br />
kaum erstaunen.<br />
Zwar gab es einige Bruderschaften und Klöster, die sich gezielt auf<br />
karitative Werke ( wie die Betreuung von Waisenhäusern, Altersheimen,<br />
Spitälern und Gefängnissen) spezialisierten, doch bildeten sie eine Aus-<br />
3) Vgl. Patr. Aleksij II., Wort zur kirchlichen Situation vor dem Moskauer Bistumskonvent; in:<br />
Stimme der Orthodoxie, Berlin <strong>1997</strong>/01/7.<br />
142
nahme. Die orthodoxen Gemeinden vermochten – sofern sie das überhaupt<br />
versuchten – kaum Gläubige für soziale Aufgaben zu mobilisieren,<br />
während beispielsweise Baptisten dem Aufruf ihrer Vorsteher in großer<br />
Zahl Folge leisteten.<br />
Das karitative Denken der Ostkirche<br />
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Orthodoxe Kirche und deren Gläubige<br />
sich nicht um ihre bedürftigen Mitchristen kümmerten. In einer Botschaft<br />
des Bischofskonzils, das im Februar <strong>1997</strong> in Moskau tagte, findet<br />
sich ein Text, der es verdient, in extenso zitiert zu werden, weil damit<br />
diverse Mißverständnisse ausgeräumt werden.<br />
„Inmitten der Prüfungen und Kümmernisse dieser Welt leben wir aus<br />
dem Glauben an den endgültigen Sieg des Guten über das Böse und Christi<br />
über den Antichristen, an das Kommen jener verheißenen Seligkeit, da<br />
,Gott sein wird alles in allem‘ (1 Kor 15,18), wenn die Leiden der Menschen<br />
zu Ende gehen, da ,Gott abwischen wird alle Tränen von ihren<br />
Augen, und der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid, noch Geschrei, noch<br />
Schmerz wird mehr sein‘ (Apk 21,4).<br />
Doch auch in diesem Leben ist der Kirche die Sorge für die Schwachen<br />
und Unterdrückten, für die Leidenden und Ausgestoßenen, für die Erniedrigten<br />
und Beleidigten aufgetragen. Zur Fürsorge für jene, die in einer<br />
erbärmlichen Lage sind, ruft uns Christus selbst, der nach den Worten<br />
des ehrwürdigen Simeon des Neuen Theologen ,wollte, daß jeder<br />
Arme an Seiner Statt angenommen werde, und der sich selbst jedem Armen<br />
gleich gemacht hat‘. Beim Schrecklichen Endgericht wird er uns genau<br />
danach fragen, ob wir uns nämlich um die Hungernden, die Dürstenden,<br />
um die Obdach- und Kleiderlosen, um die Kranken und Gefangenen<br />
gekümmert haben – und in ihrer Person um Christi selbst. Und ,dann<br />
wird ein unbarmherziges Gericht über jenen ergehen, der nicht Barmherzigkeit<br />
getan hat‘ (Jak 2,13). Auf jene aber, die die Werke der Barmherzigkeit<br />
tun, wird das Wort Christi Anwendung finden: ,Kommt, ihr Gesegneten<br />
meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn<br />
der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben;<br />
ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich bin<br />
143
ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen; ich bin nackt gewesen,<br />
und ihr habt mich gekleidet; ich bin krank gewesen, und ihr habt<br />
mich besucht; ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen‘<br />
(Mt 25,34–36).<br />
Wir durchleben eine nicht leichte Zeit grundlegender Umwälzungen in<br />
allen Sphären des sozialen, ökonomischen und politischen Lebens unserer<br />
Länder. Opfer dieser Umwälzungen werden immer neue Kategorien<br />
von Menschen – Rentner und Kinder, die studierende Jugend und die<br />
Kriegsdienst Leistenden, die Arbeiter und Bauern, Lehrer und Ärzte,<br />
Wissenschaftler und die schöpferische Intelligenz.<br />
In dieser Situation rufen wir die Kinder der Russischen Orthodoxen<br />
Kirche auf, daß ,einer die Last des anderen trage‘ (Gal 6,2), daß alle<br />
unermüdlich ein Beispiel des barmherzigen Dienstes an den Nächsten<br />
geben und darin unserem Erlöser nacheifern. Wir rufen die Geistlichkeit<br />
und die Gläubigen auf, ihre besondere Aufmerksamkeit den Bedürfnissen<br />
der Unglücklichen zuzuwenden, alles Mögliche zu tun, um ihre Lage zu<br />
erleichtern und ihnen eine wirkliche Hilfe zu leisten in allem, dessen sie<br />
bedürfen.“ 4<br />
Tatsächlich werden an bestimmten Tagen in den orthodoxen Kirchen<br />
immer wieder Sammlungen für die Armen durchgeführt, welche auf ein<br />
erstaunliches Echo stoßen, indem die Gläubigen zumeist Naturalabgaben<br />
wie Brot, Butter, Marmelade, Früchte und Gemüse in die Kirche bringen<br />
oder daselbst eine kleine Geldspende leisten. Und dabei sind es oft arme<br />
Leute, welche für die Allerärmsten noch einen Bissen übrig haben. Diese<br />
Gaben werden anschließend von Vertrauensleuten der Pfarrei (meist sind<br />
es Nonnen oder Mönche) an die Armen verteilt. Bei diesem Almosensystem<br />
kommen gerade jene zwischenmenschliche Beziehungen zum<br />
Tragen, die bei der derzeitigen mißlichen wirtschaftlichen Situation, wo<br />
die ohnehin mageren Löhne oft Monate auf sich warten lassen, vielen<br />
Menschen überhaupt ein Überleben sichern. Wo das nackte Überleben<br />
auf dem Spiel steht, fehlt allerdings oft die Kraft, sich noch für größere<br />
karitative Einsätze zu engagieren.<br />
4) Botschaft des Bischofskonzils der Russischen Orthodoxen Kirche Februar <strong>1997</strong>; in: Stimme der<br />
Orthodoxie, Berlin <strong>1997</strong>/01/6.<br />
144
Hier sind die von ausländischen Geldgebern unterstützten fremden<br />
Missionare eindeutig im Vorteil, um so mehr als ihre harten Devisen bei<br />
den herrschenden Wechselkursen oft ein Mehrfaches an Kaufkraft ergeben.<br />
Sie können damit karitative Werke wie Spitäler, Waisenhäuser oder<br />
Ausbildungsstätten aufbauen, die natürlich erheblich mehr auffallen als<br />
die kleinen Almosen. Außerdem verfügen sie oft auch über die nötigen<br />
Kommunikationsmittel wie Rundfunk und Druckereien, um auf diese<br />
Weise breitgestreut ihre Ideen zu verbreiten. Was die technische Seite der<br />
Glaubensvermittlung angeht, sind sie der Orthodoxen Kirche oft weit voraus,<br />
nicht zuletzt auch dann, wenn sie Missionsspektakel im amerikanischen<br />
Stil mit Massenveranstaltungen organisieren. Daß sie damit auf<br />
ortho doxer Seite Widerstand wecken, kann eigentlich schwerlich erstaunen.<br />
Ist Rußland „orthodox“?<br />
Das Auftreten der fremden Glaubensboten hat insbesondere die ohnehin<br />
bedeutende konservative Fraktion innerhalb der russischen Orthodoxie<br />
erheblich verstärkt, welche der Ökumene stets ablehnend gegenüberstand.<br />
Für diese sowohl integristisch als auch nationalistisch denkende<br />
Gruppe bedeutet Ökumene schlicht Verrat an der eigenen Kirche und an<br />
der eigenen Nation, weil er auch anderen christlichen Konfessionen und<br />
fremden Religionen ermöglicht, in den mehrheitlich orthodoxen slawischen<br />
Regionen zu wirken. Im kommunistischen Einheitsdenken erzogen,<br />
gibt es für sie keinen pluralistischen Staat, obwohl dieser Pluralismus<br />
in Rußland de facto längst schon Tatsache geworden ist und es eine<br />
Fiktion darstellt, von einem „traditionell orthodoxen Rußland“ zu sprechen.<br />
Selbst wenn die Russen wirklich einmal traditionell orthodox<br />
gewesen sind, so bleibt zumindest die Tatsache bestehen, daß dies heute<br />
nicht mehr der Fall ist.<br />
Außerdem verdrängen die nationalistischen Traditionalisten geflissentlich<br />
die Tatsache, daß die Vertreter des Moskauer Patriarchats im<br />
westlichen Ausland nur dank der daselbst bestehenden ökumenischen<br />
Gesinnung frei wirken konnten und sich dabei zumeist auch noch einer<br />
kräftigen Unterstützung durch die jeweiligen Landeskirchen erfreuen<br />
145
durften. Von einer gegenseitigen Toleranz wollen sie nichts wissen.<br />
Dementsprechend ist ihnen auch die Mitgliedschaft im Weltkirchenrat<br />
ein Dorn im Auge. Und es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis die<br />
meisten Orthodoxen Kirchen diese ökumenische Organisation verlassen.<br />
Auch für Rußlands Orthodoxie würde das den Weg zurück ins religiöse<br />
Ghetto bedeuten und für die ökumenische Bewegung einen Rückfall in<br />
die Anfänge.<br />
In Rußlands Kirche ist wieder nationale Glorie angesagt. So scheute<br />
sich Patriarch Aleksij II. nicht, diejenigen zu tadeln, welche weder die<br />
heimischen Überlieferungen noch die orthodoxen Traditionen hochhalten<br />
und sich „der heute herrschenden Mode folgend“ schämen, „Rußland<br />
orthodox zu nennen“. 5 Die Russische Orthodoxe Kirche präsentiert sich<br />
mit einem neuen Selbstwertgefühl, dessen Auswirkungen nicht bloß die<br />
Heterodoxen zu spüren bekommen, sondern auch die orthodoxen Schwesternkirchen,<br />
vorab das Patriarchat von Konstantinopel, mit dem eine<br />
recht unchristliche Rivalität besteht.<br />
Angesichts seines Mehrfrontenkrieges und einer zunehmenden internationalen<br />
Isolation liegt es auf der Hand, daß das Moskauer Patriarchat<br />
sich immer mehr an den Staat anlehnen muß und dabei auch vor Koalitionen<br />
mit recht seltsamen Bundesgenossen nicht zurückschreckt. Allen<br />
gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, hat Rußlands Orthodoxie wieder<br />
den alten Weg zum Staatskirchentum eingeschlagen. Nationalen Minderheiten,<br />
die oft auch wie die Polen, Balten und Deutschen religiöse Minderheiten<br />
sind, stehen damit wieder härtere Zeiten bevor, von den verschiedensten<br />
Freikirchen und Sekten, die derzeit in Rußland missionieren,<br />
ganz zu schweigen. Allerdings dürfte das westliche Ausland eine<br />
Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Rußland nicht<br />
einfach stillschweigend und unbesehen hinnehmen.<br />
Es tönt recht eigenartig, wenn Patriarch Aleksij II. den Moskauer Klerus<br />
aufforderte, das Ghetto zu verlassen, um fremde Einflüsse zu bekämpfen,<br />
aber gleichzeitig die eigene Kirche in ein neues, staatliches<br />
Ghetto zu manövrieren scheint. Wörtlich sagte er:<br />
„Die Mehrheit von uns ist unter den Bedingungen einer halbillegalen<br />
5) Vgl. Patr. Aleksij II., Wort zur kirchlichen Situation vor dem Moskauer Bistumskonvent; in:<br />
Stimme der Orthodoxie, Berlin <strong>1997</strong>/01/12.<br />
146
Existenz der Russischen Kirche aufgewachsen. Aber jetzt sind andere<br />
Zeiten, und wenn wir wie bisher in einem Ghetto leben wollen, das man<br />
nicht verlassen kann, dann wird unsere potentielle Herde, unsere getauften<br />
orthodoxen Menschen, von anderen zerrissen, die sich Hirten nennen,<br />
aber nach den Worten der Schrift ,Wölfe im Schafspelz‘ sind.“ 6<br />
Verpaßte Chancen zum gemeinsamen Zeugnis<br />
Man wird der Sorge des Patriarchen um das Wohl seiner Gläubigen<br />
schwerlich die Berechtigung absprechen können, um so mehr als die<br />
Mission mancher religiöser Gruppierungen, die heute Rußland zu beglücken<br />
suchen, durchaus verständliche Kritik hervorrufen muß. Trotzdem<br />
ist es völlig falsch, wenn die Vertreter der Russischen Orthodoxen<br />
Kirche jede Aktivität heterodoxer Glaubensboten kurzerhand als Proselytenmacherei<br />
diskreditieren. Proselytismus bedeutet bekanntlich die<br />
Abwerbung von Gläubigen einer anderen christlichen Konfession. Doch<br />
nach wie vor sind 60% der russischen Bevölkerung gar nicht getauft und<br />
haben sich größtenteils im Verlauf der kommunistischen Herrschaft sowohl<br />
ihrer Kirche als auch der Religion völlig entfremdet. Somit handelt<br />
es sich auch nicht um Glieder der Russischen Orthodoxen Kirche. Wenn<br />
Heterodoxe unter diesen Ungläubigen zu missionieren suchen, wird man<br />
schwerlich von Proselytismus sprechen können.<br />
Außerdem bleibt festzuhalten, daß ungeachtet mancher Fehlformen<br />
von vielen heterodoxen Missionaren auch echte und positive Leistungen<br />
erbracht worden sind, von denen gerade die Ärmsten der Armen, Waisen<br />
und Straßenkinder, Kranke und Alte sowie sozial Benachteiligte durchaus<br />
profitieren. Außerdem hat auch die Russische Orthodoxe Kirche –<br />
selbst wenn sie das nicht eingestehen will – von solchen Aktivitäten im<br />
sozialen und karitativen Bereich durchaus positive Impulse empfangen,<br />
und wenn es nur das Konkurrenzdenken war, vor der Herausforderung<br />
der anderen zu bestehen. Zudem hatten sich manche der heterodoxen<br />
Helfer einer Zusammenarbeit mit dem Moskauer Patriarchat keineswegs<br />
6) Vgl. Patr. Aleksij II., Wort zur kirchlichen Situation vor dem Moskauer Bistumskonvent; in:<br />
Stimme der Orthodoxie, Berlin <strong>1997</strong>/01/9.<br />
147
verschlossen, so daß dieses von den ausländischen Erfahrungen durchaus<br />
hätte profitieren können. Daß solche zwischenkirchliche Hilfe am Ende<br />
scheiterte, hing nur zu oft damit zusammen, daß insbesondere die orthodoxe<br />
Seite diese Hilfe ausschließlich den eigenen Gläubigen zukommen<br />
lassen wollte. 7<br />
Dabei müßten eigentlich gerade angesichts herrschender Not (und die<br />
ist auch in Rußland nicht zu übersehen) konfessionelle Schranken fallen,<br />
weil die Not und das Leiden wahrlich nicht konfessionell gebunden sind.<br />
Hier wäre der gegebene Ort, christliche Nächstenliebe gemeinsam praktisch<br />
zu üben und einander über alle gegensätzlichen Vorstellungen hinweg<br />
die Hand zu reichen. Doch dafür scheint (auch) in Rußland die Zeit<br />
noch nicht reif, womit einmal mehr die Chance vertan wird, das Christentum<br />
glaubwürdig vorzuleben.<br />
Zwar fehlt es nicht an frommen Worten, und selbst die frommen Taten<br />
könnten sich sehen lassen, wenn sie mit- und nicht gegeneinander geübt<br />
würden. Denn nur zu oft benützen auch in Rußland die verschiedenen<br />
religiösen Gruppierungen ihr karitatives Handeln dazu, in einem unchristlichen<br />
Konkurrenzdenken eigene Süppchen zu kochen, womit sie<br />
neue Gräben zwischen den Menschen aufwerfen. Die vielbeschworene<br />
christliche Nächstenliebe bleibt dabei auf der Strecke.<br />
7) Siehe zum Beispiel die evangelischen Erfahrungen mit dem sog. „Runden Tisch“; in: G2W, Zollikon<br />
<strong>1997</strong>/04/7.<br />
148
P. Eugen Hillengass SJ<br />
Schlußwort<br />
Der erste Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> hat uns in konzentrierter<br />
Form die Vielfalt der Kirchen in Mittel- und Osteuropa und insbesondere<br />
ihre Auseinandersetzung mit dem Thema „herrschen oder dienen?“ vor<br />
Augen geführt.<br />
Diese Vielfalt ist gekennzeichnet durch einen geistigen und geistlichen<br />
Reichtum, der die Kirchen im Osten untereinander, aber vielmehr noch<br />
die Kirche im Westen Europas beschenken kann.<br />
Es gibt daneben aber auch die Erfahrung einer oft schmerzlichen Verschiedenheit,<br />
die nicht bereichernde Vielfalt der einen Kirche ist, sondern<br />
Ausdruck geschichtlich gewachsener Trennungen und noch unversöhnter<br />
Spannungen und Spaltungen. Unser Beitrag in Deutschland und darüber<br />
hinaus im Westen Europas zu Versöhnung und Verständigung ist nicht ein<br />
vermeintlich besseres Wissen im Ringen um bestimmte Fragen und nicht<br />
das Verteilen von Rezepten. Für uns bleibt vor allem die Frage an die<br />
Partner in Mittel- und Osteuropa, wie unser Beitrag zu Verständigung und<br />
mehr Ökumene aussehen könnte, konkret: Wie können wir in Deutschland<br />
und Westeuropa helfen, auf die Fragen der Kirchen im Osten Antworten<br />
zu finden?<br />
Die Erfahrung, die Kirchen im Osten in einer glaubensfremden und im<br />
Umbruch befindlichen Welt machen, ist nicht einfach dieselbe wie die<br />
des westlichen Säkularisierungsprozesses. Die Antworten, die in Bezug<br />
auf diese Frage diskutiert worden sind, können aber vielleicht auch für<br />
unsere Situation im westlichen Europa Impulse und Anregungen für die<br />
Glaubensverkündigung geben, vor allem aber können sie uns sensibler<br />
machen für unsere Partnerinnen und Partner und ihre Lebensumstände.<br />
Ein kurzer Ausblick sei erlaubt: Aus den Beiträgen, Diskussionen und<br />
vielleicht auch weiterführenden Ergebnissen dieser drei Tage, aber auch<br />
aufgrund unserer Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit unseren Partnern<br />
kristallisieren sich zwei Brennpunkte zunehmend heraus:<br />
149
Zum einen die Frage der Versöhnung, die uns in verschiedenen gesellschaftlichen<br />
und kirchlichen Erfahrungen begegnet. Dabei geht es um<br />
eine in die Zukunft führende Aufarbeitung des Geschehenen und nicht<br />
um das ständig zurückblickende Verharren in alten Konflikten.<br />
Zum anderen ist es der Fragenkomplex der Entwicklung der Kirchen in<br />
zunehmend pluraler und säkularer werdenden Gesellschaften und der<br />
vielfältigen Erscheinungsformen von Religion in ihnen. Hier stellen sich<br />
uns in Ost und West ähnliche Fragen auf dem Hintergrund sehr unterschiedlicher<br />
Ausgangssituationen. Beides könnten Themen sein, die uns<br />
im Blick auf den nächstjährigen Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> beschäftigen.<br />
Dieser nächste Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> findet vom 3. bis<br />
5. September 1998 wieder in Freising statt.<br />
Der erste Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> geht zu Ende. Wir haben<br />
zusammen mit unseren Partnern in Mittel- und Osteuropa einen Weg begonnen,<br />
auf dem uns sicher Ihre Eindrücke und Anregungen inhaltlicher<br />
und organisatorischer Art weiterhelfen können. Für entsprechende Hinweise<br />
und Rückmeldungen wären wir in Freising Ihnen sehr dankbar.<br />
Ich danke denjenigen, die in besonderer Weise durch ihre Beiträge diesen<br />
Kongreß geprägt haben:<br />
den Referenten, Predigern, Teilnehmern an Podiumsgesprächen: Kardinal<br />
Wetter, Kardinal Vlk, Bischof Lehmann, Erzabt Várszegi, Prof.<br />
Halík, Frau Prof. Dr. Dylus, Prof. Feiereis, Dr. Topić, Erzpriester Ivanov,<br />
Erzpriester Milunović, Prof. P. Hotz, Dr. Stricker;<br />
den Moderatoren: Dr. Albus, Frau Waschbüsch, Prof. Grulich, Prof.<br />
Hampel, Dr. Bremer, Herrn Franz Olbert, Herrn Wiesmann (eingesprungen<br />
für Dr. Kronenberg); Dr. Albert, der die Gesamtplanung des <strong>Kongress</strong>es<br />
hatte, zusammen mit Herrn Grycz.<br />
Danken möche ich auch sehr Herrn Dr. Steiner und Herrn Kirchenmusikdirektor<br />
Kiechle für die Abendveranstaltung im Freisinger Dom.<br />
Und so schließe ich den Ersten Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />
und freue mich auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr.<br />
150
II. Berichte über die Lage der Kirche<br />
in einzelnen Ländern
Dr. Ernst Benz, Königstein/Ts.<br />
Bericht zur Lage der katholischen Kirche<br />
in den baltischen Staaten<br />
1. Litauen<br />
Von den drei baltischen Staaten gilt der größte, Litauen, als ein traditionell<br />
katholisches Land. Man geht von ca. 3 Mio. nominellen Katholiken<br />
im Lande aus, d.h. über 80% der 3.7 Mio. Landesbewohner; 1 doch ist<br />
diese Zahl nur mit großer Vorsicht aufzunehmen. Der Prozentsatz der<br />
Getauften unter den Neugeborenen, der 1958 noch bei 81% gelegen hatte,<br />
war jedenfalls am Ende der Sowjetzeit (1987) auf gerade noch 32% zurückgegangen.<br />
Nur wenig höher lag der Anteil der kirchlichen Beerdigungen<br />
an der Gesamtzahl der Bestattungen (35%), noch weit niedriger<br />
der Anteil der kirchlichen Trauungen an allen Eheschließungen (18%). 2<br />
Von 1988 bis heute dürfte die Zahl der kirchlichen Amtshandlungen<br />
sprunghaft angestiegen sein, wie beispielsweise die Zahlen aus dem<br />
benachbarten Lettland zeigen. 3 Doch wird die Zahl der wirklich praktizierenden<br />
Katholiken auf deutlich unter 30% der Bevölkerung, von einigen<br />
Priestern gar nur auf 15% geschätzt. 4<br />
1) Dies ergibt die Addition der Angaben zu den einzelnen Bistümern (s.u.). Herkunftsmäßig müßten<br />
sogar knapp 85% der Landesbewohner mit der katholischen Kirche verbunden sein, wenn man<br />
die statistischen Angaben zur Zwischenkriegszeit auf die heutige Bevölkerungszusammensetzung<br />
in Litauen umrechnet; damals waren 96,3% der ethnischen Litauer sowie 100% der Polen<br />
und 66% der Weißruthenen katholisch; vgl. Nicola Turchi, La Lituania. Nella storia e nel<br />
presente. Roma, 1933, S. 151 (Tab. IX).<br />
2) Saulius Girnius, The Catholic Church in Post-Soviet Lithuania, in: RFE/RL Research Report,<br />
vol.2, No.41 v. 15.10.1993, S.43–46, hier: S.44.<br />
3) Siehe unten. Detailliert dazu Ernst Benz, Schwieriger Neubeginn. Die Kirche in den baltischen<br />
Ländern nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit. In: Acta Baltica XXXIII. 1995,<br />
S. 107–168, hier: S. 124–127.<br />
4) Girnius,a.a.O.; KNA – ID <strong>Nr</strong>. 16, 21.4.1994, S. 8.<br />
153
Höher liegt allerdings die Zahl derer, die sich selbst als Katholiken<br />
betrachten. Irena Egle · Laumenskaite · vom Zentrum für religiöse Studien<br />
an der Universität Vilnius hat anhand von drei repräsentativen Befragungen<br />
aus den Jahren 1990 bzw. 1991 (Gesamtbevölkerung) und 1994<br />
(junge Bevölkerung) Folgendes herausgefunden: 76% der erwachsenen<br />
Bevölkerung bzw. 52% der 16–30jährigen betrachten sich selbst als<br />
Katholiken. Doch unter den jungen Leuten, die sich als Katholiken betrachten,<br />
besuchten nur 12% jede Woche einen Gottesdienst (1990 noch<br />
25%), 15% einmal im Monat (ebenso wie 1990) und 43% lediglich an den<br />
wichtigen Feiertagen (1990: 20%). Das heißt: Die jungen Leute in Litauen<br />
folgen mehr und mehr dem im Westen schon seit längerem zu beobachtenden<br />
Trend, „zu glauben, ohne dazu zu gehören“. 5<br />
Ähnliche Zahlen finden sich auch in anderen soziologischen Untersuchungen.<br />
So hat Tadeusz Szawiel in einer auf Meinungsumfragen in den<br />
Jahren 1990/91 basierenden vergleichenden Untersuchung über den „Grad<br />
der Religiosität“ in neun ehemals sozialistischen Ländern Ostmitteleuropas<br />
Litauen genau in der Mitte eingeordnet, hinter Polen, der Slowakei,<br />
Slowenien sowie Ungarn und vor Lettland, Tschechien, der ehem. DDR<br />
und Estland. Als Parameter für die Einordnung diente zum einen die<br />
Selbsteinschätzung der Befragten: Dabei bezeichneten sich in Litauen<br />
49% als „religiös“, 34% als „areligiös“, 3% als „atheistisch“ und 15% als<br />
„unentschieden“. Zum anderen war es die Häufigkeit der Gottesdienstbesuche<br />
– „einmal pro Woche“ besuchten in Litauen 16% der Bevölkerung<br />
einen Gottesdienst, „einmal pro Monat“ 12%, „nur an Feiertagen“ 47%<br />
und „nie“ 26%. 6 Angesichts dieser Zahlen kann man Litauen nicht mehr in<br />
dem Sinne als „katholisches Land“ bezeichnen wie etwa Polen, man sollte<br />
es vielleicht als „weltliches Land mit katholischen Traditionen“ bezeichnen,<br />
wie es Pater V. Aliulis Anfang September 1995 getan hat. 7<br />
5) Irena Egle Laumenskaite, The role of the Church in social transition in Lithuania. In: Przemiany<br />
w Europie S ´ rodkowo-Wschodniej, oprac. Grzegorz Dobroczyński; Katolickie Biuro Informacji i<br />
Inicjatyw Europejskich, t.3, Warszawa 1996, S. 165–171, hier: S.166f.<br />
6) Tadeusz Szawiel, Die Christen und der innere Friede – aus der Sicht eines kritischen Beobachters.<br />
In: Osteuropa – die Christen und der Friede in der Gesellschaft. 45. Internationaler Kongreß<br />
„Kirche in Not“, Band 43/1995, Königstein 1996, S. 55–71, hier: S.56 (Tab.1).<br />
7) In einem Arbeitskreis zur Lage der katholischen Kirche in Litauen anläßlich des 45. <strong>Kongress</strong>es<br />
„Kirche in Not“ in Königstein/Ts. auf eine entsprechende Frage des Verfassers. P. Aliulis, ehem.<br />
Direktor des kath. Verlags „Kataliku˛ pasaulis“ und Leiter des Katechetischen Kurses in Vilnius,<br />
ist derzeit Generalvikar der Marianer-Kongregation (MIC) in Rom.<br />
154
Allerdings genießt die katholische Kirche nach wie vor von allen Institutionen<br />
des Landes das höchste Vertrauen, wie eine von der britisch-<br />
litauischen Gesellschaft „Baltic Surveys“ im September 1993 durchgeführte<br />
Meinungsumfrage ergab: Danach vertrauten der Kirche 75% der<br />
Befragten, 13% mißtrauten ihr; den an zweiter Stelle folgenden Massenmedien<br />
vertrauten 69% und mißtrauten 25% usw. 8 Eine gleiche Befragung<br />
im Mai 1994 ergab ein ganz ähnliches Ergebnis, 9 und auch die jüngsten<br />
Umfragen bestätigen dieses Ergebnis: Von allen Institutionen vertrauen die<br />
Menschen in Litauen am meisten der Kirche, gefolgt von den Medien. 10<br />
Dieses Vertrauen in die Kirche gründet nicht zuletzt in dem hohen<br />
Ansehen, das sie sich im litauischen Volk aufgrund ihrer historischen<br />
Verdienste um die Erhaltung und Bewahrung der nationalen Identität gegen<br />
fremde Unterdrückung erworben hat. Während der Sowjetperiode<br />
hatte die katholische Kirche trotz aller Verfolgungsmaßnahmen überlebt<br />
und einen wichtigen Beitrag zu dem Kampf der Litauer für die geistige<br />
und religiöse Wiedergeburt ihres Landes geleistet. Vor allem die Untergrund-Publikation<br />
„Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“, die<br />
von 1972 bis 1989 erschien und damit die am längsten ununterbrochen<br />
erscheinende „Samizdat“-Zeitschrift in der Sowjetunion war, hat zur<br />
kraftvollen Erneuerung der Kirche ganz entscheidend beigetragen. 11 Vom<br />
Jesuitenpater und heutigen Erzbischof von Kaunas Sigitas Tamkevičius<br />
bzw. nach dessen Verhaftung vom Jesuitenprovinzial Jonas Boruta herausgegeben,<br />
trat sie für die verbannten Bischöfe Steponavičius und<br />
Sladkevičius sowie die aus politischen und Gewissensgründen in den<br />
Lagern Sibiriens schmachtenden Litauer ein und ist als bedeutender Wegbereiter<br />
der nationalen Erneuerungsbewegung anzusehen.<br />
Mit der allgemeinen Erneuerung durch die Reformbewegung „Sa˛ju - dis“,<br />
deren Gründungskongreß im Oktober 1988 mit einem feierlichen Pontifi-<br />
8) Lithuania Today, Oct. 93, Issue 8(15), S. 2f.<br />
9) 77% der Befragten vertrauten der Kirche, 16% nicht. An zweiter Stelle folgten die Medien (68%<br />
„vertrauen“, 26% „mißtrauen“). Ebd., June 1994 Issue 5(22), S. 15.<br />
10) Kato - l˛u Dzeive, 1996 <strong>Nr</strong>. 8 (262), S. 48.<br />
11) Die in den Westen geschmuggelten Exemplare wurden dort in viele Sprachen übersetzt, eine<br />
deutsche Übersetzung der 81 Chronik-Nummern in Buchform ist fortlaufend vom Institutum<br />
Balticum des Albertus-Magnus-Kollegs in Königstein herausgegeben worden. Ein Gesamtinhaltsverzeichnis<br />
in: Chronik der Litauischen Katholischen Kirche, <strong>Nr</strong>. 78–81, hrsg. von Ernst<br />
Benz, Königstein 1991, S. 190–268.<br />
155
kalamt beendet wurde, kam die Wende. Zu Beginn des Jahres 1989 durfte<br />
der seit 28 Jahren in den kleinen Ort Zˇagare · verbannte Apostolische Administrator<br />
der Erzdiözese Vilnius, Bischof Steponavičius, in die Hauptstadt<br />
zurückkehren; seine erste Amtshandlung war die Wieder einweihung der<br />
Hauptkirche Litauens, der nach jahrzehntelanger Zweckentfremdung der<br />
Kirche zurückgegebenen Kathedrale. Im März 1989 konnten dann im Einvernehmen<br />
zwischen Vatikan und sowjetischen Behörden erstmals seit<br />
dem Krieg alle sechs litauischen Bischofsstühle besetzt werden.<br />
Am 3. November 1989 wurde die Gewissens- und Religionsfreiheit in<br />
die Verfassung (der damals noch „Sozialistischen Sowjetrepublik“) aufgenommen,<br />
am 1.Dezember der Religionsunterricht in den Schulen<br />
wieder gestattet; im Februar 1990 verabschiedete das litauische Parlament<br />
ein Gesetz „Über die Rückgabe von Gebetshäusern und anderen<br />
Einrichtungen an die religiösen Gemeinschaften“. 12<br />
Hatte somit noch das alte, kommunistisch dominierte Parlament die<br />
schwerwiegendsten Einschränkungen der Religions- und Gewissensfreiheit<br />
beseitigt, so sollte das im Februar 1990 neugewählte Parlament, in<br />
dem die Anhänger des „Sa˛ju - dis“-Vorsitzenden V. Landsbergis eine eindeutige<br />
Mehrheit hatten und das bekanntlich auf seiner ersten Sitzung am<br />
11. März 1990 die Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion erklärte,<br />
die Stellung der Kirche weiter verbessern, doch durch den Wahlsieg<br />
der Exkommunisten unter Algirdas Brazauskas bei den Parlamentswahlen<br />
1992 und anschließend auch bei den Präsidentschaftswahlen<br />
(1993) hatten sich die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat<br />
dann wieder verschlechtert.<br />
Der erdrutschartige Wahlsieg der Konservativen bei den Parlamentswahlen<br />
1996 (die Zahl der Mandate der LDDP, der Nachfolgepartei der<br />
KP, reduzierte sich von 65 auf 12, die von Landsbergis’ Vaterlandsunion<br />
stieg von 24 auf 70) dürfte für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen<br />
Staat und Kirche sorgen, zumal die mit 16 Sitzen als zweitstärkste<br />
Partei aus den Wahlen hervorgegangenen Christdemokraten an der neuen<br />
Regierung Vagnorius als Koalitionspartner beteiligt sind. 13<br />
12) „Zakon o vozvrasˇčenii moleb’nych domov i drugich zdanij religioznym obsˇčinam“ vom<br />
24.2.1990, in russ. Sprache veröffentlicht in: Sovetskaja Litva, 15.3.1990; eine deutsche Übersetzung<br />
in: Informationsdienst Osteuropäisches Christentum (IDOC), <strong>Nr</strong>. 5–6/1990 vom 21.3.1990.<br />
13) Vgl. The Baltic Times, 14.–20. Nov.1996, S. 1 und 8.<br />
156
Eine der Streitfragen zwischen der alten Regierung und der Kirche<br />
hatte die Rückgabe des ehemaligen Kirchenbesitzes betroffen. Im Frühjahr<br />
1994 war nämlich durch einen Regierungserlaß praktisch ein Stopp<br />
der Rückgabe des ehemaligen Kirchenbesitzes erfolgt, und ein im Januar<br />
1995 vom Parlament angenommenes Gesetz konnte zwar durch ein Veto<br />
des Staatspräsidenten, des ehemaligen KP-Chefs Algirdas Brazauskas,<br />
der sich seit dem Ende des kommunistischen Regimes demonstrativ zur<br />
katholischen Kirche bekennt, etwas im Sinne der Kirche abgemildert<br />
werden. Doch auch in der dann am 21. März 1995 vom Präsidenten<br />
vorgeschlagenen, endgültigen Form sind die Ansprüche der Kirche auf<br />
die vollständige Rückgabe ihres ehemaligen Besitzes erheblich eingeschränkt.<br />
14 Nun hofft man, daß es unter der neuen Regierung eventuell zu<br />
einer Revision dieses Gesetzes kommen wird.<br />
Weitere Streitpunkte zwischen Kirche und der LDDP-Regierung bzw.<br />
Parlamentsmehrheit waren die Frage des Religionsunterrichtes und die<br />
Auseinandersetzungen um die Gesetze zum Rundfunk- und Fernsehwesen<br />
sowie zu den Printmedien gewesen. Ein Gruppe linker Abgeordneter<br />
hatte im Februar 1996 einen Gesetzentwurf eingebracht, der das<br />
Bildungsgesetz ändern und den Religionsunterricht aus dem normalen<br />
Unterrichtsprogramm der staatlichen Schulen verbannen wollte. Doch<br />
nach heftigen Protesten der Kirche scheiterte dieser Vorstoß im Parlament.<br />
Im neuen, nun konservativ beherrschten Parlament wird sich sicher<br />
ebenfalls keine Mehrheit zur Änderung des Status quo beim schulischen<br />
Religionsunterricht finden. Derzeit besuchen 344,6 Ts. Schüler in Litauen<br />
den katholischen Religionsunterricht, 163,1 Ts. den alternativen Ethikunterricht<br />
und 12,6 Ts. den Religionsunterricht anderer Konfessionen (vor<br />
allem orthodox). Es ist dabei die Tendenz zu beobachten, daß die älteren<br />
Schüler die Wahlfreiheit nutzen, um in einem Jahr den Religionsunterricht,<br />
im nächsten Jahr den Ethikunterricht zu besuchen. 15 Bei den im Juli<br />
1996 in Kraft getretenen Gesetzen zur Aufsicht über das Rundfunk- und<br />
Fernsehwesen sowie über die Printmedien konnten durch die neue Parla-<br />
14) ·<br />
E cho Litvy, 23.3.95, S.1. The Baltic Observer, 23.–29.3.95, S. 2. Glaube in der 2. Welt (G2W)<br />
5–1995, S. 4.<br />
15) Kastantas Luke · nas, Gediminas Zˇ ukas, Die katholische Kirche in Litauen: Religionsunterricht<br />
und Katechese. In: Ost-West Informationsdienst des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche<br />
Fragen 193. <strong>1997</strong>, S. 72–78.<br />
157
mentsmehrheit am 5. Dezember Modifizierungen durchgesetzt werden,<br />
die den von der Kirche vorgebrachten Einwänden weitgehend Rechnung<br />
trugen. 16<br />
Seit Beginn des Jahres 1992 ist die röm.-kath. Kirche Litauens neu<br />
organisiert worden, und zwar in zwei Kirchenprovinzen mit je einer Erzdiözese<br />
und zwei Suffraganbistümern: Der neugeschaffenen Kirchenprovinz<br />
Vilnius wurden die beiden Diözesen Kaisˇiadorys und Paneve · zˇys<br />
angegliedert, die bisher der Metropolie Kaunas angehört hatten. Neuer<br />
Erzbischof von Vilnius wurde (als Nachfolger des unvergessenen, im<br />
Juni 1991 verstorbenen Bekennerbischofs Steponavičius) Audrys Juozas<br />
Bačkis (geb. 1937 in Kaunas, als Sohn eines litauischen Exildiplomaten<br />
in Frankreich und Italien aufgewachsen, seit 1964 im diplomatischen<br />
Dienst des Heiligen Stuhls). Das Erzbistum Vilnius umfaßt 89 Gemeinden<br />
und etwa 600 Ts. Gläubige, das Bistum Paneve · zˇys (Bischof Juozas<br />
Preiksˇas) 123 Gemeinden und etwa 490 Ts. Gläubige, das Bistum<br />
Kaisˇiadorys (Bischof Juozas Matulaitis) 68 Gemeinden und 226 Ts.<br />
Gläubige, die neu geschaffene Metropolie Vilnius, die den östlichen Landesteil<br />
umfaßt, mithin zusammen 280 Gemeinden mit 1.316 Ts. Gläubigen.<br />
Die Kirchenprovinz Kaunas umfaßt die Erzdiözese Kaunas und die<br />
beiden Suffraganbistümer Telsˇiai und Vilkavisˇkis. Die Diözese<br />
Vilkavisˇkis (Bischof Juozas Zˇemaitis) umfaßt 103 Gemeinden und 406<br />
Ts. Gläubige, die Diözese Telsˇiai (Bischof Antanas Vaičius) ist mit 154<br />
Gemeinden und rd. 680 Ts. Gläubigen das größte Bistum des Landes. Zu<br />
ihm gehört seit 1992 auch die bis dahin nur von ihm mitverwaltete ehem.<br />
Freie Prälatur Klaipe · da (Memel). Das Erzbistum Kaunas umfaßt 129 Gemeinden<br />
und ca. 600 Ts. Gläubige, die Kirchenprovinz Kaunas, die sich<br />
über den westlichen Teil Litauens erstreckt, insgesamt also 396 Gemeinden<br />
und 1.696 Ts. Gläubige. 17<br />
Am 4.Mai 1996 akzeptierte Papst Johannes Paul II. den aus Altersgründen<br />
angebotenen Rücktritt des 75jährigen Erzbischofs-Metropoliten von<br />
Kaunas, Vincentas Kardinal Sladkevičius, und ernannte dessen Weih-<br />
16) Vgl. The Baltic Times, 1.–7.August 1996, S.6; ebd., 12.–18. Dezember, S.6; E · cho Litvy,<br />
13.12.96, S. 2, und 14.12.96, S.1.<br />
17) Zahlenangaben nach: Stephan Lipsius, Die Erneuerung kommt voran. Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />
in Litauen. In: Herder-Korrespondenz 2/<strong>1997</strong>, S. 99–104, hier: S.101.<br />
158
ischof Sigitas Tamkevičius zu seinem Nachfolger. Der 1938 geborene<br />
Tamkevičius war 1962 zum Priester geweiht worden und hatte sich 1968,<br />
was damals verboten war, dem Jesuitenorden angeschlossen. Er war die<br />
zentrale Figur des katholischen Widerstands gegen das kommunistische<br />
Regime gewesen, hatte seit 1972 die illegale Untergrundzeitschrift<br />
„Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“ herausgegeben und 1978<br />
das „Komitee zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen“ gegründet.<br />
1983 verhaftet und zu 6 Jahren Straflager mit anschließender vierjähriger<br />
Verbannung in Sibirien verurteilt, 18 konnte er 1988 nach Litauen zurückkehren<br />
und wurde nach kurzer Tätigkeit als Regens („Rektor“) des interdiözesanen<br />
Priesterseminars zu Kaunas 1991 zum Weihbischof für die<br />
Erzdiözese Kaunas ernannt.<br />
Neben zehn Bischöfen ist die Zahl der Priester inzwischen wieder auf<br />
731 angewachsen. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991<br />
sind sechs Männer- und 24 Frauenorden offiziell wiederbegründet<br />
worden: Bei den Männerorden sind die Jesuiten mit z.Zt. 41 Mitgliedern<br />
und die Marianer mit 38 Mitgliedern führend, die insgesamt 967 Ordensschwestern<br />
sind vor allem im Gesundheits- und Erziehungswesen tätig.<br />
An den drei Priesterseminaren in Kaunas, Telsˇiai und Vilnius werden<br />
derzeit insgesamt 277 Priesteramtskandidaten ausgebildet. 19 So wird<br />
zwar nicht in nächster Zukunft, aber doch mittelfristig wieder eine ausreichende<br />
seelsorgliche Betreuung der Katholiken Litauens gewähr-<br />
leistet sein.<br />
Papst Johannes Paul II. hatte bei seiner Litauenreise im Jahre 1993 in<br />
seiner Ansprache an den Klerus, die Ordensleute und Seminaristen mit<br />
deutlichen Worten auf ihre Aufgaben in einer veränderten Welt hingewiesen:<br />
Auf die „Zeit des erzwungenen Schweigens über Gott“ müsse jetzt<br />
eine „Zeit der mutigen Verkündigung des Evangeliums und des Aufbaus<br />
des Reiches Gottes durch euer persönliches Zeugnis“ folgen. Dabei habe<br />
man „mit Gleichgültigkeit, Unverständnis, säkularistischen Tendenzen<br />
und psychologischer Isolierung in einer Gesellschaft zu rechnen, die tiefreichenden<br />
Wandlungen unterliegt“. Dringend mahnte der Heilige Vater<br />
18) Zu Tamkevičius s. Ernst Benz, Zwei Priesterschicksale in Litauen. In: Informationen und<br />
Berichte – Digest des Ostens, <strong>Nr</strong>.12/1988, S. 11–14, vor allem S.13f.<br />
19) KNA – ID <strong>Nr</strong>. 16 v. 21.4.1994, S.8; ZAG-KAI v. 24.3.1994.<br />
159
die soziale Verantwortung der Kirche an: „Als Söhne des Vaters… steht<br />
ihr beim Dienst an euren Mitmenschen in der ersten Reihe, wenn ihr mit<br />
ihnen die Probleme und Schwierigkeiten des wiederaufstehenden Litauens<br />
teilt. Macht euch die Gesinnungen Christi, des Lehrers und Heilands,<br />
zu eigen, der nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen<br />
(Mk 10,45).“ Man dürfe es nicht unterlassen, sich „in die Soziallehre<br />
der Kirche zu vertiefen, in der eure Gläubigen brauchbare Elemente und<br />
ermunternde Anregungen zur Lösung der heutigen dringlichsten Fragen<br />
des Landes nach einer so langen Zeit erzwungenen sozialen Schweigens<br />
finden können“. Er warnte vor „den Versuchungen sowohl zum Laizismus<br />
wie zum Klerikalismus“ und davor, daß „die Priester in der Ausübung<br />
ihrer Sendung zur Evangelisierung in die Politik der Parteien oder<br />
die direkte Führung der Nation eingreifen“. 20<br />
Bereits im Vorfeld des Papstbesuchs hatte der Apostolische Nuntius für<br />
die drei baltischen Staaten, Erzbischof Justo Mullor Garcia, in einem<br />
Interview betont, daß es sich nach der „grausamen und traurigen Erfahrung<br />
des staatlich-verordneten Atheismus“ empfehle, „selbst jeden<br />
Anschein von Klerikalismus zu vermeiden“. 21 Erzbischof Bačkis von<br />
Vilnius beschrieb die Aufgaben und Schwierigkeiten der litauischen<br />
Kirche in einem Vortrag beim Jahresempfang der deutschen Bischöfe am<br />
5. September 1994 in Bonn mit folgenden Worten:<br />
„Die Kirche hat den Widerstand eines ganzen Volkes gegen die totalitäre<br />
Unterdrückung, gegen die atheistische Ideologie angestoßen und in<br />
gewisser Weise katalysiert… Die Kirche hat sich so den Respekt der<br />
Nation erworben, der bis heute fortdauert. Sie ist gestärkt aus der Prüfung<br />
herausgekommen, jetzt muß sie sich einer neuen Evangelisierung des<br />
Landes stellen… Nachdem die Kirche daran gewöhnt war, gegen den<br />
Feind zu kämpfen, der eins mit dem Kommunismus war, war sie kaum<br />
darauf vorbereitet, in einer freien Gesellschaft die Verkündigung des<br />
Evangeliums zu unternehmen, ohne gut ausgebildete Menschen und ohne<br />
angemessenes Werkzeug. Arm in den Mitteln, aber reich im Glauben, hat<br />
20) Echter Friede kommt aus Barmherzigkeit und Liebe. Ansprache von Johannes Paul II. an den<br />
Klerus, an die Ordensfrauen und -männer und an die Seminaristen in Vilnius am 4.September.<br />
L’Osservatore Romano. Deutschsprachige Wochenausgabe, 10. September 1993, S. 7 und 12.<br />
21) In a Cultural Vacuum. In: The Catholic World Report, August/September 1993, S.24f, Zitat S.24.<br />
160
sie die Herausforderung angenommen und sich an die Arbeit der Katechese<br />
gemacht, an die Ausbildung der Priester und Laien, an soziale und<br />
karitative Werke.“ 22<br />
Auch der neuernannte Erzbischof von Kaunas setzt die gleichen<br />
Prioritäten: Bei seiner Amtseinführung im Mai 1996 betonte er die Dringlichkeit<br />
von Priesterausbildung, Katechese und kirchlichem Sozialengagement.<br />
Letzteres habe eindeutig Vorrang vor dem Neubau bzw. der<br />
Renovierung von Kirchen. 23<br />
Neben den Katholiken des lateinischen Ritus gibt es auch eine kleine<br />
Gemeinde des byzantinischen Ritus („Unierte“) in Vilnius; sie wird von<br />
insgesamt drei Priestern betreut, die außerdem noch Gottesdienste in<br />
Kaunas, Klaipe · da und in Estland abhalten. Die Mehrzahl der Gläubigen<br />
besteht aus Ukrainern, daher wird die Liturgie in ukrainischer Sprache<br />
gefeiert, das Sonntags-Evangelium aber wird auch in der litauischen<br />
Staatssprache verlesen. 24 Dieser kleinen unierten Gemeinde hatte der<br />
Stadtrat von Vilnius im Juni 1991 – gegen den Protest des russisch-orthodoxen<br />
Erzbischofs Chrizostom – die Kirche des leerstehenden Dreifaltigkeitsklosters<br />
in Vilnius zugesprochen, auf das aufgrund seiner wechselvollen<br />
Geschichte beide Kirchen Anspruch erhoben hatten. 25<br />
2. Lettland<br />
Lettland wird gemeinhin als evangelisch-lutherisches Land mit einem<br />
nur relativ kleinen katholischen (und orthodoxen) Bevölkerungsanteil<br />
angesehen, was jedoch heute nicht mehr zutrifft. Zwar ist Alt-Livland im<br />
Zeitalter der Reformation sehr rasch und praktisch vollständig lutherisch<br />
geworden, aber in einem Teil Alt-Livlands hat sich später die Gegenreformation<br />
durchgesetzt. Es handelt sich um Lettgallen (Latgale), d.h. den<br />
Teil Alt-Livlands, der nach dem Waffenstillstand von Altmark 1629 zu<br />
22) Zitiert nach dem auszugsweisen Abdruck des Vortrags in: Informationen und Berichte – Digest<br />
des Ostens, <strong>Nr</strong>. 10/1994, S. 1–7, Zitate: S.4.<br />
23) KNA – 8592 v. 23.5.96; Kathpress KP962683 v. 22.5.96.<br />
24) ·<br />
Interview mit Vater Pavlo Jachimec, einem der drei unierten Priester in Vilnius, in: E cho Litvy,<br />
28. Juni 1996. S.5.<br />
25) IDOC <strong>Nr</strong>. 11/12–91 vom 30.6.91.<br />
161
Polen/Litauen kam. Administrativ von den übrigen lettisch besiedelten<br />
Regionen (dem an Schweden gefallenen Livland/Vidzeme und dem unter<br />
polnischer Oberhoheit weitgehend selbständigen Herzogtum Kurland-<br />
Semgallen/Kurzeme-Zemgale) getrennt, machte dieses Gebiet eine<br />
geschichtlich-kulturelle Sonderentwicklung durch, auch als es dann mit<br />
der 1. Teilung Polens 1772 zu Rußland kam: Es gehörte nicht zu den weitgehend<br />
autonomen, deutsch und lutherisch geprägten sog. Ostseeprovinzen<br />
(Estland, Livland und Kurland), sondern zum Gouvernement<br />
Vitebsk.<br />
Nach fast 300jähriger Sonderentwicklung wurde Lettgallen dann durch<br />
die Entstehung des unabhängigen Staates Lettland wieder mit den übrigen<br />
lettisch besiedelten, protestantisch geprägten Gebieten Vidzeme und<br />
Kurzeme/Zemgale vereinigt und auch kirchlich der neugeschaffenen Kirchenprovinz<br />
Riga bzw. Lettland unterstellt. Die Erzdiözese Riga umfaßte<br />
damals 111 Gemeinden in 13 Dekanaten, die Diözese Liepa - ja 39 Gemeinden<br />
in 7 Dekanaten, die Kirchenprovinz Lettland also insgesamt 150<br />
Gemeinden, die von 198 Priestern betreut wurden. 26<br />
Heute schätzt man die Zahl der Katholiken in Lettland auf etwa 450–<br />
500 Tausend. Danach hätten die Katholiken als einzige Konfession ihren<br />
Stand aus der Vorkriegszeit durch all die Jahre der Glaubensverfolgung<br />
unter dem Sowjetregime halten können. Auch wenn gegenüber dieser<br />
hohen Zahl eine gewisse Skepsis angebracht scheint, so ist es doch unbestreitbar,<br />
daß die Katholiken weit weniger Substanzverluste zu er leiden<br />
hatten als vor allem ihre lutherischen Mitchristen, aber auch als die Orthodoxen,<br />
die angesichts der massenhaften Zuwanderung von Russen eigentlich<br />
eine enorme Verstärkung gegenüber der Zeit der ersten Lettischen<br />
Republik hätten erfahren müssen. 1935 stellten die Katholiken mit<br />
477 Ts. 24,5% der Bevölkerung des Landes (die Lutheraner 55,1%, die<br />
Orthodoxen 8,9% und die Altgläubigen 5,8%). 27 1994 gab es laut staatlichen<br />
Angaben 500 Ts. Katholiken in Lettland, was 20% der Gesamtbevölkerung<br />
entspricht, gegenüber nur noch 300 Ts. Lutheranern, 100 Ts.<br />
Orthodoxen und 60 Ts. Altgläubigen. 28<br />
26) Ebd., S. 77f.<br />
27) Vgl. Heinrihs Strods, Latvijas Katol˛u Baznı - cas ve - sture 1075.–1995., Riga 1996, S. 250, Tab.12.<br />
28) Angaben der Abteilung für Religionsangelegenheiten im Justizministerium der Republik<br />
Lettland; nach: Baltische Briefe 7/8–1995, S. 10.<br />
162
Die Zahlen der kirchlichen Amtshandlungen während der Sowjetepoche<br />
sprechen für sich und zeigen das hohe Maß an Entfremdung der<br />
Bevölkerung Lettlands von der Kirche: So wurden in den 60er Jahren<br />
nur noch knapp 30% eines Jahrgangs getauft, 29 in den 70er Jahren knapp<br />
ein Viertel, 30 in den 80er Jahren nur noch knapp 20%. 31 Auch die Zahl<br />
der kirchlich vollzogenen Beerdigungen betrug in den 60er Jahren nur<br />
noch knapp ein Drittel aller Bestattungen und sank weiter auf etwa<br />
ein Viertel in den 70er und weniger als 20% in den 80er Jahren; 32 von<br />
den Eheschließungen wurden seit Mitte der 70er Jahre sogar weniger als<br />
5% auch kirchlich vollzogen. 33 In den Jahren des nationalen Aufbruchs<br />
trat eine Trendwende ein, die durch einen Vergleich der Zahlen für 1988<br />
und 1989 deutlich wird: Die Zahl der Taufen stieg von 12.357 auf 21.662<br />
und die Zahl der kirchlichen Trauungen verdoppelte sich praktisch von<br />
1.832 auf 3.565. 34 Nach der Befreiung vom Sowjetsystem und der<br />
Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit haben sich zu Beginn<br />
der 90er Jahre die Zahlen sozusagen „normalisiert“: Die Taufe von Neugeborenen<br />
scheint zur allgemeinen Regel geworden zu sein (über 90%<br />
der registrierten Geburten, dabei aber auch gewiß zahlreiche „nachgeholte“<br />
Taufen älterer Kinder bzw. Erwachsener), immerhin 26% der<br />
Eheschließungen und 28% der Beerdigungen finden mit dem Segen der<br />
Kirche statt. 35<br />
Betrachtet man die Zahlen nach Konfessionen getrennt, so wird überaus<br />
deutlich, daß in den Jahren der Glaubensverfolgung die Katholiken<br />
ihrer Kirche in größerer Anzahl die Treue gehalten haben als ihre Mitbrüder<br />
anderer Konfession: Bei den kirchlichen Beerdigungen entfielen zu<br />
Beginn der 80er Jahre jeweils deutlich mehr als die Hälfte auf Katholi-<br />
29) 1963: 9.976 Taufen bei 34.973 Geburten, 1965: 8.735 Taufen bei 31.353 Geburten. Benz, Neubeginn,<br />
S. 124, Tab. 1. Die Zahlen für die Sowjetepoche wurden vom Verfasser im Staatsarchiv<br />
Lettlands (Latvijas Valsts Arhı - vs, Fonds 1419) ermittelt.<br />
30) 1972: 8.439 Taufen bei 35.190 Geburten, 1975: 7.821 Taufen bei 34.973 Geburten. Ebd.<br />
31) 1981: 20,6% (7.521), 1982: 19,1% (7.298), 1983: 18,5% (7.609), 1984: 19,5% (7.924). Ebd.<br />
32) 1963: 33,5%, 1965: 31,8%, 1972: 26,0%, 1975: 23,9%, 1981: 20,9%, 1982: 19,7%, 1983: 18,9%,<br />
1984: 19,0%. In absoluten Zahlen: Zwischen 7.631 (1963) und 6.124 (1983). Ebd.<br />
33) Ebd. Zum Beispiel 1972: 1.159 kirchliche bei 22.584 standesamtlichen Trauungen (5,1%), 1975:<br />
4,2%, 1981: 4,3%, 1982: 4,4%, 1983: 4,3%, 1984: 4,6%.<br />
34) IDOC 9–10/1991, 31. Mai 1991, S. 26.<br />
35) Im Jahre 1992 wurden 30.776 Taufen, 4.975 kirchliche Trauungen und 9.993 kirchliche Beerdigungen<br />
registriert, s. „Diena“, 23.7.1993, S. 7, und Katol˛u - kalenda - rs 1994, S. 36.<br />
163
ken. 36 Erst nach der Befreiung vom Sowjetsystem haben die Lutheraner<br />
ihren prozentualen Anteil auf knapp über 20% (1992: 2.013 von insgesamt<br />
9.793 kirchlichen Beerdigungen) steigern können, liegen jedoch<br />
noch immer deutlich hinter den Katholiken (53,5% i.J.1992). 37 Noch<br />
deutlicher wird das Bild, wenn wir die Zahl der kirchlichen Trauungen<br />
nach Konfessionen getrennt betrachten. Hier sehen wir, daß von den relativ<br />
wenigen kirchlich vollzogenen Trauungen in der ersten Hälfte der<br />
80er Jahre über 80%(!) auf die katholische Kirche entfielen. 38 Auch hier<br />
haben die Lutheraner erst nach der Wiederherstellung der Unabhängkeit<br />
aufgeholt (32% i.J.1992), liegen jedoch noch immer deutlich hinter den<br />
Katholiken (56,5% i.J.1992) zurück. 39 Bei dem zweifellos wichtigsten<br />
Indikator, den Taufspendungen, liegen die Lutheraner allerdings jetzt<br />
wieder vorne, nachdem sie auch hier in den 80er Jahren mit durchschnittlich<br />
10–13% deutlich hinter die Katholiken (über 60%) und noch hinter<br />
die Orthodoxen (durchschnittlich 15–19%) auf den dritten Platz zurückgefallen<br />
waren. 1991 konnten die Lutheraner mit den Katholiken gleichziehen<br />
(jeweils 35%), 1992 hatten sie sie überholt (40,5 gegenüber<br />
30,0%), da sich bei ihnen die Zahl der Täuflinge mehr als verzehnfacht,<br />
bei den Katholiken hingegen „nur“ verdoppelt hatte. 40<br />
Die neuesten Zahlen über die Sakramentenspendung der katholischen<br />
Kirche in Lettland 41 scheinen für die erste Hälfte der 90er Jahre einen<br />
leichten Rückgang zu signalisieren:<br />
1990 1991 1992 1993 1994<br />
Taufspendungen 10.726 10.695 9.827 8.801 7.280<br />
Kath. Beerdigungen 4.885 5.006 5.240 5.696 6.070<br />
Kath.Trauungen 2.642 2.677 2.777 2.336 1.920<br />
36) 1981: 3.672 (56,3%), 1982: 3.362 (55,9%), 1983: 3.526 (58,8%), 1984: 3.524 (57,5%). Benz,<br />
Neubeginn, S. 126, Tab.2.<br />
37) Ebd. Vgl. „Diena“, 23.7.1993, S. 7; Katol˛u - kalenda- rs 1994, S. 36.<br />
38) 1981: 878 von 1.057, 1982: 837 von 1.063, 1983: 884 von 1.048, 1984: 914 von 1.070, das<br />
entspricht 82,1–85,4%. Benz, Neubeginn, S. 126, Tab.3.<br />
39) „Diena“, 23.7.1993, S.7; Katol˛u - kalenda- rs 1994, S. 36. In absoluten Zahlen: Katholiken 2.783<br />
und Lutheraner 1.578 von insgesamt 4.925 kirchlichen Trauungen.<br />
40) Benz, Neubeginn, S. 127, Tab. 4.<br />
41) Strods, op.cit., S. 359, Tab. 23.<br />
164
Vergleicht man sie aber mit den Zahlen der allgemeinen Statistik über<br />
Geburten, Todesfälle und Trauungen im Lande, 42 ergibt sich ein anderes<br />
Bild: Angesichts der Zunahme der absoluten Anzahl von Todesfällen pro<br />
Jahr von 34.812 i.J.1990 auf 41.757 i.J.1994 liegt der Anteil der katholischen<br />
Bestattungen an der Gesamtzahl der Todesfälle in den Jahren 1990<br />
bis 1994 konstant bei 14,1 – 14,5%. Bei der extrem rückläufigen Zahl der<br />
standesamtlichen Trauungen (1990: 23.619, 1994: 11.572) stieg der<br />
Anteil der katholischen Trauungen an dieser Gesamtzahl von 11,2% in<br />
den Jahren 1990 und 1991 über 14,7% i.J.1992 auf 16,1 bzw. 16,6% in<br />
den Jahren 1993 und 1994. Und am wichtigsten schließlich: Angesichts<br />
des enormen Rückgangs der Geburtenzahlen in Lettland von 37.918<br />
i.J.1990 auf 24.256 i.J.1994 liegt der Anteil der katholisch Getauften seit<br />
1991 kontinuierlich bei über 30% aller Neugeborenen, was für die<br />
Zukunft hoffen läßt!<br />
Am 7. Dezember 1995 erfolgte durch die Neugründung zweier Diözesen<br />
eine grundlegende Neustrukturierung der Kirchenprovinz Lettland.<br />
Das Gebiet des traditionell katholischen Lettgallen wurde von der Erzdiözese<br />
Riga abgetrennt und zu einer Diözese mit der Bezeichnung<br />
Re - zekne-Aglona erhoben. Zum Bischof der nunmehr nach der Anzahl<br />
der Gläubigen größten Diözese Lettlands wurde der bisherige Bischof<br />
von Liepa - ja, Ja - nis Bulis; Bischofssitz wurde die Stadt Re - zekne, wobei<br />
der Wallfahrtsort Aglona, das spirituelle Zentrum der Katholiken Lettlands,<br />
durch Erhebung seiner Basilika zur zweiten Kathedrale 43 des<br />
neuen Bistums besonders gewürdigt wurde. Von den ca. 410 Ts. Bewohnern<br />
Lettgallens, das 13,3 Ts. km 2 umfaßt, sind 210 Ts. katholisch. Sie<br />
bilden 98 Gemeinden und 4 Filialen in 11 Dekanaten und werden von 46<br />
Diözesan- und 5 Ordensgeistlichen (Marianer) versorgt. 21 Seminaristen<br />
in Riga gehören der neuen Diözese an, und 30 Ordensschwwestern sind<br />
dort tätig. Das verbliebene Gebiet des Erzbistums Riga, flächenmäßig<br />
(23,3 Ts. km 2 ) noch immer deutlich größer als die übrigen Diözesen Lettlands,<br />
zählt etwa 170 Ts. Katholiken, die in 23 Gemeinden und 20<br />
Missions stationen von 22 Diözesan- und 12 Ordensgeistlichen betreut<br />
werden. Nur drei Dekanate (Riga, Valmiera und Valka) sind in diesem<br />
42) Nach: 1996, The Baltic States. Comparative Statistics, Riga <strong>1997</strong>, S. 17f.<br />
43) „Co-Cattedrale“ heißt es im italienischen Text des L’Osservatore Romano.<br />
165
lange Zeit fast rein evangelisch-lutherischen Gebiet eingerichtet, bei der<br />
übergroßen Mehrzahl der Katholiken handelt es sich um ursprüngliche<br />
Lettgaller, die heute im Ballungsgebiet Riga/Jurmala leben. Das weiterhin<br />
von Erz bischof-Metropolit Ja - nis Pujats geleitete Erzbistum Riga verfügt<br />
über 21 Priesteramtskandidaten und 38 Ordensschwestern.<br />
Das bis dahin einzige Suffraganbistum Rigas, Liepa - ja, wurde entlang<br />
der historischen Grenze zwischen den Landesteilen Kurland/Kurzeme im<br />
Westen und Semgallen/Zemgale im Osten geteilt. Die dadurch neugeschaffene<br />
Diözese Jelgava (Mitau), südlich an das katholische Lettgallen<br />
anschließend, verfügt noch über einen relativ hohen Katholikenanteil<br />
(ca. 90 Ts. der 418 Ts. Einw. auf einer Gesamtfläche von 16,6 Ts. km 2 );<br />
ihre 38 Gemeinden verteilen sich auf fünf Dekanate und werden von<br />
16 Diözesan- und einem Ordenspriester (Jesuit) betreut; 5 Priesteramtskandidaten<br />
dieser Diözese studieren im Seminar in Riga, und es gibt<br />
insgesamt 11 Ordensschwestern aus drei verschiedenen Kongregationen.<br />
Der verbliebene Westteil der Diözese Liepa - ja, von der Ausdehnung her<br />
nahezu gleich groß (13,2 Ts. km 2 ), ist hingegen ein ausgesprochenes Diasporagebiet:<br />
Nur ca. 30 Ts. der 314 Ts. Einwohner sind als Katholiken<br />
registriert; 14 Gemeinden in drei Dekanaten werden von 5 Diözesan- und<br />
einem Ordenspriester betreut; erstaunlich hoch ist für diese Verhältnisse<br />
die Zahl von vier Priesteramtskandidaten. 44 Für diese beiden Diözesen<br />
wurden neue Bischöfe ernannt, die erst nach der Unabhängigkeit vom<br />
westlichen Ausland her ins Land gekommen sind: Antons Justs, neuer<br />
Bischof von Jelgava, wurde 1931 in Varakla - ni in Lettgallen geboren;<br />
seine Familie floh 1944 vor der Roten Armee zunächst nach Westdeutschland<br />
und dann, 1949, in die Vereinigten Staaten. Dort war auch, nach dem<br />
Studium in Löwen und Innsbruck und der Priesterweihe 1960, sein Wirkungsfeld<br />
als Seelsorger und Professor. 1992 wurde er Spiritual, 1994<br />
Rektor des Priesterseminars in Riga.<br />
A - rvaldis Andrejs Brumanis, neuer Bischof von Liepa - ja, wurde 1926 in<br />
Klostere/Kurzeme geboren (also auf dem Gebiet seiner heutigen Diözese)<br />
und ist damit der einzige unter den lettischen Bischöfen, der nicht<br />
aus Lettgallen stammt. Seine Ausbildung erhielt er in Namur (Belgien),<br />
44) Alle Zahlenangaben nach: La rinascita della Chiesa in Lettonia dopo la lunga persecuzione. In:<br />
L’Osservatore Romano, 31.12.1995, S. 7; vgl. Kato - l˛u Dzeive 2/96, S. 2f.<br />
166
wo er auch 1954 zum Priester geweiht und in die Diözese Liepa - ja inkardiniert<br />
wurde. Weiterführende Studien betrieb er an der Universität Löwen/Louvain<br />
und an der Gregoriana in Rom; einen Doktorgrad der<br />
Geschichtswissenschaft erwarb er 1968 mit einer Arbeit über den Metropoliten<br />
Stanislav Siestrzencewicz von Mogilev; 1968–1992 war er<br />
Redakteur des lettischen Programms von Radio Vaticana. 45<br />
Eine Addition der Zahlen aller vier Diözesen ergibt für die Kirchenprovinz<br />
Lettland 177 Gemeinden und 20 Missionspunkte, 108 Priester und<br />
51 Seminaristen.<br />
Die katholische Kirche Lettlands hat die Jahre der Glaubensverfolgung<br />
mit beachtlichem Durchstehungsvermögen überstanden und sich aufgrund<br />
ihrer konsequenten Haltung Achtung und Respekt verschafft. Auch<br />
hat sie – soweit sich das in Zahlen und Statistiken niederschlägt – weniger<br />
Einbußen erlitten als die lutherische oder die orthodoxe Kirche in<br />
Lettland. Dennoch sind die Wunden, die ihr zugefügt wurden, schwer,<br />
und es bedarf einer längeren Zeit, bis sie geheilt sein werden.<br />
3. Estland<br />
In Estland gibt es lediglich 2.500–3.000 Katholiken verschiedener Nationalität,<br />
im Gegensatz zur Vorkriegszeit aber jetzt doch mehrheitlich Esten<br />
(Konvertiten bzw. Neophyten). Neben den beiden größeren Pfarreien in<br />
Tallinn (Reval) und Tartu (Dorpat) gibt es kleinere in Ahtme und Narva,<br />
in Valga und in Pärnu, die von drei ausländischen Priestern betreut werden.<br />
Ein Seminarist in Riga und zwei Dominikaner-Novizen lassen auf<br />
einheimischen Priesternachwuchs hoffen. 46 Die diplomatischen Beziehungen<br />
zwischen Estland und dem Hl. Stuhl wurden am 3.10.1991 wiederaufgenommen,<br />
und zu Ostern 1992 wurde Erzbischof Justo Mullor<br />
Garcia zum Nuntius im Baltikum ernannt, der gleichzeitig als Apostolischer<br />
Administrator für Estland Oberhirte der dortigen Katholiken ist. 47<br />
45) La rinascita, l.c.; Kato - l˛u Dzeive 2/96, S. 3f.<br />
46) Katholische Gemeinden in Estland. Beobachtungen zu einer oft übersehenen konfessionellen<br />
Minderheit. Von Vello Salo, ergänzt von Gerd Stricker. In: G2W <strong>Nr</strong>. 3/1995, S. 28f.<br />
47) IDOC, <strong>Nr</strong>. 24–25/91 v. 31. Dezember 1991, S. 13f; ebd. <strong>Nr</strong>. 12–14/93 v. 30. Juli 1993, S. 34f.<br />
167
Dr. Anna-Halja Horbatsch, Reichelsheim<br />
Kirchen in der Ukraine<br />
Allgemein heißt es in bezug auf die Ukraine, daß ihre Kirchen zerstritten<br />
seien und es im religiösen Bereich immer wieder zwischen den einzelnen<br />
Konfessionen zu Konflikten komme. Um sich indes ein wirklichkeitsnahes<br />
Bild zu verschaffen, möchten wir versuchen, aufgrund aktueller<br />
Berichte des in Lwiw (Lemberg) erscheinenden wöchentlichen Informationsbulletins<br />
„Agencija Relihijnoji Informaciji“ (Agentur religiöser<br />
Information) die wichtigsten kirchlichen Ereignisse des letzten halben<br />
Jahres zusammenzufassen. Für dieses Informationsbulletin, das von im<br />
Westen ausgebildeten Theologen begründet wurde, arbeitet heute eine<br />
Reihe von Journalisten aus der Ukraine, die mit dem von „Kirche in<br />
Not“ ins Leben gerufenen religiösen Nachrichtensender „Auferstehung“<br />
(Woskressinnja) verbunden sind. Das Bulletin ist nicht nur in griechischkatholischen<br />
Kreisen als seriöses, objektives Presseorgan bekannt, dem<br />
es um eine sachliche und wahrheitsgemäße Information geht, in letzter<br />
Zeit haben ihm auch staatliche und orthodoxe Kreise der Ukraine diese<br />
Qualität zuerkannt.<br />
Der Allukrainische Kirchenrat<br />
Nach der Neubesetzung des Staatskomitees für religiöse Angelegenheiten<br />
mit dem ehemaligen Philosophiedozenten Dr. Viktor Bondarenko wurde<br />
ein Allukrainischer Rat der Kirchen und religiösen Organisationen<br />
gegründet. Dieser Rat ist ein interkonfessionelles Beratungsorgan zur<br />
Koordinierung des ökumenischen Dialogs; seine Vertreter beraten über<br />
Fragen, die Kirche und Staat betreffen. In ihm sind alle Konfessionen und<br />
religiöse Gemeinschaften sowie das Staatskomitee für religiöse Angelegenheiten<br />
vertreten. Der neugewählte Vorsitzende des Staatskomitees,<br />
168
Viktor Bondarenko, hat gleich nach seiner Amtsübernahme die führenden<br />
Persönlichkeiten der einzelnen Kirchen und religiösen Organisationen<br />
zu gesonderten Gesprächen eingeladen.<br />
Das Verhältnis zwischen den Kirchen sowie den religiösen Organisationen<br />
und dem ukrainischen Staat beleuchtet am besten ein Kommuniqué,<br />
das am 20. Februar <strong>1997</strong> in Kiew vom Staatskomitee für religiöse<br />
Angelegenheiten und von den Vertretern der Kirchen sowie der religiösen<br />
Organisationen unterzeichnet und herausgegeben wurde. Es faßt die<br />
gegenseitigen Beziehungen in vier Punkten zusammen:<br />
1) Das Inkrafttreten der neuen Verfassung der Ukraine habe wesentlich<br />
dazu beigetragen, daß Gewissens- und Religionsfreiheit eine neue Qualität<br />
erhalten hat, was sich in einem verbesserten Verhältnis zwischen Staat,<br />
Kirchen und religiösen Organisationen widerspiegelt.<br />
Es müsse betont werden, daß in dem endgültigen Verfassungstext auch<br />
die Wünsche und Bemerkungen der Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften<br />
berücksichtigt und im Parlament gegen den Widerstand<br />
des kommunistischen Flügels durchgesetzt worden sind. Die Schaffung<br />
eines Staatskomitees für Religionsangelegenheiten wurde von kirchlichen<br />
Kreisen einstimmig begrüßt; es soll eine entscheidende Rolle bei<br />
der Regelung von Problemen übernehmen, die immer wieder zwischen<br />
den Konfessionen und religiösen Organisationen auftreten.<br />
2) Die durchgeführte Diskussion über die Erziehung der Kinder und<br />
Jugendlichen im Geiste der im Lande vorherrschenden christlichen Religion<br />
habe gezeigt, daß dieses Problem von erstrangiger Bedeutung ist.<br />
Angestrebt wird eine enge Zusammenarbeit zwischen den kirchlichen<br />
und religiösen Institutionen sowie den staatlichen Erziehungs- und Bildungsanstalten<br />
und den Einrichtungen für Gesundheit und Kultur.<br />
3) In Anbetracht des akuten Bedarfs an humanitärer und sozialer Arbeit<br />
werden die Gläubigen dazu aufgerufen, sich in diesem Bereich zu engagieren.<br />
Die Kirchen sehen darin einen wichtigen Dienst am Menschen im<br />
Namen Gottes. Diese Tätigkeit erfordert jedoch Mittel, über die die<br />
Kirchen z.Zt. nicht verfügen. In der schwierigen Übergangszeit wird<br />
diese Arbeit mit den humanitären Mitteln finanziert, die als Spenden aus<br />
dem Ausland kommen. Allerdings gefährden die neuen Steuergesetze,<br />
die vorschreiben, die Transporte zu verzollen, eine große Zahl von bereits<br />
bestehenden Projekten.<br />
169
4) Das Wesen der Tätigkeit religiöser Organisationen ist auf die Gesundung<br />
der Seele ausgerichtet. Sie hat weder politischen noch gesellschaftlichen<br />
Charakter. Die ukrainische Regierung dürfe den Unterschied zwischen<br />
den religiösen Organisationen und politischen Parteien nicht aus<br />
den Augen verlieren, da göttliche Gesetze nicht von Parteibeschlüssen<br />
und ihren Veränderungen abhängig seien.<br />
Dieses Kommuniqué wurde von den Vertretern aller drei orthodoxen<br />
Kirchen der Ukraine (Ukrainisch-Orthodoxe Kirche der Moskauer Jurisdiktion,<br />
Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, Ukrainische<br />
Autokephale Orthodoxe Kirche), der Griechisch-Katholischen sowie<br />
der Römisch-Katholischen Kirche, ferner von den Vertretern der Moslemgemeinden<br />
der Krim sowie jüdischer Organisationen unterzeichnet.<br />
Am 20. Mai <strong>1997</strong> fand in Kiew unter dem Vorsitz des griechisch-katholischen<br />
Auxiliarbischofs Lubomyr Husar eine weitere Sitzung des Allukrainischen<br />
Kirchenrates statt, auf der es um die Rückgabe von Kultgebäuden<br />
durch den Staat an die im Rat zusammengeschlossenen religiösen<br />
Gemeinschaften ging.<br />
Bislang wurden über 3000 Kultgebäude rückerstattet, für weitere 1500<br />
Objekte wurden Grundlagen geschaffen, die Bauarbeiten ermöglichen.<br />
Der ukrainische Staat hält noch 87 Kultgebäude zurück.<br />
Ferner wurde über die repräsentative Rolle der Kirchen im Ausland<br />
gesprochen. Die Vertreter des Staates sind sich bei den zahlreichen Kontakten<br />
der Kirchen mit dem Ausland bewußt, welch bedeutenden Beitrag<br />
sie zur Festigung eines positiven Images des jungen ukrainischen Staates<br />
leisten können, in welchem die Religionsfreiheit und die Menschenrechte<br />
geachtet würden.<br />
Die ukrainische Griechisch-Katholische Kirche<br />
nach der Herbstsynode 1996<br />
Im Verlauf der letzten Bischofssynode wurde eine ganze Reihe von Kommissionen<br />
berufen, in denen Vertreter der Diözesen mitarbeiten. Wir<br />
möchten einige Bereiche erwähnen, in denen inzwischen die Arbeit aufgenommen<br />
wurde und wo erste Erfolge zu verzeichnen sind.<br />
170
Die Kommissionsmitglieder, die sich mit Jugendfragen befassen, treffen<br />
sich monatlich. Dabei arbeiten Vertreter der männlichen oder weiblichen<br />
Orden zusammen mit christlich orientierten Jugendorganisationen,<br />
wie etwa der „Ukrainischen Jugend für Christus“, der studentischen Vereinigung<br />
„Obnowa“ ( Erneuerung), sowie mit kirchlichen Verwaltungsstrukturen.<br />
Im Bereich der Erziehung des Priesternachwuchses wird angestrebt,<br />
dem Priestertyp, der vor dem Zweiten Weltkrieg in der West ukraine<br />
vorherrschend war, wieder Vorrang zu geben. Die griechisch- katholischen<br />
Priester vor dem Zweiten Weltkrieg waren dafür bekannt, daß sie sich<br />
neben ihren seelsorgerischen Aufgaben auch einem sozial engagierten<br />
Dienst an der Gemeinde widmeten, Lesehallen gründeten und für ein höheres<br />
kulturelles Niveau der Landbevölkerung sorgten. Leider stehen<br />
viele heutige Priester noch in der Tradition der orthodoxen Kirche der<br />
Sowjetzeit, sie verstehen sich lediglich als Kultdiener, die Alltagsprobleme<br />
ihrer Pfarrmitglieder sind in ihren Augen zweitrangig. Da die meisten<br />
Priester in der Griechisch-Katholischen Kirche verheiratet sind, wird<br />
auch der Ausbildung der Pfarrfrauen zu Katechetinnen, Chorleiterinnen<br />
und Sozialarbeiterinnen zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt.<br />
Es gibt inzwischen auch eine ukrainische „Caritas“, die in allen sieben<br />
griechisch-katholischen Diözesen ihre Tätigkeit aufgenommen hat,<br />
wobei das Exarchat Kiew-Wyschhorod mit einbezogen ist.<br />
Als großer Erfolg der Bemühungen der Griechisch-Katholischen Kirche<br />
im Bereich der Schulerziehung wird die Einführung des Schulfachs<br />
„Christliche Ethik“ angesehen, das bereits ab Herbst <strong>1997</strong> in vier westukrainischen<br />
Verwaltungsgebieten (Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Ternopil<br />
und Tscherniwzi) als Pflichtfach gelten soll. Als Lehrer sollen praktizierende<br />
Christen katholischer, orthodoxer oder evangelischer Konfession<br />
mit besonderer Ausbildung eingesetzt werden.<br />
Ein Novum ist auch eine gezielte Gefangenenbetreuung, die zunächst<br />
in der Diözese Tscherniwzi-Kolomyja eingeführt wurde. Die Geistlichen,<br />
die dabei eingesetzt werden, sollen einen dreijährigen Ausbildungskurs<br />
absolvieren. Außerdem erhalten die Häftlinge eine Bibliothek. Sechs<br />
Priester dieser Diözese arbeiten bereits als Seelsorger in psychiatrischen<br />
Anstalten, Kindergärten, TBC-Heilanstalten, Armeeinheiten. Ein Treffen<br />
der Mitglieder der Synodalkomitees war der Begegnung und Aussprache<br />
mit Herrn Georg Kopetzky am 21. Januar <strong>1997</strong> gewidmet. Georg Ko-<br />
171
petzky ist Vorsitzender der katholischen Männerbewegung in Österreich.<br />
Er ist im Auftrag des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vor allem<br />
im Bereich des Laienapostolats Mittel- und Osteuropas tätig. Da die<br />
Bewegung des Laienapostolats in der Griechisch-Katholischen Kirche<br />
nur eine schwache Tradition besitzt, war es für die Mitglieder der Synodalkomitees<br />
von großer Bedeutung, aus berufenem Munde in die Materie<br />
eingeführt zu werden. Georg Kopetzky erläuterte die Bedeutung und<br />
Rolle konkreter Menschen innerhalb des Staates und der Kirche.<br />
Auxiliarbischof Lubomyr Husar, der einige Zeit dem griechisch-katholischen<br />
„Exarchat Kiew-Wyschhorod“ vorstand und heute an der Seite<br />
des Oberhauptes der Kirche, Metropolit Kardinal Lubatschiwskyj, die<br />
Geschäfte der Lemberger Metropolie leitet, hat im Dezember 1996 den<br />
neuen Exarchen, Bischof Mychajlo Kowtun, für die in der Ostukraine verstreuten<br />
und in etwa 100 Gemeinden zusammengefaßten Gläubigen eingeführt.<br />
Der neue Exarch, Bischof Kowtun, hat inzwischen eine ganze<br />
Reihe von Aktivitäten entwickelt, die sich auch auf den Jugendbereich<br />
beziehen. Ein Seelsorger seiner nicht sehr großen Priesterschar wurde für<br />
die Jugendarbeit abgestellt. So wurde am 20. April, am Tag der Jugend, in<br />
Kiew ein Forum mit Diskussionen und Konzerteinlagen organisiert, das<br />
großen Zulauf fand. Ein Oberschüler erläuterte einem Korrespondenten<br />
gegenüber: „Meiner Meinung nach führen die traditionellen Kirchen in<br />
der Ukraine (gemeint sind die orthodoxen Kirchen – A.d.Ü.) keine aktive<br />
Arbeit durch, um die Jugend zu organisieren und sie dem geistigen Leben<br />
zuzuführen. Dieses Vakuum füllen all die Missionare aus dem Westen aus<br />
(gemeint sind die einreisenden Prediger der Freikirchen – A.d.Ü.), die<br />
geschickt die Massenmedien dafür einsetzen und eine breit angelegte<br />
Propaganda betreiben. Daher haben sie einen großen Zulauf an jungen<br />
Menschen. Wenn die Griechisch-Katholische und die Orthodoxe Kirche<br />
ständig solche Abende für die Jugend durchführen würden, wäre dies von<br />
großem Nutzen.“<br />
Anfang Dezember 1996 brach Bischof Wassyl Medwit, der die Betreuung<br />
der griechisch-katholischen Gläubigen in Mittelasien (Kasachstan)<br />
übernommen hat, zu einer Visitationsreise auf. In Almaty traf er mit dem<br />
Apostolischen Nuntius in Kasachstan und Mittelasien, Erzbischof Marjan<br />
Oles, zusammen. Bislang wurden viele katholische Ukrainer, von denen<br />
es in Kasachstan etwa eine Million gibt, von römisch-katholischen Seel-<br />
172
sorgern betreut. Nun erhielten die Ukrainer eine eigene Kirche in<br />
Karaganda, deren Baukosten von <strong>Renovabis</strong> mitbestritten wurden.<br />
Große Bedeutung wird dem vom 30.6. bis 6.7. <strong>1997</strong> in Ungarn durchgeführten<br />
Treffen der Hierarchen und Gläubigen aller katholischen Ostkirchen<br />
beigemessen, das auf eine Initiative der Kongregation für die<br />
Ostkirchen zurückgeht. Die wissenschaftliche Begegnung „Die Identität<br />
der katholischen Ostkirchen“ hat zum ersten Mal Vertreter aller Ostkirchen<br />
zusammengeführt, ihnen ein näheres Kennenlernen ermöglicht<br />
und die veränderte positive Einstellung zu diesen Kirchen, die auf dem<br />
II. Vatikanum begonnen hatte, bestätigt. Zentrale Themen der Begegnung<br />
waren: Herausbildung der Identität, Liturgie als Ausdruck der Identität,<br />
Ökumenismus als Voraussetzung der Identität, das Mönchstum als<br />
Grund element der Identität u.a. Die Ukraine war mit allen griechisch-<br />
katholischen Bischöfen vertreten.<br />
Die drei orthodoxen Kirchen in der Ukraine<br />
Wegen orthodoxer innerkirchlicher und zwischenkonfessioneller Konflikte<br />
sowie der Einbeziehung der Kirche in politische Auseinandersetzungen<br />
sind die Hauptbestimmungen der Kirche – Evangelisierung,<br />
Jugendarbeit, Krankenfürsorge, Gefangenenbetreuung – in den Hintergrund<br />
getreten.<br />
Beim Streit zwischen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche der Moskauer<br />
Jurisdiktion und der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Kiewer<br />
Patriarchats spielen politische Momente eine große Rolle. Patriarch Filaret,<br />
der bis 1991 dem ukrainischen Exarchat der Russisch-Orthodoxen<br />
Kirche in Kiew als Metropolit vorstand, hatte 1991 für die Orthodoxe<br />
Kirche der Ukraine die Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat gefordert<br />
und dabei die Mehrzahl der in der Ukraine amtierenden Bischöfe auf<br />
seine Seite gebracht.<br />
Das Moskauer Patriarchat reagierte darauf mit seiner Amtsenthebung und<br />
dem Entzug des geistlichen Standes, ferner dem Einsetzen von Metropolit<br />
Wolodymyr Sabodan als Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine und<br />
schließlich mit einem <strong>1997</strong> ausgesprochenen Bann. Begründet wurde er mit<br />
„antikirchlicher, spalterischer Tätigkeit, die der Einheit der Kirche schadet“.<br />
173
In einem Brief an den Präsidenten der Ukraine nach der Synode, die<br />
Mitte April von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche Moskauer Jurisdiktion<br />
abgehalten wurde, schrieb Metropolit Sabodan, daß die Synode es<br />
nicht ablehne, die sechzehnte unabhängige Teilkirche zu werden, nur<br />
brauche man dazu noch Zeit und es müsse „der Wille Gottes“ sein. Im<br />
Zusammenhang mit dem massiven gesellschaftspolitischen Druck, der<br />
die drei orthodoxen Kirchen zu einer Versöhnung drängt, hieß es: „Wir<br />
wollen in Frieden mit allen Konfessionen leben, doch eine Vereinigung<br />
unter Zwang kommt nicht in Betracht.“ Einen großen Hinderungsgrund<br />
sehe er im Patriarchen Filaret, der von der Russisch-Orthodoxen Kirche<br />
(ROK) unter Bann gestellt wurde. Er wirft der Kirche Filarets vor, daß die<br />
Geistlichkeit und die Gläubigen widerrechtlich Kirchen in Besitz nähmen,<br />
die der Orthodoxen Kirche der Moskauer Jurisdiktion gehörten.<br />
Filaret hingegen rief auf einer Konferenz der einflußreichen gesellschaftlichen<br />
Organisation „Proswita“ (Aufklärung) die ukrainische<br />
Geist lichkeit, die Regierungsvertreter, die Berufsverbände und die Intelligenz<br />
des Landes dazu auf, sich für die Schaffung einer einheitlichen<br />
ukrainischen orthodoxen Teilkirche einzusetzen, denn sie stelle nicht nur<br />
einen bedeutenden Schritt in Richtung auf Wiederherstellung der historischen<br />
Gerechtigkeit dar, sondern auch einen Ausweg aus der ökonomisch-geistigen<br />
Krise, die die Gesellschaft erfaßt habe… Die kanonische<br />
Anerkennung sei nicht vorrangig, sie werde mit der Zeit kommen. Auch<br />
schlug er vor, die ukrainischen kirchlichen Würdenträger von Übersee als<br />
Vermittler einzusetzen und sich nicht an der Hierarchie der von Moskau<br />
abhängigen Ukrainischen Orthodoxen Kirche, sondern an den Gläubigen<br />
zu orientieren, bei denen der Wunsch zur Einheit vorhanden sei.<br />
Inzwischen haben sich jedoch Abgeordnetenkreise in den Streit der<br />
beiden größten orthodoxen Fraktionen eingemischt. Nachdem linke Parlamentarier,<br />
zu denen eine Reihe führender kommunistischer Kräfte gehören,<br />
eine Unterstützungsgruppe der Orthodoxen Kirche Moskauer Jurisdiktion<br />
gebildet haben, hat sich in der rechten Mitte eine Gruppe<br />
Abgeordneter „zur Verteidigung des kanonischen Rechts der ukrainischen<br />
Orthodoxie“ organisiert. Sie wollen beide orthodoxen Kirchen<br />
unterstützen, die eine unabhängige Ukrainische Orthodoxe Teilkirche<br />
anstreben. Sie erinnern daran, daß die ROK von der politischen Führung<br />
Rußlands als traditionelles Instrument der großstaatlichen imperialen<br />
174
Politik ausgenutzt wurde und noch wird. Zudem geht es auch um wirtschaftliche<br />
Momente: aus den orthodoxen Pfarrgemeinden der Moskauer<br />
Jurisdiktion fließen etwa 200 Millionen Dollar jährlich aus der Ukraine in<br />
die Kasse des Patriarchats. Zunehmend werden Befürchtungen laut, daß<br />
der Streit der Orthodoxen sogar die für 1998 anberaumten Parlamentswahlen<br />
mit beeinflussen könnte.<br />
Autor eines bemerkenswerten Beitrags zur Frage der rechtmäßigen<br />
Nachfolge auf dem Kiewer Metropolitansitz ist Serhij Sdioruk, Mitglied<br />
des wissenschaftlich-konsultativen Rates des Staatskomitees für Religionsangelegenheiten<br />
und anerkannter Experte für die Beziehungen zwischen<br />
Staat und Kirche, das Kirchenrecht und die Kirchengeschichte. Er<br />
betrachtet die Konflikte innerhalb der ukrainischen Orthodoxie als sehr<br />
gefährlich, wobei er die Ansprüche der Orthodoxen Kirche der Moskauer<br />
Jurisdiktion auf die Kiewer Metropolie als unrechtmäßig ansieht. Solche<br />
Ansprüche könnten sowohl die beiden anderen Orthodoxen Kirchen in<br />
der Ukraine (die des Kiewer Patriarchats und die Autokephale Kirche)<br />
und eine Reihe von ukrainischen Orthodoxen Kirchen (in Polen, in Übersee)<br />
sowie die Griechisch-Katholische Kirche erheben. Seiner Meinung<br />
nach habe bereits ein Prozeß begonnen, der zu einem Kompromiß führe,<br />
dem stehe lediglich die Orthodoxe Kirche der Moskauer Jurisdiktion im<br />
Wege, zumal ein Teil ihrer Hierarchie jeglichen Dialog ablehne. Er unterstreicht<br />
dabei, daß die Ukraine im Verlauf ihrer Geschichte stets eine besondere<br />
Beziehung zum Apostolischen Stuhl unterhalten habe, dessen<br />
heutige Bedeutung innerhalb der religiösen Zentren dieser Welt erstrangig<br />
sei. Eine Zusammenarbeit mit dem Weltkirchenrat, wo die Ukraine nicht<br />
vertreten sei, weil Rußland die Ukraine als seinen Bestandteil vorstelle,<br />
sowie mit der Konferenz der Europäischen Kirchen sei dringend geboten.<br />
Ökumenische Anfänge in der Ukraine?<br />
Ohne Zweifel sind in der Ukraine, ungeachtet der um Kultgebäude aufflackernden<br />
Streitigkeiten, hoffnungsvolle Anfänge einer ökumenischen<br />
Bewegung zu verzeichnen. Sie sind zunächst auf lokaler Ebene festzustellen<br />
und führen zu gemeinsamen Beratungen auf Bezirks- und Gebietsebene.<br />
So fand im ostukrainischen Industriegebiet, in der Stadt Donetzk,<br />
175
im Frühjahr <strong>1997</strong> ein gemeinsames Forum der beiden katholischen Kirchen<br />
sowie der Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats statt, das als<br />
überkonfessioneller Dialog gedacht war. Zwar enthielten einige Beiträge<br />
Ausfälle gegen die Orthodoxe Kirche der Moskauer Jurisdiktion, der man<br />
vorwarf, sich in den Dienst einer Wiederherstellung eines imperialen<br />
Rußland zu stellen und die nationalen Bewegungen zu unterdrücken, im<br />
allgemeinen habe jedoch das Forum die Hoffnung geweckt. „daß wir mit<br />
der Zeit lernen werden, einander zuzuhören, zu diskutieren und schließlich<br />
zum gemeinsamen Gebet zu finden“. Ein ähnliches Treffen fand in<br />
Solotschiw in der Westukraine statt, an dem beide katholischen sowie<br />
zwei ukrainische orthodoxe Denominationen teilnahmen. Das Treffen<br />
stand unter dem Zeichen der Worte des Apostel Paulus „Wir bitten an<br />
Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20). Der gemeinsame<br />
Aufruf appellierte, alles daranzusetzen, das zweitausendjährige<br />
Jubiläum der Geburt Christi in Liebe und Einvernehmen zu begehen. Das<br />
Dokument unterzeichneten fünf Geistliche verschiedener christlicher<br />
Konfessionen.<br />
Die oben angeführten Beispiele stehen nicht einzeln da. Einen ausführlichen<br />
Bericht über ähnliche Aktivitäten erlaubt der Umfang dieses<br />
Berichtes nicht. (Ebenfalls aus Raumgründen mußte auf die Darstellung<br />
mancher Ereignise der römisch-katholischen Kirche und der protestantischen<br />
Kirchen in der Ukraine verzichtet werden.) Die größte Zurückhaltung<br />
bei interkonfessionellen Gesprächen und Abkommen ist leider bei<br />
einer Vielzahl der Vertreter der Orthoxen Kirche der Moskauer Jurisdiktion<br />
festzustellen. Bei Übereinkommen, die eine gemeinsame Nutzung<br />
von Kultgebäuden betreffen, geht die Ablehnung zuweilen soweit, daß<br />
mit dem Argument operiert wird, man müsse vor dem Gottesdienst eine<br />
Kirche neu weihen, wenn eine andere christliche Konfession zuvor darin<br />
einen Gottesdienst abgehalten habe…<br />
Das herannahende 2000-Jahr-Jubiläum der Geburt Christi soll in der<br />
Ukraine in breitem Rahmen nicht nur in kirchlichen Kreisen gefeiert werden.<br />
An ihm sollen sich staatliche, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen<br />
beteiligen. Viele besorgte Christen versprechen sich von den<br />
breit angelegten Feierlichkeiten und Initiativen eine mächtige, versöhnende<br />
Bewegung, die zur Lösung der heute bestehenden Konflikte beitragen<br />
werde.<br />
176
Prof. Dr. Miklós Tomka, Budapest<br />
Dienstbereitschaft und/oder herrschaftliche<br />
Bedrohlichkeit der Kirche:<br />
Dilemmata der katholischen Kirche Ungarns<br />
Herrschaft oder Dienst? Das ist eine unhöfliche Frage. Zumindest auf der<br />
prinzipiellen Ebene. Die Katholiken Ungarns und ganz besonders die<br />
Priester haben das Evangelium soweit gut gelernt, daß sie das Dienen für<br />
eine Christenpflicht halten, die Herrschaft dagegen mißtrauisch beäugen<br />
und für sich selbst ablehnen.Die Kirche ist arm. Die Leiden einer vierzigjährigen<br />
Verfolgung sind noch sehr nahe. Die Schäden sind noch nicht<br />
behoben. Die Kirche macht jede Anstrengung, um sich für die Erfüllung<br />
ihrer Aufgaben zu rüsten. Sie vergißt dabei auch die Notleidenden nicht.<br />
Sie will dienen. Die vorhin gestellte Alternative ist somit keine reale. Fast<br />
wäre man geneigt, das Thema damit überhaupt zu schließen. Was sollen<br />
darüber noch viele Worte gesagt werden? Die Sache hat nur einen Haken.<br />
Nicht wenige beurteilen die Stellung der Kirche genau umgekehrt.<br />
Von jener anderen Warte ist die Sache genauso klar. Die Kirche hat<br />
immer geherrscht, wird behauptet. So ein Satz ist freilich ein Kampfwort.<br />
Aber keineswegs ohne eine bittere Erfahrung. Die katholische Kirche<br />
Ungarns war für ein Jahrtausend die stabilste politische, wirtschaftliche<br />
und kulturelle Macht des Landes. Sie hat ihre Herrschaft wie selbstverständlich<br />
ausgeübt. Das Intermezzo des Kommunismus erscheint in<br />
dieser weltgeschichtlichen Perspektive nur als eine kurze Pause. Ist die<br />
Kirche nach der Wende wieder bemüht, die frühere Herrschaftsposition<br />
zurückzuerobern? Sie kann auf diesem Weg bereits nicht unerhebliche<br />
Erfolge verbuchen.<br />
Herrschaft der Kirche…? Viele sind überzeugt, diese gehöre zu ihrem<br />
Wesen. Schlimm sei nur, daß sie das nicht eingestehen wolle und daß sie<br />
177
die durch die Gesetze gewährte Religionsfreiheit und ihre institutionalisierte<br />
religiöse „Exterritorialität“ zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche<br />
mißbrauche. Sie ist mächtig, ein Elefant zwischen vielen Mäus chen,<br />
die weit größte Organisation in der wachsenden Vielfalt der sich neu gliedernden<br />
Gesellschaft. Sie ist aber ein Elefant im Porzellanladen, der sich<br />
nicht darum kümmert, wie es den anderen um ihn herum ergeht. Wegen<br />
dieser Unbekümmertheit sei die Kirche für alle, die nicht zu ihr gehören,<br />
eine Gefahr. Sie beherrsche die Szene, wolle aber nicht dafür einstehen.<br />
Sie praktiziere eine unverantwortete Herrschaft. – So sprechen immer<br />
mehr Menschen, darunter die gar nicht Religiösen und die nicht kirchlich<br />
Glaubenden, die Mitglieder anderer, besonders der kleineren Religionsgemeinschaften<br />
und die Anhänger einer antireligiös-liberalen Gesinnung.<br />
Diese Mahner mögen die sozialnützlichen Dienste der Kirche wahrnehmen,<br />
welche aber in ihren Augen die Gefahr nicht schmälern, die durch<br />
das Machtgehabe der Kirche entstehe. Die Über legung, ob die Kirche<br />
herrscht und ob sie nach Herrschaft lechzt, ist aus dieser Sicht keine<br />
Frage, sondern eher eine Provokation. Schlimme Fakten sollen nicht<br />
durch Hinterfragung verniedlicht werden!<br />
Es wäre zu einfach, hier den Schiedsrichter spielen zu wollen. Es wäre<br />
aber auch falsch, zu behaupten, die eine Seite hätte recht, die andere<br />
unrecht. Es sollten dagegen die Selbstverständnisse etwas genauer untersucht<br />
werden, die hinter der einen und der anderen Position stehen. Wahrscheinlich<br />
reicht es nicht aus, den guten Willen und die Absichtserklärungen<br />
auf die Waagschale zu legen. Lauterkeit und Vertrauenswürdigkeit<br />
werden nicht nach Worten, sondern nach der Erfahrung beurteilt. Man<br />
muß also die Vorgeschichte befragen.<br />
Es gibt noch ein Problem. Die Begriffe „Dienst“ und „Herrschaft“ werden<br />
von verschiedenen Menschen und von verschiedenen Gruppen der<br />
Gesellschaft unterschiedlich verstanden. Sollte es dabei nur um eine<br />
semantische, um eine Verständnisdifferenz gehen? Die Herrschaftsfrage<br />
ist offensichtlich stark interessenbeladen. Es fragt sich, welche Motive<br />
die unterschiedlichen Auffassungen bestimmen. Wer bezweckt was mit<br />
der einen oder anderen Position?<br />
178
Historische Hypotheken<br />
Im historischen Zusammenhang bedeutet die katholische Kirche für das<br />
Karpatenbecken die Kultur, die Ordnung der Geschichte, die Staatlichkeit,<br />
die Zugehörigkeit zu Europa. Die Reiterstämme der Ungarn sind<br />
durch ihre Christianisierung zu einem Kulturvolk der europäischen Völkergemeinschaft<br />
geworden. Mit diesem Glauben und für diese Kirche<br />
haben die hier Lebenden die wiederholten Angriffe aus dem Osten, die<br />
Verwüstungen durch Tataren und Türken überstanden. Jene „Heiden“<br />
boten Waffenbrüderschaft gegen Europa an. Ungarn hielt aber zu seinem<br />
Glauben. Es ist bis heute stolz darauf, immer wieder in der Geschichte<br />
das Christentum und Europa gewählt und verteidigt zu haben. Das katholische<br />
Königreich „der Heiligen Krone des heiligen Stephan“ war eines<br />
der bedeutendsten Reiche des Mittelalters und das langlebigste an den<br />
östlichen Grenzen Europas. Die wichtigste tragende Institution dieses<br />
ethnisch heterogenen Volkes und dieses Staates war die katholische Kirche.<br />
Sie vermochte selbst in den 150 Jahren der Türkenherrschaft die<br />
vielsprachige Nation zusammenzuhalten. Sie tat auch mehr. Als weiter<br />
westlich in Europa die bürgerliche Entwicklung Institutionen der zivilen<br />
Gemeinschaft schuf, stand Ungarn im Krieg und wurde von Türken und<br />
von den Söldnern Österreichs geplündert. Ein leistungsfähiges Gemeinwesen<br />
konnte nicht entstehen. Die Kirche errichtete die ersten Waisen-,<br />
Alten- und Krankenhäuser. Sie öffnete bereits in der Zeit der Staatsgründung<br />
die ersten Schulen und baute in späteren Jahrhunderten ein vollständiges<br />
Bildungssystem aus. Die Kirche leistete also ununterbrochen große<br />
Dienste. Zusätzlich dazu wurde sie in Notzeiten immer wieder eine den<br />
Armen, den Flüchtenden, den Bedürftigen dienende Kirche. Dies ist die<br />
frühere Vergangenheit. Sie wird jedoch durch die Entwicklungen der<br />
Neuzeit überschattet.<br />
Die gleiche katholische Kirche ist in den letzten beiden Jahrhunderten<br />
innerhalb der öffentlichen Organisation der Gesellschaft ein Relikt geworden,<br />
das mit seiner Macht nicht mehr umzugehen vermochte, aber<br />
krampfhaft daran festhielt. Die Existenz ihrer Institutionen (bis 1948 über<br />
die Hälfte aller Schulen, ein Großteil der Einrichtungen des Sozial- und<br />
Gesundheitswesens) und ihre Macht im Staat wandelten sich vom Segen<br />
der Nation zu einem Bremsklotz der Entwicklung. Die Entstehung einer<br />
179
katholischen Partei und auch einer innerkirchlichen Laienorganisation<br />
wurde durch die katholische Hierarchie (im 19. Jahrhundert) verhindert,<br />
weil ihre paternalistische Auffassung den Laien keine Stimme erlauben<br />
wollte… Die Kirche – als die größte Großgrundbesitzerin im Land der<br />
Domänen und der Millionen von landlosen Bauern – widerstand (bis zum<br />
Anbruch des Kommunismus) einer Agrarreform. Sie hütete eifersüchtig<br />
ihren Reichtum, ohne aber ihre Landwirtschaft gewinnbringend zu betreiben…<br />
Konsequenterweise mußten ihre Institutionen zum großen Teil<br />
vom Staat finanziert werden… Der hohe Klerus teilte das reiche Leben<br />
der Aristokratie… Durch ihre Besitztümer, durch ihre Institutionen,<br />
durch die ihr rechtlich zugestandenen Positionen und durch ihren gesellschaftlichen<br />
Einfluß besaß die Kirche eine umfassende Macht. Sie selbst<br />
war Macht – in andauernder struktureller Sünde.<br />
Die Herrschaft der Kirche wurde zu einer berechtigten Zielscheibe der<br />
marxistisch geprägten Religions- und Kirchenkritik. Die kommunistische<br />
Propaganda hörte nicht auf, über die reiche Kirche und deren Machtmißbrauch<br />
zu sprechen. Die Kinder haben das bereits im Kindergarten und in<br />
der Schule zu hören bekommen. Es wurde auch anderswo, in allen möglichen<br />
Kontexten, refrainartig wiederholt. Dieses stereotype Bild kennen<br />
auch jene, die sonst überhaupt nichts über die Kirche wissen.<br />
Bedauerlicherweise haben die kommunistischen Angriffe beziehungsweise<br />
der Versuch der Kirche, diese abzuwehren, den Weg für eine<br />
Vergangenheitsbewältigung verbaut. Von ihrer herrschaftlichen Geschichte<br />
hat sich die katholische Kirche Ungarns bis heute nicht distanziert.<br />
Eine anachronistisch anmutende Vergangenheit wirft ihre Schatten<br />
auf die Kirche Ungarns.<br />
Die Sünden der Kirche rechtfertigen freilich nicht die Unmenschlichkeiten<br />
des Parteistaates. Es wäre völlig abwegig, die Kommunisten<br />
schlicht als Moralisten darstellen zu wollen. Die vergangenen vierzig<br />
Jahre waren eine herzlose Diktatur erst in totalitärer, später in autoritärer<br />
Ausgabe. Sie wurden von den Menschen als Unterdrückung, als Entmündigung,<br />
als Freiheitsentzug erlebt. Diese Nöte ließen die Sorgen der vorkommunistischen<br />
Jahrzehnte in einem rosigen Licht erscheinen. Nicht<br />
die Vorkriegszeit, sondern die sowjetische und die kommunistische Herrschaft<br />
hat das Denken der Menschen über die Kirche und ihre Beziehungen<br />
zur Kirche bestimmt. Man schätzte die Rolle der Kirchen in der<br />
180
Bewahrung jener historisch gewachsenen Kultur, welche der Kommunismus<br />
vernichten wollte. Viele erkannten die Rolle der Kirchen bei der<br />
Schaffung und Bewahrung von Gemeinschaften in einer Zeit, als die<br />
Modernisierung frühere Bindungen zersetzte und die staatliche Gewalt<br />
deren Regeneration verhinderte.Man stützte sich auf die Kirchen, wenn<br />
man eine freie geistige Atmosphäre und die Gemeinschaft von Seines/Ihresgleichen<br />
brauchte, wenn man im Widerstand gegen das aufoktroyierte<br />
System bestärkt werden wollte. Die Kirchen konnten sich in all diesen<br />
Jahren einer breiten Sympathie sicher sein. Mehr noch, die Kirchen gewannen<br />
im Kommunismus neue gesellschaftliche Funktionen. Sie wurden<br />
zu Idolen, auf welche jede Hoffnung projiziert wurde.<br />
Die Hoffnungslosigkeit und die Apathie nach der niedergeschlagenen<br />
Revolution (1956) und die plötzliche, extensive Industrialisierung und<br />
Modernisierung in den sechziger Jahren haben zunächst eine starke Entchristlichung<br />
ausgelöst. Es mag dabei auch die Tatsache mitgewirkt haben,<br />
daß inzwischen die erste, bereits in kommunistischen Schulen ausgebildete<br />
Generation herangewachsen war. In den sechziger und siebziger<br />
Jahren fiel der Anteil der Sonntagskirchgänger von fast 80 auf 8 (!)<br />
Prozent der Katholiken Ungarns. Ende der siebziger Jahre schlug allerdings<br />
diese Entwicklung um. Seit dieser Zeit gibt es einen religiösen Aufschwung.<br />
(Der Anteil der Sonntagskirchgänger liegt heute bei 12–13<br />
Prozent.) In den achtziger Jahren, die wir nachträglich als Demontage des<br />
kommunistischen Systems bezeichnen, haben alle gesellschaftlichen<br />
Institutionen an Ansehen eingebüßt. Im Gegensatz dazu stieg das Prestige<br />
der Kirchen von Jahr zu Jahr. In den Monaten unmittelbar vor der Wende<br />
überflügelte die Hochschätzung der Kirchen alle anderen Institutionen.<br />
Im Einklang damit stiegen die Erwartungen an die Kirchen sprunghaft<br />
an. Die Umfragen selbst staatlicher Institute vermittelten ein unglaubliches<br />
Bild. Im Augenblick, als das Gebäude des sozialistisch-kommunistischen<br />
Systems dabei war, zusammenzustürzen, rechnete die öffentliche<br />
Meinung damit, daß die Kirchen aus der Konkursmasse eine neue heile<br />
Welt errichten könnten. Verzweifelte Hoffnungen nahmen überhand.<br />
Kind liche Zuwendung zu den Kirchen wuchs selbst bei Nichtglaubenden.<br />
In dieser Euphorie wurde ein Restitutionsgesetz zugunsten der Kirchen<br />
beschlossen – ohne daß dessen Durchführbarkeit überhaupt geprüft<br />
worden wäre. Dies waren die kurzen Momente einer moralischen Auf-<br />
181
wallung, die die Pragmatik ungefragt ließ. Sie zeigten aber auch die<br />
Chancen der Kirchen und die Brüchigkeit der vierzigjährigen Propaganda.<br />
Diese Momente waren kurz, sie waren jedoch Augenblicke, die<br />
historische Epochen trennten.<br />
Die noch unerfüllte Erwartung einer dienenden Kirche<br />
Die Wende öffnete Schleusen aufgestauter Probleme. Damit ist auch der<br />
Bedarf für eine dienende Kirche angewachsen. Die sich plötzlich verschärfende<br />
soziale Differenzierung, die Masse von Kleinrentnern, die auf<br />
einmal aus ihrem Einkommen die laufenden Kosten ihrer Wohnung nicht<br />
bezahlen können, die Kürzung des Kinder- und des Erziehungsgeldes,<br />
die medizinische Versorgung, die jetzt kostenpflichtig geworden ist, das<br />
Studium, wofür immer mehr gezahlt werden muß (usw.), haben breite<br />
Schichten geschaffen, die mit ihren Problemen nicht fertig werden. Mehr<br />
denn je wird nach Mitmenschlichkeit und nach Hilfe gefleht. Der Staat<br />
zieht sich aber aus der Affäre unter Berufung auf die Privatisierung. Die<br />
Sozialpolitik wird einem Manchester-Kapitalismus geopfert. Der Staat<br />
ist Werkzeug jener Menschen geworden, die sich bereits in den vergangenen<br />
Jahrzehnten eine wirtschaftliche Sicherheit verschafft haben. Viele<br />
von diesen konnten sich jetzt einen westlichen Wohlstand sichern. Es gibt<br />
wieder sehr Reiche und sehr Arme, Herrschende und solche, die durch<br />
die neue Struktur unmündig gemacht werden. Es ist unmöglich, in dieser<br />
Polarisierung unbeteiligt zu bleiben. Auch die Kirchen werden herausgefordert,<br />
ihre Fahrtrichtung in diesem grausamen „freien Wettbewerb“,<br />
ihre Position zu bestimmen. Wollen sie ihren Platz unter den Etablierten<br />
oder unter den nicht Abgesicherten und den Wegesuchenden einnehmen?<br />
Die Stunde Null schlug für die Kirchen in einem eigenartigen Dilemma.<br />
Die Bevölkerung rechnet mit dem karitativen Beistand der Kirche.<br />
Vielleicht hält man sie für reich. Vielleicht fragt man gar nicht nach<br />
den Grenzen des Möglichen, wenn man in tiefer Not ist. Die Kirchen<br />
wurden jedenfalls zu Hilfe gerufen. Viele haben ihnen Vertrauen entgegengebracht<br />
– und die Kirchen meinten, nicht die Mittel zu besitzen, die<br />
zur Lösung der erwarteten Aufgaben notwendig gewesen wären. Ordenshäuser,<br />
Schulen, Gemeindezentren, sämtliche Gebäude der katholischen<br />
182
Organisationen, selbst Kirchen sind in den ersten Jahren des Kommunismus<br />
verstaatlicht und anderen Zwecken zugeführt worden. Geld besaßen<br />
die Kirchen auch keines. Also meldeten sie sich, statt eines versöhnenden<br />
und heilenden Wortes und statt der erwarteten sozialen Leistungen, mit<br />
Restitutionsforderungen. Erst wenn sie, als Institution, durch die Rückgabe<br />
ihrer entwendeten Besitztümer wieder funktionsfähig gemacht werden,<br />
können sie die von ihnen erwarteten Aufgaben erfüllen, hieß es. Es<br />
ist eine klare Sache: der Schulunterricht bedarf einer Schule, Altersheime<br />
brauchen Gebäude, Orden benötigen einen Platz für ihre Gemeinschaft,<br />
die völlig verarmte Kirche braucht Geld, um ihre Organisation instand zu<br />
setzen und um ihre Institutionen wiederzuerwecken. Jeder Ökonom<br />
würde diesen Argumenten zustimmen. Bei den einfachen Menschen hat<br />
aber eine solche Umdrehung der Erwartungen eine Enttäuschung gebracht.<br />
Eine Spannung ist entstanden zwischen den Hoffnungen, die in<br />
die Kirche gesetzt wurden, und den Forderungen der Kirche nach Restitution<br />
und nach ihrer Finanzierung durch den Staat.<br />
Kann Dienst in Macht und Herrschaft umschlagen?<br />
Am 20. Juni <strong>1997</strong> hat der Vatikan – zugunsten der katholischen Kirche<br />
Ungarns – mit der ungarischen Regierung eine Vereinbarung über Finanzfragen<br />
unterzeichnet. Den Konfessionsschulen wurde eine mit den<br />
öffentlichen Schulen gleichgestellte staatliche Subventionierung zugesichert.<br />
Die bisherigen Privilegien der Kirche in Steuerfragen wurden<br />
nochmals festgeschrieben. Keine der anderen Kirchen verfügt zunächst<br />
über einen ähnlichen Vertrag (auch wenn sie, aufgrund der Gleichheit der<br />
Kirchen, die gleichen Ansprüche stellen können). Die kleinen Kirchengemeinschaften<br />
können nicht einmal in den Genuß einer solchen Regelung<br />
kommen, zumal sie keine Bildungsinstitutionen unterhalten. Die Kleinkirchen<br />
(wie in Ungarn auch die Sekten in der Amtssprache heißen) und<br />
die Nichtglaubenden beklagen einen Machtzuwachs der katholischen<br />
Kirche. Ihr werden auch in der Politik Herrschaftsgelüste nachgesagt,<br />
u.a. auch deshalb, weil die Anhängerschaft der Christdemokratischen<br />
Volkspartei weitgehend aus praktizierenden Katholiken besteht. Zweifelsohne<br />
ist die katholische Kirche – als eine eigenständige Institution,<br />
183
aber auch über viele Organisationen, die ihre Tätigkeit nach der Kirche<br />
richten – eine politische Größe und damit Objekt politischer Auseinandersetzungen.<br />
Ob damit der Vorwurf der Herrschaft gerechtfertigt wäre,<br />
ist jedoch mehr als zweifelhaft. Es bleibt aber bestehen, daß die katholische<br />
Kirche selbst jetzt, in der Phase ihrer nachkommunistischen Genesung,<br />
Angst um sich herum verbreitet. Diese Lage der Dinge macht es<br />
verständlich, warum viele die Religion, und ganz besonders die katholische,<br />
strikt als Privatsache bestimmen und die öffentliche Präsenz der<br />
Kirche beschränken wollen.<br />
Repräsentanten der katholischen Kirche haben ein gutes Gewissen.<br />
Das Recht der Kirche auf eine uneingeschränkte soziale Präsenz ist von<br />
Gott gegeben, ist in das Naturrecht eingeschrieben und ist auch in der<br />
geschriebenen Verfassung enthalten. Die Kirche will ausschließlich ihre<br />
Mission erfüllen und dabei den Menschen dienen, behaupten sie. Diese<br />
Argumentation gelangt aber leicht auf rutschiges Gelände. Sie behauptet,<br />
jede Art von Evangelisation sei Dienst an den Menschen, ob sie das wahrhaben<br />
wollen oder nicht. Die Kirche meint, selbst bestimmen oder aus<br />
ihrer Tradition herauslesen zu können, worin die Evangelisation (und damit<br />
der Dienst an den Menschen) zu bestehen, wie sie zu erfolgen hat. Sie<br />
meint, im Dienst an der Gesellschaft vielleicht ihre direkte Klientel<br />
– Glieder der Kirche und potentielle Nutzer ihrer Institutionen – beachten<br />
zu sollen, aber ansonsten nicht auf einen Dialog mit anderen Kirchen<br />
oder mit dem kirchenfernen Teil der Gesellschaft angewiesen zu sein. Sie<br />
fühlt sich (im doppelten Sinne des Wortes) groß genug, um auch allein<br />
eine Meinung bestreiten zu können. Sie litt viel zu sehr an der Gängelung<br />
durch den Kommunismus, um jetzt noch auf die Zustimmung anderer zu<br />
warten. Die Nichtkatholiken und der nicht kirchengebundene Teil der<br />
Bevölkerung fühlen sich freilich wie vor den Kopf gestoßen. Sie übersetzen<br />
diese Art von Dienst als Bevormundung, als Fraktionsbildung, als<br />
Spaltung der Gesellschaft. Sie meinen, die Botschaft zu hören, daß die<br />
katholische Kirche ihren Willen gegebenenfalls auch auf Kosten von<br />
anderen durchsetzen will. Das sind mit anderen Worten: Herrschaftsansprüche.<br />
Solche Vorwürfe sind für ein vorkonziliares Denken unverständlich.<br />
Die Bereitschaft, das eigene Tun im Dialog mit der Gesellschaft, mit<br />
Gläubigen und mit Nichtglaubenden vorzubereiten und auszuhandeln,<br />
184
diese Bereitschaft ist in der Kirche noch nicht genug gewachsen. Kritiken<br />
und Ängste werden nur als Kaschierungen entgegengesetzter Herrschaftsbemühungen<br />
verstanden. Eigenartigerweise ist diese Deutung<br />
gegnerischer Positionen nicht einmal so falsch. Die Aufdeckung von<br />
Eigeninteressen der Kirchenkritiker kann aber zu kurzschlüssigem Denken<br />
verleiten und dazu beitragen, den wahren Kern der Kritiken nicht<br />
anzuerkennen. Die Kirche ist damit in Gefahr, im Gewirr ausschließlich<br />
machtpolitischer Überlegungen gefangen zu bleiben.<br />
Es stehen zwei gleichermaßen überholte Positionen einander gegenüber.<br />
Im innerkirchlichen Denken wirkt eine Vergangenheit nach, in der<br />
eine organische und einheitlich gegliederte Gesellschaft unter der<br />
Schirmherrschaft der Kirche stand. In diesem Denken wird die ewige,<br />
einheitliche Natur aller Menschen beschworen und der Pluralismus<br />
innerlich abgelehnt. Auch wenn die Koexistenz mit Nichtglaubenden<br />
gezwungenermaßen akzeptiert wird, Wahrheit und Rechtmäßigkeit empfindet<br />
man nur auf der eigenen Seite. Es ist ein Menschen- und Gesellschaftsbild,<br />
das von vornherein eine nicht nur maßgebliche, sondern auch<br />
herrschende Stellung für die (katholische) Religion und Kirche reserviert.<br />
Dies kann allerdings schlecht den Vorwurf entkräften, eine Ideologie des<br />
kirchlichen Machthungers zu sein.<br />
Mit umgekehrtem Vorzeichen, doch im Grunde nicht viel anders steht<br />
es mit den liberalen Kritikern dieser kirchlichen Position. Diese Kritiker<br />
sprechen im Namen der Selfmademen, auch der Technokraten bzw. aller<br />
jener, die sich trotz Kommunismus (oder gerade mit dessen Hilfe) politisch<br />
oder wirtschaftlich hocharbeiten konnten. Sie beschwören den Wert<br />
des Individuums und lehnen jegliche gemeinschaftliche Vertretung, jede<br />
subsidiäre Gliederung der Gesellschaft, auch jede Sozialpolitik ab. Indem<br />
sie die Privatinitiative und den Wirtschaftserfolg zu alleinigen bestimmenden<br />
Faktoren machen will, ist diese Position gleichermaßen gegen<br />
Kirchen und Gewerkschaften gerichtet. Sie ist die Stimme der Erfolgreichen,<br />
die ihren Vorsprung gerade dadurch wahren wollen, daß sie den<br />
Zusammenschluß der anderen verhindern. Die interessengelenkte Natur<br />
dieser Argumentation ist gleichfalls offensichtlich.<br />
185
Auf dem Weg zur wirklich dienenden Kirche<br />
Die genannte Gefahr einer Verstrickung in die Machtpolitik konnte in einer<br />
doppelten Hinsicht bereits überwunden werden. Im Konkreten wächst<br />
und gedeiht die teils von unten entstehende, teils auch organisatorisch<br />
gefestigte Caritastätigkeit. Dienst erfolgt also tagtäglich, faßbar, wo er<br />
am meisten gebraucht wird. Im Prinzipiellen kam es auch zu einem wichtigen<br />
Schritt. Die katholische Bischofskonferenz hat im Sommer 1996 einen<br />
Sozialhirtenbrief herausgegeben, worin die Mißstände angeprangert,<br />
das Gemeinwohl eingefordert, eine Verpflichtung für die Not leidenden<br />
ausgesprochen, die vorrangige Option für die Armen zur Zukunftsstrategie<br />
bestimmt werden. Damit wurde ein neues Kapitel in der Geschichte<br />
der katholischen Kirche Ungarns aufgeschlagen.<br />
Um den Stellenwert der Wohltätigkeit der Kirche richtig beurteilen zu<br />
können, muß man mit der gesellschaftlichen Situation beginnen. Das<br />
kommunistische System hat die elementare Versorgung und eine gewisse<br />
soziale Sicherheit garantiert. Unter Berufung auf diese staatlichen Leistungen<br />
wurde aber jede Eigeninitiative und ganz besonders jede gemeinschaftliche<br />
Unternehmung konsequent bekämpft. Eine Verantwortung<br />
füreinander und für den öffentlichen Bereich konnte sich nicht entwikkeln.<br />
Es entstand eine individualistische, atomisierte Gesellschaft. Diese<br />
besaß weder die Fähigkeit noch die Instrumente zur Linderung der sozialen<br />
Not, als das Gerüst des sozialistisch-kommunistischen Versorgungsstaates<br />
einstürzte. Zwei Ausnahmen korrigieren das gezeichnete Bild. In<br />
den frühen achtziger Jahren ist das Ausmaß der Armut und der sozialen<br />
Benachteiligung bestimmter Gruppen (nicht zuletzt der Roma-Bevölkerung)<br />
in mehreren aufsehenerregenden Studien dokumentiert worden. Liberal-oppositionelle<br />
Kreise organisierten und betrieben daraufhin die<br />
(nicht genehmigte) Stiftung zur Unterstützung der Armen (SZETA). Die<br />
katholische Kirche, deren öffentliche Tätigkeit untersagt und behindert<br />
war, konnte an der Arbeit dieser Stiftung, zumindest formal, nicht teilnehmen.<br />
Etwa zur gleichen Zeit und unabhängig von wissenschaftlichen Erhebungen<br />
entstand aber eine andere Bewegung innerhalb der Kirche.<br />
Christen begannen in ihrer Nachbarschaft und im Rahmen ihrer Kirchengemeinde<br />
eine systematische Tätigkeit zur Unterstützung der Armen, der<br />
Alten, der Kranken, der kinderreichen Familien. Bald bildeten sich kleine<br />
186
Grüppchen, die sich diese Arbeit zu ihrer Hauptaufgabe machten und deren<br />
Kosten auch trugen. Sie gewannen rasch das Vertrauen von anderen<br />
Gemeindemitgliedern, das unerläßlich war, da wegen der nichtgenehmigten<br />
Art dieser Tätigkeit Spenden nirgends verbucht werden durften. Es<br />
gab sie aber. Diese weitgefaßte „Nachbarschaftshilfe“ war Ende der achtziger<br />
Jahre stark genug, um auch den Hauptanteil in der Pflege, Versorgung,<br />
zum Teil auch Eingliederung der Flüchtlinge aus Rumänien zu<br />
übernehmen. Dieses informelle Netz von örtlichen Caritasgruppen bildete<br />
später die Grundlage der landesweiten Organisation des Malteser Hilfsdienstes,<br />
der in der vorübergehenden Versorgung der DDR-Flüchtlinge<br />
und später in der länger andauernden Unterbringung und Pflege der<br />
Flüchtlinge des Jugoslawien-Krieges einen Löwenanteil der Arbeiten<br />
übernahm. Die länderübergreifende Wohl fahrts tätigkeit wurde inzwischen<br />
von neu entstandenen Verbänden übernommen. Die Zahl der eigenständigen<br />
und selbsttätigen katholischen Caritasgruppen steigt aber weiter<br />
an und beträgt gegenwärtig über 400. Ihr Beitrag ist nicht nur die Linderung<br />
der Not, sondern das Wachhalten der Verantwortung füreinander.<br />
Ein öffentlich sichtbares Zeichen ist mit dem Sozialhirtenbrief der<br />
katholischen Kirche gesetzt worden. Dieser wurde in vielfacher Hinsicht<br />
zu einem spektakulären Ereignis. Er ist zunächst eine kritische Bilanz der<br />
gesellschaftlichen und der politischen Lage. Die Kritik ist aber nicht stärker<br />
als weit und breit in Kreisen von Sozialwissenschaftlern und auch in<br />
der Presse. Kritik wie Bilanz sind nur Ausgangspunkte der Besinnung<br />
und der Aufgabenstellung. Es werden die Prinzipien der katholischen<br />
Soziallehre beschworen. Die Grundaussagen lassen sich einfach zusammenfassen.<br />
Entgegen allen Modernisierungstheorien und allen Argumenten,<br />
die sich auf Sachzwänge berufen, wird der Wert Mensch betont.<br />
Erfolg und Mißerfolg sollen daran gemessen werden, ob und wie weit sie<br />
den Menschen und dem Gemeinwohl dienen. Ein jeder Mensch hat ein<br />
Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben. Der Staat ist also verpflichtet<br />
– und jeder Mensch und jede Gemeinschaft ist aufgefordert –, die<br />
Schwächsten zu unterstützen und sie zu einer vollwertigen Teilnahme am<br />
Leben der Gesellschaft zu befähigen.Die aktive Einbeziehung aller in das<br />
Funktionsgefüge der Gesellschaft kann nur erfolgen, wenn den unterschiedlichen<br />
Fähigkeiten Rechnung getragen wird. Das erfordert den<br />
Ausbau einer subsidiär gestalteten Zivilgesellschaft. Der Hirtenbrief hat<br />
187
einen unmißverständlich appellativen Duktus. Der Staat, die öffentliche<br />
Sphäre der entstehenden Zivilgesellschaft und jedes einzelne Individuum<br />
haben eine Verantwortung für die Vermenschlichung unserer Welt. (Der<br />
„an alle Menschen guten Willens“ gerichtete Hirtenbrief trägt den Titel<br />
„Für eine gerechtere und geschwisterlichere Welt!“) Auch die Kirche will<br />
sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Im Gegenteil! Sie verpflichtet<br />
sich im Hirtenbrief klar und eindeutig zum sozialen und zum gesellschaftlichen<br />
Dienst. „Dem Beispiel ihres Gründers folgend, soll sich die<br />
Kirche mit besonderer Liebe um die Armen, die Entmachteten, die Unterdrückten<br />
kümmern“ (Punkt 23). Und: „Die Kirche selbst trägt ebenfalls<br />
zum gesellschaftlichen Dialog und zum erwünschten allgemeinen Konsens<br />
bei, indem sie innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften die verschiedenen<br />
Formen des ehrlichen und brüderlichen Dialogs unterstützt“<br />
(Punkt 111).<br />
188
III. Predigt und Meditation<br />
in den Eucharistiefeiern
Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, Mainz<br />
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz<br />
Predigt beim ersten Internationalen<br />
Kongreß RENOVABIS in der Eucharistiefeier<br />
am 5. September <strong>1997</strong> in Freising<br />
I.<br />
Das Jahr 1989 kommt mir immer mehr geradezu als ein Wunder vor.<br />
Mögen die kommunistischen Staatsdiktaturen des Ostens innerlich<br />
morsch und zum Abbruch reif gewesen sein, so hatten wir im Westen<br />
doch kaum mehr Hoffnung, daß es zu einer solchen Befreiung kommen<br />
könnte. Der Weltgeist kam wieder einmal mit sachten Taubenfüßen. Die<br />
unblutigen Revolutionen waren eine andere Überraschung, an die niemand<br />
gedacht hat. Wie sah es z.B. im Frühsommer 1989 noch in Prag<br />
aus, als wir den 90. Geburtstag von Kardinal Tomásˇek feierten? Der<br />
heutige Bischof Karel von Königgrätz in Tschechien, damals als einer der<br />
geheim geweihten Bischöfe interniert oder verbannt, mußte im Dom die<br />
bischöflichen Insignien wieder ablegen. Über dem Kopf des greisen Kardinals<br />
schwebte immer ein Mikrofon bei den Glückwünschen der vielen<br />
Gäste. Aber schon wagten sich einige tapfere Ordensleute zum Erstaunen<br />
vieler in ihrem Habit auf die Straßen der Stadt.<br />
Mit Recht war es eine unbeschreibliche Freude, als ein Land nach dem<br />
anderen sich selbst befreite. Aber für eine Zeitlang war vielen doch nicht<br />
bewußt, daß die von Menschenhand gemachten Trennmauern und der<br />
Eiserne Vorhang zwar rasch fallen können, es jedoch mit den Sperren in<br />
unseren Köpfen nicht so rasch geht. Im Westen schaute man insgeheim<br />
immer noch etwas mitleidig auf die zurückgebliebenen armen Nachbarn<br />
hinunter. Viele wollten sie in einem theologischen und kirchenpolitischen<br />
Schnellkurs umerziehen und mit den modernen Errungenschaften segnen.<br />
191
Da waren manchmal Überheblichkeit und Hochmut mit im Spiel. So war<br />
es vielleicht nicht überraschend, daß nicht wenige im Osten vor einer solchen<br />
missionierenden Invasion aus dem Westen die Angst packte, daß sie<br />
befürchteten, wehrlos überschwemmt zu werden. Aber man hat vielleicht<br />
auch zu wenig bedacht, daß zur Einführung der Demokratie als Staatsform<br />
und zum Gebrauch der neuen Freiheit mehr Offenheit und Auseinandersetzung,<br />
Mut zum Dialog und zum geistigen Wettbewerb gehören. Man<br />
kann nicht Ja sagen zur Demokratie und zu den Menschenrechten und<br />
zugleich kritische Reflexion und wache Öffentlichkeit einschränken.<br />
Es dauerte eine Weile, bis man sich nicht mehr mißtrauisch belagerte,<br />
sondern aufrichtig aufeinander zuging und langsam Vertrauen einübte.<br />
Der Westen mußte Einsicht darin gewinnen, daß die östlichen Kirchen<br />
Sorge hatten, ihre in der Verfolgung bewährte, lebendige Glaubenssubstanz<br />
könnte bei den unumgänglichen Modernisierungsschüben schweren<br />
Schaden leiden; der Schatz des Glaubens hätte die Unfreiheit überstanden,<br />
aber nicht die Freiheit überlebt.<br />
Es sind viele kleine und große Begegnungen, die manches Mißtrauen<br />
überwinden halfen. Angefangen von der baldigen Einberufung einer<br />
ersten europäischen Bischofssynode durch Papst Johannes Paul II. über<br />
die Kontakte der einzelnen Bischofskonferenzen und Diözesen, die<br />
neuen Kontakte der Orden und der geistlichen Gemeinschaften, die<br />
Zusammenkünfte des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen bis<br />
hin zur Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz vor<br />
wenigen Monaten.<br />
192<br />
II.<br />
So sprach man vom „Austausch der Gaben“, auch wenn der Weg noch<br />
länger war. Es war deutlich, daß man andere Wege beschreiten mußte als<br />
bei den übrigen Hilfswerken. Es ging nicht um die missionarische Verkündigung<br />
an solche, die das Evangelium nicht kannten. Es waren vielmehr<br />
reiche und hohe Kulturen, die ein großes Spektrum religiöser und<br />
künstlerischer Ausdrucksgestalten des Glaubens geschaffen hatten. Es<br />
war klar, daß „Hilfe“ keine Einbahnstraße sein durfte, die von einer Seite<br />
gesteuert werden sollte.
Das Hilfswerk, das geschaffen werden sollte, mußte also von Anfang<br />
an auf einen inhaltlichen Austausch hin orientiert sein. Es ging nicht nur<br />
darum, den Empfänger der Hilfe nicht zu entmündigen, vielmehr zu<br />
respektieren, sondern uneingeschränkt einen wahrhaft wechselseitigen<br />
Dialog zu beginnen. Deshalb mußte auch noch ein anderes Element hinzukommen<br />
bzw. verändert werden: In der kommunistischen Zeit war es<br />
notwendig, die Hilfeleistungen möglichst diskret und bei einem sehr<br />
eingeschränkten Wissen nur weniger Leute zu vermitteln. Heute noch ist<br />
vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Europäischen Hilfsfonds<br />
in Wien für diese jahrzehntelange Diskretion zu danken. Aber nun<br />
kommt es gerade darauf an, daß die „Hilfe“ nicht nur auf einer Schiene<br />
allein, besonders des verantwortlichen Amtes in der Kirche, zu den<br />
Schwesterkirchen kommt. Darum war es auch von Anfang an eine gute<br />
Fügung, daß vor allem Laien, besonders aus dem Bereich des Zentralkomitees<br />
der deutschen Katholiken, die Vorschläge für die Schaffung<br />
eines ganz neuen Werkes einbrachten. Es war eine gute Idee, Partnerschaften,<br />
kleine und große Kreise konkreter Versöhnung zu schaffen, die<br />
zugleich einen lebendigen Kontakt von Gesprächsgruppen gewährleisten.<br />
So ist der Untertitel des neuen Werkes sehr präzis und sehr<br />
bezeichnend: Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den<br />
Menschen in Mittel- und Osteuropa.<br />
In diesem Sinne ist auch eine seit Jahrzehnten hochverdiente Einrichtung<br />
in diese Umstrukturierung einbezogen worden. Das Albertus-<br />
Magnus-Kolleg als Einrichtung katholischer Heimatvertriebener und das<br />
Hilfswerk „Kirche in Not/Ostpriesterhilfe“ von Pater Werenfried van<br />
Straaten hatten seit Beginn der 50er Jahre den Kongreß „Kirche in Not“<br />
ausgerichtet, um Jahr für Jahr die Situation in den einzelnen Ländern zu<br />
studieren und das Bewußtsein um die bedrängten Christen wachzuhalten.<br />
Die Tradition dieses <strong>Kongress</strong>es, für dessen Abhaltung man nicht genug<br />
danken kann, geht nun als ein wichtiges Element der bisherigen Beziehungen<br />
in das neue Konzept der Solidaritätsaktion <strong>Renovabis</strong> mit ein.<br />
Damit ist auch eine gute Klammer zwischen den bisherigen und den<br />
gegenwärtigen Bemühungen gegeben.<br />
Ich freue mich, daß unsere Schwesterkirchen in Mittel- und Osteuropa<br />
nach einigem verständlichen Zögern mehr und mehr die Struktur des<br />
neuen Werkes angenommen haben und es auch von ihrer Seite mit Leben<br />
193
erfüllen. Zugleich bin ich froh, daß es uns in der Bischofskonferenz<br />
gelungen ist, künftig die Kollekte entsprechend auch dem Leitwort <strong>Renovabis</strong><br />
in allen Diözesen an Pfingsten abzuhalten, so daß die Aufmerksamkeit<br />
vertieft und stabilisiert werden kann.<br />
194<br />
III.<br />
Diese neue Form der Hilfe entspringt gewiß heutigen Bedürfnissen und<br />
trägt in den Strukturen auch dem partnerschaftlichen Verhältnis der<br />
Kirchen untereinander Rechnung. Aber wir dürfen auch einen Blick auf<br />
die Hl. Schrift zurücklenken.<br />
Zwar ist die Hilfe von Mensch zu Mensch in der Bibel stark an die<br />
Gebebereitschaft und die Zuwendungsfähigkeit des einzelnen Glaubenden<br />
gebunden. Es kommt darauf an, ob jeder das Leid des anderen wahrnimmt<br />
und bereit wird zu einem helfenden Eingriff des Mitleids und der<br />
Barmherzigkeit, ohne gönnerisch oder gar herablassend auf den Bedürftigen<br />
von oben herunterzuschauen. Dies ist und bleibt gerade gegenüber<br />
dem Nächsten eine auch heute entscheidende Form der Hilfe. Einer meiner<br />
Verwandten, der aus wirtschaftlichen und geschäftlichen Gründen<br />
schon vor der Wende mit dem Auto in viele Länder Mittel- und Osteuropas<br />
kam, hatte meist seine gesamte Wäsche mit allen Hemden, Anzügen<br />
und Schuhen unterwegs verschenkt, als er wieder nach Hause kam. Die<br />
unmittelbare Not der Menschen hatte ihn angerührt.<br />
Aber es läßt sich nicht übersehen, daß das Neue Testament schon<br />
in einem frühen Stadium auch eine institutionelle zwischenkirchliche<br />
Hilfe kennt, nämlich die Kollekte für die Jerusalemer Urgemeinde (vgl.<br />
Gal 2, 10; 2 Kor 8; 9). Paulus kam es dabei auf eine freiwillige Hilfe der<br />
Gemeinden an. Die eigene Armut und Bedürftigkeit hat dies nicht verhindert,<br />
im Gegenteil: „Während sie durch große Not geprüft wurden, verwandelten<br />
sich ihre übergroße Freude und ihre tiefe Armut in den Reichtum<br />
ihres selbstlosen Gebens.“ (2 Kor 8, 2)<br />
Paulus zieht jedoch diese kleine theologische Skizze mit wenigen Strichen<br />
aus und vertieft die Kollekte durch eine christologische Überlegung.<br />
„Denn ihr wißt, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat:<br />
Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch mit seiner Armut reich
zu machen“ (2 Kor 8, 9). Diese Hingabe und dieser Austausch zwischen<br />
Reichtum und Armut bringen eine ganz neue Form der Kommunikation<br />
und des Umgangs miteinander. Hier fällt auch das wichtige Wort vom<br />
„Ausgleich“. „Wenn nämlich der gute Wille da ist, dann ist jeder willkommen<br />
mit dem, was er hat, und man fragt nicht nach dem, was er nicht<br />
hat. Denn es geht nicht darum, daß ihr in Not geratet, indem ihr anderen<br />
helft; es geht um einen Ausgleich. Im Augenblick soll euer Überfluß ihrem<br />
Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluß einmal eurem Mangel abhilft.<br />
So soll ein Ausgleich entstehen, wie es in der Schrift heißt: Wer viel<br />
gesammelt hatte, hatte nicht zuviel, und wer wenig hatte, hatte nicht zu<br />
wenig“ (2 Kor 8, 12–15).<br />
<strong>Renovabis</strong> wird auf die Dauer nicht lebensfähig sein, wenn wir die<br />
Kollekte nicht in einer solchen Tiefe verwurzeln. Diesen geistgewirkten<br />
Ausgleich, den niemand erzwingen kann, gewinnt man nur aus dem Lebensgeheimnis<br />
und der Lebenshingabe Jesu für alle. Darum wurzelt auch<br />
der neue Geist, den uns <strong>Renovabis</strong> schenken soll und den die Aktion zugleich<br />
dringend braucht, im Geheimnis der Eucharistie. Sie führt uns alle<br />
am tiefsten zusammen und mahnt, daß wir nicht folgenlos auseinandergehn.<br />
Amen.<br />
195
Weihbischof Leo Schwarz, Trier<br />
Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong><br />
Meditation in der Eucharistiefeier<br />
am 6. September <strong>1997</strong>:<br />
(Meßformular: Marien-Samstag-Messe<br />
Texte: 1. Lesung: Spr 8,22–31 Evangelium: Lk 2,27–35)<br />
Die Feuerprobe bestehen<br />
Liebe Schwestern und Brüder,<br />
in diesem Abschluß-Gottesdienst unseres <strong>Kongress</strong>es möchte ich Sie einladen,<br />
ein Bild zu betrachten, das uns von der Ostkirche geschenkt wird.<br />
Es handelt sich um eine Ikone, die im byzantinischen Raum eine besondere<br />
Bedeutung hat und die nur sehr selten in unserer westlichen Welt<br />
zu finden ist: Die Darstellung der Gottesmutter im nicht verbrennenden<br />
Dornbusch (Russische Ikone: 19. Jahrhundert).<br />
Zugrunde liegt die Gotteserfahrung, die Mose auf dem Berge Horeb<br />
gemacht hat. Die damit verbundenen Ereignisse werden auf die Gottesmutter<br />
hin umgedeutet. (Besonders die Theologen Ephraim der Syrer und<br />
Johannes von Damaskus wagen diese Interpretation.)<br />
So wie der Dornbusch im Feuer unversehrt geblieben ist, so bleibt<br />
Maria durch die Überschattung des Heiligen Geistes die „Unbefleckte<br />
Jungfrau“, die immer geheiligte und immer begnadete, die reine und<br />
heilige Gottesgebärerin.<br />
Es gibt verschiedene Gründe, bei diesem Abschlußgottesdienst gerade<br />
diese Ikone zu betrachten, damit wir sie und diesen Kongreß in Erinnerung<br />
behalten.<br />
1. Die Ikone führt uns zu dem zentralen Ereignis, das am Anfang der<br />
Gestaltwerdung des Gottesvolkes steht, vor dem Aufbruch des Gottesvolkes<br />
aus Ägypten.<br />
196
Der entscheidende Weg Israels beginnt mit der Berufung des Mose, mit<br />
seiner Gotteserfahrung und seiner Gottesbeziehung. Mose erlebte viele<br />
Begegnungen mit Gott.<br />
Seine Erfahrung mit Gott am Horeb war das Schlüsselerlebnis. Mose<br />
wird aus seinem Hirtenalltag herausgerissen. Völlig unerwartet stößt er<br />
auf die wunderbare Erscheinung des brennenden Dornbusches, auf das<br />
geheimnisvolle Feuer, aus dem sein erster Dialog mit Gott erwächst.<br />
Diese Begegnung ist Grundlage seiner Berufung und damit seiner Lebensverpflichtung.<br />
Mose erhält eine göttliche Beauftragung, die nicht seiner<br />
Lust und Laune entspringt, sondern die klar und deutlich mit seinem<br />
Volk in Verbindung steht. Mag es auch um ihn selbst gehen, vor allem aber<br />
geht es um die Sendung, die dem Volk in Gefangenschaft zuteil wird.<br />
In unserer Zeit wissen wir, wie es um die Feuerproben des Lebens bestellt<br />
ist, wie es aussieht mit dem „Feuerfangen“ – bis hin zu den Strohfeuern,<br />
den abgebrannten Feuern.<br />
2. In den Kirchen von Ost und West ist von jeher die Gottesmutter diejenige,<br />
die in ihrer Erwählung und im Durchhalten dieser Erwählung unübertroffen<br />
ist. Durch die Gnade Gottes steht sie an erster Stelle.<br />
Gerade in der Ostkirche sind wichtige Entscheidungen, was ihre Person<br />
angeht, getroffen worden. Wie schmerzlich und unermüdlich hat man<br />
im Osten Europas um ihre Ehrenposition gerungen. Ist vielleicht deshalb<br />
in der Ostkirche das Bild der Gottesmutter bis zur Stunde so ausgeprägt?<br />
Auf der vorliegenden Ikone sehen wir, mit welcher Sorgfalt der Ikonenmaler<br />
Maria in die Mitte der Ikone gestellt hat, wie die beiden übereinanderliegenden<br />
Sterne diese Gestalt herausstellen.<br />
Im zugrunde liegenden roten Stern ist das Bild des brennenden Dornbusches<br />
angedeutet. In diesen Feuerzeichen sind die Symbole der vier<br />
Evangelisten dargestellt, die Maria ganz in das Heilsgeschehen hineinnehmen.<br />
Maria trägt Christus - als Hoher Priester dargestellt - auf ihren Armen.<br />
Das Bild des brennenden Dornbusches wird in den roten Engelgestalten<br />
in den vier äußeren Feldern wieder aufgegriffen.<br />
Gestalten des Alten Testamentes werden auf Maria bezogen.(Mose am<br />
Berg Horeb - Berufung des Jesaja-Ezechiel und die Vision von der verschlossenen<br />
Tür - Jakobs Traum von der Himmelsleiter.)<br />
198
3. Wir stehen am Ende einer internationalen Tagung, die den Titel hatte<br />
„Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen?“. Im Laufe dieser Tagung<br />
ist uns klargeworden, wie groß die Feuerprobe war, die der christliche<br />
Osten in den letzten Jahrzehnten bestehen mußte. Wir stehen voll Bewunderung<br />
vor der Glaubenshaltung der Ostkirchen.<br />
Immer, wenn wir vom Austausch der Gaben zwischen Ost und West<br />
sprechen, ist das die hervorragendste Gabe des Ostens an den Westen.<br />
Die Kirchenverfolgungen in Osteuropa haben in einer Weise gewütet,<br />
die uns erst nach und nach bewußt wird. Eine Feuerprobe wurde bestanden,<br />
von der wir noch nicht wissen, wie sie im Westen ausgeht.<br />
Gottes Gegenwart, seine Macht und sein Handeln sind nicht schwächer<br />
geworden in unserer Zeit. Schwestern und Brüder aus den Kirchen des<br />
Ostens öffnen unsere Augen für das brennende Feuer der Gottesliebe.<br />
Am Ende dieser Tagung steht uns die Vielfalt der Situation der Kirchen<br />
in den Ländern Osteuropas deutlich vor Augen.<br />
Wir wissen, daß nur die dienende Kirche den Auftrag Christi erfüllen<br />
kann.<br />
Wir alle sind in die Spannungen des Umbruchs, der Transformation,<br />
hineingestellt. Wir spüren, daß Antworten spärlicher sind als die Vielzahl<br />
der Fragen.<br />
Wir danken den Kirchen des Ostens für ihre Treue und ihre Glaubwürdigkeit.<br />
Für ihre Wegsuche wünschen wir Mut und Offenheit. Wir wünschen<br />
auch, daß sie ihren Auftrag begreifen, der angeschlagenen westlichen<br />
Kirche auf ihrer Wegsuche entgegenzukommen, damit wir im<br />
Westen und im Osten die Feuerprobe bestehen.<br />
199
Liste der Referenten und Podiumsteilnehmer<br />
Prof. Dr. Aniela Dylus<br />
Wirtschaftsethikerin an der<br />
Fakultät für Kirchliche Geschichts-<br />
und Sozialwissenschaften an der<br />
Akademie für Katholische<br />
Theologie, Warschau/Polen<br />
Prof. Dr. Konrad Feiereis<br />
Professor für Philosophie an der<br />
Philosophisch-Theologischen<br />
Hochschule Erfurt<br />
Prof. Dr. Tomásˇ Halík<br />
Präsident der Tschechischen Christlichen<br />
Akademie, Prag/Tschechische<br />
Republik<br />
Prof. Dr. Robert Hotz SJ<br />
Ostreferent am Institut für Weltanschauliche<br />
Fragen, Zürich/<br />
Schweiz<br />
Erzpriester Vladimir Ivanov<br />
Chefredakteur der Zeitschrift<br />
„Stimme der Orthodoxie“, Berlin<br />
200<br />
Erzpriester Slobodan Milunović<br />
Seelsorger der serbisch-orthodoxen<br />
Gläubigen in München<br />
und Oberbayern<br />
Dr. Gerd Stricker<br />
Chefredakteur der Zeitschrift<br />
„Glaube in der Zweiten Welt“<br />
(G2W), Zollikon/Schweiz<br />
Prof. Dr. Franjo Topić<br />
Präsident des Kroatischen<br />
Kulturvereins „Napredak“,<br />
Sarajevo/Bosnien-Herzegowina<br />
Erzabt Imre Asztrik Várszegi OSB<br />
Titularbischof von Culusi,<br />
Erzabtei Pannonhalma/Ungarn<br />
Miloslav Kardinal Vlk<br />
Erzbischof von Prag, Vorsitzender<br />
der Tschechischen Bischofskonferenz,<br />
Präsident des Rates<br />
der Europäischen Bischofskonferenzen