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Kongress-Dokumentation Nr. 1 (1997) herunterladen - Renovabis

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Kirche in<br />

Osteuropa:<br />

Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen?<br />

herrschen<br />

oder<br />

dienen?<br />

4. – 6. September <strong>1997</strong><br />

in Freising<br />

<strong>Dokumentation</strong><br />

Internationaler<br />

Kongreß<br />

<strong>Renovabis</strong>


Internationale <strong>Kongress</strong>e <strong>Renovabis</strong><br />

1/<strong>1997</strong>


1. Internationaler Kongreß<br />

<strong>Renovabis</strong><br />

<strong>1997</strong><br />

Kirche in Osteuropa:<br />

herrschen<br />

oder<br />

dienen?<br />

Veranstalter und Herausgeber:<br />

<strong>Renovabis</strong> – Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken<br />

mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa


Redaktion: Wolfgang Grycz<br />

Zu beziehen durch:<br />

Misereor Medienvertriebsgesellschaft<br />

Postfach 1450, 52015 Aachen; Bestell-<strong>Nr</strong>. 351898<br />

Die hier abgedruckten Beiträge sind autorisiert. Sie stimmen nicht unbedingt und in jedem Fall<br />

mit der Meinung des Veranstalters und der Teilnehmer des <strong>Kongress</strong>es überein.<br />

© <strong>Renovabis</strong> – Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken<br />

mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa,<br />

Kardinal-Döpfner-Haus, Domberg 27, D-85354 Freising.<br />

Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Herausgebers.<br />

Umschlag: Grafik-Design Willweber, München<br />

Bildnachweis S. 197<br />

„Gottesmutter – Der nicht verbrennende Dornbusch“<br />

Russische Ikone 19. Jh., entnommen aus:<br />

Ikonen. Aus der Sammlung Dr. Jörgen Schmidt-Voigt, Frankfurt a.M., Inv.-<strong>Nr</strong>. IH 481<br />

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Museums für Kunsthandwerk, Frankfurt a.M.<br />

Satz: Vollnhals Fotosatz, Mühlhausen<br />

Druck: WB-Druck GmbH & Co., Rieden


INHALT<br />

Vorwort ...................................................................................... 7<br />

Zum Verlauf des <strong>Kongress</strong>es ........................................................ 9<br />

Aus Grußbotschaften an den<br />

Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> .............................................. 13<br />

I. KIRCHE IN OSTEUROPA: HERRSCHEN ODER DIENEN?<br />

P. Eugen Hillengass SJ, Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong>:<br />

Zur Eröffnung des <strong>Kongress</strong>es. ..................................................... 39<br />

Kardinal Dr. Friedrich Wetter, Erzbischof von München und Freising:<br />

Grußwort zur Eröffnung des<br />

„Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>“ . ..................................... 42<br />

Miloslav Kardinal Vlk, Erzbischof von Prag:<br />

Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen? ................................. 46<br />

Prof. Dr. Konrad Feiereis, Erfurt:<br />

Umgang mit der Vergangenheit (1945–1989):<br />

Fragen an die Kirchen. ................................................................. 61<br />

Prof. Dr. Tomásˇ Halík, Prag:<br />

Rückzug auf Feindbilder oder Mut zur Öffnung? ........................... 79<br />

Prof. Dr. Aniela Dylus, Warschau:<br />

Polens Kirche: fähig zum Brückenbau? ......................................... 91<br />

Prof. Dr. Franjo Topić, Sarajevo:<br />

Kirchen im ehemaligen Jugoslawien:<br />

Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?. ........................................... 115<br />

5


Erzpriester Slobodan M. Milunović, München:<br />

Kirchen im ehemaligen Jugoslawien:<br />

Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?. ........................................... 124<br />

Prof. Dr. Robert Hotz SJ, Zürich:<br />

Wie dienen die Kirchen den Menschen in Rußland? ....................... 136<br />

P. Eugen Hillengass SJ:<br />

Schlußwort ................................................................................. 149<br />

II. BERICHTE ÜBER DIE LAGE DER KIRCHE<br />

IN EINZELNEN LÄNDERN<br />

Dr. Ernst Benz, Königstein/Ts.:<br />

Bericht zur Lage der katholischen Kirche<br />

in den baltischen Staaten .............................................................. 153<br />

Dr. Anna-Halja Horbatsch, Reichelsheim:<br />

Kirchen in der Ukraine. ................................................................ 168<br />

Prof. Dr. Miklós Tomka, Budapest:<br />

Dienstbereitschaft und/oder herrschaftliche<br />

Bedrohlichkeit der Kirche:<br />

Dilemmata der katholischen Kirche Ungarns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />

III.PREDIGT UND MEDITATION IN DEN EUCHARISTIEFEIERN<br />

Bischof Prof. Dr.Dr. Karl Lehmann, Mainz<br />

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz:<br />

Predigt beim ersten Internationalen Kongreß RENOVABIS<br />

in der Eucharistiefeier am 5. September <strong>1997</strong> ................................ 191<br />

Weihbischof Leo Schwarz, Trier<br />

Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong>:<br />

Meditation in der Eucharistiefeier am 6. September <strong>1997</strong> ............... 196<br />

Liste der Referenten und Podiumsteilnehmer ................................. 200<br />

6


Vorwort<br />

Vom 4. bis 6. September <strong>1997</strong> veranstaltete <strong>Renovabis</strong> - die Solidaritätsaktion<br />

der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa<br />

– in Freising den 1. INTERNATIONALEN KONGRESS RENO-<br />

VABIS. Im Auftrag der Kommission für weltkirchliche Aufgaben der<br />

Deutschen Bischofskonferenz knüpfte <strong>Renovabis</strong> damit an die Tradition<br />

der bisherigen über 40 Königsteiner Internationalen <strong>Kongress</strong>e „Kirche<br />

in Not“ an und entwickelte dafür eine neue Konzeption. Diese <strong>Kongress</strong>e<br />

wurden seit 1951 von katholischen Heimatvertriebenen und Exulanten<br />

aus Osteuropa unter maßgeblicher Beteiligung von P. Werenfried van<br />

Straaten und dem späteren Weihbischof Adolf Kindermann initiiert und<br />

durch das Albertus-Magnus-Kolleg in Königstein/Taunus fortgeführt.<br />

Der INTERNATIONALE KONGRESS RENOVABIS mißt dem Dialog<br />

mit den Partnern in Ostmittel- und Südosteuropa einen besonders großen<br />

Stellenwert bei. Er bemüht sich darum, Probleme der Kirchen offenzulegen<br />

und unverkürzt darzustellen. Die Leistungen der Kirchen in diesem<br />

Gebiet sollen gewürdigt, Mängel und Fehlentwicklungen sowie Schwierigkeiten<br />

im Miteinander von Ost und West offen dargelegt werden.<br />

Nach langen Überlegungen haben wir uns entschlossen, den ersten<br />

INTERNATIONALEN KONGRESS RENOVABIS unter das Thema zu<br />

stellen: „Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen?“ Dabei sollte<br />

gezeigt werden, wie die Lage von Gläubigen und Kirchen in diesen<br />

Ländern ist, wie sie mit der Freiheit umgehen, wie sie den Menschen in<br />

dieser Zeit helfen. Schließlich handelt es sich nach über 40 Jahren Kommunismus<br />

um vielfach unversöhnte Gesellschaften: entweder wegen<br />

ihrer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit, wegen ethnisch begründeter<br />

Spannungen, auch wegen neuer Gräben zwischen Reichen und Armen<br />

oder wegen neuer Feindbilder, die aus den Schwierigkeiten der Transformation<br />

erwachsen. Wie im Westen hat auch die Kirche in Ost- und<br />

Mitteleuropa mit der Gefahr zu ringen, daß sie ihren Versöhnungsauftrag<br />

vernachlässigt.<br />

7


Oder, wie es ein deutscher Politiker in seinem Grußwort an den Kongreß<br />

in Freising formulierte: „Auch die Verantwortlichen der Kirchen<br />

sehen sich vor neue Fragen gestellt: wie umgehen mit der neuen Freiheit?<br />

Wie die sich bietenden Chancen und Herausforderungen dieser Zeit<br />

annehmen? Wie der Versuchung widerstehen, selbst nach Einfluß und<br />

Macht zu streben?“<br />

Diese und ähnliche Zuschriften von Persönlichkeiten des kirchlichen<br />

und öffentlichen Lebens, die Referate auf dem Kongreß wie auch der rege<br />

Zuspruch, den er fand, zeigten, daß ein wichtiges und aktuelles Thema<br />

aufgegriffen worden ist. Immerhin konnten wir bei dieser Veranstaltung,<br />

die im Freisinger Kardinal-Döpfner-Haus sowie in der Aula des benachbarten<br />

Domgymnasiums stattfand, 270 Teilnehmer aus dem In- und Ausland<br />

begrüßen, ein Viertel davon aus den Ländern Ostmitteleuropas.<br />

Die große Zahl von Medienvertretern während des <strong>Kongress</strong>es hatte<br />

bereits deutlich gemacht, daß das Thema des ersten INTERNATIONA-<br />

LEN KONGRESSES RENOVABIS auf lebhaftes Interesse gestoßen<br />

war. Nach Auswertung der Presseberichte können wir sagen, daß Referate<br />

und Diskussionen dieser Veranstaltung ein positives Echo vor allem<br />

in den Printmedien gefunden haben. Allen Journalistinnen und Journalisten<br />

danken wir für ihre Berichterstattung und Kritik; letztere wollen wir<br />

nach Möglichkeit berücksichtigen.<br />

Der Leser findet in dieser <strong>Dokumentation</strong> die Beiträge des <strong>Kongress</strong>es,<br />

ferner die bei dieser Veranstaltung schriftlich vorgelegten Situationsberichte<br />

über die Kirche im Baltikum, in der Ukraine und in Ungarn.<br />

Wir verweisen auf den bevorstehenden 2. INTERNATIONALEN<br />

KONRESS RENOVABIS, der vom 3. bis 5. September 1998 im Kardinal-Döpfner-Haus<br />

in Freising unter dem Thema „Säkularisierung und<br />

Pluralismus in Europa: Was wird aus der Kirche?“ stattfinden wird.<br />

Pater Eugen Hillengass SJ<br />

Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong><br />

8


Zum Verlauf des <strong>Kongress</strong>es<br />

Nach der Begrüßung durch den Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong>, P. Eugen<br />

Hillengass SJ, eröffnete Friedrich Kardinal Wetter, der Erzbischof von<br />

München und Freising, am Donnerstag, dem 4. September <strong>1997</strong>, den<br />

Kongreß, er übermittelte ihm den Gruß des Papstes und verwies auf die<br />

enge historische Verbindung des Tagungsortes zum christlichen Osten.<br />

Die Kirchen in Europa stünden „heute vor großen Herausforderungen.<br />

Ihre Probleme haben unterschiedliche Wurzeln, doch können und sollen<br />

wir voneinander lernen.“<br />

Danach sprach Miloslav Kardinal Vlk, Erzbischof von Prag und Präsident<br />

des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen, über: „Kirche in<br />

Osteuropa: herrschen oder dienen?“ Unter besonderer Berücksichtigung<br />

der Geschichte und der Probleme der tschechischen katholischen Kirche<br />

zeigte er, wie sich Kirche und Gläubige nach so langer kommunistischer<br />

Herrschaft den Herausforderungen der Gegenwart stellen. Eine Polarisierung<br />

unterschiedlicher Gruppen in der Kirche behindere den Dialog. Es<br />

gelte, eine echte Erneuerung durchzuführen, die dem Verständnis von<br />

Freiheit als totaler Unabhängigkeit die „trinitarische Einstellung des<br />

Dienens“ entgegenstelle. Dazu werde ein langer organischer Prozeß<br />

erforderlich sein, keine bloße „Strukturreform“. Das gelte für den Osten<br />

wie für den Westen.<br />

Am Abend des gleichen Tages fand ein Podiumsgespräch „Chancen<br />

und Aufgaben der Kirche in einer glaubensfremden Welt“ statt. Unter den<br />

Teilnehmern waren Prof. Dr. Aniela Dylus, Prof. Dr. Konrad Feiereis,<br />

Prof. Dr. Tomásˇ Halík, Prof. P. Dr. Robert Hotz SJ sowie Erzabt Imre<br />

Asztrik Várszegi; die Moderation hatte Dr. Michael Albus.<br />

Der zweite Kongreßtag, Freitag der 5. September, begann mit einer<br />

gemeinsamen Eucharistiefeier. Hauptzelebrant war Bischof Karl Lehmann,<br />

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. In seiner Predigt<br />

verwies er auf die Vorgeschichte der <strong>Kongress</strong>e, auf Entstehen und Bedeutung<br />

der Solidaritätsaktion <strong>Renovabis</strong>, auf die im Osten ab 1989 entstandene<br />

Umbruchssituation. Er machte klar, daß „zur Einführung der<br />

9


Demokratie als Staatsform und zum Gebrauch der neuen Freiheit mehr<br />

Offenheit und Auseinandersetzung, Mut zum Dialog und zum geistigen<br />

Wettbewerb gehören.“ Der Westen seinerseits mußte „erst Einsicht darin<br />

gewinnen, daß die östlichen Kirchen Sorge hatten, ihre in der Verfolgung<br />

bewährte, lebendige Glaubenssubstanz könnte bei den unumgänglichen<br />

Modernisierungsschüben schweren Schaden leiden; der Schatz des Glaubens<br />

hätte die Unfreiheit überstanden, aber nicht die Freiheit überlebt.“<br />

Der erste Vortrag des Vormittags war einem schwierigen Thema gewidmet.<br />

Prof. Dr. Konrad Feiereis von der Philosophisch-Theologischen<br />

Hochschule in Erfurt sprach über: „Umgang mit der eigenen Vergangenheit<br />

(1945–1989): Fragen an die Kirchen.“ Er zeichnete offen und kritisch<br />

die Jahre der katholischen Kirche in der DDR nach. Dabei machte er<br />

deutlich, aus welchen Gründen die Verantwortlichen der Kirche in Ostdeutschland<br />

ihre Prioritäten unter dem totalitären Regime gesetzt haben.<br />

Neben Fällen von Versagen und Kleinmut stehen großartige Zeugnisse<br />

des Bekennens und des Mutes.<br />

Der Prager Theologe Prof. Dr. Tomásˇ Halík befaßte sich in seinem Vortrag<br />

mit dem Thema „Rückzug auf Feindbilder oder Mut zur Öffnung?“<br />

Der Referent ging auf die Befürchtungen und Sorgen ein, die in der Kirche<br />

seiner tschechischen Heimat bestehen, und nannte die Gründe dafür. Solche<br />

Schwierigkeiten gebe es auch in anderen Teilen der Welt, aber er wolle „erst<br />

vor seiner eigenen Tür kehren“ und versuchen, „die Angst auf seiten der<br />

Kirchen der postkommunistischen Welt zu diagnostizieren“. Schließlich<br />

schlug er „in Hinsicht auf den künftigen Dialog zwischen den Christen des<br />

Ostens und des Westens“ vor, „daß wir die Feindbilder weglegen und versuchen,<br />

den Mut aufzubringen, sich der Gabe der reifen Liebe zu öffnen.“<br />

Daran schloß sich ein Referat von Frau Prof. Dr. Aniela Dylus aus Warschau<br />

über „Polens Kirche: fähig zum Brückenbau?“ Sie zeigte in ihrem<br />

Vortrag, wie schwierig es für Polens katholische Kirche sei, Trennungslinien<br />

in Volk und Kirche zu überwinden. Sie machte aber auch klar, daß<br />

diese fähig sei „zum Bau von Brücken, auch wenn diese Bauwerke noch<br />

immer von Vollkommenheit weit entfernt sind.“ Energisch verwahrte sie<br />

sich gegen allzu vereinfachende Darstellungen über die Kirche in Polen,<br />

wie sie in westlichen Presseorganen zu finden seien.<br />

Am Nachmittag wandte sich der Kongreß jenem Gebiet Europas zu,<br />

wo Kirchen und Gläubige, aber auch die unterschiedlichen Völker zu be-<br />

10


sonderer Gewissenserforschung angehalten sind. Professor Dr. Franjo<br />

Topić aus Sarajevo und der serbisch-orthodoxe Erzpriester Slobodan<br />

Milunović aus München gingen der Frage nach: „Kirchen im ehemaligen<br />

Jugoslawien: Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?“ Beide versuchten<br />

aus ihrer Sicht, unter dem Gebot christlicher Nächstenliebe Ansätze und<br />

Wege zu einer Versöhnung zwischen beiden Nationen – Kroaten und<br />

Serben – darzulegen und dabei auf die besondere Verpflichtung der jeweiligen<br />

Kirche hinzuweisen.<br />

Danach fanden parallel vier Arbeitskreise statt, die sich den Themen<br />

dieses Tages widmeten:<br />

„Wie stellen sich die Kirchen im Osten zu ihrer Vergangenheit?“<br />

„Wieviel Mut zur Öffnung haben die Kirchen seit dem ,Schock der Freiheit‘?“<br />

„Polens Kirche und die Gräben in der Gesellschaft.“<br />

„Christlicher Versöhnungsdienst im ehemaligen Jugoslawien.“<br />

Hier hatten die zahlreichen Teilnehmer Gelegenheit, in der Diskussion<br />

mit Referenten und untereinander die gestellten Themen zu vertiefen. In<br />

diesen Arbeitskreisen entwickelten sich lebhafte, häufig auch kontroverse<br />

Gespräche.<br />

Der Tag endete mit einer Veranstaltung im Freisinger Dom. Kirchenmusikdirektor<br />

Wolfgang Kiechle und Kunsthistoriker Dr. Peter Steiner,<br />

der Direktor des Diözesanmuseums der Erzdiözese München und Freising,<br />

gestalteten diesen „Tagesausklang mit Orgelmusik“, der unter dem<br />

Thema stand: „Der Dom zu Freising, seine Geschichte, seine europäische<br />

Bedeutung, sein Gottesbild.“ Angesichts der engen Verbindung<br />

Freisings und seines Doms zu Osteuropa fand dieser Abend besonders bei<br />

den aus dem Osten kommenden Teilnehmern ein dankbares Publikum.<br />

Der letzte Kongreßtag, Samstag der 6. September, wurde wiederum<br />

durch eine gemeinsame Eucharistiefeier eingeleitet. In seiner Meditation<br />

dankte Weihbischof Leo Schwarz, Trier, Vorsitzender des Aktionsausschusses<br />

von <strong>Renovabis</strong>, den „Kirchen des Ostens für ihre Treue und ihre<br />

Glaubwürdigkeit“. Er drückte auch den Wunsch aus, „daß sie ihren Auftrag<br />

begreifen, der angeschlagenen westlichen Kirche auf ihrer Wegsuche<br />

entgegenzukommen, damit wir im Westen und im Osten die Feuerprobe<br />

bestehen“.<br />

11


Dieser Tag stand ganz im Zeichen der Probleme in der Russischen<br />

Föderation. In seinem Referat fragte Prof. P. Robert Hotz SJ aus Zürich:<br />

„Wie dienen die Kirchen den Menschen in Rußland?“. Der Redner gab<br />

ein ungeschminktes, illusionsloses Bild von der Lage. Das anschließende<br />

Podiumsgespräch, das der stellvertretende Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong>,<br />

Dr. Gerhard Albert, moderierte und an dem neben dem Referenten<br />

auch der russisch-orthodoxe Erzpriester Vladimir Ivanov aus Berlin/<br />

München und der Ostkirchenexperte Dr. Gerd Stricker aus Zollikon/<br />

Schweiz teilnahmen, hatte das Thema: „Kirche und Gesellschaft im<br />

heutigen Rußland.“ Hier wurden die Thesen des Referats hinterfragt,<br />

unterschiedliche Meinungen stießen aufeinander.<br />

Der Kongreß endete mit einem Schlußwort des Geschäftsführers von<br />

<strong>Renovabis</strong>, der sich bei Mitwirkenden und Teilnehmern für die Zusammenarbeit<br />

bedankte und um Anregungen für die Gestaltung späterer<br />

<strong>Kongress</strong>e bat.<br />

12


Aus Grußbotschaften<br />

an den Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />

Der Erzbischof von Berlin<br />

Den Teilnehmern am „Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong>“ im Kardinal-<br />

Döpfner-Haus in Freising übermittle ich einen herzlichen Gruß und<br />

meinen Segenswunsch für ein gutes Gelingen.<br />

In neuer Konzeption führen Sie die bewährte Tradition der Königsteiner<br />

Internationalen <strong>Kongress</strong>e „Kirche in Not“ fort. Mit Dankbarkeit<br />

gegen Gott und gegenüber allen, die zur Befreiung der Völker, der einzelnen<br />

Menschen – und nicht zuletzt der Kirche als dem Volk Gottes – vom<br />

sowjetischen Totalitarismus beigetragen haben, möchte ich Sie ermutigen:<br />

Stellen Sie sich den Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft! Die<br />

frühere Bedrohung des Menschen durch ein inhumanes politisches<br />

System ist aufgehoben. Die Gefahr einer neuerlichen Bedrohung des<br />

Menschen und seiner Würde im Namen einer mißverstandenen und damit<br />

leicht mißbrauchbaren Freiheit ist für viele unverkennbar.<br />

In dieser Situation kommt es entscheidend darauf an, „Christus als den<br />

Weg des Menschen“ (Johannes Paul II.) zu erkennen und anzuerkennen;<br />

denn nur durch IHN werden die Völker bleibend befreit von allen den<br />

Menschen bedrohenden Mächten und Gewalten.<br />

In herzlicher Verbundenheit<br />

Georg Kardinal Sterzinsky<br />

13


Bundesrepublik Deutschland<br />

Der Bundeskanzler<br />

… Sie haben für diesen ersten Kongreß das Thema „Kirche in Osteuropa:<br />

Herrschen oder Dienen“ gewählt. Vielen gilt das Wort „Dienen“ als altmodisch.<br />

Dabei brauchen wir auch heute die Bereitschaft zum Dienst am<br />

Mitmenschen – und dazu gehört nicht zuletzt der Wille, sich mit seinen<br />

Anliegen in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Gerade in einer Zeit<br />

dramatischen Wandels, die zu weitreichenden Veränderungen des gesamten<br />

Lebens – nicht nur in Gesellschaft und Wirtschaft, sondern auch für<br />

jeden einzelnen – führt, brauchen wir mehr denn je die Stimme der Kirchen,<br />

die Orientierungshilfen bei der Suche nach Antworten auf neuartige<br />

Fragen zu geben vermag.<br />

Eine eigene Standortbestimmung über nationale Grenzen hinweg und<br />

angesichts unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklungen vorzunehmen,<br />

ist die Aufgabe des ersten Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>.<br />

Mit dieser Veranstaltung setzen Sie deshalb ein wichtiges Zeichen der<br />

völkerverbindenden Kraft christlichen Glaubens. Indem sich Christen für<br />

den notwendigen Dialog in Ost und West einsetzen, leisten sie einen bedeutsamen<br />

Beitrag zur Gestaltung eines vereinten Europa in Frieden und<br />

Freiheit. Denn wir wissen, daß der Geist der Frohen Botschaft ein<br />

wirkungsvoller Damm gegen jegliche Form von Haß, Gewalt und ideologisch<br />

begründeten Wahrheits- und Machtansprüchen ist. Eine christliche<br />

Lebenseinstellung ist nach meiner Überzeugung auch die beste Grundlage<br />

dafür, daß wir mit unserer Freiheit verantwortungsvoll umgehen.<br />

Deshalb brauchen wir das Engagement von Christen in Politik und<br />

Gesellschaft.<br />

In diesem Sinne wünsche ich Ihren Arbeitskreisen und Gesprächen,<br />

daß dort eine Atmosphäre der Verständigung und Versöhnung herrsche,<br />

die dem Bau des Hauses Europa auf dem Fundament christlich geprägter<br />

Grundwerte dient. Der Solidaritätsaktion <strong>Renovabis</strong> der deutschen<br />

Katholiken für die Menschen in Mittel- und Osteuropa wünsche ich für<br />

ihre weitere Arbeit viel Erfolg…<br />

Dr. Helmut Kohl<br />

14


Der Bundesminister des Auswärtigen<br />

In den vergangenen Jahrzehnten war die Hilfe der deutschen Katholiken<br />

für viele Menschen in Mittel- und Osteuropa Hoffnung und Erleichterung.<br />

Durch ihre beharrliche Arbeit gegen alle Widerstände hat sich die<br />

Katholische Kirche in Mittel- und Osteuropa eine Grundlage geschaffen,<br />

auf der sie heute aufbauen kann.<br />

<strong>Renovabis</strong>, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den<br />

Menschen in Mittel- und Osteuropa, spielt dabei seit seiner Gründung<br />

1993 eine besonders wichtige Rolle. Auf vielfältige Weise trägt <strong>Renovabis</strong><br />

dazu bei, die Folgen eines halben Jahrhunderts europäischer Spaltung,<br />

eines halben Jahrhunderts kommunistischer Herrschaft zu überwinden.<br />

Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche und soziale Fragen,<br />

sondern vor allem auch um Meinungs- und Erfahrungsaustausch.<br />

Ob <strong>Renovabis</strong> Begegnungsschulen für alle Volksgruppen in Bosnien<br />

und Herzegowina baut, ein Pastoral- und Begegnungszentrum in einem<br />

Neubaugebiet in Weißrußland fördert oder albanischen Frauen zu einer<br />

Ausbildung verhilft, immer stehen der Dienst am Nächsten und der Dialog<br />

mit ihm im Mittelpunkt. <strong>Renovabis</strong> bedeutet die Verbindung von<br />

praktischer Lebenshilfe zur Selbsthilfe mit der Vermittlung der christlichen<br />

Grundwerte.<br />

Der erste <strong>Renovabis</strong> Kongreß <strong>1997</strong>, den <strong>Renovabis</strong> im Auftrag der<br />

Deutschen Bischofskonferenz in der Tradition der Königsteiner <strong>Kongress</strong>e<br />

von „Kirche in Not“ veranstaltet, wird Gelegenheit zur Reflexion,<br />

zum Dialog und zum Gebet bieten. Ich danke den Veranstaltern des<br />

<strong>Renovabis</strong> <strong>Kongress</strong>es <strong>1997</strong> für ihre Arbeit und wünsche allen Teilnehmern<br />

fruchtbare, in die Zukunft weisende Gespräche und Begegnungen.<br />

Dr. Klaus Kinkel<br />

15


Der Vorsitzende der Christlich-Sozialen Union<br />

Der Bundesminister der Finanzen<br />

Zum Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> der deutschen Katholiken übermittle<br />

ich Ihnen persönlich und im Namen der Christlich-Sozialen Union<br />

herzliche Grüße. Im Mittelpunkt Ihrer Zusammenkunft steht das Thema<br />

„Kirche in Osteuropa: Herrschen oder Dienen?“ Mit Ihrer Solidaritätsaktion<br />

vermitteln Sie wesentliche Impulse für einen intensiven Dialog<br />

zwischen den Christen und für eine dauerhafte Aussöhnung in einem<br />

freien und ungeteilten Europa. Mit dem Motto Ihres <strong>Kongress</strong>es leisten<br />

Sie darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung des Auftrages<br />

der Kirche im zusammenwachsenden Europa.<br />

Das Prinzip der auf Gerechtigkeit gegründeten Solidarität ist für die<br />

europäische Tradition und für die Soziallehre der Kirche das zentrale<br />

Baugesetz menschlichen Zusammenlebens. Solidarität wurzelt in der<br />

Freiheit, Eigenverantwortung und Würde der menschlichen Person. Freiheit<br />

und Solidarität sind unauflöslich aufeinander bezogen.<br />

Erzwungene Einheit ohne Freiheit muß scheitern, wie der Zusammenbruch<br />

des kommunistischen Systems gezeigt hat. Freiheit ohne Solidarität<br />

dagegen entartet zu Beliebigkeit und zu Willkür, welche die<br />

Grundlagen der Gesellschaft aushöhlen. Solidarität in und zwischen den<br />

Gesellschaften und Nationen muß daher zum Ferment des künftigen<br />

gemeinsamen Europas werden.<br />

Solidarität ist unteilbar. Europa darf sich deshalb nicht auf sich selbst<br />

zurückziehen und einem überholten Eurozentrismus huldigen. Es muß<br />

sich vielmehr für weltweite Solidarität öffnen und sich für Freiheit, Frieden<br />

und Gerechtigkeit für alle Menschen einsetzen.<br />

Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Achtung der Menschenrechte<br />

bilden das einzig tragfähige Fundament eines dauerhaften Friedens. Indem<br />

sich die Kirchen im Westen und Osten unseres Kontinents für diese<br />

Werte einsetzen und sie verteidigen, dienen sie dem Frieden der europäischen<br />

Völker. Das Bemühen um Verständigung und Versöhnung unter<br />

den Menschen ist zugleich grundlegend für den Frieden und die Verständigung<br />

ganz Europas.<br />

Das Christentum hat Europa in den 2000 Jahren seiner wechselvollen<br />

Geschichte geformt und mitbestimmt. Die Strahlkraft des von den Kir-<br />

16


chen im Westen und Osten Europas vertretenen Menschenbildes erwächst<br />

aus der überzeugenden Verbindung von Glaube und Hoffnung. Das verpflichtet<br />

zu Offenheit und Toleranz ebenso wie zu Bescheidenheit und<br />

Demut.<br />

Die Kirchen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa stehen angesichts der<br />

umfassenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandlungsprozesse<br />

in den Reformstaaten vor der ehrgeizigen Aufgabe, den Menschen<br />

verläßliche ethisch-moralische Wert- und Orientierungsmaßstäbe zu vermitteln<br />

sowie Lebenssinn und Orientierung zu geben. Die Kirche im<br />

Osten hat heute vor allem eine dienende Funktion im Sinne eines Wegbereiters<br />

wahrzunehmen. Es geht vor allem darum, in den sich neu orientierenden<br />

Gesellschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas ein christliches<br />

Wertefundament zu verankern und zu pflegen.<br />

Der Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, hat die<br />

Mission der Kirche mit Blick auf die Neugestaltung Europas bei der<br />

Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda im<br />

September 1991 folgendermaßen beschrieben: „Wenn man von einer<br />

Mission der Kirche in Europa spricht, geschieht dies besonders in bezug<br />

auf die öffentlichen Tatsachen und Prozesse, die das politische, wirtschaftliche<br />

und gesellschaftliche Gesicht Europas beeinflussen. Das<br />

heißt, daß die Kirchen… sich einzusetzen haben für eine Förderung der<br />

Sensibilität der Öffentlichkeit für übersehene oder verdeckte Aspekte der<br />

menschlichen Würde.<br />

Heute ist die Kirche viel besser imstande als viele andere Institutionen<br />

in Europa, sich dafür einzusetzen, daß die Prinzipien der unverletzlichen<br />

Würde des Menschen, der Gerechtigkeit, der Solidarität und des richtigen<br />

Umgehens mit der Schöpfung besser geachtet werden.“<br />

Für diese Aufgabe muß aus der Kraft des christlichen Glaubens der<br />

Optimismus erwachsen, der ein Europa zusammenfinden läßt, das die<br />

Freiheit und Menschenwürde des einzelnen und damit allen Menschen<br />

den Frieden garantiert…<br />

Dr. Theo Waigel<br />

17


Der Bundesminister des Innern<br />

Nach dem Zusammenbruch der totalitären kommunistischen Systeme in<br />

den Ländern Mittel- und Osteuropas eröffnen sich den Kirchen in diesen<br />

Ländern neue Möglichkeiten, das Evangelium zu verkünden und bei der<br />

Erneuerung der Gesellschaft in Gerechtigkeit und Freiheit mitzuwirken.<br />

Die Veranstalter des <strong>Kongress</strong>es sehen aber offenbar auch die Gefahr, daß<br />

die Kirchen versuchen könnten, Positionen der Vergangenheit wiederzugewinnen<br />

und nach Macht und Prestige zu streben. Das Thema: „Kirche<br />

in Osteuropa – Herrschen oder dienen?“ zeigt, daß es hierzu eine Alternative<br />

gibt; nämlich die, daß sich die Kirche zum Dienst an den Menschen<br />

bekennt. Ich hoffe, daß der erste „Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong>“<br />

diese Fragen mit großem Ernst und mit guten Ergebnissen erörtert.<br />

Die Aktion <strong>Renovabis</strong> selbst hat in der kurzen Zeit ihrer Tätigkeit überzeugend<br />

nachgewiesen, daß für sie der Dienst an den Menschen im Vordergrund<br />

steht. Sie hat bisher nicht nur in erheblichem Umfang finanzielle<br />

Hilfen geleistet, sondern die Christen in den Ländern in Mittel- und<br />

Osteuropa in ihren seelsorgerlichen Anliegen unterstützt. Die Tätigkeit<br />

der Aktion <strong>Renovabis</strong> könnte so vorbildhaft für die Kirchen in Mittel-<br />

und Osteuropa sein.<br />

Das geschichtlich gewachsene Verhältnis zwischen Staat und den<br />

christlichen Kirchen ist partnerschaftlich und kooperativ. Der Staat erkennt<br />

an, daß den Kirchen eine besondere Bedeutung für die Bildung und<br />

Bewahrung ethischer Grundpositionen zukommt…<br />

Manfred Kanther<br />

18


Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung<br />

…Dieser Kongreß stellt sich der zukunftsweisenden Frage „Kirche in<br />

Osteuropa: herrschen oder dienen?“<br />

Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Transformationsprozeß der<br />

ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas auf kirchlicher Ebene zu begleiten.<br />

Die neue Freiheit in diesen Ländern hat nicht nur Chancen und Hoffnungen,<br />

sondern auch viele Gefahren und Probleme mit sich gebracht. Alles ist<br />

– nach Jahrzehnten der scheinbaren Sicherheit – ins Wanken geraten. Auch<br />

die Verantwortlichen der Kirchen sehen sich vor neue Fragen gestellt:<br />

Wie umgehen mit der neuen Freiheit? Wie die sich bietenden Chancen<br />

und Herausforderungen dieser Zeit annehmen? Wie der Versuchung<br />

widerstehen, selbst nach Einfluß und Macht zu streben?<br />

Fragen, auf die es keine erschöpfenden und abschließenden Antworten<br />

geben kann, die Sie jedoch im Rahmen Ihres <strong>Kongress</strong>es ausführlich diskutieren<br />

werden. Der polnische Kardinalprimas Wyszynski hat über die<br />

Kirche in seinem Land einmal gesagt, ihr wichtigstes Ziel müsse es sein,<br />

dem Volk und den Menschen zu dienen. Genau hier liegt die Botschaft<br />

des Evangeliums und das Vermächtnis Jesu Christi. Wenn die Kirchen in<br />

Osteuropa dieses Vermächtnis fortführen und ihren Versöhnungsauftrag<br />

erfüllen, werden sie auch eine ganz wichtige Rolle im sich nun nach<br />

Osten erstreckenden europäischen Integrationsprozeß spielen.<br />

Der Weg zu Freiheit und Frieden ist ein hartes Stück Arbeit. Die Kirchen in<br />

Osteuropa haben diese Arbeit – oft unter schlimmen Entbehrungen – auf sich<br />

genommen. Heute können sie die Früchte dieser Anstrengungen ernten. Jetzt<br />

muß die Kirche den Menschen Hilfestellung beim Umgang mit den neu gewonnenen<br />

Freiheiten geben. Der Frieden braucht Menschen mit Standpunkten,<br />

mit der Fähigkeit zum Kompromiß, mit der Intuition für das Gemeinwohl,<br />

mit dem Wissen um die Menschenwürde und mit dem Elan, sich gewaltlos<br />

und ohne Besserwisserei dafür zu engagieren. Wo, wenn nicht in den Kirchen,<br />

können Menschen mit diesen Eigenschaften Hilfe und Unterstützung finden?<br />

Der 1. Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> soll ein offenes europäisches<br />

Forum darstellen, auf dem sich ein dialogbereiter, ökumenisch handelnder<br />

Katholizismus artikuliert. Das Zusammenwachsen der Christen in Ost und<br />

West in allen kirchlichen Aktivitäten ist ihr vorrangiges Ziel. Dabei wünsche<br />

ich Ihnen viel Erfolg und gutes Gelingen.<br />

Dr. Norbert Blüm<br />

19


Der Bundesminister für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

Wer heute die Entwicklung in Europa betrachtet, muß zwangsläufig auch<br />

unsere osteuropäischen Nachbarländer in den Blickwinkel nehmen. Ost-<br />

und Westeuropa sind auf eine vielfältige Weise miteinander verknüpft.<br />

Unsere Geschichte ist eine gemeinsame Geschichte; ebenso läßt sich<br />

heute keine Frage unserer politischen, sozialen und wirtschaftlichen<br />

Zukunft mehr beantworten ohne Einbezug unserer osteuropäischen<br />

Nachbarn.<br />

Die anfangs mit dem Umbruch von 1989 freigewordenen Hoffnungen<br />

haben sich noch nicht erfüllen können. Vielfach scheint es, daß die Probleme<br />

noch komplexer wurden oder daß sie durch die Freiheit noch klarer<br />

sichtbar wurden. In den nächsten Jahren geht es entscheidend darum, den<br />

Menschen einerseits Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln, andrerseits<br />

auch orientierende Hilfe, wie sie mit dem kostbaren Gut der Freiheit verantwortungsvoll<br />

umgehen können.<br />

Immer deutlicher zeigen sich die Folgen des Atheismus, der eine<br />

geistige Leere verursacht hat. Sie hat ganze Generationen ohne Orientierung<br />

gelassen. Der Marxismus hatte den Menschen versprochen, das<br />

Verlangen nach Gott aus dem Herzen des Menschen zu tilgen. Die Ergebnisse<br />

haben bewiesen, daß dies nicht gelingen kann, ohne dieses Herz<br />

selbst zu zerrütten. Dies erschwert die Suche nach der eigenen Identität<br />

der Menschen und ist zugleich Ursache für viele Formen der sozialen<br />

Desintegration.<br />

Letzten Endes ist auch die Schaffung einer wahren Demokratie nur in<br />

einem Rechtsstaat und auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes<br />

möglich, welches die Erziehung und Heranbildung von Idealen<br />

befördert, gesellschaftliche Strukturen der Eigenverantwortung und<br />

Selbsthilfe, der Beteiligung und Mitverantwortung schafft.<br />

Der Aufbau gesellschaftlicher Institutionen ist ohne Vertrauen der<br />

Menschen in ein gemeinsames Miteinander nicht möglich. Vertrauen<br />

muß sich heranbilden im Bewußtsein auf die Würde des Menschen und<br />

der Achtung der Standpunkte der jeweils anders Denkenden. Hier stellt<br />

sich die vielleicht wichtigste Aufgabe der Kirchen in Osteuropa, wie die<br />

Vermittlung von Werten, die eine Gesellschaft tragen und Orientierung<br />

20


geben für ein politisches Handeln, welches Ideen und Überzeugungen<br />

nicht für Machtzwecke mißbraucht. Der Beitrag der Kirche zur demokratischen<br />

Ordnung der Gesellschaft ist die „Sicht von der Würde der Person,<br />

die sich im Geheimnis des Mensch gewordenen Wortes in ihrer ganzen<br />

Fülle offenbart“ (Enzyklika Centesimus Annus <strong>Nr</strong>. 47).<br />

In diesem Sinne wünsche ich dem Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />

in Freising <strong>1997</strong> ein gutes Gelingen. Es soll ein Forum sein, wo die drängenden<br />

Fragen von Kirche und Gesellschaft in Europa nach dem Umbruch<br />

von 1989 Antworten finden können.<br />

Möge der gute Geist dieser historischen Stätte walten, von der in<br />

der Vergangenheit vielfältige Impulse auf das geistige Leben und die<br />

europäische Kultur ausgingen.<br />

Carl-Dieter Spranger<br />

21


Der Ministerpräsident<br />

des Landes Baden-Württemberg<br />

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sind die tiefgreifenden<br />

politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in den Staaten Mittel-<br />

und Osteuropas noch immer nicht abgeschlossen. Menschen, die jahrzehntelang<br />

ihrer Rechte und Chancen beraubt waren, stehen vor der Aufgabe,<br />

im Zeichen von Demokratie und Freiheit einen Neuanfang zu gestalten.<br />

Maßgeblich unterstützt werden sie dabei von den Kirchen. Der Glaube,<br />

jahrzehntelang unterdrückt und verfolgt, gibt den Menschen neuen Halt.<br />

Und er vermittelt der Gemeinschaft jene humanistischen Grundwerte, die<br />

sie brauchen, um menschenwürdige Lebensumstände und eine stabile<br />

Friedensordnung zu schaffen.<br />

Als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, das enge Partnerschaften<br />

zu Ländern aus Mittel- und Osteuropa pflegt, weiß ich, welche<br />

tragende Rolle der Glaube und die Religiosität beim Aufbau einer<br />

demokratischen Struktur in diesen Staaten spielen. Die Kirchen sehen<br />

sich allerdings auch mit zahlreichen Problemen konfrontiert, die sich aus<br />

den veränderten Gesellschafts- und Lebensformen ergeben.<br />

Ich begrüße die Veranstaltung des Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>,<br />

die unter dem Titel „Kirche in Osteuropa – Herrschen oder Dienen?“ steht.<br />

Sie bietet ein europäisches und ökumenisches Forum für den Dialog über<br />

die aktuellen Probleme der Kirchen in den postkommunistischen Staaten.<br />

Teilnehmer aus Ost und West beschäftigen sich drei Tage lang im bayrischen<br />

Freising mit der Vergangenheit der Kirchen in Osteuropa, bestimmen<br />

deren Standort in den einzelnen Ländern und zeigen für sie Zukunftsperspektiven<br />

auf.<br />

Ich danke den Veranstaltern der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken,<br />

<strong>Renovabis</strong>, ganz herzlich für ihren Einsatz und den Mut, diese<br />

drängenden Fragen einmal offen zu diskutieren. Allen Teilnehmern wünsche<br />

ich informative und konstruktive Gespräche. Vielleicht münden sie<br />

in neue Ideen und Lösungsansätze, die den Menschen in Mittel- und Osteuropa<br />

dann ein glücklicheres und gerechteres Leben ermöglichen.<br />

22<br />

Erwin Teufel


Der Bayerische Ministerpräsident<br />

…Dieser Kongreß widmet sich der Frage, wie die katholische Kirche in<br />

solidarischer und ökumenischer Weise zur Entwicklung in Mittel-, Ost-<br />

und Südosteuropa beitragen kann. Politische, soziale und nicht zuletzt<br />

auch theologische Gegensätze und Spannungen erweisen sich gegenwärtig<br />

als Hemmnisse des Fortschritts, den unsere Nachbarn im Osten jahrzehntelang<br />

ersehnt haben. Schon aber tritt gelegentlich die paradoxe<br />

Tendenz zu Tage, daß die kommunistische Ideologie, die nach einem<br />

ebenso gründlichen wie schrecklichen Experiment endgültig widerlegt<br />

sein sollte, in den Augen einer nicht geringen Zahl von Menschen einen<br />

romantischen Glanz gewinnt, der uns überrascht – der vielleicht aber verständlicher<br />

wird, wenn man beobachtet, daß an die Stelle des alten Unterdrückungsapparats<br />

inzwischen teilweise Korruption, mafiose Strukturen<br />

und rücksichtslose Konjunkturritter getreten sind: Die neue Wirklichkeit<br />

wird oft weniger vom freudigen Gefühl der Freiheit geprägt als von<br />

Armut, Desorganisation und Kriminalität.<br />

In dieser Situation können die Kirchen einen entscheidenden Beitrag<br />

zur Neuorientierung und zum Vertrauen in neu gewonnene Freiheiten<br />

leisten, damit sie eben nicht von anarchischen oder nihilistischen Zügen<br />

überdeckt werden: Unsere Hoffnung beruht darauf, daß die Menschen,<br />

die guten Willens sind, zusammenfinden. Ich wünsche dem Internationalen<br />

Kongreß <strong>Renovabis</strong>, daß er dazu beitragen möge.<br />

Dr. Edmund Stoiber<br />

23


Der Regierende Bürgermeister von Berlin<br />

Die Öffnung der Grenzen und der Zusammenbruch des kommunistischen<br />

Systems wurden nicht nur von den westlichen Demokratien, sondern<br />

auch von den Kirchen als Herausforderung betrachtet. Marktwirtschaftlich-demokratische<br />

Strukturen brauchten genauso westliche Unterstützung<br />

wie kirchliche. Dabei ist gerade nach den ersten Aufbaujahren Behutsamkeit<br />

und Fingerspitzengefühl vonnöten, will man irrationale<br />

Überfremdungs- und Vereinnahmungsängste von vorne herein vermeiden.<br />

50, mitunter gar 70 Jahre einer totalitären Gewaltherrschaft haben im<br />

ehemaligen sowjetischen Machtbereich nicht nur einen Mangel an materiellen<br />

Werten, an Marktfähigkeit, Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit<br />

verursacht, sondern auch soziale und religiöse Werte in den<br />

Hintergrund und in die Vereinsamung gedrängt. Es gehört zu den großen<br />

Aufgaben der Kirchen, insbesondere der katholischen Weltkirche, den<br />

Ortskirchen Beratung und Unterstützung zu ermöglichen, damit diese<br />

den Menschen in einer schwierigen Umbruchsphase Orientierung und<br />

Identität geben können.<br />

Von daher wünsche ich dem Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> anregende<br />

Diskussionen, fruchtbare Kontakte und jeden Erfolg, denn wir alle<br />

müssen unseren Beitrag dazu leisten, um das Angesicht der Erde zu<br />

erneuern.<br />

Eberhard Diepgen<br />

24


Der Ministerpräsident<br />

des Landes Brandenburg<br />

…<strong>Renovabis</strong>, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den<br />

Menschen in Mittel- und Osteuropa, hat den Kongreß unter das provozierende<br />

Thema „Kirche in Osteuropa: Herrschen oder dienen?“ gestellt.<br />

Christen aus mittel- und osteuropäischen Ländern werden hier die Gelegenheit<br />

haben, in einen Ost-West-Diskurs einzutreten, aber auch die Ost-<br />

Ost-Diskussion untereinander zu befördern. Mehr als 200 Tagungsteilnehmer<br />

aus dem In- und Ausland werden erwartet und stehen mit ihren<br />

unterschiedlichen Auffassungen für eine fruchtbare und kontrovers<br />

geführte Auseinandersetzung. Auf die Ergebnisse dürfen alle, die sich mit<br />

den politischen Veränderungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten<br />

beschäftigen, gespannt sein.<br />

Die kulturellen, geistigen und auch geistlichen Traditionen dieser Staaten<br />

sind reichhaltig und verdienen es, in den künftigen Entwicklungsprozessen<br />

Europas Beachtung und Würdigung zu finden. Zuweilen<br />

überdecken die sozialen Nöte und wirtschaftlichen Verwerfungen der<br />

Umbruchprozesse diesen Reichtum. <strong>Renovabis</strong> – in 27 Ländern Mittel-<br />

und Osteuropas aktiv – gebührt Dank dafür, auf <strong>Kongress</strong>en wie diesem<br />

einmal mehr zu beweisen, daß seine Aktionen als Hilfe zur Selbsthilfe<br />

gedacht sind, daß seine partnerschaftliche Unterstützung vor allem den<br />

Dialog befördern will.<br />

<strong>Renovabis</strong> faciem terrae – Du erneuerst das Antlitz der Erde! Getreu<br />

diesem Motto wollen deutsche Katholiken an der gesellschaftlichen<br />

Erneuerung mitwirken. Ihre Projektarbeit bezieht sich auf mehr als 1000<br />

konkrete Unternehmungen, die gemeinsam mit den Ortskirchen durchgeführt<br />

werden und auf eine effiziente ökumenische Zusammenarbeit<br />

bauen. Nur in Harmonie von wirtschaftlichen, sozialen und geistlichen<br />

Entwicklungsprozessen wird der Umbau in Mittel- und Osteuropa<br />

gelingen…<br />

Manfred Stolpe<br />

25


Der Ministerpräsident des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

<strong>Renovabis</strong> faciem terrae, Du erneuerst das Antlitz der Erde, heißt es im<br />

Psalm 104. „<strong>Renovabis</strong>“ versteht den Lobpreis Gottes auch als Verpflichtung<br />

zum eigenen Tun und setzt sich ein für den Dialog zwischen den<br />

Christen in Ost und West. Ich begrüße dieses Engagement angesichts<br />

riesiger sozialer und wirtschaftlicher Probleme in den Staaten Mittel- und<br />

Osteuropas. „Kirche in Osteuropa: Herrschen oder dienen“ lautet das<br />

Thema, unter dem sich die Tagungsteilnehmer zusammenfinden, um sich<br />

Rechenschaft zu geben über die unterschiedlichen Bedingungen ihrer<br />

Kirchen in den postkommunistischen Ländern und über die mancherorts<br />

katastrophale Lage der Menschen.<br />

Besonders freue ich mich darüber, daß Priester aus den betroffenen<br />

Ländern so zahlreich nach Freising kommen. Sie werden aus erster Hand<br />

berichten über ihre Schwierigkeiten und Bedrängnisse. Diese Informationen<br />

bieten die Gewähr dafür, daß die Vertreter des Westens einen ungeschminkten<br />

Eindruck bekommen vom „Schock der Freiheit“, der die<br />

Länder des ehemaligen Ostblocks nach 1989 getroffen hat. Nur wenige<br />

Menschen profitieren bisher von den Vorzügen des liberalen Wirtschaftssystems;<br />

für die Mehrzahl hingegen hat sich wenig zum Positiven verändert,<br />

und das führt oft genug zur trügerischen Sehnsucht nach den alten<br />

Verhältnissen. In dieser Situation Wege in die Zukunft zu zeigen und den<br />

Menschen Hoffnung zu geben, kommt einer Herkules-Aufgabe gleich.<br />

Aber sie muß getan werden, damit die Gesellschaften nicht zurückfallen<br />

in Apathie und Hoffnungslosigkeit. Auch wenn die Sorge der Kirchen um<br />

die Wiederherstellung und die Sicherung ihrer eigenen Stellung nur<br />

zu verständlich ist, bleibt der Dienst am Menschen doch ihre wichtigste<br />

Aufgabe.<br />

Hoffen wir, daß die Selbstverpflichtung von „<strong>Renovabis</strong>“ im Laufe der<br />

Zeit einen Beitrag dazu leistet, daß die Menschen Mittel- und Osteuropas,<br />

in den Worten des 104. Psalms, „mit Gut gesättigt werden“…<br />

26<br />

Dr. h.c. Johannes Rau


Der Ministerpräsident<br />

des Freistaates Sachsen<br />

Der Zusammenbruch eines politischen Systems ist in vielerlei Hinsicht<br />

umwälzend. Wie ein Kartenhaus stürzt die schützende Mauer zusammen.<br />

So gibt es Stützen der bisherigen Ordnung, die den Anspruch verlieren,<br />

Grundpfeiler der Gesellschaft zu sein. Und es gibt andere, deren Berechtigung<br />

unzweifelhaft ist. Menschen sammeln in diesem Prozeß verschiedene<br />

Erfahrungen. Einige sehen darin die Chance des Lebens und nutzen<br />

diese. Andere hingegen vermissen eben noch gültige Sicherheiten und<br />

haben das Gefühl, den Halt zu verlieren.<br />

Daß die Kirche in einer solchen Situation hilft und Partner sein kann<br />

auf dem Weg zu einem Neuanfang, haben unsere östlichen Nachbar länder<br />

in den letzten Jahren unterschiedlich erlebt. Da waren innere Schwierigkeiten<br />

zu meistern, Fragen zu beantworten, bei denen es um den Umgang<br />

mit der Freiheit ging, wie die eigene Rolle neu definiert wird, ob eine kritische<br />

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfolgen soll, wo die<br />

Grenzen des Handelns sind, wie es weitergeht, ohne die Menschen aus<br />

den Augen zu verlieren. Zahlreiche Antworten gab und gibt es, aber keine<br />

Rezepte. Um so wichtiger ist es, sich auszutauschen, einen Dialog zu führen<br />

über Gemeinsames, Trennendes, Bekanntes und Unbekanntes. Der<br />

Internationale <strong>Renovabis</strong> Kongreß <strong>1997</strong> hat sich dies zum Ziel gesetzt<br />

und wird sich erstmalig dem Thema „Kirche in Ost europa: herrschen<br />

oder dienen“ widmen. Eine Aktion von deutschen Katholiken für Osteuropa,<br />

um den aufgetragenen Dienst am Menschen, vor allem auch den<br />

Dienst der Versöhnung, weiterzutragen…<br />

Prof. Dr. Kurt Biedenkopf<br />

27


Der Thüringer Ministerpräsident<br />

…Ihrem ersten internationalen Kongreß haben Sie ein anregendes und<br />

zugleich nachdenklich stimmendes Leitwort gegeben: „Kirche in Osteuropa:<br />

herrschen oder dienen?“ Allein die Tatsache, daß Sie sich mit der<br />

Kirche in Osteuropa beschäftigen, verdient Anerkennung. Der Osten<br />

Europas ist für viele Westeuropäer noch immer terra incognita. Den Fall<br />

von Mauer und Stacheldraht und den Zusammenbruch des Kommunismus<br />

haben fast alle begrüßt. Die Folgen der Überwindung der Spaltung<br />

Europas aber haben viele nur unzureichend bedacht.<br />

Der geteilte Kontinent Europa, der durch den Zweiten Weltkrieg zum<br />

Abbild der Bipolarität in der Welt wurde, ist am Ende dieses Jahrhunderts<br />

wieder zusammengerückt. Die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang,<br />

die sich diesem Europa immer zugehörig fühlten, schauen voller Erwartung<br />

und Hoffnung auf uns. Die Solidarität, die das freie Westeuropa den<br />

Menschen während der Dauer der kommunistischen Regimes in ihren<br />

Ländern zugesichert und zuteil werden ließ, wird heute vermehrt eingefordert.<br />

Konkret heißt das: Die jungen Reformstaaten sind bestrebt,<br />

möglichst schnell Organisationen wie Europäischer Union und NATO<br />

beitreten zu können, um ihre politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung<br />

voranzubringen und abzusichern.<br />

Noch ist der schwierige Transformationsprozeß in den einstigen kommunistischen<br />

Diktaturen zu demokratisch verfaßten Gesellschaften mit<br />

einer sozialen marktwirtschaftlichen Ordnung überwiegend in vollem<br />

Gange. Deshalb entfaltet schon eine zeitliche Perspektive für eine Mitgliedschaft<br />

in einer der beiden Organisationen bei den beitrittswilligen<br />

Ländern stabilisierende Wirkung. Schon die Option ist von erheblicher<br />

Bedeutung, denn so verständlich der Wunsch vieler Länder nach einem<br />

sofortigen oder baldigen Beitritt ist, so ist er auf Grund objektiv fehlender<br />

Voraussetzungen nicht sofort zu realisieren.<br />

Das Wort von Vaclav Havel hat seinen Sinn: „Wenn der Westen nicht<br />

den Osten stabilisiert, destabilisiert der Osten den Westen.“ Die Konflikte<br />

auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und auch in Bereichen der<br />

früheren Sowjetunion zeigen uns, daß die Gefahren von mit Waffengewalt<br />

ausgetragenen Konflikten nach dem Ende des Ost-West-Gegen-<br />

28


satzes eher größer geworden sind. Ethnisch, aber auch religiös begründete<br />

Auseinandersetzungen könnten sich als gefährliche Sprengsätze für<br />

das in sich noch instabile Gefüge einer sich in Konturen abzeichnenden<br />

europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung erweisen.<br />

Vier Jahrzehnte, im Falle Rußlands sogar sieben Jahrzehnte, führten<br />

die Kirchen und christlichen Minderheiten in vielen Ländern des sogenannten<br />

Ostblocks einen Kampf ums Überleben. Nicht überall war die<br />

Kirche so widerstandsfähig wie in Polen, wo die Christen allen Ver suchen<br />

des kommunistischen Regimes, zwischen sie und die Kirche einen Keil<br />

zu treiben, widerstanden und wo viele Menschen in der Zeit der Bedrängnis<br />

Schutz, Trost und Kraft im Schoß der Kirche fanden. Die katholische<br />

Kirche hat sich aber nicht nur in Polen als stärker als die ebenso menschenverachtenden<br />

wie auch kirchen- und christenfeind lichen Regierungen<br />

erwiesen, weil sie ihren Auftrag immer im Dienste der Menschen und<br />

der Stärkung ihrer Glaubensgemeinschaft verstanden hat. Deshalb kann<br />

die Antwort auf die in dem Leitwort geäußerte Fragestellung auch nur<br />

lauten: Kirche hat stets dienende Funktion. Das gilt für ihre Aufgaben im<br />

demokratischen Staat, wie auch für ihre Existenz in Ländern, die noch<br />

dabei sind, sich zu demokratischen Staats wesen zu entwickeln. Kirche<br />

hat nicht zu herrschen, sondern muß in erster Linie dienen, und das ganz<br />

unabhängig von der jeweiligen staat lichen Ordnung.<br />

Wie in Westeuropa ist auch in fast allen Ländern Mittel- und Osteuropas<br />

die kulturelle Tradition wesentlich durch den christlichen Glauben<br />

geprägt. Diese christliche Tradition wie auch die damit verbundenen<br />

Werte gilt es zu bewahren und für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft<br />

und einer sozial verantworteten Marktordnung einzubringen<br />

und weiterzuentwickeln.<br />

„Solidarität ist unteilbar“, heißt ein Prinzip von <strong>Renovabis</strong>. Die Kirche<br />

in Ost- und Mitteleuropa – und das gilt für die gesamte katholische Kirche<br />

– braucht Solidarität, und vor allem die Menschen bedürfen der praktischen<br />

Solidarität. Deshalb ist die Arbeit von <strong>Renovabis</strong>, 1993 auf Anregung<br />

katholischer Laien als eigenständige Aktion gegründet, so wertvoll,<br />

so unverzichtbar. So wichtig es ist, politisch die Konsequenzen aus dem<br />

Zusammenbruch des Kommunismus zu ziehen und die Weichen für ein<br />

vereintes Europa zu stellen, das Mittel- und Osteuropa ganz selbstver-<br />

29


ständlich einbezieht, so wichtig ist dies auch die Arbeit für die Menschen.<br />

Ich freue mich, daß die Idee, Partnerschaften zwischen West und Ost<br />

unter Pfarrgemeinden zu gründen, immer mehr Verbreitung findet. Wir<br />

brauchen Brücken für die Hilfe, und wir brauchen zunächst Brücken zur<br />

Verständigung und zum gegenseitigen Verständnis. Denn nur wer den<br />

anderen kennt, um seine Sorgen und Nöte weiß, hat Verständnis für ihn<br />

und kann helfen…<br />

Dr. Bernhard Vogel<br />

30


Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU<br />

im Deutschen Bundestag<br />

…Mit diesem Kongreß unter dem Thema „Kirche in Osteuropa: Herrschen<br />

oder Dienen?“ führt <strong>Renovabis</strong> die langjährige und bewährte Tradition<br />

der zahlreichen Königsteiner „Internationalen <strong>Kongress</strong>e Kirche in<br />

Not“ auf sehr verdienstvolle Weise fort. Auch acht Jahre nach dem<br />

Umbruch von 1989 hat die Orientierung von <strong>Renovabis</strong> nach Osten, hat<br />

die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in<br />

Mittel- und Osteuropa nichts von ihrer Dringlichkeit und ihrer Aktualität<br />

verloren. Zum einen kommt der Kirche in der geistigen Wüste und Leere,<br />

die ein halbes Jahrhundert Diktatur, die Kommunismus und Materialismus<br />

in den verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas hinterlassen<br />

haben, eine unersetzliche Rolle für die Wiederherstellung der kulturellen<br />

und moralischen Grundlagen zu, die für Bestand und Zusammenhalt der<br />

frei gewordenen Gesellschaften unentbehrlich sind. Zum anderen können<br />

die Christen auch einen wesentlichen Beitrag leisten, ja eine Vorreiterrolle<br />

einnehmen in den verschiedenen Versöhnungsprozessen, die in<br />

Mittel- und Osteuropa, wie es scheint, noch lange nicht zum Abschluß<br />

gekommen sind: Die Versöhnung zwischen den einzelnen Völkern und<br />

Volksgruppen einerseits, die Versöhnung aber auch unter den verschiedenen<br />

Konfessionen, zwischen Kirche und Staat, zwischen den neuen und<br />

alten politischen Kräften andererseits. Versöhnung, die der Bischof von<br />

Oppeln, Dr. Alfons Nossol, als „geheilte Erinnerungen“ beschrieben hat,<br />

ist dabei nicht nur eine rückwärtsgewandte Auseinandersetzung mit der<br />

eigenen Vergangenheit, sie ist vielmehr unabdingbare Voraussetzung zur<br />

befreiten und kraftvollen Gestaltung einer gemeinsamen, friedlichen<br />

Zukunft. Und wenn diese Zukunft gründen soll auf einem Verständnis<br />

von Europa, das sich seiner historischen Wurzeln und seines christlichen<br />

Erbes bewußt bleibt, dann hat die Kirche mit ihrem unabdingbaren Missionsauftrag<br />

noch weithin unbestellte Aufgabenfelder vor sich.<br />

Auf dem Weg zu diesem Ziel kann der Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />

wertvolle Hilfe und weiterführende Beiträge leisten. Referenten<br />

und Diskussionsthemen versprechen, eine an den jeweiligen Verhältnissen<br />

in den verschiedenen Ländern ausgerichtete Bestandsaufnahme zu<br />

leisten und wichtige Impulse für die Arbeit vor Ort zu geben. Es besteht<br />

31


guter Grund zu der Hoffnung, daß die Solidaritätsaktion der deutschen<br />

Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa auch über diese<br />

Tagung hinaus Bestand haben wird und so für eine Vertiefung der Beziehungen,<br />

für ein echtes Zusammenwachsen Europas auch in seinen östlicheren<br />

Teilen eine Pionierrolle übernehmen kann…<br />

Dr. Wolfgang Schäuble<br />

32


Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen<br />

Bundestagsfraktion<br />

…Mit der Frage „Kirche in Osteuropa: Herrschen oder Dienen?“ greifen<br />

Sie ein wichtiges Thema in den mittel- und osteuropäischen Ländern auf.<br />

Diese Länder befinden sich immer noch mitten im Transformationsprozeß<br />

von den über Jahrzehnte kommunistisch und damit atheistisch indoktrinierten<br />

Gesellschaften zu demokratischen Strukturen und liberalen<br />

Lebensformen.<br />

Die erstaunliche Renaissance der Kirchen in all diesen Ländern zeigt,<br />

wie tief das Bedürfnis des Menschen nach Religion gerade in Mittel- und<br />

Osteuropa verwurzelt ist. Um so wichtiger ist eine Standortbestimmung<br />

der Kirchen in den entstehenden postkommunistischen Gesellschaften.<br />

Dabei sind Fragen zu beantworten wie nach der Rolle der Kirche in der<br />

kommunistischen Diktatur, nach ihrer politischen Rolle in ethnisch und<br />

religiös gespaltenen Gesellschaften, nach ihrer Rolle in Bürgerkriegssituationen,<br />

nach ihrer Fähigkeit zu ökumenischer Zusammenarbeit und<br />

vor allem nach ihrer heutigen gesellschaftlichen Verantwortung und den<br />

damit zusammenhängenden Aufgaben im sozialen Bereich…<br />

Rudolf Scharping<br />

33


Der Vorsitzende des Auswärtigen<br />

Ausschusses des Deutschen Bundestages<br />

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes bietet sich uns zum ersten Mal<br />

die Chance zur Gestaltung eines auf Frieden und Freiheit gegründeten<br />

Europas. Auch wenn wir in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte<br />

gemacht haben, liegen noch immer große Aufgaben vor uns. Vor allem<br />

gilt es zu bedenken, daß Europa nur auf einer Wertegemeinschaft der<br />

Demokratien errichtet werden kann. Das Gelingen des Reformprozesses<br />

in Mittel-, Ost- und Südosteuropa ist darum nicht nur für die betroffenen<br />

Staaten selbst, sondern für die Sicherheit und Stabilität in ganz Europa<br />

entscheidend. Die jungen Demokratien in diesen Ländern bedürfen der<br />

Unterstützung und Solidarität bei der Bewältigung ihrer politischen, wirtschaftlichen<br />

und vor allem auch sozialen Probleme.<br />

Es besteht kein Zweifel, daß die Kirchen hier eine wichtige Rolle spielen,<br />

indem sie den Menschen nicht nur materielle Hilfe, sondern auch<br />

Orientierung auf ihrem Weg in freiheitliche Gesellschaften geben. Die<br />

Gestaltung Europas ist ohne die Kraft und das Engagement der Kirchen<br />

nicht denkbar. Dazu gehört auch der Dialog der Kirchen untereinander.<br />

Die Kirchen in den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas müssen in<br />

die Lage versetzt werden, ihren Beitrag bei der Umgestaltung und den<br />

schwierigen Transformationsprozessen tatsächlich leisten zu können.<br />

Dies kann nur durch einen Erfahrungsaustausch geschehen, der die Probleme<br />

offen benennt und zugleich das Bewußtsein dafür weckt, daß die<br />

Herausforderungen in Europa gemeinsam bewältigt werden müssen.<br />

Ich bin sicher, daß das Projekt von <strong>Renovabis</strong>, mit seinem ersten internationalen<br />

Kongreß ein Forum zu schaffen, auf dem Ziele und Selbstverständnis<br />

kirchlicher Arbeit in den Gesellschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas<br />

kritisch und offen diskutiert werden, in die richtige Richtung<br />

weist. Ein solches Forum stärkt das Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung<br />

und fördert die Bereitschaft zu tatkräftiger Solidarität…<br />

34<br />

Prof. Dr. Karl-Heinz Hornhues


Der Oberbürgermeister von Freising<br />

Alle Wege führen nach Freising, auf den Domberg, der über ein Jahrtausend<br />

ein leuchtender Mittelpunkt des Glaubens, der Künste und der<br />

Wissenschaft war.<br />

Dieser langen Tradition hat sich seit der Gründung im Jahre 1993 auch<br />

die Solidaritätsaktion „<strong>Renovabis</strong>“ verschrieben. Im Freisinger Kardinal-<br />

Döpfner-Haus fühlen sich mittlerweile über 30 Mitarbeiter des Instituts<br />

heimisch, sofern sie nicht gerade unterwegs sind in vielen Ländern<br />

Mittel- und Osteuropas.<br />

Als Oberbürgermeister der Stadt Freising freut es mich ganz besonders,<br />

daß <strong>Renovabis</strong> mit dem Geschäftsführer Pater Eugen Hillengass SJ<br />

an der Spitze den ersten internationalen Kongreß hier ausrichtet. Diese<br />

Tagung stellt eine gute Möglichkeit dar, den geistigen Austausch zwischen<br />

West und Ost zu fördern.<br />

Den vielen Teilnehmern aus dem In- und Ausland wünsche ich einen<br />

guten Verlauf der Tagung, viel Erfolg für ihre zukünftige Arbeit und noch<br />

etwas Zeit für einen Rundgang durch die schöne Altstadt Freisings.<br />

Dieter Thalhammer<br />

35


I. Kirche in Osteuropa:<br />

herrschen oder dienen?


P. Eugen Hillengass SJ, Freising<br />

Geschäftsführer von <strong>Renovabis</strong><br />

Zur Eröffnung des <strong>Kongress</strong>es<br />

Zum ersten Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong>, zu dem sich etwa 270 Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer aus 18 europäischen Ländern (darunter 14<br />

aus Mittel- und Osteuropa) eingefunden haben, begrüße ich Sie sehr herzlich.<br />

Etwa ein Viertel der Teilnehmer stammt aus Mittel- und Ost europa.<br />

Weitere 60 Anmeldungen konnten wir leider nicht berücksichtigen.<br />

Zur Vorgeschichte: Die <strong>Kongress</strong>e „Kirche in Not“ – begonnen 1951 in<br />

Hilversum – wurden 44 Jahre lang in Königstein/Taunus durch das Albertus-Magnus-Kolleg<br />

fortgeführt. Initiatoren der ersten Stunde waren<br />

Weihbischof Dr. Adolf Kindermann, P. Werenfried van Straaten und die<br />

katholischen Heimatvertriebenen. Seit Ende der achtziger Jahre trug die<br />

Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz die Königsteiner<br />

<strong>Kongress</strong>e mit.<br />

Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz setzt <strong>Renovabis</strong> die Tradition<br />

der Königsteiner <strong>Kongress</strong>e fort und will sie unter den heutigen,<br />

von Grund auf veränderten Bedingungen weiterentwickeln – zu einem<br />

Ort der Begegnung und des Austausches in einem Europa, das immer<br />

mehr zusammenwachsen muß und will.<br />

Das erfreulich große Interesse am Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />

ist eine Bestätigung und Ermutigung auch für den Weg und die Arbeit von<br />

<strong>Renovabis</strong> seit seiner Gründung im Jahre 1993.<br />

Im Mittelpunkt des Interesses steht das Thema: „Kirche in Osteuropa:<br />

herrschen oder dienen?“. Dabei geht es nicht um den Blick zurück,<br />

sondern um die Zukunft der Kirche, das Wachstum der Gemeinden und<br />

ihren Weg der Versöhnung. Es geht um den Dienst der Christen an den<br />

Menschen unserer Zeit, inmitten tiefgreifender Umbrüche. „Der Weg der<br />

Kirche ist der Mensch“, sagt Papst Johannes Paul II. Und das gilt auch<br />

hierfür.<br />

39


Begrüßen möchte ich namentlich – und bitte entschuldigen Sie die<br />

Kürze im Hinblick auf unser Programm:<br />

– Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter von München und Freising, den<br />

Hausherrn des Dombergs;<br />

– Erzbischof Miloslav Kardinal Vlk, Prag, den Vorsitzenden des Rates<br />

der Europäischen Bischofskonferenzen.<br />

Aus der Reihe der Bischöfe stellvertretend:<br />

– Erzbischof Franc Perko, Belgrad;<br />

– Bischof Frantisˇek Radkovsky´, Pilsen/Plzeň, der fast unser Nachbar ist;<br />

– Bischof Hil Kabashi aus Albanien, einen jungen Bischof, der lange in<br />

Deutschland pastoral tätig war;<br />

– Weihbischof Leo Schwarz, den Vorsitzenden des Aktionsausschusses<br />

von <strong>Renovabis</strong>.<br />

– Herrn Prälat Winfried König, der uns bei der Vorbereitung des <strong>Kongress</strong>es<br />

geholfen hat;<br />

– Herrn Kirchenrat Christof Hechtel (i.V. für den Ratsvorsitzenden der<br />

EKD, Bischof Engelhardt), München;<br />

– Frau Marlene Lenz, MdEP, Bonn, die dem <strong>Renovabis</strong>-Aktionsausschuß<br />

angehört, als Vertreterin all der Freunde, denen wir viel verdanken.<br />

Eine große Zahl von Repräsentanten des Staates und des öffentlichen<br />

Lebens haben uns in Grußworten ihre Wünsche zum Gelingen dieses<br />

<strong>Kongress</strong>es übersandt. Andere haben ausdrücklich ihr Bedauern ausgesprochen,<br />

daß sie an dem Kongreß nicht teilnehmen können. Ich nenne<br />

aus dieser ganzen Gruppe im besonderen:<br />

– Herrn Bundespräsident Roman Herzog;<br />

– Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl;<br />

– die Präsidentin des Deutschen Bundestages,<br />

Frau Prof.Dr. Rita Süss muth;<br />

– den Bayerischen Ministerpräsidenten Herrn Dr. Edmund Stoiber;<br />

– den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg<br />

Erwin Teufel, der dieses Jahr die <strong>Renovabis</strong>-Aktion eröffnete;<br />

– den Bundesminister des Auswärtigen, Herrn Dr. Klaus Kinkel;<br />

– den Bundesminister der Finanzen und Vorsitzenden der CSU,<br />

Herrn Dr. Theo Waigel;<br />

40


– den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,<br />

Herrn Dr. Carl-Dieter Spranger, mit dessen Ministerium <strong>Renovabis</strong><br />

zusammenarbeitet;<br />

– des weiteren viele Bundes- und Länderminister;<br />

– den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,<br />

Herrn Dr. Wolfgang Schäuble;<br />

– den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion,<br />

Herrn Rudolf Scharping.<br />

Abschließend möchte ich schon jetzt allen sehr herzlich danken, die für<br />

die Vorbereitung und Durchführung unseres Zusammenkommens Sorge<br />

getragen haben und Sorge tragen: Herrn Direktor Guido Anneser mit dem<br />

Team des Kardinal-Döpfner-Hauses und dem <strong>Renovabis</strong>-Team. Besonders<br />

nenne ich auch den scheidenden Direktor des Freisinger Dom-Gymnasiums,<br />

Herrn Oberstudiendirektor Hans Niedermayer, der uns diese<br />

schöne Aula als Tagungsort zur Verfügung stellt, weil die Zahl der<br />

Anmeldungen alle Erwartungen übertroffen hat und wir im Kardinal-<br />

Döpfner-Haus in Raumnot gekommen wären.<br />

Nun bitte ich Sie, sehr verehrter Herr Kardinal Wetter, als Erzbischof<br />

von München und Freising den ersten Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />

zu eröffnen.<br />

41


Kardinal Dr. Friedrich Wetter<br />

Erzbischof von München und Freising<br />

Grußwort zur Eröffnung<br />

des „Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>“<br />

Zu Beginn des <strong>Kongress</strong>es möchte ich Sie in Freising willkommen heißen<br />

und Ihnen allen ein herzliches „Grüß Gott“ entbieten.<br />

Vor allem aber darf ich Ihnen den Gruß des Heiligen Vaters überbringen,<br />

den er mir gestern bei der Audienz für den Kongreß mitgegeben hat.<br />

Ich freue mich, daß der 1. Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> in Freising<br />

stattfindet, den zu eröffnen ich die Ehre habe.<br />

Zuerst möchte ich als Ortsbischof Ihnen etwas zum genius loci sagen.<br />

Sie hätten kaum einen besseren Ort für diesen Kongreß wählen können.<br />

Denn seit dem frühen Mittelalter ist der Blick vom Freisinger Domberg<br />

nach dem Osten gerichtet.<br />

739 hat Bonifatius im Auftrag des Papstes die Kirche in Altbayern organisatorisch<br />

gefestigt und die Bistümer Freising, Passau, Regensburg und<br />

Salzburg kanonisch errichtet. Nur kurze Zeit danach nahmen die jungen<br />

Bistümer eine intensive missionarische Tätigkeit nach dem Osten hin auf.<br />

Von Freising aus wurde der Glaube nach Kärnten und Slowenien getragen.<br />

Die ältesten uns erhaltenen Dokumente einer slawischen Sprache<br />

wurden hier in der berühmten Schreibstube auf dem Freisinger Domberg<br />

geschrieben. Sie sind bekannt unter dem Namen „Die Freisinger Denkmäler“.<br />

Regensburg missionierte Böhmen. Der hl. Bischof Wolfgang von<br />

Regensburg verzichtete auf den Ostteil seines Bistums, und so entstand<br />

das Bistum Prag.<br />

Von Passau aus zogen die Glaubensboten die Donau abwärts nach<br />

Wien und darüber hinaus bis nach Esztergom. Daß der Dom in Wien ein<br />

Stephansdom ist, kommt daher, daß die Mutterkirche, der Dom zu Passau,<br />

dem hl. Stephanus geweiht ist.<br />

42


Aus dem gleichen Grund wird der erste ungarische König auf den<br />

Namen Stephan getauft. Und seine Frau Gisela, die erste Königin Ungarns,<br />

kommt wiederum aus Bayern.<br />

Schließlich darf ich auch Bamberg erwähnen, das damals noch nicht zu<br />

Bayern gehörte. Der hl. Bischof Otto von Bamberg brachte den Pommern<br />

das Christentum.<br />

Das Gebiet, in dem Sie Ihren Kongreß abhalten, und speziell Ihr<br />

Tagungsort, der Freisinger Domberg, sind seit weit über 1000 Jahren<br />

nach dem Osten hin geöffnet. Unsere Brüder und Schwestern, die aus<br />

östlichen Ländern angereist sind, befinden sich hier also nicht in der<br />

Fremde; sie finden vielmehr ein Stück Glaubensheimat vor. Ich hoffe, sie<br />

spüren das auch.<br />

<strong>Renovabis</strong> entstand als Hilfsaktion der deutschen Katholiken nach dem<br />

Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa. Es galt,<br />

die mit dieser Wende gegebene historische Chance nicht zu verspielen.<br />

Jahrzehnte war der Osten Europas gewaltsam vom Westen getrennt und<br />

elementarer Freiheiten beraubt. Nun galt es, wieder zu verbinden, was<br />

seit vielen Jahrhunderten zusammengehört. Der Osten darf nicht abgehängt<br />

werden, er darf den Anschluß an die europäische Zukunft nicht<br />

verpassen.<br />

Mit <strong>Renovabis</strong> wollen die deutschen Katholiken einen Beitrag zu der<br />

großen historischen Aufgabe leisten. Sie wollen helfen, Schäden zu beheben,<br />

Not zu lindern, Wege in die gemeinsame Zukunft zu bahnen.<br />

Unmittelbarer Anlaß zu Gründung von <strong>Renovabis</strong> war die materielle<br />

Not, die nach Hilfe rief. Materieller Not muß man mit materieller Hilfe<br />

begegnen. So wurde <strong>Renovabis</strong> zuerst als Kollekte ins Leben gerufen.<br />

Aber es geht um mehr. Materielle Not ist immer auch menschliche<br />

Not. Sie muß gelindert und schließlich behoben werden. Materielle Hilfe<br />

ist Konkretisierung unserer menschlichen Zuwendung. In ihr wird greifbar,<br />

daß wir den Menschen im Osten geschwisterlich verbunden sind;<br />

daß wir zueinander gehören und miteinander das Haus des geeinten<br />

Europas bauen wollen, errichtet auf einer Werteordnung, wie sie uns<br />

unser christlicher Glaube lehrt. Wir wollen gemeinsam an einem Europa<br />

bauen, das mit den beiden Lungenflügeln Ost und West atmet, um ein<br />

Wort aufzugreifen, das der Hl. Vater im ökumenischen Zusammenhang<br />

geprägt hat. Es geht uns um das gemeinsame Haus Europa, in dem<br />

43


Freiheit, Gerechtigkeit und Friede herrschen, ein Haus, das von einer<br />

Kultur der Liebe beseelt ist.<br />

Diese Aufgabe ist eines der großen Anliegen des Hl. Vaters. Ich erinnere<br />

an seine programmatische Predigt am 3. Juni beim Gottesdienst in<br />

Gnesen, an dem sieben Staatsoberhäupter aus Mittel- und Osteuropa<br />

teilnahmen, sowie an die Worte, die er am 24. August beim Weltjugendtag<br />

in Paris an die Jugendlichen gerichtet hat.<br />

Wenn <strong>Renovabis</strong> eine Hilfsaktion ist, die den osteuropäischen Ländern<br />

zunächst materielle Hilfe bringt, so heißt das nicht, es handle sich bei<br />

diesem Werk um eine Einbahnstraße. Es geht vielmehr um einen Austausch.<br />

Beide Seiten sind Gebende und Empfangende.<br />

Denken wir nur an die vielen mutigen Menschen, die unter der Knechtschaft<br />

des Kommunismus ihr Zeugnis für den Glauben und ihren Einsatz<br />

für Menschenrecht und Menschenwürde mit gesellschaftlicher Be nachteiligung,<br />

mit Gefängnis und Verbannung und sogar mit dem Leben<br />

bezahlt haben.<br />

Sanguis martyrum semen christianorum. Das Blut der Martyrer ist<br />

Same für Christen – dieses Wort Tertullians hat heute nicht seine Geltung<br />

ver loren. Durch den Austausch der Gaben dürfen wir im Westen geistliche<br />

Fruchtbarkeit erhoffen, die uns von den Zeugen des Glaubens und<br />

der Menschlichkeit zufließt.<br />

<strong>Renovabis</strong> wurde als Hilfsaktion der deutschen Katholiken ins Leben<br />

gerufen. Das heißt aber nicht, es sei ein Menschenwerk. Bewußt wurde<br />

dieses Werk mit dem Heiligen Geist in Verbindung gebracht. Der Name<br />

<strong>Renovabis</strong> ist dem Ruf des Psalmisten entnommen, mit dem wir um das<br />

Kommen des göttlichen Geistes bitten: „Emitte spiritum tuum et creabuntur<br />

et renovabis faciem terrae.“ „Sende aus deinen Geist und alles<br />

wird neu geschaffen und du wirst das Antlitz der Erde erneuern.“ Der<br />

Spiritus Creator ist es, der die Welt neu macht. Aus diesem Grund wurde<br />

auch die jährliche <strong>Renovabis</strong>-Aktion mit dem Pfingstfest verbunden.<br />

Mit <strong>Renovabis</strong> wollen wir unseren Beitrag leisten zu dem großen Werk<br />

der Erneuerung, das Gottes Geist vollbringt. Es ist wie am Anfang der<br />

Kirche. Die Apostelgeschichte berichtet, daß der Heilige Geist bei der<br />

Feier des Gottesdienstes in Antiochia in Syrien sprach: „Wählt mir<br />

Barnabas und Saulus zu dem Werk aus, zu dem ich sie mir berufen habe“<br />

(Apg 13,2). „Vom Heiligen Geist ausgesandt“, machten sie sich auf die<br />

44


erste Missionsreise, die sie über Zypern nach Kleinasien führte. Nach ihrer<br />

Rückkehr nach Antiochia „riefen sie die Gemeinde zusammen und<br />

berichteten alles, was Gott mit ihnen zusammen getan hat“ (Apg 14,27).<br />

Das gilt auch für <strong>Renovabis</strong>. Es soll ein Werk sein, das Gott zusammen<br />

mit uns tut.<br />

Der Kongreß verläuft im Dialog. Sie tauschen Erfahrungen, Pläne und<br />

Vorhaben aus. Sie wollen damit auch Vergangenes aufarbeiten, Wunden<br />

heilen, Getrenntes verbinden, Altes erneuern und an der Zukunft bauen.<br />

Die Kirchen in Europa – im Westen wie im Osten – stehen heute vor<br />

großen Herausforderungen. Ihre Probleme haben unterschiedliche Wurzeln,<br />

doch können und sollen wir voneinander lernen.<br />

„Herrschen oder Dienen?“ Dieser fordernden Frage wollen Sie sich in<br />

diesen Tagen stellen. Herrschen und Dienen, beides gehört zur Kirche.<br />

Denn in ihrem Leben und Wirken geht es um die Herrschaft Jesu Christi<br />

und um den Dienst, den Jesus zu unserem Heil ausübt. „Ich aber bin unter<br />

euch wie der, der dient“ (Lk 22,26), sagt der Herr am Abend, da er mit den<br />

Jüngern Mahl feiert und sein Todesleiden beginnt. Jesus, der herrscht und<br />

dient, der sein Herrschen ausübt als Dienst für uns Menschen, ist verbindliches<br />

Maß für uns alle.<br />

Unsere Aufgabe ist es, in der geschichtlichen Stunde, in der wir leben,<br />

das Dienen Jesu nachzuvollziehen. Dann wird unser Tun zu einem Werk,<br />

das Gott zusammen mit uns tut. Er ist es doch, der die Wunden heilt, das<br />

Getrennte verbindet, Kirche und Welt erneuert und in die Zukunft führt.<br />

Tragen wir darum unsere Erfahrungen und Pläne nicht nur uns gegenseitig<br />

vor. Tragen wir sie auch vor Gott und seinen Heiligen Geist. Wir<br />

brauchen den Dialog untereinander, aber auch den Dialog mit Gottes<br />

Geist, damit <strong>Renovabis</strong> ein Werk werde, das er zusammen mit uns tut und<br />

wir zusammen mit ihm tun.<br />

So eröffne ich den 1. Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> mit dem<br />

Wunsch, daß er ein pfingstliches Ereignis werde, fruchtbar für die Menschen<br />

in Ost und West.<br />

45


Miloslav Kardinal Vlk, Erzbischof von Prag<br />

Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen?<br />

Einführung<br />

1. Am Anfang möchte ich gerne ein Bild gebrauchen, das mir für unsere<br />

Überlegung grundlegend scheint: Jesus steht vor Pilatus, er ist angeklagt,<br />

den politischen Umsturz und die Machtübernahme beabsichtigt zu haben.<br />

Ein politischer Prozeß. Dabei haben ihn die Juden schon vorher verurteilt,<br />

weil er sich als gottähnlich erklärte und sie seine Machtkonkurrenz<br />

spürten. Mehrmals hatten sie ihn gefragt, woher er seine Macht habe. Sie<br />

hatten Angst, ihre Macht zu verlieren: „(Die Pharisäer) sagten: Was sollen<br />

wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Wenn wir ihn gewähren<br />

lassen, werden alle an ihn glauben. Dann werden die Römer kommen und<br />

uns die heilige Stätte und das Volk nehmen“ (Joh 11,47f). Also ein religiöser<br />

und ein politischer Prozeß: in beiden ging es um die Macht. Man hat<br />

über sehen und überhört, daß Jesus gesagt hat: „Ich bin unter euch wie der,<br />

der bedient“ (Lk 22,27). „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen,<br />

um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben<br />

hinzu geben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Vor Pilatus gesteht er,<br />

daß er ein König ist, aber er sagt auch ganz klar, daß sein Königreich<br />

keine Sache des Machtanspruchs im weltlichen Sinne ist. „Mein Königtum<br />

ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Er ist gekommen, etwas ganz<br />

anderes zu bringen, aus einer anderen Welt, einen anderen Lebensstil, einen<br />

anderen Gesellschaftsstil. Er ist gekommen, um von der eigentlichen,<br />

jenseits der irdischen Realität liegenden Wahrheit Zeugnis abzulegen und<br />

neue Horizonte zu eröffnen.<br />

Wir können unmöglich irgendwo anders unsere Überlegung beginnen.<br />

Es wäre heute eine sehr wichtige und verdienstvolle theologische oder<br />

historisch-kritische Arbeit, das Schicksal jenes Satzes und jener Szene –<br />

Christus vor Pilatus – im Laufe der Kirchengeschichte zu verfolgen und<br />

46


ihre Realisierung zu überprüfen. Heute versucht man, viele Ereignisse<br />

der Geschichte im Licht des Evangeliums zu überdenken, Fehler von uns<br />

Christen zu entdecken, denn historia magistra vitae, die Geschichte ist<br />

die Lehrmeisterin des Lebens. Daraus ergeben sich zum Beispiel einige<br />

Fragen, die für uns heute wichtig sind: der Stil der Evangelisierung, die<br />

Autorität, die Machtausübung in der Kirche, die Weise, wie in den ersten<br />

Jahrhunderten und im Mittelalter gerade im Licht des Verständnisses<br />

und der Ausübung von Autorität unterschiedliche theologische Ansichten<br />

gelöst wurden. Das wäre nicht nur sehr notwendig für eine historische<br />

Gewissenserforschung im Spiegel des Evangeliums und auf der<br />

Grundlage der pastoralen Konstitution des II. Vatikums Gaudium et<br />

spes, sondern auch, um der Welt klar zu sagen, welche Einstellung wir<br />

heute zu den eigenen Fehlern von damals haben, zum Beispiel zur Ausübung<br />

von Macht.<br />

2. Mein heutiges Thema lautet: Kirche in Osteuropa: herrschen oder<br />

dienen? Dabei ist es undenkbar, die letzten vierzig Jahre in diese Überlegung<br />

nicht mit einzubeziehen und nicht besonders zu betrachten,<br />

welche Erfahrung die Kirche gemacht hat und welche Konsequenzen wir<br />

daraus gezogen haben. Dabei sehe ich aber, wie die in der Vergangenheit<br />

eingewurzelten Gewohnheiten bis heute nachwirken.<br />

Am Beginn des Kommunismus waren in der Tschechoslowakei<br />

ca. 75% Katholiken. Die Kirche repräsentierte die Mehrheit der Gesellschaft.<br />

Sie hat damals viel Positives getan, sie spielte eine wichtige geistliche<br />

Rolle in der Gesellschaft. Aber oft wurde sie auch so als eine Institution<br />

gesehen, die einen bestimmten politischen Einfluß hatte. Damals war es<br />

normal, daß sie eine gewisse Verbindung zu einigen politischen Parteien<br />

hatte und eine gewisse ökonomische Kraft darstellte. Die Feinde der Kirche<br />

– und das waren viele – sahen sie als eine Institution, die Macht ausübte.<br />

Dieses negative Bild, diese Etikettierung der Kirche wurde noch<br />

sehr verstärkt durch das dunkle Bild in unserer Geschichte, das einige<br />

Schriftsteller historischer Romane gemalt haben – siehe Hussiten,<br />

Schlacht am Weißen Berg, die Verbindung mit den Habs burgern.<br />

47


I. Der Kommunismus<br />

1. Als die Kommunisten kamen, haben sie das alles sehr gut gegen die<br />

Kirche ausgenützt und aus der Vergangenheit noch alle ihre Fehler im<br />

sozialen Bereich „ausgegraben“. Die kommunistische Propaganda hat<br />

die Kirche als eine obskure Machtinstitution dargestellt, die, im Verbund<br />

mit ausländischen Mächten, immer gegen die Nation und gegen die<br />

Schwachen und Armen war. Sie sah sie als die Macht, die im Augenblick<br />

des beginnenden Aufbaus einer endlich wirklich demokratischen und<br />

freien Gesellschaft, die das Paradies auf Erden bringen sollte, diesen Aufbau<br />

gesellschaftlich zerstören wollte. Die Bischöfe und wichtige Vertreter<br />

des kirchlichen Lebens wurden verhaftet und aus politischen Gründen<br />

als Leute verurteilt, die gegen den Fortschritt und gegen das Glück des<br />

Volkes gearbeitet haben. Das war der Ausgangspunkt für die Zerstörung<br />

der Machtposition der Kirche und für ihre Austreibung aus der Öffentlichkeit,<br />

aus der Gesellschaft.<br />

Die Kommunisten wollten jede Machtkonkurrenz mit allen Mitteln ausmerzen.<br />

Überzeugte, praktizierende Christen durften keine einflußreichen<br />

Stellen einnehmen. Der Einfluß auf die Jugend – und damit auf die Zukunft<br />

– war der Kirche streng verboten. Zu Fernsehen und Rundfunk und zu fast<br />

allen Druckmedien hatte sie keinen Zugang. Wenn das Regime ihr noch<br />

eine Möglichkeit zu öffentlichem Auftritt ließ, dann nur, um gegenüber<br />

dem Westen mit einem freundlicheren Gesicht dazustehen. Die Tätigkeit<br />

der Kirche war im großen und ganzen nur noch innerhalb der Kirchen und<br />

Sakristeien möglich, wo sie leicht völlig zu kontrollieren war.<br />

Man könnte diese Situation noch ausführlicher und differenzierter in<br />

einzelnen ehemaligen Ostblockstaaten schildern. Der Kommunismus<br />

kämpfte hart gegen alle „Klassenfeinde“, und dieses Etikett hatte man<br />

auch der Kirche angeheftet: eine Machtideologie, eine Machtinstitution<br />

wie alle anderen politischen Organismen. Die Kirche so anzuprangern,<br />

war nicht nur eine kommunistische Etikettierung, um den einflußreichen<br />

Konkurrenten vernichten zu können, sondern griff ein damals schon verblaßtes<br />

Bild der Kirche aus mittelalterlichen Zeiten des Kampfes um die<br />

Macht, um die Herrschaft auf. Die Machtposition der Kirche war schon<br />

lange vorbei. In Frankreich hat die Französische Revolution sie zerstört,<br />

in anderen Staaten Europas hat der Kulturkampf dies fortgesetzt. In der<br />

48


habsburgischen Monarchie stand die Kirche zwar eigentlich ein wenig<br />

unter dem Schutz der katholischen Dynastie, aber im Grunde war sie in<br />

der Hand des absolutistischen Staates. Der lange historische Prozeß der<br />

„Entmachtung“ der Kirche oder ihrer „Befreiung“ von der Macht wurde<br />

erst im Kommunismus vollendet.<br />

2. Die positiven prophetischen Kräfte in der Kirche vor dem Beginn des<br />

Kommunismus, besonders meine ich die Ordensspitzen, wurden zerstört,<br />

ebenso die führende Elite der Diözesen.<br />

In dieser Situation konnte sich keine Diskussion über „herrschen oder<br />

dienen“ entwickeln. Sie war nicht möglich, weder in der Gesellschaft<br />

noch in der Kirche. Dialog gab es nicht. Und dienen durfte die Kirche<br />

auch nicht – ich meine im sozialen und karitativen Bereich. Zum echten<br />

Dienen der Kirche auf der geistlichen Ebene braucht man eine tiefe<br />

Erneuerung, eine Änderung der geistlichen paternalistischen „Machtmentalität“.<br />

Herrschen im politischen und gesellschaftlichen Sinn konnte<br />

die Kirche sowieso nicht. Man hat zuerst nicht verstanden, daß es sich<br />

hier und heute nicht um grobe politische Macht und Herrschaft handelt,<br />

sondern manchmal um die Mentalität einer inneren Überlegenheit von<br />

Priestern und Gläubigen, um die Mentalität der Besserwisserei, des<br />

Wahrheitsbesitzes, der Ablehnung der anderen.<br />

Das alles haben die kommunistischen Ideologen schon früh sehr gut<br />

verstanden. Sie nützten alle diese Fehler der ihrer äußeren Macht beraubten<br />

Kirche aus. Diese Fehler machten sie zur Lebensnorm für die Kirche<br />

im Kommunismus. Die Kirche war zu ihren Fehlern verurteilt. Deswegen<br />

bremste der Kommunismus auch die volle Entfaltung und Verwirklichung<br />

des II. Vatikanums: neue Formen ja, aber ohne ihren Geist. Insbesondere<br />

verhinderte er die offizielle Veröffentlichung der Konstitution<br />

Gaudium et spes über die Kirche in der modernen Welt. Eigentlich war<br />

das konsequent. Der größte Teil der Gläubigen – besonders auf dem<br />

Lande – fand sich mit dieser Situation gewissermaßen ab. Für sie war es<br />

die Fortsetzung dessen, was immer schon war: sich selbst zu retten, Kirche<br />

als Ghetto – die Kirche als etwas „Besonderes“. Man hat den Gläubigen<br />

eigentlich keine Erneuerung, keine neue Mentalität beigebracht.<br />

Ein wenig anders war es in der Stadt, wo manchmal verschiedene<br />

Inseln des Neuen entstanden sind.<br />

49


Allmählich haben sich im Kommunismus innerhalb der Kirche vier<br />

verschiedene Orientierungen herausgebildet:<br />

a) Die erste war die streng bewachte „offizielle“, öffentliche Kirche,<br />

meistens ohne eine solide Führung. Besonders in dieser Gruppe wurde<br />

klar, daß die Vernichtung der bestimmenden Macht der Kirche sie<br />

(menschlich betrachtet) schwach und wirkungslos gemacht hat. In dieser<br />

Situation sind oft die Schatten der Kirche von früher sehr zu spüren. Ich<br />

meine damit eine gewisse Verschlossenheit gegenüber der Gesellschaft,<br />

Verschlossenheit in sich selbst, ins Ghetto, eine Haltung, der nach außen<br />

die Dynamik des Evangeliums und die Fähigkeit zum Dialog fehlt. Ich<br />

spreche von einem gewissen Individualismus und Paternalismus, einem<br />

Autoritatismus, die die echte Communio überhaupt nicht verstehen und<br />

ihre Entstehung und Entwicklung in der Kirche unbewußt bremsen.<br />

b) Die Kommunisten spalteten dann diesen offiziellen Teil der Kirche.<br />

So entstand die Gruppe Pacem in terris und aller, die mehr oder weniger<br />

freiwillig, mehr offen oder mehr geheim mitgearbeitet haben. Sie waren<br />

auf Kompromisse hin orientiert und versuchten den Platz der Kirche im<br />

Sozialismus zu finden. Die notwendige Diskussion über die Frage „herrschen<br />

oder dienen“ konnte bei ihnen nicht stattfinden. Selbstverständlich<br />

konnte diese Gruppe keine Erneuerung und Neuorientierung bringen. Sie<br />

hatte den status quo, das heißt die Zementierung der Situation, akzeptiert<br />

und strebte überhaupt keine Veränderungen an, vor allem weil die Machthaber<br />

sie nicht wünschten. Ihre Sicht war es, durch kleine Kompromisse<br />

noch so lange wie möglich zu überleben. Diese Gruppe wußte aber nicht,<br />

daß die einzige „Möglichkeit“ zu überleben die Grundveränderung der<br />

gewohnten Mentalität war, eine Bekehrung, die die Zeichen der Zeit<br />

erkannte, von denen auch der Kommunismus ein starker Ausdruck war.<br />

c) Die letzten beiden Gruppen werden oft mit demselben Namen<br />

bezeichnet, als Untergrundkirche, und dabei sind doch beide sehr verschieden.<br />

Die dritte Gruppe – die „Geheimkirche“ im eigentlichen Sinn – konnte<br />

keine tiefgreifende Veränderung der Mentalität und Einstellung der breiten<br />

Schichten der Kirche bringen. Diese Gruppe, die in den 60er Jahren<br />

entstand, erwartete die Zerstörung der Kirche, besonders des Priestertums,<br />

als unmittelbar bevorstehend. Deshalb sah sie ihre Hauptaufgabe<br />

darin, das Priestertum der Priester und der Bischöfe für die Zeit der harten<br />

50


Verfolgung zu erhalten und sich so auf die Katakomben vorzubereiten.<br />

Sie hat neue Strukturen entwickelt, wobei sie an die nicht gelungene<br />

Erfahrung der französischen Arbeiterpriester und an verschiedene postkonziliare<br />

Experimente der freien westlichen Welt anknüpfte. Sie versuchte,<br />

die Priester im geheimen provisorisch auszubilden, und ordinierte<br />

sie manchmal auch auf eine provisorische Weise. Darunter waren verheiratete<br />

Männer und auch einige Frauen. Sie verstanden sich als Reserve<br />

für die Verfolgungszeit. Sie lebten als Priester in kleinen Kommunitäten,<br />

die ihnen in der schwierigen Situation helfen sollten. Wegen der gefährlichen<br />

Lage war ihr Tätigkeitsradius beschränkt. Auf der inoffiziellen<br />

Ebene der Arbeitswelt haben sie viel getan. Sie kritisierten zwar die<br />

Schwäche der offiziellen Kirche, aber es gab damals eigentlich kein einheitliches<br />

und ganzheitliches Programm der Erneuerung.<br />

d) Daneben gab es viele Gläubige – besonders Jugendliche, Angehörige<br />

der Intelligenz, vor allem in den größeren Städten, meistens<br />

Laien –, die sich geheim in kleinen Gruppen zu Gebets-, Studien- oder<br />

Bibelkreisen trafen oder sonstige kleine Gruppen des Lebens bildeten.<br />

Das ist die vierte Gruppe. Sie wurden meistens von gut vorbereiteten<br />

Laien oder jüngeren Priestern, sehr oft Ordenspriestern, oder von Priestern<br />

verschiedener Bewegungen geleitet. Diese Gruppen hatten meistens<br />

als Ziel, moderne Christen mit einer modernen Mentalität im Sinne des<br />

Konzils heranzubilden. Diese Christen verstanden die Communio als die<br />

entscheidende Existenzform der Kirche, waren offen für andersdenkende<br />

Menschen in der Gesellschaft und lebten eine Dynamik des Apostolates,<br />

der Evangelisierung. Diese Gruppe hat vielleicht am meisten für die<br />

Erneuerung der Identität der Kirche getan.<br />

3. Wir sehen die kommunistische Zeit, die Verfolgung und das Leid der<br />

Kirche oft zu sehr unter dem Gesichtspunkt der verletzten Freiheit und<br />

der niedergetretenen Menschenrechte, also aus dem Blickwinkel der<br />

menschlichen, weltlichen Werte. Die Kirche hat sich zwar im II.Vatikanum<br />

zu all diesen Werten bekannt, aber sie sind nicht die ersten Werte in<br />

der Wertehierarchie des Evangeliums. Diese verfolgte, schwache Kirche,<br />

die keine Macht in der Gesellschaft hatte und nur dienen konnte, war für<br />

so manche Leute während des Kommunismus anziehend, sie war die<br />

Verbündete derer, die gegen Unrecht kämpften und keine Macht hatten.<br />

51


Man muß die Analyse der Situation der Kirche von damals mit dem<br />

Bild verbinden, das wir uns eingangs vorgestellt haben: Christus vor Pilatus.<br />

Wir sollten uns dabei auch an die Ablehnung der Macht erinnern, die<br />

Christus so entschieden ausspricht, als die Jünger darum streiten, wer an<br />

seiner rechten oder linken Seite sitzen wird, oder als Petrus Christus<br />

davon abbringen will, den Weg des Leidens und der Ohnmacht zu gehen.<br />

Er sagt zu ihm: „Weiche von mir, Satan!“ Das sind dieselben Worte wie<br />

bei der Versuchung in der Wüste. Die kommunistische Zeit als eine mögliche<br />

„Gnadenzeit“ zu sehen – ich weiß, das klingt hart –, als einen göttlichen<br />

Versuch, die Kirche durch die Feinde von der Versuchung der<br />

verschiedenen Restbestände ihrer Macht zu befreien – das ist heute, an<br />

der Schwelle des dritten Millenniums, in der Zeit der Suche nach neuen<br />

Evangelisierungsmodellen, unabdingbar.<br />

II. Die neue Freiheit<br />

1. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat sich die Lage der<br />

Kirche verändert. In der allerersten Zeit nach dem Zusammenbruch blieb<br />

sie die Verbündete der neuen politischen Mächte. Die zuerst einheitliche<br />

antikommunistische Front spaltete sich aber sehr rasch in verschiedene<br />

politische Gruppen, Orientierungen und Parteien, und es entstand eine<br />

neue Situation der Machtkonkurrenz, nicht mehr zwischen dem Kommunismus<br />

und seinen Gegnern, sondern zwischen mehreren Gruppierungen.<br />

Die Kirche durfte sich zu keiner bestimmten „Machtposition“, zu keiner<br />

Partei bekennen, wenn diese auch christlich sein mochte. In dieser politischen<br />

Zersplitterung gegenseitig konkurrierender Gruppen wurde sie im<br />

Sinne der kommunistischen Ideologie und Politik als eine weitere mögliche<br />

Konkurrenz gesehen.<br />

In den alten Demokratien sind gewisse Spannungen normal, gibt es<br />

doch zugleich eine große demokratische Tradition. Bei uns ist diese<br />

Tradition durch den Kommunismus verlorengegangen. Die Führer der<br />

postkommunistischen politischen Parteien sind im Kommunismus aufgewachsen.<br />

Davon sind alle Versuche in der letzten Periode gekennzeichnet,<br />

die neue Position der Kirche in der neuen politischen Lage zu finden<br />

und das Verhältnis Kirche-Staat neu zu regeln. Die Träger der alten<br />

52


Ansichten haben diese Neuordnung gebremst. Die Angst vor der Kirche<br />

als dem möglichen Konkurrenten um die Macht, der erneut nach der verlorenen<br />

Machtposition strebt und auch ökonomisch stark werden möchte,<br />

wurde manchmal auch direkt ausgesprochen.<br />

2. In dieser Periode öffnete sich für die gesamte Gesellschaft die volle,<br />

so lange erwartete und erkämpfte Freiheit.<br />

In ihrer Euphorie meinten viele, daß die neue Freiheit alles und alle<br />

erneuern werde. Viele hofften, daß der Kommunismus erledigt sei und<br />

jetzt alle Kräfte, die gegen ihn gekämpft haben, zusammenarbeiten<br />

würden. Dabei haben wir meist übersehen, daß der Kommunismus in den<br />

Köpfen und Herzen aller Menschen, auch der Antikommunisten, irgendwie<br />

verblieben ist. Wir haben vergessen, daß das negative Erbe der kommunistischen<br />

Indoktrination schwere Folgen für die ganze Generation<br />

hat und daß die Transformation, die Umwandlung der Herzen, lange dauern<br />

wird. Das gilt für die politische Gesellschaft ebenso wie für die Kirche.<br />

In den Leitungsstrukturen der Gesellschaft sind die obersten Spitzen<br />

verändert worden, die niedrigeren Strukturen sind geblieben.<br />

Der Kommunismus hat die gesamte Entwicklung der Kirche hart<br />

gebremst. In der neuen Epoche geht es darum, die Entwicklung der<br />

postkonziliaren Zeit nachzuholen.<br />

3. In allen postkommunistischen Ländern (mit Ausnahme von Polen) hat<br />

die Kirche nicht nur zahlenmäßig abgenommen, sondern auch den politischen<br />

Einfluß und ihre ökonomische Kraft verloren. Das alles muß die<br />

Veränderung der Mentalität bestimmen. In der Tschechischen Republik<br />

haben wir – meinem Eindruck nach – noch nicht genug zur Kenntnis<br />

genommen, daß wir eine Minderheit von etwas mehr als 30% geworden<br />

sind. Dies müssen nicht nur die Laien – besonders die älteren – zur<br />

Kenntnis nehmen, sondern auch manche Priester und besonders wir Bischöfe.<br />

Sehr oft täuschen die immer noch gleich gebliebenen alten Strukturen<br />

des Pfarrsystems. Zum Beispiel gibt es in einem Dekanat der Prager<br />

Erzdiözese mit 26 Pfarreien aus der vorkommunistischen Zeit nur 5 Priester.<br />

Dort leben 8780 Gläubige zerstreut, von denen 492 praktizieren. Das<br />

ist zwar ein extremes Beispiel, aber doch bezeichnend. Das heißt, im<br />

Durchschnitt hat eine Pfarrei ca. 300 Gläubige, von denen 20 praktizie-<br />

53


en. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte man gehofft,<br />

daß die Menschen in der neuen Freiheit wieder die Kirchen füllen würden.<br />

Das war eine große Täuschung, weil die neue Freiheit alte materielle<br />

Hoffnungen (oder besser: Versuchungen), auf eigene Faust das früher<br />

nicht erreichte Paradies zu erreichen, genährt hat. Neue Christen werden<br />

weder bloß als Frucht des politischen Drucks im Kommunismus noch<br />

bloß aus der Freiheit selbst heranwachsen. Nur das Zeugnis erneu erter<br />

Christen bringt sie hervor.<br />

Zur Bewußtwerdung, daß wir eine kleine Herde sind, muß noch eine<br />

neue Selbstreflexion hinzukommen: daß wir aus uns selbst heraus nicht<br />

besser sind als die anderen. Vielleicht hat man im Kommunismus, aber<br />

auch schon vorher, gelernt, die anderen, besonders die Atheisten, zu verachten.<br />

Die jetzt geforderte Bewußtseinsänderung kann der neuen Identität<br />

helfen: daß wir keine herrschende Kirche mehr sind, sondern eine<br />

dienende – die durch das Zeugnis ihres Lebens die Welt ändern wird.<br />

4. Die Kirche als Ganzes hat keine politische Macht. Doch in den postkommunistischen<br />

Ländern lebt auch bei manchen Politikern die Auffassung<br />

weiter – und das ist vielleicht nicht nur ein Erbe des Kommunismus<br />

–, daß die Kirche eine politische Gruppierung ist und eine politische<br />

Konkurrenz werden will. Dabei haben wir in der Tschechischen Republik<br />

wiederholt betont, daß das neue Selbstverständnis der Kirche das einer<br />

dienenden Kirche nach dem Konzil ist. Diese Angst hat bis jetzt die Normalisierung<br />

der Beziehungen zwischen Staat und Kirche gebremst.<br />

Worin besteht die Angst? Daß die Kirche ihre Mitglieder parteipolitisch<br />

beeinflussen und ihnen zum Beispiel direkt vorschreiben könnte, welche<br />

Partei sie wählen sollen. Diese paternalistische Tendenz, so unmittelbar<br />

in die Politik einzugreifen, kann – vor allem bei einer Kirche, die die<br />

Mehrheit hat – eine Versuchung sein. Es gibt dafür Beispiele. Diese Tendenz<br />

hat sich in den postkommunistischen Ländern als kontraproduktiv<br />

erwiesen. Die Freiheit hat der Kirche keine neue Machtposition zurückgegeben.<br />

Und das ist richtig so. Die Kirche darf so nicht herrschen.<br />

5. Aber die neue Situation eröffnet auch eine neue Chance: die gemeinsamen<br />

politischen Angelegenheiten durch reife christliche Wähler zu beeinflussen.<br />

In der Politik, in den Parteien arbeiten in den postkommunisti-<br />

54


schen Ländern viele Christen. Aber hier gibt es eine Schwierigkeit: die<br />

Christen in den postkommunistischen Ländern konnten nicht zu selbständiger<br />

politischer Tätigkeit erzogen und darauf vorbereitet werden,<br />

daß sie in dieser Form eine dienende Einstellung annehmen könnten.<br />

In unserer Republik haben wir am Anfang der neuen Zeit überlegt, ob<br />

die Christen eine einzige Partei in der Gesellschaft bilden oder lieber als<br />

Sauerteig in mehreren möglichen Parteien wirken sollen. Obwohl bei uns<br />

heute eine christliche Partei existiert, haben unsere Christen das zweite<br />

Modell gewählt. Die Zukunft wird die Richtigkeit dieser politischen<br />

Lösung zeigen.<br />

Besonders auf dieser Ebene kann die Kirche ganz klar zeigen, daß sie<br />

als Ganzes keine politische Macht ausüben will. Aber gerade die einzelnen<br />

Christen in der einen oder in mehreren politischen Parteien können<br />

zeigen, daß die Kirche nicht herrschen will, sondern dienen. In der<br />

tschechischen Regierung sind heute ca. 50% der Minister praktizierende<br />

Christen.<br />

Die Kirche will sich mit keiner Partei verbinden, auch nicht, wenn sie<br />

das Wort „christlich“ in ihrem Namen trägt. In den letzten Jahren hat sich<br />

dies in der italienischen Situation bitter bestätigt. In der sehr sensiblen<br />

politischen Situation der postkommunistischen Länder könnte so etwas<br />

das Image einer Kirche, die sich als dienende bezeichnet, beschädigen.<br />

6. In den postkommunistischen Ländern hat sich ein neuer gesellschaftlicher<br />

Raum aufgetan, in dem die Kirche ihr dienendes Gesicht zeigen<br />

kann. Es gibt sogenannte Kooperationsbereiche, zum Beispiel das<br />

Schulwesen, den Sozialbereich, das Gesundheitswesen. Es ist manchmal<br />

sehr notwendig, das gute Funktionieren des Dienstes vertraglich abzusichern,<br />

meistens auch unter Mitwirkung des Vatikans. Es geht eigentlich<br />

um die „Versöhnung“ von staatlicher Gesetzgebung und von Normen<br />

der Kirche, also dem Kodex des kanonischen Rechts. Hier darf die Ortshierarchie<br />

eigentlich kein Partner des Staates sein, weil sie die Anpassung<br />

des Kodexes mit dem Staat nicht aushandeln darf. Dazu hat sie<br />

keine Kompetenz.<br />

Es gibt zwei Bereiche, in denen die Kirche ihre dienende Funktion unter<br />

Beweis stellen kann: in den Gefängnissen und in der Armee. Besonders<br />

hier ist ihre Aufgabe sehr stark von der Einstellung des Dienens<br />

55


abhängig. In der Tschechischen Republik, wo man mit dem Ausbau der<br />

Seelsorge in der Armee begonnen hat, sahen wir, daß man kein System<br />

von Feldkuraten mit einem Militärbischof an der Spitze errichten soll,<br />

sondern eher ein Netz von Militärkaplänen, die in der solidarischen Gemeinschaft<br />

mit den Soldaten ihre Mission erfüllen können. Die Früchte<br />

einer solchen Idee hat man in Bosnien-Herzegowina verifiziert.<br />

7. Damit man diese Einstellung des Dienens nach außen, zur Welt gut<br />

leben kann, muß man sie zuerst in den inneren kirchlichen Beziehungen<br />

leben. In den postkommunistischen Ländern gibt es unterschiedliche<br />

politische und kirchliche Situationen, die Säkularisierung ist mehr oder<br />

weniger weit fortgeschritten. Wenn man die Situation in Polen, in der<br />

Slowakei oder in der Tschechischen Republik vergleicht, sieht man sofort<br />

die Unterschiede. Allen diesen Situationen ist gemeinsam, daß man nirgends<br />

eine herrschende Kirche möchte. Die historische Entwicklung, die<br />

aktuelle politische Situation wie auch die weltweite Entwicklung der<br />

Kirche verlangen, daß sie eine dienende Kirche wird. Die jetzige Situation<br />

im Osten bietet dazu eine große Chance. Man braucht aber vor allem<br />

das Umdenken von oben bis nach unten, auf allen Ebenen, um so die<br />

Kirche von heute und für die Zukunft zu sichern – um der Versuchung, in<br />

die frühere gewohnte und bekannte Situation der Kirche zurückzukehren,<br />

zu widerstehen.<br />

Dieses Umdenken geht zuerst uns Bischöfe an. Die tiefe innere geistliche<br />

Öffnung für die brüderliche Gemeinschaft mit den Priestern und die<br />

echte Einbeziehung aller Beratungsorgane des Bischofs bei der Vorbereitung<br />

der Entscheidungen – das ist der Ausgangspunkt.<br />

Dabei fehlt uns die Gewohnheit des Dialogs, weil es ihn im Kommunismus<br />

in der Gesellschaft wie auch in der Kirche überhaupt nicht gab.<br />

Diese Mentalität ist noch stärker unter den Priestern verbreitet, die 40<br />

Jahre gezwungen waren, sich allein auf sich selbst zu stützen, jeder selbst<br />

zu entscheiden. Jeder war sozusagen sein eigener „Bischof“. Die Priester<br />

lebten aus der gewohnten theologischen Einstellung, wie sie sich im<br />

Laufe des Mittelalters entwickelt hat: der Priester hat in der Kirche die<br />

ihm von Christus zugewiesene geistliche Macht. Diese Einstellung wurde<br />

unter dem Einfluß der kommunistischen Politik verstärkt, sie wollte einen<br />

dem Volk fernen Priester. Die Perspektive des Abendmahlssaales, der<br />

56


Fußwaschung bleibt – auch wegen des Alters der Priester – immer noch<br />

in weiter Ferne. Hier wirkt das Erbe der obengenannten ersten Gruppe<br />

nach. Es fehlt aber auch ein systematisches Programm, das zu der neuen<br />

Mentalität erzieht.<br />

8. Auf diesem Weg der Umkehr existieren einige bremsende Phänomene.<br />

Wie unter dem Kommunismus gibt es auch heute – unter anderen<br />

Bedingungen – Gruppen mit unterschiedlichen Auffassungen. Sie verursachen<br />

die Polarisierung der kirchlichen Szene bei uns und bremsen die<br />

echte Erneuerung des Lebens. Die erste Gruppe sieht es als notwendig an,<br />

in der Vergangenheit zu bleiben, nichts zu verändern, weil es damals<br />

keine Probleme und keinen Zerfall der Kirche gab. Manchmal machen<br />

sie das Konzil für die negativen Erscheinungen verantwortlich, besonders<br />

die Liturgiereform. Sie suchen Bestätigung, Zuflucht und Schutz in verschiedenen<br />

Marienerscheinungen. Die Angst ist ihre Charakteristik, besonders<br />

die Angst vor dem Geist und Einfluß des Westens, wo man in der<br />

Tat auch im kirchlichen Raum tiefe Schatten feststellen kann. Dazu<br />

kommt noch die Angst vor Freimaurern in der Kirche. Und ihre „Methode“:<br />

auf eigene Faust und mit eigenen Kräften, mit eigener „Macht“<br />

die Kirche für den Herrn zu retten. Sie arbeiten besonders in den traditionalistischen<br />

Gegenden unserer Republik. Sie bremsen jede Erneuerung.<br />

Es gibt mehrere Schattierungen in dieser Gruppe, von den Bewunderern<br />

der alten Theologie bis zu den Anhängern von Lefebvre.<br />

Den anderen Pol bilden diejenigen, die die Kirche mehr dem Einfluß<br />

von westlichen Strömungen öffnen möchten. Hierhin gehören eher die<br />

tschechischen katholischen Intellektuellen. Manche von ihnen möchten<br />

die Kirche vor allem durch den Geist der Freiheit und durch Demokratie<br />

retten, denn sie sehen auch das viele Gute, das im Westen in der Kirche<br />

existiert. Ihre Tätigkeit verstärkt manchmal noch die Angst der ersten<br />

Gruppe. Beide Gruppen beeinflussen sich gegenseitig.<br />

Bei der Polarisierung bleibt es aber aus, daß man einen regen Dialog<br />

führt und über die Standpunkte diskutiert. Die verschiedenen Pole bleiben<br />

jeder in seinem Bereich. Man versucht, diesen Bereich zu erweitern<br />

und die eigene Position zu festigen. Und hier sind wir wieder am Anfang:<br />

aus der Position eigener Wahrheit will man die Macht ausüben, die<br />

„Macht der Wahrheit“, nicht den Dienst der Wahrheit.<br />

57


Diese Einstellungen ergeben sich aus dem Bild des Priesters. Die vatikanischen<br />

Dokumente sprechen vom „Sacerdotium ministeriale“. Hier<br />

kommt mir das Bild der Fußwaschung in demselben Abendmahlssaal, in<br />

dem Christus dieses dienende Priestertum eingesetzt hat. Diese Realität<br />

ist uns noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Manchmal ist unser<br />

Priestertum mehr ein herrschendes Priestertum. Ich bin nicht ganz sicher,<br />

ob hinter dem Streben von Frauen nach der Priesterweihe nicht die Tendenz<br />

steckt, an der Macht in der Kirche teilzuhaben. Hier braucht man<br />

zuerst eine tiefe Erneuerung.<br />

Man muß noch tiefer ansetzen. Die Taufe ist auch eine Weitergabe des<br />

trinitarischen Lebens; der Christ muß es entwickeln, indem er es lebt.<br />

Dieser Stil bedeutet: für den anderen, in dem anderen leben. Mit anderen<br />

Worten gesagt: er muß dem anderen dienen. Christus hat diesen Lebensstil<br />

auch in seinem Leben hier auf Erden realisiert, und er setzt ihn in der<br />

Kirche in den Sakramenten fort. Die Glaubenden aber verstehen oft ihr<br />

Wachstum im geistlichen Leben als Aufwand eigener Kräfte und eigener<br />

Bemühungen und versuchen nicht, zuerst diese trinitarische Einstellung<br />

des Dienens zu leben.<br />

Das Verständnis von Freiheit als totaler Unabhängigkeit steht dieser<br />

trinitarischen Einstellung des Dienens entgegen.<br />

In dieser Tiefe muß die Erneuerung ansetzen. Es wird ein langer organischer<br />

Prozeß. Keine bloße „Strukturreform“. Das gilt für den Osten wie<br />

für den Westen.<br />

In unserer tschechischen Bischofskonferenz haben wir uns entschieden,<br />

die Synode aller Bistümer in einem synodalen Prozeß vorzubereiten,<br />

in den alle einbezogen werden können und der diese Umkehr, diese<br />

Erneuerung anstoßen soll.<br />

Man muß zu Christus zurück, zu seiner Einstellung, und man muß eine<br />

innere Erneuerung der Mentalität aus dem Geist Christi durchführen. Erst<br />

dann kann man die Erneuerung der Strukturen erwarten. Weder eine so<br />

breit entwickelte Freiheit wie im Westen noch die harte Gewalt, wie sie<br />

im Osten angewandt wurde, sind imstande, diese echte Revolution zu<br />

vollenden.<br />

58


V.l.: Weihbischof Leo Schwarz, Kardinal Miloslav Vlk und <strong>Renovabis</strong>-Geschäftsführer<br />

P. Eugen Hillengass SJ vor Beginn des <strong>Kongress</strong>es. Foto: KNA-Bild<br />

Blick in das Kongreß-Plenum am Eröffnungstag. Am Podium v.l.: Dr. Albus, Prof.<br />

Dylus, Prof. Halík, Prof. Feiereis, Prof. Hotz, Erzabt Várszegi. Foto: KNA-Bild<br />

59


Vor der Eucharistiefeier: Kardinal Miloslav Vlk, Prag, mit dem Vorsitzenden der<br />

Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Karl Lehmann, Mainz.<br />

Foto: Marianne Grycz<br />

Erzabt Imre Asztrik Várszegi OSB aus<br />

Pannonhalma/Ungarn bei der Diskussion.<br />

Foto: Marianne Grycz<br />

60<br />

Friedrich Kardinal Wetter, Erzbischof<br />

von München und Freising, eröffnete<br />

den Kongreß. Foto: KNA-Bild


Prof. Dr. Konrad Feiereis, Erfurt<br />

Umgang mit der Vergangenheit (1945–1989):<br />

Fragen an die Kirchen<br />

Vergangenheit kann aus unterschiedlichen Gründen und unter verschiedenen<br />

Gesichtspunkten reflektiert werden: Der einzelne, besonders der<br />

Christ, sucht in der Rückschau eine Bewertung seines Lebens und der in<br />

ihm geforderten existentiellen Entscheidungen zu finden. Er wird Dankbarkeit<br />

empfinden, wenn er zu dem Ergebnis kommen kann, daß sein<br />

Denken und Handeln sich nach dem Urteil seines Gewissens und dessen<br />

sittlichen Maximen ausgerichtet haben; er stellt sich aber auch ehrlich<br />

dem Versagen, verabscheut die Verdrängung und zieht Folgerungen für<br />

die Zukunft. Der Historiker sucht aus einer gleichsam den personalen Interessen<br />

übergeordneten Position heraus mit den für sein Fachgebiet spezifischen<br />

Methoden ein objektives Bild eines Abschnittes der Zeitgeschichte<br />

zu gewinnen. Andersgeartet wiederum ist der Umgang der<br />

Kirche mit ihrer Vergangenheit. Sie setzt die streng wissenschaftliche<br />

Reflexion voraus und wird sie unterstützen, auch wenn Kirchengeschichte<br />

nicht selten zum Objekt des Streites der Historiker gemacht<br />

wird, besonders in dem so sensiblen Bereich der Kirchenpolitik. Kirchengeschichte<br />

und Umgang der Kirche mit ihrer Vergangenheit berühren<br />

sich zwar, sind aber nicht miteinander identisch.<br />

Wichtige Aspekte der Geschichte der katholischen Kirche in der DDR<br />

wurden und werden von den Historikern erarbeitet; sie werden gewiß<br />

auch Gegenstand der Auseinandersetzung bleiben, denken wir etwa an<br />

das Problem des Verhältnisses der Kirche zu Staat, Partei und Gesellschaft,<br />

an ihre Rolle innerhalb dieser Gesellschaft, an die Kirchenpolitik,<br />

deren Methoden und Ziele oder an die Verstrickung von Mitgliedern der<br />

Kirche in den Apparat des Staatssicherheitsdienstes. Von größerer Bedeutung,<br />

doch bisher kaum beachtet von den Historikern, waren die Existenz<br />

des Christen im Alltagsleben der DDR, speziell in Familie, Schule und<br />

61


Beruf, das Spannungsverhältnis des Christen zu dem von der Ideologie<br />

beherrschten Staat, das Zeugnis der Glaubenden im Alltag und die Sanktionen,<br />

welche über sie verhängt wurden.<br />

Hier soll der Versuch unternommen werden, das gestellte Thema<br />

– Umgang unserer Kirche mit ihrer Vergangenheit – unter einem theologischen<br />

Blickwinkel zu behandeln. Dadurch wird auch deutlich, daß sich<br />

die Auseinandersetzung mit der Geschichte einer kleinen, soziologisch<br />

gesehen recht unbedeutenden Ortskirche tieferen Einsichten nähern kann,<br />

von denen scheinbar Unbeteiligte, wie die Christen in den west lichen Industrienationen,<br />

ebenfalls berührt sind, denken wir an das heute gemeinsame<br />

Problem der wachsenden Säkularisierung, an die Aufgaben der<br />

Kirche in einer entchristlichten Gesellschaft. Nur auf diese Weise des gemeinsamen<br />

Austausches über die verschiedenartig erfahrene Geschichte<br />

in Ost und West werden wir zu Schlußfolgerungen kommen, die unsere<br />

Zukunft in Deutschland und Europa betreffen, wir werden uns vor Irr-<br />

und Umwegen rechtzeitig warnen können und Kraft für eine zweite<br />

Evangelisierung gerade im Osten suchen und finden.<br />

Als theologische Kriterien kommen für unseren Blick auf die jüngste<br />

Geschichte solche in Frage, welche die grundlegenden und wesentlichen<br />

Funktionen einer Gemeinde oder Ortskirche beschreiben. Ich habe dafür<br />

die drei klassischen – Rahner kennt sechs – Begriffe gewählt: Leiturgia,<br />

Diakonia und Martyria. Sie sind biblischen Ursprungs, ihr Zusammenhang<br />

wird in den Dokumenten des Zweiten Vatikanums sichtbar, in herausragender<br />

Weise aber prägen sie die Texte der großen Synoden, die vor<br />

mehr als zwei Jahrzehnten in West- und Ostdeutschland stattgefunden<br />

haben. Im Westen Deutschlands waren diese Begriffe charakteristisch für<br />

das Denken und Leben etwa von Kardinal Höffner, im Osten sind sie<br />

Hintergrund und Leitbild besonders für das pastorale Wirken des Erfurter<br />

Bischofs Aufderbeck gewesen.<br />

Der Rückgriff auf theologische Begriffe wird uns davor bewahren, vorschnelle,<br />

einseitige Urteile über historische Prozesse zu fällen oder Vorurteile<br />

zu bestätigen; sie werden uns daran hindern, uns in Glorifizierung<br />

der eigenen Geschichte zu gefallen oder im nachhinein unrealistische<br />

Maßstäbe an diejenigen anzulegen, welche innerhalb des jeweiligen geschichtlichen<br />

Raumes für sich, für ihre Familie oder gar für eine ganze<br />

Ortskirche irreversible Entscheidungen treffen mußten. Die Theologie<br />

62


lenkt den Blick auch auf uns selbst, auf das Hier und Heute und die Aufgaben,<br />

die es nun zu erfüllen gilt.<br />

Leiturgia<br />

Im profanen Griechisch bedeutet dieser Begriff eine Leistung für eine<br />

Volksgemeinschaft oder eine Stiftung 1 . Die theologische Klärung dieses<br />

Begriffs beginnt erst mit der Enzyklika „Mediator Dei“ von 1947. Leiturgia<br />

ist demnach der integre öffentliche Kult des mystischen Leibes Christi,<br />

und zwar des Hauptes und seiner Glieder. Hier wird ausgesagt, daß<br />

Christi Priestertum durch alle Zeiten fortwirkt, wie auch, daß Christus im<br />

Heiligen Geist Kult geschuldet wird 2 . Das II. Vatikanum betont in Fortführung<br />

dieses Gedankens einerseits, daß sich in der Liturgie das Werk<br />

unserer Erlösung vollzieht, andererseits das Leben der Gläubigen Ausdruck<br />

und Offenbarung des Mysteriums Christi und des eigentlichen<br />

Wesens der wahren Kirche sei: „Die Liturgie stellt denen, die draußen<br />

sind, die Kirche vor Augen als Zeichen, das aufgerichtet ist unter den<br />

Völkern.“ 3<br />

Diesem Verständnis von Gottesverehrung und Religion, der Leiturgia<br />

also, wurde zweifellos vom Episkopat in der DDR die Priorität eingeräumt.<br />

Er griff damit auf, was schon in der ersten, der NS-Diktatur, der<br />

maßgebende Gesichtspunkt für Pastoral und Kirchenpolitik war: Leiturgia<br />

muß am Leben erhalten, ermöglicht und gesichert sein, denn sie ist<br />

der Quell der salus animarum. Schon im ersten Hirtenbrief aller deutschen<br />

Bischöfe nach dem Ende des letzten furchtbaren Krieges gipfeln<br />

alle Aussagen in diesem theologisch wichtigen Grundgedanken: „…laßt<br />

uns die Lehren der jüngsten Vergangenheit beachten! Hatte man nicht das<br />

Haus bauen wollen, ohne daß der Herrgott mitbaute? Ist es nicht letztlich<br />

darum zum Turm von Babel geworden? …Das wird das erste beim Wiederaufbau<br />

sein müssen, daß Gott wieder im Leben des einzelnen und der<br />

Gemeinschaft jene Stelle zuerkannt wird, die ihm als dem höchsten Herrn<br />

1) B. Fischer, Art. „Liturgie“ in LThK Bd. 6(1961), 1085.<br />

2) ebd.<br />

3) Konstitution über die hl. Liturgie 2.<br />

63


gebührt und die man anderen, zweitrangigen Werten zuerkannt hatte,<br />

dem Staat, der Rasse, der Nation… Wir müssen wieder zurückfinden zu<br />

einem lebendigen Gottesglauben“. 4<br />

In allen wichtigen Einschnitten der nun folgenden Geschichte wird von<br />

den Bischöfen in der DDR auf die Leiturgia Bezug genommen; die Glaubenden<br />

werden verwiesen auf den Kult als das Werk der Erlösung wie auf<br />

die Kirche als das Zeichen unter den Menschen. So wird in dem wichtigen,<br />

dem ersten und in seiner Einfühlsamkeit noch heute beeindruckenden<br />

Hirtenbrief nach dem Bau der Mauer – er ist datiert vom 11. Oktober<br />

1961 – erkennbar, wie dem Erschrecken und Leiden der nun vollständig<br />

eingekerkerten ostdeutschen Menschen durch die Kraft und den Trost des<br />

Glaubens begegnet werden kann. Es heißt dort: „…die Kirche und der<br />

Christ bestehen nicht kraft der Klugheit und Weitsicht menschlicher Art,<br />

sondern aus dem Glauben“; Gott sei der einzige feste Grund; es gebe<br />

keinen Ort der Erde, „an dem der Glaube, das heiligste Erbgut, das er<br />

besitzt, nicht lebendig bleiben kann. So wie es keinen Ort der Erde gibt,<br />

von dem aus nicht euer Gebet … vor seinen Thron dringen kann“. 5<br />

Dieses theologische Grundverständnis von Kirche in glaubensfeindlicher<br />

Gesellschaft läßt sich als wesentliches Strukturelement des Hirtenamtes<br />

und der Pastoral in der ostdeutschen katholischen Kirche über die<br />

Jahrzehnte hindurch leicht nachweisen und nachzeichnen. Der Bogen<br />

schließt sich in dem von der Berliner Bischofskonferenz verfaßten, eigenen<br />

Hirtenwort zur Einheit Deutschlands vom 18.9.1990. In ihm weisen<br />

die Bischöfe darauf hin, was Christen aus dem Osten mit in das vereinte<br />

Land einbringen: „Wir haben versucht, an Gott und seiner Kirche in einer<br />

atheistischen Gesellschaft festzuhalten. Viele von uns haben Nachteile<br />

um des Glaubens willen auf sich genommen. Wir bringen mit unsere ökumenischen<br />

Erfahrungen, die uns als Christen in der Bedrängnis und Anfechtung<br />

geschenkt wurden.“ 6<br />

In einem anderen, dem gemeinsamen Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz<br />

vom 27.9.1990 zum Tag der Vereinigung lesen wir den<br />

4) Katholische Kirche – Sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945–<br />

1990. (Hrsg. von G. Lange, U. Pruß, F. Schrader, S. Seifert) Leipzig 1992, 3f.(=Dok.)<br />

5) Dok 190f.<br />

6) Dok 411.<br />

64


wichtigen Satz: „Wenn wir der wahrhaft geschichtlichen Stunde gerecht<br />

werden wollen, dann müssen wir uns jetzt bewähren“, und unter Hinweis<br />

auf das Reich Gottes, wie es im Römerbrief vorgestellt wird: „…wer<br />

Christus so dient, wird von Gott anerkannt und ist bei den Menschen<br />

geachtet(Röm 14,18)“. 7<br />

Daß sich alle Christen in diesem Verständnis von religio und Gottesverehrung<br />

wiederfinden können, sei belegt durch das gemeinsame Hirtenwort<br />

aller katholischen und evangelischen Bischöfe aus Ost- und<br />

Westdeutschland vom 26. Juni 1990. Hier wird der Blick auf die Folgen<br />

der Vergangenheit wie auf die Gestaltung der nunmehr gemeinsamen<br />

Zukunft Deutschlands und Europas gelenkt: „Ohne eine neue Vitalität<br />

des christlichen Glaubens bauen wir Häuser, in denen die Menschen nicht<br />

wirklich atmen können und krank werden.“ 8<br />

Leiturgia als Vergegenwärtigung des Erlösungswerkes Christi und Präsenz<br />

der Kirche als Zeichen Gottes war der theologisch substantielle,<br />

zugleich der spirituelle und missionarische Anspruch, unter den sich<br />

diese Ortskirche – nicht nur die in der DDR – gestellt sah. An ihm muß sie<br />

sich nun auch messen lassen, hier ist der entscheidende Ansatzpunkt für<br />

Kritik und Selbstkritik. An zwei Beispielen soll dieser Gedanke veranschaulicht<br />

werden.<br />

In der historischen Aufarbeitung der Geschichte aller christlichen Kirchen<br />

im Ostblock rücken die Aspekte in der Kirchenpolitik, die Distanz<br />

oder Nähe zu den Machthabern oder mögliche Verstrickungen in die<br />

Fänge des Geheimdienstes in den Vordergrund des Interesses. Dadurch<br />

wird aber nur ein Ausschnitt – gewiß ein wichtiger – des ganzen Lebens<br />

einer Ortskirche erfaßt. Historiker müssen die Frage stellen und Antworten<br />

darauf suchen, nach welchen Kriterien die Kirchenpolitik einer Ortskirche<br />

zu beurteilen ist, ob sie von prinzipieller Gegnerschaft zu Staat<br />

und Gesellschaft, von Akzeptanz der Realität in zugleich kritischem Gegenüber<br />

oder von Anpassung oder gar Unterwerfung unter die Interessen<br />

der Repräsentanten des Staates bestimmt gewesen ist. Darüber darf aber<br />

nicht übersehen werden, daß auch kirchenpolitischem Handeln theologische<br />

Konzeptionen und Motivationen vorauslagen. Schon in der Beurtei-<br />

7) Dok 414.<br />

8) Dok 410.<br />

65


lung von Kardinal Bertram und seiner Tätigkeit als Vorsitzender der<br />

deutschen Bischofskonferenz z.Zt. des Nationalsozialismus ergeben sich<br />

differierende Auffassungen: Welche Konsequenzen – gerade für Leiturgia<br />

im weitesten Sinn – hätte eine entschiedener dokumentierte Gegnerschaft<br />

zur Diktatur für das Leben der Kirche und der Gläubigen gezeitigt?<br />

In ähnlicher Weise wird es unterschiedliche Beurteilungen geben, wohl<br />

auch geben müssen, wenn kirchenpolitische Standpunkte und Handlungsweisen<br />

der hierin maßgeblichen Bischöfe zu Zeiten der DDR einer<br />

Bewertung unterzogen werden, denken wir etwa an die Kardinäle Döpfner,<br />

Bengsch und Meisner, an die Verhandlungen von Bischof Wiencken<br />

mit den zuständigen militärischen und staatlichen Behörden, an die für<br />

Kirchenpolitik und Caritas zuständigen Prälaten. Der wissenschaftliche<br />

Streit der Historiker wird gewiß zu tieferer und zunehmend objektiverer<br />

Erkenntnis führen; er darf aber nicht sein Ziel in der Darstellung von<br />

Handlungsabläufen sehen, die Erfolge oder Niederlagen auf die kirchenpolitische<br />

Dimension reduzieren, also der jeweiligen Strategie und Taktik<br />

– sei es auf seiten des Staates, sei es auf seiten der Kirche – zuschreiben.<br />

Vielmehr muß das entscheidende Kriterium für den Christen sein, ob die<br />

intendierten und bewirkten Ergebnisse zum Nutzen oder zum Schaden<br />

der Kirche und des Volkes Gottes gereichten. Fehler und Fehlentwicklungen<br />

einzugestehen, ist für den möglich, der sich in seiner Verantwortung<br />

vor Gottes Urteil gestellt sieht. Er weiß, daß die Dimension des Versagens<br />

zu unserem Dasein gehört, daß Vergebung geschenkt wird, wo Schuld<br />

eingesehen und eingestanden wird; schon deshalb ist dem Glaubenden<br />

jeder Versuch der Verdrängung oder der Schönfärberei zutiefst zuwider.<br />

Differenziertes Urteil ist auch dort erforderlich, wo theologische Weichenstellungen<br />

im Leben einer Ortskirche vorgenommen wurden. Hier<br />

sei erinnert an das Spannungsverhältnis, welches sich für Kardinal<br />

Bengsch aus der Leitungsverantwortung einerseits, aus der Theologie des<br />

II. Vatikanums andererseits ergab. Es ist bekannt, daß Kardinal Bengsch<br />

der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ bei der Schlußabstimmung<br />

seine Zustimmung verweigerte. Nur zögerlich freundete er sich auch mit<br />

dem Gedanken einer Pastoralsynode an, die dann doch von 1972 bis 1975<br />

abgehalten wurde. Innerhalb des Bischofskollegiums, besonders aber an<br />

der Basis des Kirchenvolkes, gab es durchaus differierende Auffassungen<br />

darüber, inwieweit Laien Verantwortung in der Kirche übertragen werden<br />

66


sollte und durfte. Der Vorwurf, die Kirche werde zentralistisch geleitet<br />

und sei – entgegen den Intentionen des Konzils – eine Klerikerkirche<br />

geblieben, verstummte nie. Um Kardinal Bengsch aus heutiger Sicht gerecht<br />

werden zu können, darf man nicht außer acht lassen, daß auch er der<br />

Leiturgia die Priorität einräumte. Er sah letztlich die Präsenz von Kult<br />

und Kirche bedroht, wo Gefährdungen der Einheit der Kirche, besonders<br />

der Einheit mit dem Papst, der Einheit innerhalb des Bischofskollegiums<br />

oder Gefährdungen der Einheit des Gottesvolkes durch Spaltungsversuche<br />

seitens staatlicher Stellen gegeben schienen. Heutige Bewertungen<br />

mögen unerschiedlich sein: Waren Angst und Sorge bei manchen Hirten<br />

der Kirche übertrieben und grundlos? Mußte unsere Kirche so straff und<br />

zentral geleitet werden, daß viele diesen Stil als Reglementierung empfanden?<br />

Liegen hier die Ursachen für die in mancher Hinsicht, besonders<br />

den Dienst der Laien betreffend, zögerliche oder zu geringe Adaption von<br />

Konzil und Pastoralsynode? Welche Stellung wurde der Frau in der<br />

Kirche der DDR eingeräumt? Bei allem notwendigen Streit über diese<br />

Probleme: Die diesen pastoralen Fragen zugrunde liegenden theologischen<br />

Sichtweisen und Motivationen sollten nicht übersehen, sondern<br />

müssen herausgearbeitet werden.<br />

Schmerzlich wurden vor Ort manche Konsequenzen aus diesem Spannungsverhältnis<br />

zwischen theologischer Orientierung und pastoralem<br />

Leben empfunden. Tieferes Nachdenken verdienen etwa die bischöf lichen<br />

Begründungen für die über lange Jahre gültigen Restriktionen gegenüber<br />

den Teilnehmern der Jugendweihe; ihr Status war dem der öffentlichen<br />

Sünder nicht unähnlich. Tiefe Verletzungen entstanden innerhalb der<br />

Pfarrgemeinden zwischen Familien, die ihre Kinder – meist aus nackter<br />

Existenzangst – schickten, und den Verweigerern. Oder denken wir an den<br />

Abbruch der Meißener Diözesansynode nach dem Tode von Bischof<br />

Spülbeck: Dienten diese und ähnliche Entscheidungen der Einheit des<br />

Gottesvolkes oder erstickten sie die participatio der Glaubenden?<br />

Andererseits darf nicht vergessen werden, daß von der Kirche in der<br />

DDR auch mutige, wegweisende Schritte in der Pastoral gegangen<br />

wurden. So sorgte Bischof Aufderbeck sofort nach dem Konzil dafür, daß<br />

der Dienst des Diakonatshelfers begründet wurde, worin er für die Gesamtkirche<br />

in nicht geringem Maße wegweisend geworden ist: Laien<br />

hielten dort, wo die Eucharistiefeier nicht möglich war, Stationsgottes-<br />

67


dienste und spendeten die hl. Kommunion. Schon 1967 finden wir in<br />

Erfurt auch den ständigen geweihten Diakon und bereits 1969 eine Frau,<br />

die berufen wurde als Referatsleiterin im Seelsorgeamt, zuständig für<br />

Kinderseelsorge. 9<br />

Im Blick zurück darf gesagt werden, daß Leiturgia als Wesensfunktion<br />

der Kirche in der DDR weniger eingeschränkt und gefährdet war als in<br />

anderen Ländern des Ostblocks. Zwar wurden Kirchenbauten erst in den<br />

70er Jahren durch viele Verhandlungen und manche Konzessionen<br />

seitens der Kirche mitunter ermöglicht, doch war unter dem Titel „Ausübung<br />

von Religion“ manches realisierbar, was sonst als undenkbar<br />

erschien. Zu erinnern wäre an Wallfahrten, die über den Rahmen kultischer<br />

Handlungen weit hinausgingen und Gemeinschaft ermöglichten –<br />

Studentenwallfahrten, die großen Wallfahrten der Bistümer, das Katholikentreffen<br />

in Dresden 1987 –, aber auch an die religiösen Kinderwochen,<br />

die aus unserem kirchlichen Leben nicht wegzudenken sind. Leiturgia<br />

trug und trägt bis heute das Leben unserer Kirche.<br />

Diakonia<br />

Diakonia gilt seit der Urkirche als Spiegelbild der Gemeinde (Apg 2,42–<br />

47). Diese Wesensdimension der Kirche bildet mit der Leiturgia dieselbe<br />

Einheit wie das Abendmahl mit der Fußwaschung. Die Eucharistie bedarf<br />

der Bruderliebe, um den Leib des Herrn aufzubauen. Diakonia soll den<br />

Weg bahnen zur Teilnahme am Leben Gottes, der die Liebe ist<br />

(1 Joh 4,8.16). 10 Das II. Vatikanum bezeichnet die Diakonia als Erkennungszeichen<br />

des Christen, der offen ist gegenüber allen Menschen und<br />

ihren Nöten. Diakonie und das ihr spezifische caritative Wirken werden<br />

als „originär christliches Handeln“ bezeichnet (GS 42,LG 8). Die Synode<br />

der Bistümer in der Bundesrepublik forderte, die Diakonie der Gemeinde<br />

sei neu zu entdecken, sie sei Selbstvollzug der Kirche. 11 Nach den Aus-<br />

9) Vgl. H. Mondschein, Bischof Hugo Aufderbeck. Lebenszeugnis. Heiligenstadt 39–41.<br />

10) Vgl. M. Mitzscherlich, Caritas als Wesensdimension und Grundfunktion der Kirche. Leipzig<br />

<strong>1997</strong>. 6–10.<br />

11) aaO 14.<br />

68


sagen der Bistümer in der Schweiz begegnet uns in der Diakonie der Gemeinde<br />

der fortlebende und fortliebende Christus. 12 Die Pastoralsynode<br />

in Dresden widmet der Diakonie der Gemeinde ein eigenes Beschlußpapier,<br />

worin betont wird, daß Diakonie niemals auf Amtsträger oder<br />

kirchliche Einrichtungen begrenzt werden darf, sondern Anliegen der<br />

ganzen Gemeinde und jedes einzelnen Christen sein muß. Der zunächst<br />

anonymen caritativen Organisation ist zugeordnet, ja übergeordnet die<br />

personal und existentiell geübte Diakonie, ohne die Caritas zur leeren<br />

Hülse, zu seelenloser Institution werden würde. 13<br />

Im Rückblick auf die Geschichte unserer Kirche darf festgestellt werden,<br />

daß die Diakonie mehr als anderswo eine Wesensfunktion der Kirche<br />

bilden mußte, da sie von aller anderen Präsenz in der Gesellschaft nahezu<br />

gänzlich ausgeschlossen wurde. Nach der Wende haben wir uns oft daran<br />

erinnert, daß die caritative Tätigkeit der großen christlichen Kirchen von<br />

unermeßlichem Segen gewesen ist, sei es in den Krankenhäusern, den<br />

Kindergärten, den Pflege- und Altersheimen wie auch in der Betreuung<br />

Behinderter. 14 Wer in diesen Häusern arbeitete, sollte nach dem Willen<br />

der Kirche seinen Beruf als Berufung begreifen. Menschen, die seit den<br />

70er Jahren kein Wissen mehr über Religion und Kirche erwarben, begegneten<br />

ihr wenigstens noch in den Repräsentanten der institutionellen<br />

und gemeindlichen Caritas.<br />

Zur Diakonie gehört aber über alle soziale Tätigkeit hinaus das Eintreten<br />

für die, welche keine Stimme in der Gesellschaft besitzen. Zur<br />

Diakonie der Kirche in einer Diktatur zählt daher nicht zuletzt das Wachhalten<br />

oder die Weckung des Bewußtseins für personale und geistige<br />

Werte. An zwei Beispielen soll diese Verpflichtung verdeutlicht werden.<br />

Um ein menschenwürdiges Leben führen zu können, müssen Menschenrechte<br />

anerkannt und gesichert sein. Die katholische Kirche in der<br />

12) aaO 15, Anm.66.<br />

13) aaO 24.<br />

14) Vgl. Feiereis: Einig Vaterland – zerrissene Gesellschaft? Familie in Ost und West. Publikation<br />

des Familienbundes der deutschen Katholiken/Katholische Elternschaft Deutschlands – Diözesanverband<br />

Bamberg. Bamberg 1992. Es wurden 34 Krankenhäuser, 19 Pflegeheime, mehr als<br />

hundert Altenheime, 40 Kur- und Erholungsheime, 36 Kinderheime und 150 katholische Kindergärten<br />

am Leben erhalten, der Mauer zum Trotz, dank auch der Solidarität der Kirche in der<br />

Bundesrepublik.<br />

69


DDR hätte die Einforderung der Menschenrechte für die Bürger in der<br />

DDR der evangelischen Kirche überlassen können, denn diese war nach<br />

dem Ende des Krieges in unserer Region die „Volkskirche“, der diese<br />

Aufgabe naturgemäß zunächst zukam. Tatsächlich hat die katholische<br />

Kirche zumeist die Rechte ihrer Gläubigen eingeklagt, besonders dann,<br />

wenn es sich um das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit handelte.<br />

Man wird aus heutiger Sicht gegenüber der katholischen Kirche<br />

nicht undifferenziert Vorwürfe erheben dürfen, daß sie nicht bei jedem<br />

eklatanten Verstoß des Staates gegen die Menschenrechte ihre Stimme<br />

direkt und massiv erhoben hat. Wer im Ostblock gelebt hat, weiß, daß<br />

eine wesentliche Anklage des Staates gegenüber allen christlichen Kirchen<br />

und Gemeinschaften darin bestand, sie mischten sich in Probleme<br />

ein, welche nur die Gesellschaft, nicht aber die Kirchen etwas angingen.<br />

Entsprechend der Ideologie durfte die Kirche nicht als „gesellschaft liche“<br />

Kraft in Erscheinung treten; sie durfte sich schon gar nicht als Sprecherin<br />

der nichtchristlichen Bürger betrachten. Man wird nur in Abwägung aller<br />

Umstände diese Frage stellen dürfen: Warum hat die katholische Kirche<br />

nicht laut protestiert, als die Mauer gebaut wurde, als der Einmarsch in<br />

die ČSSR erfolgte, als in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde? Bei<br />

diesen Fragen ist stets auch zu bedenken: Welche Folgerungen hätten<br />

sich daraus ergeben, für die Gläubigen an der Basis, für Katechese und<br />

Gottesdienst? Wie weit gingen diplomatische Beschwerden und Eingaben,<br />

von denen in der Öffentlichkeit meist keiner etwas erfuhr? Auch die<br />

christliche Basis kannte die Gefährlichkeit des direkten, massiven Widerstandes<br />

und wählte daher einen anderen Weg. Es entstanden Gruppen, die<br />

für den Frieden und gegen die Militarisierung der Gesellschaft, besonders<br />

in der Schule, eintraten; ihnen folgten die Basisbewegungen für Ökologie<br />

und Gerechtigkeit. Sie bildeten sich besonders im evangelischen Raum<br />

heraus, ihnen schlosssen sich katholische Christen an. Die Leitungen beider<br />

Kirchen taten sich mit diesen Strömungen schwer, sie bildeten ständigen<br />

Konfliktstoff für die Kirchenpolitik. Doch ist es gerade diesen Basisgruppen<br />

zu verdanken, daß es zur Ökumenischen Versammlung kam und<br />

darauf zum Umsturz des Regimes.<br />

Die katholische Kirche hat die Verpflichtung, für die Menschenrechte<br />

einzutreten, nicht aus den Augen verloren. Entscheidend aber war, in welcher<br />

Form etwas bewirkt werden konnte. Am 18.10.1973 verabschiedete<br />

70


die DDR ihr 3. Jugendgesetz. In ihm beanspruchte die Partei unverkennbar<br />

das Monopol auf Bildung und Erziehung. Berücksichtigen wir, daß<br />

sich die politische Situation von Grund auf gewandelt hatte: Beide deutsche<br />

Staaten hatten den Grundlagenvertrag am 21.12.1972 abgeschlossen.<br />

Im September 1973 wurden sie in die UNO aufgenommen. Im Mai<br />

1974 wurden die „Ständigen Vertretungen“ eröffnet. Am 1.8.1975 sollte<br />

der KSZE-Prozeß zum erfolgreichen Abschluß gebracht werden. In<br />

diesem Umfeld – die DDR hatte den Gipfel ihrer Diplomatie erreicht, der<br />

Westen behandelte die DDR mit Samthandschuhen – scheute unsere<br />

Kirche nicht davor zurück, den inhumamen Charakter dieses Systems<br />

bloßzustellen, in einer Schärfe, wie es in der auf Entspannung und Harmonie<br />

bedachten Zeit sonst niemand wagte. So treten die Bischöfe in ihrem<br />

Hirtenbrief „Zur christlichen Erziehung“ vom 17.11.1974 nicht nur<br />

für die Glaubens- und Gewissensfreiheit, sondern für Menschenrechte<br />

überhaupt ein, insbesondere für das Recht auf Bildung wie für ganzheitliche<br />

Erziehung. Sie erheben ihre Stimme für die Eltern, auch die nichtchristlichen,<br />

die das erste Recht und die Verpflichtung zur Erziehung ihrer<br />

Kinder haben, das ihnen aber vorenthalten wird. Sie sprechen davon,<br />

daß Kinder in „wahrer Freiheit“ heranwachsen müßten und der Staat kein<br />

Erziehungsmonopol beanspruchen dürfe. Sie prangern – wie zuvor häufig<br />

– das Menschenbild des dialektischen Materialismus an und berufen<br />

sich ausdrücklich auf Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,<br />

welche die DDR unterzeichnet hatte. Sie nennen die Erziehung<br />

zum Haß in den Schulen unverblümt beim Namen und verwerfen die sozialistische<br />

Moral und die Indoktrination zum Atheismus. Sie decken auf,<br />

daß die Politik des Staates auf die Auslöschung von Glaube und Religion<br />

ausgerichtet ist. 15<br />

„Sei es gelegen oder ungelegen…“ War hier eine Grenze ausgelotet<br />

und erreicht worden, über die hinaus Widerstand kaum denkbar erschien?<br />

Innerhalb der Partei wurde dieser Hirtenbrief als Provokation empfunden;<br />

es wurden Drohungen gegen die kirchliche Jugendarbeit erhoben.<br />

Tatsächlich bestand die Strategie der Kommunisten darin, gleichzeitig<br />

mit der Entspannung nach außen den ideologischen Kampf im Innern,<br />

gegen das Christentum, aber auch gegen Repräsentanten der Kultur,<br />

15) Dok 257–262.<br />

71


esonders von Kunst und Literatur, zu verschärfen. Im Mai 1976 stellte<br />

die SED die Weichen zur kommunistischen Erziehung im gesamten Bildungs-<br />

und Erziehungswesen, im November 1976 erfolgte die Ausweisung<br />

Biermanns, und im Zusammenhang damit setzte eine geistig-kulturelle<br />

Eiszeit ein. Es bedarf noch eingehender Untersuchungen, ob, wie zu<br />

vermuten ist, diese gesamte Entwicklung entscheidend zu dem Exodus<br />

des Großteils der Bevölkerung aus dem Christentum beigetragen hat. 16<br />

Ähnlich scharfe Reaktionen und Drohungen des Staates gab es auch nach<br />

der Veröffentlichung des Hirtenbriefes zum Weltfriedenstag 1983 17 – das<br />

„Neue Deutschland“ diffamierte am 7.1. die Bischöfe als Vasallen Roms,<br />

die in der DDR nicht ihr Zuhause hätten 18 – wie auch nach dem Pastoralschreiben<br />

„Katholische Kirche im sozialistischen Staat“ vom 8.9.1986,<br />

das auch in der FAZ abgedruckt wurde. 19<br />

Wie Untersuchungen von Historikern zeigen, wurde innerhalb des Episkopats<br />

kontrovers diskutiert, in welcher Weise die Stellung der Kirche in<br />

der DDR-Gesellschaft theologisch aufzufassen und dementsprechend in<br />

Hirtenworten wiederzugeben sei, nicht zuletzt divergierten in diesem<br />

Punkte Kardinal Bengsch und Bischof Aufderbeck. 20 Die Frage, ob die<br />

Kirche ihren Dienst, Sachwalter des Menschen zu sein, der Weisung ihres<br />

Herrn entsprechend erfülle, verstummte nie, weder innerhalb der Bischofskonferenz<br />

noch in den Pfarrgemeinden. Von Bischof Theissing in<br />

Schwerin beispielsweise wissen wir, daß er sich ohne Zögern für Christen<br />

einsetzte, die wegen ihres Glaubens benachteiligt wurden. Gegenüber<br />

dem Staatsapparat wies er darauf hin, daß die freie Religionsausübung<br />

kein Privileg, sondern ein Menschenrecht sei. 21 Selbstzufriedenheit war<br />

seinem Charakter fremd. Am 20. Jahrestag seiner Bischofsweihe im Jahr<br />

1983 schildert er seine Situation sehr nüchtern und in aller Demut: „Ich<br />

16) Vgl. meinen Beitrag „Weltanschauliche Strukturen in der DDR und die Folgen für die Existenz<br />

der katholischen Christen“ in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte<br />

und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages,<br />

hrsg. vom Deutschen Bundestag, 9 Bd. in 18 Teilbänden, Frankfurt am Main 1995,<br />

Bd. VI.1, 583–614.<br />

17) Dok 306–311.<br />

18) vgl. Anm. 16, S. 608f.<br />

19) Dok 320–331.<br />

20) vgl. B. Schäfer, Staat und katholische Kirche in der SBZ/DDR – 1945–1989, Dissertation (Manuskript),<br />

Halle <strong>1997</strong>, 237ff.<br />

21) R. Krüger, Bischof Heinrich Theissing. Ein Lebensbild. Leipzig 1993, 46.<br />

72


habe … immer in Gesellschaftsordnungen gelebt, in denen die Bischöfe<br />

sich schützend vor das Volk Gottes … stellen mußten.“ Bedrückend habe<br />

er erfahren müssen, „daß der Bischof nicht jedem einzelnen helfen kann.“<br />

Seine Verantwortung sah Bischof Theissing darin, „für die Glaubensfreiheit<br />

und die Menschenrechte der ihm Anvertrauten einzutreten durch…<br />

Gebet, Eingaben, Beschwerden und Verhandlungen, durch Predigten und<br />

Hirtenworte. Dabei liegt Erfolg und Mißerfolg nicht in seiner Hand.“ 22<br />

Die Verbannung aus dem öffentlichen Leben suchten die christlichen<br />

Kirchen nicht zuletzt durch ihre Bildungsarbeit zu kompensieren. Wenn<br />

geistiges Leben und Wertebegründung, hergeleitet aus christlich-abendländischer<br />

Tradition, überhaupt noch im Osten Deutschlands spurenhaft<br />

vorzufinden sind, dann ist das dem Beitrag der Kirchen zu verdanken. 23<br />

Die Bildungshäuser auch der katholischen Kirche waren zumeist ausgebucht,<br />

in Zeiten der Bedrängung sogar überfüllt, wenn Wochenenden<br />

für Jugendliche und Oberschüler, für Studenten und Akademiker über<br />

philosophische und weltanschauliche Themen angeboten wurden. Wir<br />

sollten nicht vergessen, daß jeder Teilnehmer einen polizeilichen Meldeschein<br />

ausfüllen mußte; nur unter derartigen Schikanen konnte kirchliche<br />

Bildungsarbeit geleistet werden. Diese erstreckte sich auf alle Bereiche<br />

des geistig-kulturellen Lebens, behandelte Themen der Kunst und Literatur<br />

wie solche der Pädagogik, der Naturwissenschaft, der Ethik und<br />

selbstverständlich Fragen der Religion und des Glaubens. Gerade für<br />

Studenten und Akademiker ersetzte die Kirche in hohem Maße das in der<br />

DDR fehlende „studium generale“ und suchte den geistigen Horizont zu<br />

erweitern. 24<br />

Kritisch ist zu fragen, ob die Kirche die ihr gebotenen Möglichkeiten<br />

für diesen Dienst an den Menschen voll genutzt und ausgeschöpft hat.<br />

22) aaO 29.<br />

23) Vgl. hierzu E. Neubert, „gründlich ausgetrieben“. Eine Studie zum Profil und zur psychosozialen,<br />

kulturellen und religiösen Situation von Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland und den<br />

Voraussetzungen kirchlicher Arbeit (Mission). Begegnungen 13 (Hrsg. von der Studien- und Begegnungsstätte<br />

Berlin), Berlin 1996, vor allem die Seiten 27–29, 48, 97–99. Vgl. meinen Beitrag<br />

„Gedanken zur Evangelisierung in den neuen Bundesländern. Ein Blick auf das geistige Erbe der<br />

Vergangenheit.“ In: Unterwegs zum einen Glauben. Festschrift für Lothar Ullrich zum 65. Geburtstag.<br />

EThST 74, Leipzig <strong>1997</strong>, 274–291. Vgl. in diesem Band auch die Beiträge von U. Kühn<br />

(256–273) und F.G.Friemel (292–301).<br />

24) Vgl. P.-P. Straube, Katholische Studentengemeinden in der DDR als Ort eines außeruniversitären<br />

Studium generale. Leipzig 1976 (EThSt 70).<br />

73


Gewiß, die Bildungshäuser standen auch den Nichtgetauften offen und<br />

wurden auch von diesen besucht; doch zeigten gerade wir Katholiken oft<br />

wenig Bereitschaft, Risiken einzugehen, die den – oft einzigen – Raum<br />

der freien Meinungsäußerung gefährden konnten; es fiel uns schwer, dem<br />

Nichtchristen Vertrauen entgegenzubringen. Daß hier ein Weg offenstand,<br />

dem Missionsauftrag des Herrn zu entsprechen, wurde von uns<br />

allen zu wenig beachtet, wir blieben lieber unter uns. Daß die katholische<br />

Kirche im Osten Deutschlands von vielen Bürgern weiterhin als Fremdkörper<br />

betrachtet wird, der mit ihrer eigenen Herkunft nichts gemeinsam<br />

zu haben scheint, ist – neben der Propagierung des historischen Materialismus<br />

– auch unserer Verhaftung an unsere Binnenstrukturen und der<br />

kaum stattfindenden Kommunikation mit den Nichtglaubenden über die<br />

Gottesfrage zuzuschreiben.<br />

Martyria<br />

Nach der Schrift ist der Martys Gottes Knecht, der durch sein Zeugnis<br />

und sein Leiden Versöhnung mit Gott bewirkt. Schon in Israel ist Martyria<br />

ein Zeichen für den Anbruch der Gottesherrschaft. In der Urkirche<br />

wurde unter Martyria zuerst das Zeugnis des Wortes verstanden, im<br />

2. Jahrhundert kam hinzu das Zeugnis des Blutes. Die Jünger des Herrn<br />

kennen Lebensangst und Todesfurcht. Sie wissen sich berufen zum Zeugnis<br />

für den Herrn, gerade gegen die Macht des totalen Staates und den<br />

Absolutheitsanspruch der Welt. Sie vertrauen in ihrem Zeugnis auf den<br />

„neuen Zeugen“ (1 Petr 1,5; 3,14) und geben sich restlos in die Verfügung<br />

Gottes. Sie sind angefochten durch das rätselhafte Nein des Menschen<br />

gegenüber dem Angebot der Liebe Gottes. Wer Zeuge Jesu Christi ist,<br />

folgt einem Ruf Gottes, wird mit den Gaben des Geistes beschenkt und<br />

dem Herrn in der Einheit von Leid und Liebe gleichgestaltet. 25<br />

Angesichts der in der Geschichte Europas unvergleichlichen Entchristlichung<br />

wie der in Ostdeutschland stehen wir erst am Anfang einer Antwort<br />

auf die Frage, ob unsere Kirche der von Gott gewollten Martyria,<br />

der Verkündigung und dem Zeugnis, gerecht geworden ist. Das II. Vatika-<br />

25) Vgl. E. Neuhäusler. Art. Martyrium in: LThK Bd. 7 (1962), 134–136.<br />

74


num spricht davon, daß Voraussetzung der Weitergabe des Glaubens die<br />

tiefe Verwurzelung der Gemeinschaft der Gläubigen im eigenen Volk,<br />

auch in dessen kulturellen Reichtümern, sei. 26 Das Apostolat der Laien<br />

soll demnach die ganze Gesellschaft mit „evangelischem Geist durchdringen“,<br />

dabei mit den getrennten Brüdern und Schwestern zusammenarbeiten<br />

im „gemeinsamen Bekenntnis des Glaubens an Gott und an<br />

Jesus Christus vor den Heiden“. 27<br />

Im Blick auf unsere jüngste Geschichte müssen wir bekennen, daß der<br />

kommenden Generation in der Kirche nicht wie in anderen Regionen eine<br />

Neuevangelisierung aufgetragen ist, sondern daß sie sich in einer Situation<br />

vorfindet, die der der ersten Missionare vergleichbar ist: sie müssen<br />

ganz von vorn beginnen. Die Missionare vor mehr als tausend Jahren<br />

halfen den Menschen, sich eine Existenzgrundlage zu schaffen, sie linderten<br />

ihre Not durch Caritas und Hospitäler und schufen die Grundlagen<br />

für ihre Kultur durch ein großartiges Schul- und Bildungswesen.<br />

Im Osten Deutschlands geht es schon kaum mehr um Mitgliederzahlen<br />

und kirchliche Strukturen, sondern um die Folgen der fortschreitenden<br />

Säkularisierung für die ganze Gesellschaft. Der Beziehungsverlust der<br />

Menschen zu ihrer geistig-kulturellen Tradition, damit zu ihrer eigenen<br />

Geschichte, ist tiefer als bei den Bürgern der alten Bundesländer. Den<br />

Wurzeln unserer Kultur ist die Mehrheit der Bürger im Osten entfremdet;<br />

die Indoktrination des Atheismus hat ihre bittere Frucht getragen. Nicht<br />

nur Defizite des Wissens sind zu beklagen, schier unausrottbare Zerrbilder<br />

von Religion und Kirche werden noch über lange Zeit hin wirksam<br />

sein. Selbst eine zur Allgemeinbildung zählende Kenntnis von religiösen<br />

und christlichen Symbolen und der aus dem Christentum stammenden<br />

Sprach- und Bilderwelt ist bei der Mehrheit nicht mehr vorhanden. Wer<br />

aber die geistigen Wurzeln seiner Herkunft nicht mehr kennt, wird in einem<br />

gestörten Verhältnis zur eigenen Geschichte leben.<br />

Es fällt schwer, sich bei der Frage nach der Martyria seiner eigenen<br />

Vergangenheit zu stellen. Wir können nicht genug an die Menschen erinnern,<br />

die durch ihr Leben Zeugnis für Christus gegeben haben. Daß den<br />

Kirchen im Osten noch weithin mit Respekt begegnet wird, ist wesentlich<br />

26) Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche 15.<br />

27) ebd.<br />

75


der Einstellung und Lebensweise dieser „Alltagschristen“ zu danken.<br />

Dieses Zeugnis in Alltag und Gesellschaft ist unsere eigentliche und<br />

wahre Kirchengeschichte, nicht manche Abgründe der Kirchenpolitik<br />

oder gar der Stasiverstrickungen. Dieses Zeugnis ermöglichte eine ganz<br />

enge Koinonia innerhalb der Pfarrgemeinden, es befähigte dazu, kleine<br />

Wege zu gehen und, wenn nötig, sich auch als einzelner auf den Weg zu<br />

machen. Die Nichtchristen fühlten sich vor der Wende zu diesen Gruppen<br />

hingezogen, weil in ihnen das nicht Denkbare im Traum antizipiert<br />

wurde. Bevor die politischen Umwälzungen eintraten, fanden sich die<br />

Menschen in den Gotteshäusern zusammen, suchten und formulierten<br />

dort ihre Grundüberzeugungen, mit denen sie dann die Diktatur stürzten<br />

und den Weg zur Einheit Deutschlands bahnten.<br />

Das Glaubenszeugnis wird dort beachtet, wo der Mensch erfahren<br />

kann, daß er ganz persönlich gemeint ist, und wo er erkennt, hier werde<br />

ich ernst genommen, es handelt sich um mein Leben und um meine Zukunft.<br />

Unsere Martyria heute wird auf lange Zeit nicht damit rechnen<br />

können, daß sich die Nichtchristen in größerer Zahl taufen lassen. Unsere<br />

Martyria kann aber das Bewußtsein dafür wecken, daß diese heutige Gesellschaft<br />

das Christentum braucht. Welche Grundüberzeugungen können<br />

Menschen einen und befähigen, die Zukunft zu gestalten? Doch nur solche,<br />

die aus unserer gemeinsamen Geschichte stammen. Von welchem<br />

Menschenbild, von welchen Wertüberzeugungen soll unser Zusammenleben<br />

– von Bürgern aus Ost und West, von Christen und Nichtchristen –<br />

getragen sein und unserer politischen Verfassung, dem Grundgesetz, zugrunde<br />

liegen? Welche geistigen Strukturen überhaupt ermöglichen das<br />

geistige Zusammenwachsen in unserem Land und in Europa?<br />

Statt zu klagen oder entmutigt zu sein über die offensichtliche Vergeblichkeit<br />

christlicher Verkündigung – es gab Priester, die nach der Wende<br />

zu uns kamen und diese Art von Atheismus nicht ertragen konnten –, sollten<br />

wir behutsam darauf aufmerksam machen, daß Christen und Nichtchristen<br />

eine gemeinsame Geschichte besitzen. So sind Hunderte von<br />

Kirchen in den neuen Ländern dem Verfall ausgesetzt; diese Gebäude mit<br />

ihren Kunstwerken repräsentieren nicht nur die Tradition der Christen eines<br />

Dorfes, sondern die Geschichte des ganzen Dorfes und aller seiner<br />

Bewohner. Ethische Maßstäbe zu suchen und als Grundlage des Zusammenlebens<br />

anzuerkennen, ist nur möglich in der Einsicht, daß der Huma-<br />

76


nismus unseres Kulturkreises ohne das Christentum und seine Bergpredigt<br />

nicht denkbar ist und nicht Bestand haben wird. Auch der Nichtchrist<br />

kann nicht einfach aus seiner eigenen Geschichte aussteigen; Einheit eines<br />

Volkes setzt ethische wie kulturelle Integration voraus. Die vom Christentum<br />

inspirierte Kultur, Kunst und Literatur hat Früchte hervorgebracht,<br />

die Allgemeingut der Gesellschaft sind, aber auch der Verantwortung<br />

aller anvertraut sind. Ist es nicht denkbar, daß die Menschen das<br />

Angebot der Kirchen erkennen und daran mitwirken, der geistigen<br />

Zersplitterung in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken? Sollten nicht<br />

auch die dem Christentum Entfremdeten erkennen, daß unser bisheriger<br />

kultureller Horizont schwindet, wenn an seine Stelle die bloße technische<br />

Zivilisation tritt mit ihrem Primat der Wirtschaftsstrukturen? Im II.Vatikanum<br />

wird ausgesagt, es gebe in „manchen Gegenden Gruppen von<br />

Menschen,… die von der Annahme des katholischen Glaubens dadurch<br />

abgehalten werden, daß sie sich der besonderen Erscheinungsweise der<br />

Kirche in ihrer Gegend nicht anpassen können“; für eine „solche Situation“<br />

soll „in besonderer Weise Sorge getragen“ werden. 28 Was heißt das<br />

anderes, als daß die Kirche Phantasie, Inspiration und Visionen braucht!<br />

Ausblick<br />

Nicht nur unsere sozialen und gesellschaftlichen Strukturen haben sich<br />

seit 1989 verändert, auch die der Kirche sind dem Wandel unterworfen.<br />

Wir sind dankbar für die wiedergeschenkte Einheit, gerade auch in unserer<br />

Kirche in Deutschland. Wir freuen uns darüber, daß sowohl Rom wie<br />

die Kirche des Westens die Schwestern und Brüder im Osten weitgehend<br />

mit Rücksicht und Behutsamkeit behandelt. Unsere Bischöfe behielten<br />

wir, als die neuen Bistümer entstanden sind. Bildung und Caritas empfangen<br />

weiterhin großzügige Hilfe, weil wir als Glieder an einem Leibe betrachtet<br />

werden. Wir durften unsere Hochschule mit dem Priesterseminar<br />

in Erfurt behalten. Aus unseren Erfahrungen möchten wir aber einladen<br />

zum gemeinsamen Nachdenken über die Zukunft der Kirche und ihren<br />

Dienst an den Menschen. Dafür seien einige Stichpunkte genannt.<br />

28) aaO 20.<br />

77


Institutionen, Verwaltungen, Behörden dürfen nicht Selbstzweck sein,<br />

sondern erhalten ihre Berechtigung wegen ihres Dienstes für die Wesensstrukturen<br />

der Kirche, Leiturgia, Diakonia, Martyria, also in Unterordnung<br />

unter sie. Das Leben unserer Ortskirchen im Osten speiste sich aus<br />

der lebendigen Gemeinde, in welcher zuerst das Gesicht und der Name<br />

des einzelnen von Bedeutung sind. Glaubensgemeinschaft war und ist bei<br />

uns noch gleichzeitig Lebens- und Weggemeinschaft. Zusammenkunft<br />

im Namen Christi war ohne den Höhepunkt und die Quelle des Lebens 29 ,<br />

die Leiturgia in der Eucharistie, nicht denkbar; wir mußten inzwischen<br />

zur Kenntnis nehmen, daß nicht alle Verbände im Westen ebenso denken.<br />

Die Diakonia wird als spezifisch christliche Dimension ihre Bedeutung<br />

bewahren, wenn sie sich nicht dem Leistungsprinzip, der quantitativen<br />

Abrechnung der Dienste, beispielsweise der Apparatenmedizin, unterwirft.<br />

Erhaltung und Ausbau christlicher Bildungseinrichtungen dienen<br />

nicht primär der Selbsterhaltung der Kirche, sondern sind ein unverzichtbarer<br />

Dienst an der Gesellschaft; an ihnen sollte gerade in Ostdeutschland<br />

zuletzt gespart werden. Die Martyria darf nicht auf dem Gegensatz von<br />

Kirche und Welt aufbauen, sondern muß den Weg der Kirche als den Weg<br />

mit den Menschen suchen. 30 Die Kirche ist in der Welt zugegen und zugleich<br />

unterwegs. Sie richtet den Ruf nach Glaube und Bekehrung nicht<br />

nur an ihre Umwelt, sondern zuerst an sich selbst. 31<br />

29) Liturgie 10.<br />

30) Der konkrete Mensch ist „der Weg der Kirche, der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens, ihrer<br />

Aufgaben und Mühen“. Redemptor hominis 14, vgl. 13.<br />

31) Liturgie 7.<br />

78


Prof. Dr. Tomásˇ Halík, Prag<br />

Rückzug auf Feindbilder oder<br />

Mut zur Öffnung?<br />

„Rückzug auf Feindbilder oder Mut zur Öffnung“ – so wurde die Frage,<br />

zu der ich mich in meinem Beitrag äußern soll, formuliert. Geben wir<br />

zu, daß es eine ziemlich suggestive Frage ist. Gibt es etwa jemanden, der<br />

nicht mutig sein möchte und der sich zu Bestrebungen, die Feindbilder<br />

neu zu beleben, bekennen würde? Es handelt sich daher nicht um eine<br />

Entscheidung der Art „Entweder-Oder“, es geht eher darum, zu fragen,<br />

wie man die Last unserer Vorurteile loswerden und den Mut zur Offenheit<br />

finden kann. Zur Offenheit wofür?<br />

„<strong>Renovabis</strong>“ soll ein Instrument des Dialogs und des „Austausches von<br />

Gaben“ zwischen Ost und West sein. Es geht daher anscheinend vor<br />

allem um die gegenseitige Offenheit zwischen den Christen in beiden<br />

Teilen Europas. Auf den ersten Blick scheint es völlig klar zu sein, welche<br />

der beiden Seiten gemeint ist, wenn man von der Versuchung, zu den<br />

Feindbildern zurückzukehren, und von der Angst vor der Offenheit<br />

spricht. Oder gibt es etwa auch auf seiten des Westens einen zu geringen<br />

Willen zur Offenheit – zur gegenseitigen Offenheit? Können wir von<br />

unserer gegenseitigen Offenheit sprechen, ohne dabei die Frage nach<br />

unserer gemeinsamen Offenheit für die „Zeichen der Zeit“, für die Sprache,<br />

in der Gott mit uns spricht, zu erwähnen?<br />

Doch es soll jeder erst vor seiner eigenen Tür kehren. Und deshalb versuche<br />

ich, zuerst mein eigenes Gewissen zu erforschen und die Angst auf<br />

seiten der Kirchen der postkommunistischen Welt zu diagnostizieren.<br />

Es handelt sich nicht um eine theologische Frage, obwohl das Problem<br />

der Beziehungen zwischen den Kirchen in verschiedenen Teilen Europas<br />

die Theologie betrifft. Es handelt sich primär um ein sozial-psychologisches<br />

Problem. Gestatten Sie deshalb, daß ich dabei auf mein ursprüngliches<br />

Fach zurückgehe.<br />

79


In den Kirchen des postkommunistischen Europas geht ein Gespenst<br />

um – das Gespenst des „Westens“. Würde man diejenigen, die dieses<br />

Gespenst verbreiten, einem Assoziationstest unterziehen, könnte man<br />

ihre Vorstellung vom „Westen“ rekonstruieren. Dieses Bild würde wahrscheinlich<br />

demjenigen ähnlich sein, das Jona über Ninive, das unsere<br />

Urgroßväter in den Dörfern der Österreichisch-Ungarischen Monarchie<br />

über das sündhafte Paris hatten und das sich ein etwas ängstliches Kind<br />

über die komplizierte und unverständliche Welt der Erwachsenen macht.<br />

Der „Westen“ ist aus dieser Sicht eine „Stadt ohne Gott“, secular city,<br />

civitas terrena, ein reiches, gefährliches, dekadentes Babel, etwas, was<br />

wir entschieden zurückweisen.<br />

In dieser „finsteren Schlucht“ der „Kultur des Todes“ leben unsere<br />

Brüder und Schwestern, die westlichen Christen. Wie erscheint aus dieser<br />

schematischen Sicht die westliche Kirche? Diese Kirche ist verdorben,<br />

wie der Westen selbst: es herrscht dort eine Krise des Gehorsams gegenüber<br />

Autoritäten, es fehlt eine „gesunde Lehre“, jeder sagt und tut, was er<br />

will, jeder streitet sich mit jedem. Es ist eine „horizontalistische“, dem<br />

Konsum und dem Materialismus verfallene Kirche. Kann man dort überhaupt<br />

noch einen Glauben finden?<br />

Die „Kirche im Westen“ sehen wir so, wie im Evangelium der gehorsame<br />

ältere Sohn den „verlorenen Sohn“ sah, der den Vater verließ, um<br />

sein Vermögen mit Dirnen durchzubringen. Ein solches Bild etwa steckt<br />

hinter den Phrasen folgender Art: „Ex oriente lux, ex occidente luxus“,<br />

„Der Kommunismus ist gefallen, jetzt ist der Hauptgegner der Liberalismus<br />

aus dem Westen“, der Westen ist eine säkularisierte Konsumgesellschaft,<br />

eine Gesellschaft der „Kultur des Todes“ – usw.usf. Dies kann<br />

man wiederholt hören und lesen. Anstelle einer sachlichen Analyse, einer<br />

differenzierten kritischen Sicht dringen „killing words“ und pauschale<br />

Phrasen hervor.<br />

Es muß hinzugefügt werden, daß diese im Osten gebrauchten Bewertungen<br />

ausnahmslos im Westen entstanden sind. Dort haben sie jedoch –<br />

meiner Ansicht nach – eine andere Funktion. Sie können prinzipiell nicht<br />

wörtlich verstanden werden – ausgenommen von Menschen, die sich<br />

völlig in ihrer persönlichen Verbitterung verschließen –, denn sie sprechen<br />

von einer Welt, die es hier gibt, die den Sprechenden und Zuhörenden<br />

bekannt ist. Solche Äußerungen haben im Westen den Charakter ei-<br />

80


ner Auseinandersetzung, einer der möglichen Deutungen, die versucht,<br />

eine andere Deutung, mit der sie rechnet, zu korrigieren. Diejenigen, die<br />

die verschiedenen Bewertungen und verschiedenen Interpretationen ihrer<br />

eigenen Gesellschaft formulieren, rechnen damit, daß sie alle zusammen<br />

die Realität der westlichen Welt in ihrer gesamten Verwickeltheit vor<br />

Augen haben. Diese Verwickeltheit fordert direkt zum „Konflikt der<br />

Interpretationen“ auf.<br />

Einen völlig anderen Charakter bekommen solche bewertenden Aussagen<br />

über den Westen und die westliche Kirche im Osten ausgesprochen<br />

bei Leuten, die mit der westlichen Realität entweder überhaupt keine<br />

Erfahrung oder nur fragmentarische, traumatisierende Erlebnisse haben,<br />

die mit einem „Kulturschock“ verbunden sind. Sie wenden sich außerdem<br />

an Menschen, die vom Westen zwanghaft isoliert wurden und ihn<br />

meistens nicht kennen oder ihn nicht verstehen. Da haben die Aussagen<br />

über Konsum, Kultur des Todes und ähnliche nicht den Charakter einer<br />

möglichen Interpretation, die eine ähnlich einseitige, nur von einem<br />

anderen Gesichtspunkt ausgehende Interpretation korrigiert. Im Osten<br />

haben solche Losungen den Charakter einer Information über Unbekanntes,<br />

die Angst einjagt und eine Barriere des Mißtrauens und Mißverständnisses<br />

aufbaut. Wenn der westliche Mensch im westlichen Milieu die<br />

Gesellschaft, in der er lebt, als „Kultur des Todes“ bezeichnet, dann<br />

wissen – bis auf einige „Nekrophile“ – alle, daß es höchstwahrscheinlich<br />

um ein provozierendes Bonmot geht, das die Versuchung zum anfänglichen<br />

Optimismus korrigieren soll – falls es noch Menschen geben sollte,<br />

die einem solchen Optimismus erliegen. Sagt man dasselbe im Osten<br />

über den Westen, kann es die Bischöfe der postkommunistischen Länder<br />

zu der Fehlentscheidung verleiten, junge Theologen nicht zum Studium<br />

in den Westen zu schicken.<br />

Warum sprechen manche Christen der postkommunistischen Länder so<br />

gern negativ über den „Westen“ und die „Kirche im Westen“, und warum<br />

hören andere so gern zu? Versuchen wir, diese unbewußten und uneingestandenen<br />

Wurzeln solcher Einstellungen des Ostens gegenüber dem<br />

Westen zu untersuchen. Ich glaube, man würde dabei namentlich auf<br />

folgende Motive treffen:<br />

– man ist seit Jahren gewöhnt, sich gegenüber dem anderen negativ abzugrenzen,<br />

und man ist nicht fähig, ohne Feind zu leben;<br />

81


– man braucht ein „Opferlamm“, auf das man sein Frustrationsgefühl<br />

und seine Aggressivität übertragen kann, wenn der reale Feind und<br />

Verursacher des Leidens „unbestraft“ verschwunden ist;<br />

– man hat es nötig, seine eigene, durch die radikalen äußeren und inneren<br />

Veränderungen verunsicherte Identität zu stärken;<br />

– man möchte die eigenen Reihen schließen, ist durch den Prozeß der<br />

Differenzierung und Polarisierung innerhalb der eigenen Gruppe nervös<br />

geworden;<br />

– man benötigt einen festen Punkt, eine Orientierung in der überaus<br />

komplizierten neuen Umgebung;<br />

– man leidet unter „Agoraphobie“, der Angst vor offenen Räumen, die<br />

häufig eben freigelassenen Häftlingen zu schaffen macht;<br />

– man ist eifersüchtig auf den erfolgreicheren, reicheren und erfahreneren<br />

Bruder und beneidet ihn;<br />

– man leidet unter einem Minderwertigkeitskomplex, einer Angst vor der<br />

durch erzwungene Isolierung entstandenen Benachteiligung;<br />

– man versucht, seine angegriffene Selbstachtung durch Herabsetzen<br />

und Dämonisieren anderer zu steigern;<br />

– man hat den „Kulturschock“ aus der Begegnung mit einem Milieu, in<br />

dem man nicht fähig war, sich mit dem anderen auf einer Partnerbasis<br />

zu verständigen, nicht verkraftet;<br />

– man fühlt sich ungerecht behandelt, verletzt, vom Partner nicht ernst<br />

genug genommen;<br />

– man projiziert den eigenen „Schatten“: in Konfrontierung mit dem<br />

anderen versucht man, mit denjenigen alternativen Formen und Möglichkeiten<br />

– die einem selbst unerfüllt blieben, die vernachlässigt und<br />

unterdrückt wurden – fertig zu werden;<br />

– man fürchtet Probleme, Krisen und Konflikte, die der Niedergang des<br />

Kommunismus mit sich brachte; erklärt man sie sich als „Ansteckung von<br />

außen“, kann man hoffen, daß man den eigenen, im Grunde gesunden Organismus<br />

künftig durch Einhalten einer „Quarantäne“ abschirmen kann.<br />

Zu diesen allgemein psychologischen Zügen kommen spezielle Idiosynkrasien<br />

hinzu: alte nationale Vorurteile (Widerwille gegen die Deutschen),<br />

allgemeine Xenophobie, Ablehnung der Müdegewordenen gegen<br />

alles, was sich bewegt, dynamisch ist, sich ändert und entwickelt usw.<br />

82


Wir dürfen nicht vergessen, daß viele von denen, die heute in den Kirchen<br />

Mittel- und Osteuropas eine wichtige Stimme haben, Leute sind, die<br />

nach jahrzehntelangem Leben unter dem Druck des totalitären Regimes<br />

müde und verbraucht sind. Sie gewöhnten sich an eine bestimmte Überlebensart<br />

in einem ziemlich beschränkten Raum und rechneten praktisch<br />

nicht mehr damit, daß sie einmal unter komplizierten Bedingungen einer<br />

dynamischen Pluralitätsgesellschaft werden leben können, ja sogar<br />

werden leben müssen, daß sie auf anspruchsvolle Anforderungen von<br />

Situationen, mit denen sie keinerlei Erfahrung hatten, werden reagieren<br />

müssen. Das freie Leben war etwas, womit sie längst nicht mehr rechneten,<br />

worauf sie sich nicht vorbereiteten, was Gegenstand ihrer Träume<br />

war. Um so größer ist der Zusammenstoß von Traum und Realität. Dieser<br />

Unterschied weckt Frust und Verbitterung: „So haben wir es uns nicht<br />

vorgestellt!“<br />

Die Menschen versuchen, ihren Gefühlen der Enttäuschung zu entfliehen,<br />

sie suchen einen Schuldigen. Die totalitäre Gesellschaft hatte den<br />

Zauber der Unschuld zu bieten – der Mensch hatte keine Verantwortung<br />

und war nie schuld. Schuld waren „die oben“. Diese Einstellung gegenüber<br />

der Regierung, dem Regime, dem Staat, gegenüber fast jeder Autorität<br />

lebt im Osten weiter. Die Menschen haben meistens nicht gelernt, die<br />

neuen demokratischen Strukturen als ihren eigenen Staat, ihre eigene Regierung,<br />

ihre eigenen Institutionen aufzufassen, sie haben nicht gelernt,<br />

die Verantwortung auf sich zu nehmen. Die Christen unterscheiden sich<br />

in diesem Punkt nicht besonders vom Großteil der Gesellschaft. Die politischen<br />

Erfolge der Rechtsextremisten und der Kommunisten sind damit<br />

zu erklären, daß diese Gruppen eben eine solche Stimmung zu nutzen<br />

wissen: wir sind frustriert, schuld sind „die dort oben“. Die Suche nach<br />

dem Opferlamm führt zu verschiedenen Theorien von allgemeinen Verschwörungen:<br />

die allgegenwärtigen ehemaligen Kommunisten, die Mafia,<br />

die Juden und die Freimaurer, das deutsche Kapital, die nach Macht<br />

trachtende Kirche. Im Falle der „ehemaligen Kommunisten und der<br />

neuen Mafia“ haben diese Theorien von feindlichen Netzen sogar einen<br />

gewissen rationalen Kern. Der „verrottete Westen“ ist ebenfalls einer der<br />

Kandidaten für die Rolle des Schuldigen, der überall dort verantwortlich<br />

ist, wo die komplizierte Realität die vorigen Träume unter dem Federbett<br />

des Totalitarismus nicht erfüllte.<br />

83


Man darf auch nicht vergessen, daß die Menschen im kommunistischen<br />

System jahrzehntelang dem Brainwashing der Propaganda ausgesetzt<br />

waren, deren tausendmal wiederholte Stereotypen im Unterbewußtsein<br />

haften blieben. Ein Teil der Gesellschaft lebte in der Vorstellung, daß die<br />

Kirche nach Macht und Besitz trachte, Feind der Wissenschaft und des<br />

Fortschritts und bereit sei, bei nächster Gelegenheit das Volk auszubeuten,<br />

Ketzer zu verfolgen und Ablässe zu verkaufen. Andere vermochten<br />

sich nicht vom ähnlichen den Westen betreffenden Stereotyp der kommunistischen<br />

Propaganda zu befreien. Der Westen sei „verrottet“, ver dorben,<br />

sittenlos. Die Reinheit der Ideologie muß gegen die zerstörenden Einflüsse<br />

der bürgerlichen Lehren des Westens verteidigt werden. (Gestatten<br />

Sie mir eine kleine subjektive, emotionale Bemerkung. Kann sich überhaupt<br />

jemand vorstellen, wie es auf die Intelligenz in unseren Ländern,<br />

die jahrzehntelang durch die Phrasen der kommunistischen Zensoren und<br />

Politruks terrorisiert wurde, jetzt wirkt, wenn sie die gleichen stupiden<br />

Phrasen aus dem Munde von Kirchenvertretern hört? Ich gehöre zur Generation<br />

von Intellektuellen, die sich in Böhmen, Polen, Ungarn und weiteren<br />

Ländern mindestens zwanzig Jahre lang für das Abtragen der mentalen<br />

Berliner Mauer sowie für die politische und kulturelle Rückkehr<br />

unserer Länder zum Westen einsetzten, zu dem wir mit unserer gesamten<br />

geistigen Tradition gehören und von dem wir gewaltsam abgetrennt wurden.<br />

Kann sich jemand vorstellen, wie uns diese Dämonisierung des Westens<br />

von seiten einiger Kirchenkreise irritiert? Und noch eine persönliche<br />

Bemerkung. Ich schlage Ihnen vor, einen Test zu versuchen, der mich<br />

noch nie enttäuscht hat. Je geringer die fachliche, intellektuelle und persönliche<br />

Kompetenz eines Kirchenvertreters aus Mittel- und Osteuropa<br />

ist, desto öfter spricht er diese pauschalen negativen Urteile an die<br />

Adresse des Westens aus.)<br />

Die Vorstellung von der „Kirche im Westen“ entspricht dann wiederum<br />

dem Bild, das die kommunistische Propaganda den Leuten über die<br />

Emigranten einprägte: „Es sind Versager, die im Wohlstand leben. Sie<br />

entfremdeten sich, sie dienen fremden Interessen, sie streiten dauernd<br />

untereinander.“<br />

Ist es möglich, diese unbewußten und uneingestandenen Wurzeln der<br />

antiwestlichen Einstellungen ans Licht zu bringen und dadurch zur Genesung<br />

der Beziehungen beizutragen?<br />

84


Jeder Komplex hat jedoch seinen rationalen Kern.<br />

Versuchen wir es, darüber nachzudenken, wie konkret diese „Feindbilder“<br />

entstehen.<br />

Gestatten Sie mir, eine kleine Kasuistik aus meiner eigenen Erfahrung<br />

vorzulegen:<br />

Im Jahre 1967 war ich zum ersten Mal im Westen. Es handelte sich um<br />

den Besuch einer katholischen Universität in Holland im Rahmen eines<br />

Studentenaustausches. Ein Jahr zuvor hatte ich konvertiert und freute<br />

mich maßlos, daß ich zum ersten Mal die „freie Welt“ und eine katholische<br />

Universität zu sehen bekam; in der etwa zwanzigköpfigen Gruppe<br />

tschechischer Studenten war ich der einzige Gläubige. Die Kirche in Holland<br />

befand sich gerade mitten in nachkonziliaren Turbulenzen. Das einzige<br />

Buch, das sich mit neuerer katholischer Denkweise befaßte und das<br />

ich damals zur Verfügung hatte – es war aus dem tschechischen Exilverlag<br />

in Rom geschmuggelt worden –, war „Der integrale Humanismus“<br />

von Maritain. Ich konnte es fast auswendig. Als ich voller Begierde die<br />

holländischen Studenten fragte, ob man da andere Bücher von Maritain<br />

bekomme, lachten sie mich aus: solche Blödsinnigkeiten lese da seit dreißig<br />

Jahren kein Mensch mehr! Ich glaube, das war in der Generation ihrer<br />

Großväter! Sie nannten eine Menge Namen von Autoren, die sie<br />

ansprachen – ich kannte keinen. Ich erfuhr, daß am Abend eine Debatte<br />

zum Thema „Gott ist tot und hat soeben sein Mausoleum, die katholische<br />

Kirche, verlassen“ stattfinden sollte. Der Studentenpfarrer war frisch verheiratet.<br />

Ich hörte eine an die Adresse des „rückschrittlichen“ Papstes<br />

Paul VI. gerichtete Kritik. Aber das sagten doch bei uns die Kommunisten,<br />

nämlich, daß die Kirche rückschrittlich sei! Treue und Liebe zum<br />

Papst war für uns einer der Werte, für den unsere Priester sich viele Jahre<br />

im Gefängnis aufopferten!<br />

Ich kehrte völlig verwirrt und voller Überdruß zurück. Mein Urteil<br />

über den Westen und die westliche Kirche stand fest. (Nach einer Woche<br />

fällt es einem viel leichter, sich ein einheitliches, „endgültiges Urteil“<br />

über ein Land zu machen, als wenn man sich dort ein Jahr lang aufhält.)<br />

Ich begegnete gewissen katholischen Kreisen in Prag, die mir sofort eine<br />

Ideologie lieferten, die äußerst treffend meine Empfindungen interpretierte<br />

und meine fragmentarischen Erlebnisse um den fehlenden Kontext<br />

ergänzten: das ganze Konzil und die nachkonziliare Entwicklung seien<br />

85


Dekadenz, Abfall von gesunder Tradition, feiger Kompromiß mit der<br />

gottlosen Welt, ein Werk der im Leibe der Kirche verborgenen Feinde.<br />

Ein Trojanisches Pferd im Hause Gottes! Unsere Hauptaufgabe sei es,<br />

sich mit aller Kraft gegen diese giftigen Einflüsse zu wehren. (Viele meiner<br />

Mitbrüder erlebten etwas Ähnliches ein Vierteljahrhundert später,<br />

nach dem Jahre 1989.)<br />

Ich verbrachte einige Monate in der herrlichen widerspruchslosen Welt<br />

der integralistischen Mythologie. Es war eine wertvolle und ganz nette<br />

Erfahrung. Ich kann es gut begreifen, warum sich ein gewisser Typ von<br />

Menschen in diesem Milieu so wohl fühlt. Im Laufe einiger Monate während<br />

des Prager Frühlings lernte ich eine Reihe von Priestern kennen, die<br />

erst vor kurzem aus dem Gefängnis zurückgekehrt waren, wo man sie am<br />

Anfang der fünfziger Jahre eingesperrt hatte, darunter die Theologen<br />

Zvěrˇina, Mádr und Mandl. Diese Leute stellten die intellektuelle Elite des<br />

tschechischen Katholizismus dar. Überwiegend hatten sie während des<br />

Krieges in Rom studiert; über ihre Treue zum Glauben, zur Kirche und<br />

zum Papst, für die sie mit jahrelangem Leiden zahlen mußten, gab es<br />

keine Zweifel. Diese Leute kehrten aus dem Gefängnis in gewisser Hinsicht<br />

verändert zurück. Sie waren weder verbittert noch gebrochen. Sie<br />

waren gereift. Unter extremen Bedingungen wurden sie sich bewußt,<br />

wovon der Glaube und die Kirche wirklich leben. Sie strahlten eine gewaltige<br />

Einfalt der Weisheit aus. Im Gefängnis hatten sie sich nach einer<br />

Wiedergeburt der Kirche, nach einer Kirche gesehnt, die sich von Äußerlichkeiten<br />

befreien und eine Vertiefung ansteuern würde.<br />

Gut belegt dies eine Begebenheit aus dem Gefängnis, die man mir<br />

erzählte. Ein junger Mann teilte die Zelle mit einem mährischen Weihbischof.<br />

Er konnte sich daran erinnern, wie der Bischof in voller Pracht<br />

durch die Straßen seiner Stadt geschritten war. Jetzt waren beide in Sträflingskleidern<br />

und schleißten Federn. Der junge Mann sagte zum Bischof:<br />

„Ich bringe Ihnen noch ein wenig Federn, Euer Exzellenz.“ Der Bischof<br />

antwortete: „Sag nicht Exzellenz zu mir.“ – „Wie soll ich denn zu Ihnen<br />

sagen, Euer Exzellenz“, fragte der junge Mann. „Sag Bruder zu mir“,<br />

antwortete der Bischof.<br />

Die Leute, die aus dem Gefängnis zurückkehrten, wollten nicht, daß<br />

die Kirche auf dem teuer erkauften Weg von Exzellenzen zu Brüdern<br />

wieder einen Rückschlag erlitte. Diejenigen, die aus den Kerkern zurück-<br />

86


kamen, teilten mir noch zwei weitere Gedanken mit. Früher bewegten sie<br />

sich überwiegend in ihrem katholischen und vor allem priesterlichen<br />

Milieu. Im Gefängnis kamen sie in Kontakt mit vielen andersgesinnten<br />

Leuten, namentlich Demokraten, die sich zu den „Idealen der Humanität“<br />

im Sinne von Masaryk bekannten, mit Protestanten, mit Sozialdemokraten<br />

sowie mit nichtkonformen Kommunisten. Dort kam es zu einem wahren<br />

Dialog und einem wahren „Austausch von Gaben“. Viele Vertreter<br />

des säkularen Humanismus wurden sich bewußt, daß sie im Angesicht<br />

des kommunistischen Totalitarismus und der extremen Situation im Gefängnis<br />

noch eine andere, tiefere Dimension brauchten. Viele von ihnen<br />

konvertierten oder bekamen zumindest Ehrfurcht vor dem Glauben und<br />

vor der Kirche. Andererseits wurden sich die Katholiken bewußt, daß sie<br />

im Himmel womöglich nicht allein sein werden und daß sie auch auf Erden<br />

lernen müssen, mit andersgesinnten Nächsten zu leben und zu kommunizieren,<br />

denn diese stehen ihnen näher, als sie bisher gedacht haben.<br />

Und zweitens: einige der inhaftierten Christen empfanden das Gefängnis<br />

nicht nur als eine Ungerechtigkeit von seiten der bösen Kommunisten.<br />

Sie verstanden ihr Leiden biblisch: Gott reinigt sein Volk, tilgt seine Sünden,<br />

vertieft und lehrt es. Sie verstanden ihr Leiden und nahmen es auf<br />

sich als Buße dafür, daß die Kirche in der Vergangenheit nicht so gewesen<br />

war, wie sie sein sollte. Sie beteten und sehnten sich nach der großen<br />

Erneuerung der Kirche.<br />

Diese Leute waren, als sie das Gefängnis verließen und vom Konzil<br />

erfuhren, nicht verwirrt. Sie begrüßten die Botschaft des Konzils als das,<br />

was ihrer Vision der Kirche entsprach, einer Kirche, die sich ihrer bisherigen<br />

Fehler bewußt wurde, die sich vom Triumphalismus und von Äußerlichkeiten<br />

befreite, die viel offener gegenüber der heutigen Welt, den andersgesinnten<br />

Nächsten sein würde und die das Evangelium als Aufforderung<br />

Gottes zu Freiheit und Brüderlichkeit lesen würde.<br />

Dies war etwas anderes als der adoleszente, ödipale Widerstand der<br />

holländischen Studenten gegen Autorität und Tradition. Hier widerfuhr<br />

mir zum ersten Mal „das reife Christentum“.<br />

Man erzählte mir, daß ein Bischof aus einem gewissen postkommunistischen<br />

Land vor der Bischofssynode zum Thema Europa im auszufüllenden<br />

Fragebogen auf die Frage, was kann die Kirche im Osten den<br />

westlichen Christen bieten, folgenderweise antwortete: „Das Beispiel<br />

87


eines unerschütterlichen Glaubens und echter Treue zum Heiligen Vater.“<br />

Auf die Frage, was kann die Kirche im Westen dem Osten bieten, antwortete<br />

er dann: „Geld.“ Es erscheint mir äußerst riskant zu sein, mit einem<br />

solchen Bild von sich selbst und von dem anderen in den Prozeß des<br />

„Austausches von Gaben“ einzutreten.<br />

Ich glaube, wir sollten vor allem einander gegenseitig helfen, zu christlicher<br />

Reife heranzuwachsen.<br />

Die „Reife des Christen“ darf keine billige Phrase werden. Im Hinblick<br />

auf die Kirche und auf die persönliche Entwicklungsgeschichte des<br />

Glaubens eines jeden einzelnen Christen kann dieser psychologische und<br />

pädagogische Begriff nur „per analogiam“ benutzt werden. Das „Erwachsensein“,<br />

die Reife, ist hier letztendlich eine eschatologische Kategorie.<br />

Trotzdem fordert uns der heilige Paulus auf, den Infantilismus<br />

abzulegen und sich auf den Weg des Reifens zu begeben. Wir können uns<br />

im Groben vorstellen, was es auf der individuellen Ebene, auf dem Weg<br />

des einzelnen, bedeutet. Was bedeutet es aber auf dem Weg der Kirche<br />

durch die Geschichte, auf der Ebene der Communio?<br />

Das Evolutionsmodell kann sichtlich auf die Geschichte der Kirche<br />

nicht unkritisch angewandt werden. Das Reifen der Kirche verläuft nicht<br />

linear. Infantilismus, Pubertätskrisen sowie Altersrigidität kommen im<br />

Laufe der Kirchengeschichte immer wieder in tausend verschiedenen<br />

Formen vor. Reife scheint eine seltene Erscheinung zu sein. Man kann sie<br />

im Umfeld der Heiligen beobachten (ich meine hier nicht nur die Persönlichkeiten<br />

der amtlich kanonisierten Heiligen), besonders in dem Zeitabschnitt,<br />

bevor das, womit sie die Kirche bereichert haben, institutionalisiert<br />

und unifiziert wurde und dadurch häufig seine Originalität und<br />

inspirierende Schaffenskraft verlor.<br />

Ich glaube, daß es für die gegenseitig bereichernde Offenheit und den<br />

„Austausch von Gaben“ am nützlichsten wäre, wenn wir darüber nachdenken<br />

würden, wo wir in der Erfahrung mit unserer eigenen Kirche einem<br />

Schimmer von christlicher Reife begegnet sind und was wir dafür<br />

tun können, daß diese Funken nicht verlöschen.<br />

Ich erwähnte am Anfang, daß man die Überlegungen über die gegenseitige<br />

Offenheit der Christen in verschiedenen Teilen unseres Kontinents<br />

nicht von der Frage danach trennen kann, ob wir gemeinsam für das offen<br />

sind, was uns Gott mittels der „Zeichen der Zeit“ mitteilt.<br />

88


Unsere Zeit mag eher einem Herbst als einem Frühling ähneln. Manche<br />

sprechen von Dekadenz, Nihilismus und Tod. Ich würde lieber die Frage<br />

nach der Reife stellen.<br />

Was geschah mit den Integralisten, die mir vor einem Vierteljahrhundert<br />

ihre fertige Interpretation meiner fragmentarischen Erfahrung mit<br />

dem Westen geboten hatten? Sie bleiben immer die gleichen. Die sie umgebende<br />

Welt sowie das Leben der Kirche bringt ihnen nichts anderes als<br />

nur immer neue Beweise für jüdisch-freimaurerische Verschwörungen.<br />

Was geschah mit den Priestern, die aus dem Gefängnis gekommen<br />

waren und an denen ich zum ersten Mal die Zeichen jener Reife, über die<br />

ich spreche, beobachten konnte? Einige starben, andere wurden körperlich<br />

und seelisch alt. Und wieder andere zogen sich verbittert zurück,<br />

nachdem sie zum Schluß gekommen waren, daß unsere Kirche die<br />

Gaben, mit denen sie sie bereichern wollten, nicht angenommen habe.<br />

Andere erzogen ihre Schüler, aber auch die müssen jetzt den langen Weg<br />

zur eigenen Reife hinter sich bringen: Die Reife kann man nicht als ein<br />

fertiges Gut erben, sondern man kann sie nur als einen Impuls und eine<br />

Inspiration für den eigenen Weg wahrnehmen. Das ist gar nicht wenig.<br />

Darin sehe ich eine Hoffnung.<br />

Was geschah mit den Studenten, denen ich vor einem Vierteljahrhundert<br />

in Holland begegnet war? Unser Versuch, einen Dialog zu führen,<br />

scheiterte damals, weil wir nicht darauf vorbereitet waren. Wie reiften<br />

sie, was können sie – und ihre ganze Generation im Westen – uns heute<br />

als die Früchte ihres Weges anbieten? Die Antwort auf diese Frage würde<br />

ich eher von Ihnen (die hier versammelt sind) erwarten.<br />

Wir leben heute in einer gemeinsamen Welt. Wenn ich sehe, wie tief die<br />

Generation der großen deutschen Philosophen und der englischen Historiker<br />

die Französische Revolution reflektiert hat, wundere ich mich darüber,<br />

daß die geschichtliche Wende um genau zweihundert Jahre später, die nicht<br />

weniger schwerwiegend ist, der oberflächlichen Deutung von Journalisten<br />

überlassen wird. Nur auf diese Weise konnte die naive Vorstellung entstehen,<br />

daß das Jahr 1989 allein den Osten verändern und den Westen nur<br />

insofern berühren werde, als er in seinen Reihen die befreiten armen Verwandten<br />

begrüßen und ihnen für die Übergangszeit etwas materielle Hilfe<br />

sowie für den neuen Anfang ein paar gute Ratschläge leisten wird (etwa so,<br />

wie man es einst bei der Aufnahme von Emigranten zu tun pflegte).<br />

89


Keineswegs – die Folgen des Jahres 1989 verändern die ganze Welt.<br />

Sie treffen Ost wie West tief und werden sich auch in Nord und Süd<br />

niederschlagen. Es geht dabei um tiefgreifende kulturelle, mentale und<br />

geistliche Veränderungen.<br />

Wir müssen es lernen, in einer Welt ohne Grenzen zu leben, die nicht<br />

einfacher, sondern verwickelter ist, in einer „kleinen“, aber dafür multidimensionalen<br />

Welt. Es mag die Nacht kommen – doch in der Nacht sieht<br />

man, daß „die Welt tiefer ist, als je der Tag gedacht hat“ – so sprach Zarathustra.<br />

Nietzsche, einer der Männer, die das Wort Nihilismus nicht als<br />

ein billiges Schlagwort, sondern als eine tief ambivalente Tatsache handhabten,<br />

wies gleichzeitig auf die Hoffnung und Zuversicht hin, daß nämlich<br />

„das Herz der Erde aus Gold sei“. Ich glaube, damit äußerte er nur<br />

mit anderen Worten und von einem anderen Standpunkt gesehen das, was<br />

der heilige Paulus sagt, indem er behauptet, daß das, was am größten sei,<br />

das, was alles ertrage, die Liebe ist.<br />

In diesem Sinne wäre ich in Hinsicht auf den künftigen Dialog zwischen<br />

den Christen des Ostens und des Westens dafür, daß wir die Feindbilder<br />

weglegen und versuchen, den Mut aufzubringen, sich der Gabe der<br />

reifen Liebe zu öffnen.<br />

90


Prof. Dr. Aniela Dylus, Warschau<br />

Polens Kirche: fähig zum Brückenbau?<br />

Einführung<br />

Die Kirche ist zum Brückenbau, theologisch gesprochen – zur Versöhnung:<br />

des Menschen mit Gott, mit sich selbst, mit anderen und mit der<br />

Schöpfung – berufen. Da Versöhnung Gnade Gottes ist, wie dies z.B.<br />

das Thema der zweiten ökumenischen Begegnung in Graz formuliert:<br />

„Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens“, ist auch die<br />

Kirche grundsätzlich zum Brückenbau fähig. Das gilt sowohl für die<br />

Weltkirche als auch für die Ortskirchen. Die im Titel meines Referates<br />

enthaltene Frage, ob die Kirche in Polen zum Brückenbau fähig sei, ist<br />

also keine fundamentaltheologische Frage. Das Problem liegt eher auf<br />

der soziologischen Ebene, betrifft ihre gesellschaftlich-politische Fähigkeit<br />

und Wirksamkeit. Es geht hier um das einheitsstiftende Potential der<br />

Kirche in Polen. Doch zwischen diesen beiden Ebenen besteht ein gewisser<br />

Zusammenhang. In dem Maße, in dem die Kirche fähig und bereit ist,<br />

die gnadenhaft geschenkte Versöhnung und Einheit vorzuleben, hat sie<br />

allen rein innerweltlichen Bemühungen um die Einheit etwas voraus.<br />

Und umgekehrt: insofern die Kirche selbst schuldhaft gespalten ist und<br />

sogar zu Spaltungen in der Gesellschaft beiträgt, hat sie ihre einigende<br />

Funktion innerhalb der Gesellschaft preisgegeben. 1<br />

Wie steht es also in dieser Hinsicht mit Polens Kirche? Die Formulierung<br />

des Themas setzt einige Gräben in der polnischen Gesellschaft bzw.<br />

Nation in ihrem Verhältnis zum Nachbarn und in der Kirche selbst voraus.<br />

Ist diese Voraussetzung zu rechtfertigen? Eine Brücke wird doch<br />

1) Vgl. P. Jaskóla, Jednos´ć Kos´ciola, jednos´ć ludzkos´ci (Einheit der Kirche, Einheit der Menschheit),<br />

in: P. Jaskóla (Red.), Pojednanie narodów i Kos´ciolów (Versöhnung der Völker und<br />

Kirchen), Opole/Oppeln <strong>1997</strong>, S. 56.<br />

91


über Täler gelegt. Sie verbindet zwei verschiedene Ufer. Was ist also in<br />

Polen zu einigen? Welche Zerwürfnisse, welche schmerzlichen Konflikte<br />

trennen die Gesellschaft, teilen die Kirche? Was für Hindernisse stehen<br />

der Einheit im Weg?<br />

1. Ein Mosaik der Trennungslinien in Polen<br />

Ein paar Monate vor Beginn dieses <strong>Kongress</strong>es begründete der Geschäftsführer<br />

von „<strong>Renovabis</strong>“, Eugen Hillengass, dessen Thema folgendermaßen:<br />

„Es gibt im Osten unversöhnte Gesellschaften, entweder<br />

wegen ihrer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit, wegen ethnisch begründeter<br />

Spannungen, auch wegen neuer Gräben zwischen Armen und<br />

Reichen oder wegen neuer Feindbilder, die aus den Schwierigkeiten der<br />

gegenwärtigen Wandlungen erwachsen.“ 2<br />

Eine solche Beschreibung der Situation „im Osten“ charakterisiert in<br />

allgemeinen Umrissen treffend auch die Trennungslinien, wie sie in<br />

meinem Vaterland zu verzeichnen sind. Nur müßte man im Falle Polens<br />

die Akzente etwas anders setzen. Gewiß stehen hier „ethnisch begründete<br />

Spannungen“ nicht im Vordergrund. In der Tat, mit unseren südlichen<br />

und östlichen Nachbarn gibt es manchmal von beiden Seiten verschuldete<br />

Konflikte, ja sogar Ärgernis erregende Ausschreitungen. Das Grenzland<br />

ist eine Region, wo die Kulturen, die Konfessionen und die Völkerschaften<br />

aufeinandertreffen. Die fruchtbare Mischung von Kulturen ist<br />

auch konfliktbeladen. Andererseits haben sich die Beziehungen zwischen<br />

Polen und Deutschen in den letzten Jahren deutlich gebessert. Die „Versöhnungsarbeit“<br />

zeitigt sichtbare Ergebnisse. Weiterhin sind jedoch bei<br />

einem gewissen Teil insbesondere der älteren Generation noch antideutsche<br />

und manchmal – überhaupt – antiwestliche Stereotype lebendig.<br />

Zweifellos ist das Zusammenleben der Polen mit nationalen Minderheiten<br />

noch weit von einem Ideal entfernt. Um so mehr, als zu den von<br />

einer komplizierten historischen Vergangenheit bedingten nationalen<br />

Trennungslinien noch konfessionelle und kulturelle Trennungslinien<br />

kommen.<br />

2) Zitiert nach: Christ in der Gegenwart, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 19.<br />

92


Selbst wenn ich das alles berücksichtige und auch die mit der Versöhnung<br />

zwischen uns und unseren Nachbarn zusammenhängenden Herausforderungen<br />

nicht unterschätze, meine ich jedoch, daß die ethnischen<br />

oder nationalen Konflikte heute in Polen nur eine marginale Bedeutung<br />

haben. Polen ist zwar tief geteilt, aber aus ganz anderen Gründen als jene,<br />

von denen in manchen westlichen Publikationen die Rede ist. Deren Verfasser<br />

übertreiben aus Unwissen oder bösem Willen unsere ethnischen<br />

Trennungslinien. Die Feststellung des für objektive, ausgewogene Urteile<br />

bekannten FAZ-Korrespondenten Michael Ludwig, daß „Polen noch<br />

immer auch von den überkommenen ethnischen und konfessionellen<br />

Gemengelagen geprägt ist“ 3 , muß diesmal als deutlich übertrieben angesehen<br />

werden. Zutiefst ungerecht ist es auch, wenn man westlichen<br />

Lesern suggerieren will, als sei der Pole per Definition ein Nationalist.<br />

Mit Erstaunen las ich kürzlich folgende Meinungsäußerung: „Die klassischen<br />

Spannungen zwischen Rußland und Polen, die man durchaus als<br />

eine mehr oder weniger unterdrückte Feindschaft bezeichnen darf, die<br />

sich teilweise in blankem Haß austobt, belasten nicht nur die politischen,<br />

sondern auch die kirchlich-ökumenischen Beziehungen in Osteuropa.“ 4<br />

Angesichts dieses angeblichen Hasses der Polen auf die Russen wären<br />

zumindest die umfassenden wirtschaftlichen Kontakte, die sich nach der<br />

Wende entwickelt haben, ganz unbegreiflich. Jedes Jahr überschreiten<br />

etwa 8 bis 9 Millionen unserer Nachbarn die östliche Grenze, um bei uns<br />

– nicht immer ganz legale – Geschäfte zu betreiben. Auf den Märkten<br />

ganz Polens treiben Millionen unserer Nachbarn in russischer Sprache<br />

Handel, aber ich habe noch von keinerlei Unruhen oder Haßausbrüchen<br />

gehört. Im Gegenteil, beide Seiten sind zufrieden. Bei dieser Gelegenheit<br />

lernen sie sich besser kennen und lernen es, voreinander Achtung zu haben.<br />

Die oben zitierte Meinung beweist, daß die Einheit nicht nur von<br />

tatsächlichen Konflikten bedroht ist, sondern auch davon, daß man sie in<br />

stereotyper Weise darstellt.<br />

Eine Gelegenheit, über die Verfassung unserer Gesellschaft nachzudenken,<br />

war die letzte Pilgerreise Johannes’ Pauls II. in Polen. Zahlreiche<br />

Gruppen haben in der Vorbereitung auf den Empfang des Papstes eine<br />

3) M. Ludwig, Pilger im eigenen Land, FAZ, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 133.<br />

4) Christ in der Gegenwart, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 19.<br />

93


eigene Art von Gewissenserforschung angestellt. Die Antworten auf die<br />

Frage „In was für ein Polen kommt der Papst?“ fielen nicht erbaulich aus.<br />

In ihnen herrschte das Bewußtsein vor, daß tiefe Trennungslinien durch<br />

unser Vaterland gehen. Und in der Tat kam Johannes Paul II. in ein Polen,<br />

– das politisch tief geteilt,<br />

– ökonomisch aufgespalten ist,<br />

– das gespannte Beziehungen zwischen Staat und Kirche aufweist,<br />

– in dem die Kirche innerlich zerstritten ist,<br />

– zu Landsleuten, die das äußere Chaos in ihre Herzen projiziert haben,<br />

wie das die Journalistin der Regierungszeitung „Rzeczpospolita“ treffend<br />

beschrieben hat. 5<br />

Die politischen Eliten sind tief gespalten in Postkommunisten und die<br />

Opposition. Aber auch die Nachfolgeparteien der „Solidarnos´ć“ sind<br />

zerstritten. Als der gemeinsame Gegner verschwand, schwanden auch die<br />

Bürgertugenden: wechselseitige Achtung, Vertrauen und Toleranz unter<br />

den bis jetzt Verbündeten. Nach Meinung des Papstes liegt hier irgendwie<br />

eine polnische Untugend vor, eine uralte Untugend, nämlich ein übertriebener<br />

Individualismus, der zur Aufspaltung der sozio-politischen<br />

Szene führt. 6 Ob es der neugegründeten Wahlaktion „Solidarnos´ć“ gelingen<br />

wird, die rechte Seite der politischen Szene zu einen, bleibt noch<br />

offen. Diese Polarisierung wird zusätzlich durch den Dissens zwischen<br />

den nationalistisch gefärbten Eliten der Bauernpartei (PSL) und der<br />

christlichen Parteien auf der einen Seite sowie den Liberalen und Laizisten<br />

auf der anderen verschärft. Die undurchsichtigen Machtspiele an der<br />

Spitze, der unerträgliche Parteienstreit, die aufeinanderfolgenden Wahlkampagnen,<br />

die sich auf die Diffamierung des politischen Gegners<br />

konzentrierten und das „Blaue vom Himmel“ versprachen, trugen zu<br />

erheblichem Vertrauensverlust der Bürger in die neuen politischen Eliten<br />

bei. Soziologen sprechen sogar von einer „ungastlichen politischen<br />

Szene“ (Pawel S´piewak), die die Bürger kaum zu politischer Teilnahme<br />

5) Vgl. E. Czaczkowska, Prawdziwa wolnos´ć wymaga ladu (Wahre Freiheit erfordert gute Ordnung),<br />

Rzeczpospolita, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 137.<br />

6) Vgl. „Wo sind wir vom Evangelium abgewichen?“ Eine Gewissenserforschung für die Welt an<br />

der Schwelle zum Jahr 2000, L’Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache,<br />

1993, <strong>Nr</strong>. 45.<br />

94


einlädt und wiederum Anlaß gibt, sich von „denen da oben“ zu distanzieren.<br />

Außerdem ist das Respektdefizit der Polen gegenüber der Regierung<br />

geschichtlich bedingt. Die unbeholfene, oft korrumpierte Verwaltung<br />

fördert den Verfall politischer Autorität.<br />

Nach Meinung von Krzysztof Piesiewicz, einem berühmten Anwalt,<br />

beobachten wir im Laufe der letzten Monate eine evidente Ablehnung der<br />

historischen Chance für gesellschaftlichen Frieden und gemeinsame<br />

Arbeit zugunsten Polens. Diese Ablehnung erfolgt von seiten des ehemaligen<br />

Apparates der Volksrepublik Polen. Man könne ein Fiasko der<br />

sogenannten Konzeption des „dicken Striches“ (unter die Vergangenheit)<br />

feststellen. Die so Beschenkten erwiesen sich als zynisch und trügerisch.<br />

Ähnlich bewertet ein konservativer Politiker, Aleksander Hall, die postkommunistische<br />

Formation. Das „Bündnis der Demokratischen Linken“<br />

behandele den Staat wie einen eigenen Gutshof.<br />

Die gesellschaftliche Stimmung ist auch dadurch vergiftet, daß die<br />

Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit gar nicht<br />

oder nur höchst unvollkommen durchgeführt wurde. Daß es keine wirkliche<br />

Abrechnung mit dem Kommunismus gab, hat nach Ansicht von<br />

Adam Strzembosz, dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, auch<br />

weitere schlimme Folgen. Die Tatsache, daß Historiker oder Publizisten<br />

nicht von der Verantwortung sprechen, zerstöre die Moral der Gesellschaft.<br />

Auf diese Weise werden jene, die zynisch handeln, nicht gewarnt,<br />

daß sie für ihre Verbrechen Strafe erwartet. Krzysztof Piesiewicz meint<br />

sogar, daß es zur „kollektiven Verantwortungslosigkeit“ gekommen ist. 7<br />

Schon jetzt sei bei den Führern des politischen Lebens in Polen ein Nihilismus<br />

im Bereich der Werte sichtbar. Indifferentismus wurde zur inoffiziellen<br />

Staatsideologie erhoben. Natürlich wird dadurch die Entstehung<br />

einer echten, auf Bürgertugenden gegründeten Zivilgesellschaft, wo<br />

sozialer Friede herrscht, behindert. Außerdem sind die Polen aus<br />

geschichtlich bedingten Gründen eher ein Volk oder eine Nation als eine<br />

bürgerliche Gesellschaft.<br />

Tiefe Gräben in Polen sind ferner durch die wirtschaftlichen Wandlun-<br />

7) Alle Aussagen aus einer Diskussion, die im Herbst 1996 im Krakauer Institut „Tertio Millennio“<br />

stattgefunden hat. Vgl. Tygodnik Powszechny, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 1, und Bericht darüber: W. Grycz, Vor<br />

der Heimatreise Johannes’ Pauls II.: In was für ein Polen kommt der Papst?, Ost-West Informationsdienst<br />

des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 193, S.26–40.<br />

95


gen bewirkt. Die Schocktherapie, die zurecht als schnellster Weg der<br />

Wirtschaftsreformen gewählt wurde, führte zwar zu beachtlichen Erfolgen,<br />

jedoch bedeutete sie gleichzeitig für die Gesellschaft ein tiefes und<br />

breites „Tal der Tränen“ (Ralf Dahrendorf). Ohne Vorbereitung wurde die<br />

Bevölkerung äußersten Belastungen, ganz unbekannten Herausforderungen<br />

und völlig neuen Spielregeln ausgesetzt. Als Folge davon scheuen<br />

die einen vor rücksichtslosem Konkurrenzkampf nicht zurück, andere<br />

dagegen verfallen – angesichts weitverbreiteter Arbeitslosigkeit, Armut<br />

und Kriminalität – in Unzufriedenheit, Unsicherheit und Lebensangst.<br />

Eigentum wurde in den Händen evident unmoralischer Menschen angehäuft.<br />

Durch die sogenannte „Nomenklatura-Privatisierung“ ist ein Zustand<br />

gewaltiger Chancenungleichheit entstanden. Ein Großteil der ehemaligen<br />

Führungsschicht in Politik und Wirtschaft hat es verstanden, aus<br />

der Privatisierung Vorteile zu ziehen und sich zu bereichern. Große Bevölkerungsgruppen<br />

sind mit dem wirtschaftlichen Umbruch im Lebensstandard<br />

deutlich abgesunken, nicht wenige in kaum erträgliche Armut.<br />

Ohne Zweifel kann man heute eine starke Polarisierung der Gesellschaft<br />

feststellen. Die Kluft zwischen dem Lebensstandard der Armen und der<br />

Reichen wird immer größer. Die Menschen, die aus finanziellen Gründen<br />

an dem neuen Warenangebot nicht teilnehmen können, sind frustriert und<br />

blicken neidisch auf die Reicheren. Die wirtschaftliche Entwicklung des<br />

freien Marktes setzt den Kauf immer neuer, kurzlebiger Waren voraus. Es<br />

geht um den sogenannten Prestigekonsum, der ständig neue Bedürfnisse<br />

weckt. Die Menschen sind den attraktiven Angeboten gegenüber zunehmend<br />

ratlos.<br />

In einer solchen Gesellschaft, wie die polnische, könnte die Kirche den<br />

sozialen Frieden entscheidend fördern. Allerdings muß sie vom Staat als<br />

Verbündete anerkannt werden. Mit der Ablehnung des Konkordats durch<br />

den Sejm (genauer gesagt: durch die Verschiebung seiner Ratifizierung<br />

ad Calendas Graecas) haben jedoch die laizistische Linke und die Altkommunisten<br />

der Kirche den offenen Krieg erklärt. Schon vorher waren<br />

kirchenfeindliche Stimmen zu hören, die von einer Bedrohung durch den<br />

angeblich angestrebten Konfessionsstaat sprechen. Viele politisierende<br />

Intellektuelle und Ideologen haben sich, statt Probleme der Reformen<br />

politisch zu lösen, in einen Kirchenkampf verrannt. In der öffentlichen<br />

Debatte in Polen wird ein verzerrtes Bild der Kirche entworfen. Sie wird<br />

96


nicht als Hüterin der moralischen Kraft und der geistigen Substanz des<br />

Volkes dargestellt, sondern als Macht und Druck ausübende Institution,<br />

der vor allem an der Wahrung ihrer Interessen und Privilegien gelegen<br />

sei. Ideologische Kämpfe mit der Kirche stehen deutlich dem Brückenbau<br />

im Wege, behindern ihn und müssen letzten Endes als Krieg gegen<br />

die eigene Gesellschaft betrachtet werden. 8<br />

Um vom „Brückenbau“ zu sprechen, mußte ich mich zuerst auf die<br />

Darstellung dessen konzentrieren, was unsere Gesellschaft trennt. Dagegen<br />

ließ ich die positiven Erscheinungen, unsere Erfolge und die Hoffnung<br />

weckenden Zeichen von Güte und zwischenmenschlicher Solidarität<br />

unberücksichtigt. So entstand ein etwas verzerrtes, einseitiges Bild.<br />

Doch die Wahrheit über unser Volk ist bedeutend komplizierter. In ihm<br />

steckt auch ein gewaltiges Potential an Gutem. Die Polen sind dafür<br />

bekannt, daß sie in ihrem Handeln schwer voraussehbar sind: fähig zu<br />

Heldentum und großer Opferbereitschaft, seien sie zugleich im Alltag<br />

zerstritten, durchschnittlich und kleinlich. Zumindest die letzte Papstreise<br />

enthüllte ein weiteres Mal ein anderes Bild Polens, eines Landes,<br />

das sich um die Eucharistie vereint, betet und auf die Lehre des Papstes<br />

hört, wie es solidarisch Gutes tun soll. Ähnlich hat die Reaktion auf die<br />

Hochwasserkatastrophe im Juli in unserem Land gezeigt, daß angesichts<br />

menschlichen Unglücks alle Zänkereien und Spaltungen tatsächlich an<br />

Bedeutung verlieren. Millionen Menschen kamen sofort opferwillig den<br />

Hochwassergeschädigten zu Hilfe. Andererseits legte jedoch die Überschwemmung<br />

auch gewaltige organisatorische Defizite und Schwächen<br />

im Bereich der Solidaritätsstrukturen bloß.<br />

Trotzdem ersieht man aus der obigen kurzen Charakteristik, die nur<br />

ausgewählte schwierige Fragen betrifft, wie tief und viele Ebenen umfassend<br />

die heute in Polen auftretenden Trennungslinien sind. Ihre Genese<br />

führt sich sowohl auf strukturelle wie auch mentale Hindernisse zurück.<br />

Johannes Paul II. benutzte eine andere treffende Metapher. Er sagte, daß<br />

man nach der Zerstörung der äußeren, sichtbaren Mauer die Mauer<br />

niederreißen müsse, „die durch die menschlichen Herzen verläuft“ und<br />

die „errichtet ist aus Angst und Aggression, aus mangelndem Verständnis<br />

8) Vgl. H. Juros, A. Dylus, Einige Gründe für die Stagnation des gesellschaftlich-politischen<br />

Umbaus und der wirtschaftlichen Reformen in Polen, in: H. Timmermann (Red.), Die Kontinentwerdung<br />

Europas, Festschrift für Helmut Wagner zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 299.<br />

97


für Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe, anderer religiöser Überzeugungen,<br />

aus politischem und wirtschaftlichem Egoismus sowie aus<br />

geschwächter Sensibilität für den Wert des menschlichen Lebens und die<br />

Würde jedes Menschen.“ 9<br />

Wird die Kirche in Polen diesen Herausforderungen gerecht werden<br />

können? Ist sie fähig, diese Mauer niederzureißen und Brücken zu bauen,<br />

oder trägt sie selber zur Entstehung weiterer Trennungen bei? Ist sie<br />

dialogfähig oder dialogverschlossen? Wie ist ihre Verfassung?<br />

2. Das einigende Potential der Kirche Polens<br />

Die Frage nach der Verfassung der Kirche in Polen ist ebenso schwierig<br />

wie die Frage nach der Verfassung der polnischen Gesellschaft. Das Spezifische<br />

dieser „Volkskirche“ wird durch allen Glanz und Schatten des sie<br />

bildenden Volkes mitbestimmt. Einerseits ist das eine durch den Glauben<br />

ihrer Mitglieder starke Kirche, bereit zum Dienen, eine Kirche, die Versöhnung<br />

bringt und die Menschen um gemeinsame Ziele eint. Sie ist eine<br />

Kirche mit starken Organisationsstrukturen, die sich in Zeiten der<br />

Prüfung und in bedrohlichen Situationen bewährt. Andererseits hat sich<br />

diese Kirche noch nicht restlos auf die radikal veränderten Bedingungen<br />

eingestellt, unter denen sie nach 1989 wirken muß. So wie die ganze<br />

Gesellschaft hat auch sie Schwierigkeiten, ihren eigentlichen Standort in<br />

der III. Republik zu finden und ihre Aufgaben neu zu definieren.<br />

Im Verlauf dieses schwierigen Prozesses traten in ihr selbst neue Risse<br />

auf. Im vergangenen Jahr initiierte die Redaktion der katholischen<br />

Monatszeitschrift „Wie˛z´“ eine Gewissenserforschung über „Fehler und<br />

Versäumnisse der Kirche, Fehler und Versäumnisse von uns selbst“. Aus<br />

dieser Reflexion polnischer Katholiken ergibt sich das Bild einer geteilten<br />

und innerlich zerstrittenen Kirche. Polens Katholiken haben in den<br />

letzten Jahren eine weitgehende Differenzierung erfahren. Natürlich ist<br />

das wieder nur eine Seite der Medaille. Schließlich sind Gegenstand jeder<br />

9) Johannes Paul II., Predigt zum tausendsten Todestag des heiligen Wojciech/Adalbert, Gniezno/<br />

Gnesen, 3.6. <strong>1997</strong>, in: Jan Pawel II. w Polsce. 31 maja – 10 czerwca. Przemówienia, homilie (Johannes<br />

Paul II. in Polen. 31. Mai – 10. Juni. Ansprachen, Predigten), Krakau <strong>1997</strong>,<br />

S. 78. Alle weiteren Zitate des Papstes stammen aus diesem Sammelband.<br />

98


Gewissenserforschung hauptsächlich Sünden und Fehler, nicht aber<br />

Erfolge. Trotzdem muß man mit dem Generalsekretär der Polnischen<br />

Bischofskonferenz, Tadeusz Pieronek, übereinstimmen, daß das „Hauptproblem<br />

der Kirche in Polen die Kirche selber ist“.<br />

In welchem Sinne ist die Kirche in Polen ein Problem für sie selbst?<br />

Welche Haltungen ihrer Gläubigen schwächen das ihr eignende gemeinschaftsbildende<br />

Potential und erschweren es, die Aufgabe des Brückenbaus<br />

wahrzunehmen? Welche neuen Mauern sind in ihrem Bereich entstanden?<br />

In der ersten Demokratisierungsphase tauchten – oft aus Verlegenheit<br />

– manchmal sogar antiquierte Modelle des Verhältnisses zwischen Kirche<br />

und Gesellschaft bzw. Staat auf. Vertreter der Kirchenleitung haben<br />

sich oft traditionalistisch verhalten, fühlten sich als einzige gesellschaftliche<br />

Autorität der Nation und haben dabei den Pluralismus, auch innerhalb<br />

der katholischen Kirche, übersehen. Ein Aufruf, „die Reihen zu schließen“,<br />

kann heute nicht die richtige Strategie sein.<br />

Bei den Auseinandersetzungen in der Umbruchszeit verhielt sich die<br />

Kirche nicht immer geschickt und trat gegenüber Andersdenkenden teilweise<br />

aggressiv auf. Das ist zwar psychologisch verständlich, wurde sie<br />

doch oft selbst heftig und ungerecht angegriffen. Schlimm jedoch, wenn<br />

darauf in derselben Art und Weise reagiert wurde. Im polnischen Katholizismus<br />

gibt es leider Strömungen und Gruppierungen, die überall<br />

Feinde wittern, die angeblich die Kirche vernichten wollen. Es sind<br />

Stimmen zu hören, die von einer Gefährdung christlicher und nationaler<br />

Werte sprechen. Extreme Elemente stellen die Situation der Kirche als<br />

die einer belagerten Festung dar. Die Strategie dieser Gruppierungen ist<br />

daher apologetischer Natur. Für einige christliche Kreise wird die<br />

vermeintlich säkulare Welt mit ihrer scheinbar sinkenden Religiosität zu<br />

einem Gegenüber, das nicht anerkannt, sondern bekämpft und zurückerobert<br />

werden muß. 10<br />

10) Ein extremes, ja sogar etwas komisches Beispiel für eine solche Haltung ist es, daß auf dem XII.<br />

Internationalen Festival Katholischer Filme „Niepokalanów ‘97“ dem Film „Evolution, Wirklichkeit<br />

oder Mutmaßung?“ der I. Preis zuerkannt wurde. Dieser Film, der von manchen katholischen<br />

Gruppen, u.a. von „Radio Maryja“, umfassend propagiert wurde, enthält eine… Kritik der<br />

Evolutionstheorie. Man muß jedoch zugeben, daß die Entscheidung der Jury auf die sofortige<br />

kritische Reaktion anderer polnischer katholischer Gruppen und Zentren stieß. Dazu äußerte sich<br />

u.a. Erzbischof Józef Z · yciński.<br />

99


Der schon zitierte Bischof Tadeusz Pieronek bezeichnet eine solche<br />

radikalisierte Haltung, bei der man sich dem Dialog mit kritisch eingestellten<br />

Menschen verschließt, als „falschen Radikalismus“, der mit<br />

dem Evangelium nichts zu tun hat. Nach seiner Meinung bilden sich<br />

gewisse geschlossene Gruppen in Polens Kirche. Sie sind nicht bereit<br />

zum Dialog, sie verharren auf ihrem Standpunkt. Manche Geistliche wie<br />

auch einige katholische Laien wollen keine anderen anhören, nehmen<br />

keine Argumente an. Sie rücken Andersdenkende an den Rand und werfen<br />

ihnen allzuschnell Kirchenuntreue vor. In großem Maße ist das eine<br />

Folge der politischen Lage, die sich auf die innerkirchlichen Beziehungen<br />

übertragen hat. 11<br />

Es schien öfter, als wolle die Kirche direkt auf die Politik Einfluß<br />

nehmen. Zu diesem Eindruck trugen u.a. Vertreter national-christlicher<br />

Parteien bei, die die kirchliche Autorität für ihre politischen Interessen zu<br />

nutzen suchten. Noch vor kurzem stand die Kirche in Polen verzweifelt<br />

vor einem akuten Dilemma: politische Einheit der Katholiken oder<br />

Einheit der Katholiken in der Politik? Alle Versuche, in Richtung der<br />

ersten Alternative zu handeln, erwiesen sich, obwohl sie ab und zu kurzfristige<br />

Erfolge brachten, letzten Endes als schädlich. Sie provozierten<br />

die kirchenfeindlich gesinnten Kreise dazu, von einer Bedrohung durch<br />

den angeblich angestrebten Konfessionsstaat zu sprechen, und stärkten<br />

den Verdacht, die Kirche wolle sich in die Politik einmischen. Sie wurde<br />

dann nicht als Hüterin der moralischen Kraft, der geistigen Substanz und<br />

Einheit des Volkes dargestellt, sondern als Macht und Druck ausübende<br />

Institution.<br />

Doch nach den ersten Fehlentscheidungen ist die Kirche heute politisch<br />

klüger geworden. Großenteils verzichtete sie darauf, manche sog. extensive<br />

Stellvertreterfunktionen wahrzunehmen, wie sie in der Zeit des<br />

Kommunismus unerläßlich waren (z.B. die des Opponenten, des Repräsentanten,<br />

des Mittlers, des Protektors der sich selbstorganisierenden<br />

zivilen Gesellschaft), und sie übernahm andere, z.B. karitative Funktio-<br />

11) Vgl. T. Pieronek, Eine Aussage im Rahmen der Umfrage: „Ble˛dy i zaniedbania Kos´ciola, ble˛dy i<br />

zaniedbania nas samych“ (Fehler und Versäumnissse der Kirche, Fehler und Versäumnisse von<br />

uns selbst), Wie˛z´, 1996, <strong>Nr</strong>. 3, S. 144–147; Bericht darüber: W. Grycz, Eine Gewissenserforschung<br />

polnischer Katholiken: „Was haben wir nach 1989 falsch gemacht?“, Ost-West Informationsdienst<br />

des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen, 1996, <strong>Nr</strong>. 190, S. 58–<br />

60.<br />

100


nen. 12 Sie scheint auch verstanden zu haben, daß die Zeit „nach der<br />

Wende“ – die Zeit ihrer Politisierung – vorbei ist. Den Amtsträgern wurde<br />

inzwischen klar, daß die Autorität der Kirche durch die Verwicklung des<br />

Klerus in die Tagespolitik und in den Wahlkampf leidet und daß sie sich<br />

dadurch von ihrer eigentlichen einheitsstiftenden Aufgabe entfernt.<br />

Langsam haben sich die Dokumente des Konzils, die entschiedenen<br />

Aussagen des Papstes und der Bischöfe über die suprapolitische und<br />

unparteiische Aufgabe der Kirche auch in breiten Schichten der Katholiken<br />

durchgesetzt. Sie scheint in dieser Hinsicht die „Kinderkrankheiten“<br />

hinter sich zu haben. Die politische Realität acht Jahre nach der Wende<br />

bedeutet also für die Kirche in Polen ein definitives Ende ihres praktischen<br />

Denkens in Kategorien der politischen Einheit der Katholiken. Die<br />

polnischen Katholiken sollen in allen gesellschaftlichen Bereichen und<br />

politischen Gruppierungen (mit Ausnahme der extremen Positionen von<br />

Altkommunisten und Nationalisten) mitgestaltend tätig werden. 13 Aus<br />

der Freiheit des christlichen Glaubens erwächst ja doch ein unüberschätzbares<br />

Einigungspotential.<br />

Die Kirche in Polen ist heute im allgemeinen überzeugt, daß die Bereitschaft<br />

zum Dialog das Gebot der Stunde ist. Sie ist sich bewußt, daß sie<br />

die Erkenntnisse der Neuzeit anerkennen muß und sich nicht gegen das<br />

Gedankengut der Aufklärung mit deren Ideen von Autonomie und Emanzipation<br />

sperren darf. Sie kann sich nicht davon lossagen, für die moderne<br />

Entwicklung in Richtung auf eine freiheitliche und pluralistische Gesellschaft<br />

mitverantwortlich zu sein. Sie sollte deren Schrittmacher sein, statt<br />

an Gegenreformation zu denken. 14 Daß sich die Bischöfe völlig auf die<br />

Mündigkeit und Gewissensfreiheit der Gläubigen verlassen haben, be-<br />

12) Vgl. H. B. Lee, Rola i pozycja Kos´ciola rzymskokatolickiego w z · yciu spoleczno-politycznym<br />

Polski lat osiemdziesia˛tych (Die Rolle und Position der römisch-katholischen Kirche im gesellschaftlich-politischen<br />

Leben Polens der achtziger Jahre), Warschau, <strong>1997</strong>, Typoskript; P. Mazurkiewicz,<br />

Kos´ciól w spoleczeństwie otwartym. Spór o obecnos´ć Kos´ciola w spoleczeństwie<br />

polskim w okresie transformacji ustrojowej (Die Kirche in der offenen Gesellschaft. Der Streit<br />

um die Präsenz der Kirche in der polnischen Gesellschaft in der Periode der Systemtransformation),<br />

Warschau, 1996, Typoskript.<br />

13) Vgl. H. Juros, Die politische Einheit der Katholiken oder die Einheit der Katholiken in der Politik<br />

– ein polnisches Dilemma?, Hirschberg <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 2, S. 104–119.<br />

14) Vgl. H. Juros, Ökumenische Ethik der Solidarität. Eine Vision des Handelns für Europa, in: Das<br />

Christentum – Gestaltungsprinzip Europäischer Zukunft? Zum Ende der Abendländischen<br />

Geschichte, 6. Leutherheider Forum,, Krefeld-Aachen 1994, S. 54–61.<br />

101


weist die von ihnen verabschiedete Erklärung „Über die Notwendigkeit<br />

von Dialog und Toleranz unter den Bedingungen des Aufbaus der<br />

Demokratie“ (September 1995).<br />

Vor allem die Laien haben die Aufgabe, bei den Bürgern den Konsens<br />

über das Unaufgebbare zu stärken, das eine tragende Säule der Gesellschaft<br />

und des demokratischen Staates ist. Die Vertreter des Sozialkatholizismus<br />

wollen nicht nur eine kritische Funktion ausüben, sondern mit<br />

politischen Kreisen zusammenarbeiten, insbesondere auf der lokalen<br />

Ebene, auch außerhalb der Regierungsstrukturen, und auf diese Weise<br />

konstruktive Lösungen vorschlagen. Sie politisieren nicht, sondern<br />

„machen Politik möglich“, indem sie politische Ereignisse würdigen, zu<br />

aktuellen politischen Debatten Stellung nehmen und eigene alternative<br />

Projekte vorschlagen. Doch diese konsensfähige Kraft ist im polnischen<br />

Sozialkatholizismus in ihrer Fülle noch nicht erkannt. 15<br />

Die Charakteristik des einigenden Potentials der Kirche Polens wurde<br />

in großem Maße der Beschreibung gewidmet, wie nach 1989 Wege zu<br />

einem angemessenem Platz der Kirche im öffentlichen Bereich gesucht<br />

wurden, insbesondere in bezug auf die Politik. Es scheint, daß gute<br />

Gründe eben für eine solche Akzentsetzung sprechen. Die Wahrung der<br />

richtigen Verhältnisse zwischen Kirche und Politik ist etwas ungewöhnlich<br />

Schwieriges und Delikates. Wenn die Kirche sich hier benimmt wie<br />

der „Elefant im Porzellanladen“ 16 , verliert sie Autorität und Glaubwürdigkeit<br />

und dadurch die Fähigkeit, über die Trennungslinien hinweg<br />

„Brücken zu bauen“. Sie hört auf, eine einigende Kraft und ein Bezugspunkt<br />

für die Gesellschaft zu sein. Ungeschicktes politisches Verhalten<br />

der Kirche wird auch zum Hauptgrund für ihre innere Zerstrittenheit.<br />

Dann wird sie anderen wenig Frieden und Einheit offerieren können. Wie<br />

aus meiner Analyse hervorgeht, versuchte die Kirche in Polen mühsam,<br />

nach der Methode der „Versuche und Fehler“ ihren Platz in der neuen<br />

15) Vgl. H. Juros, A. Dylus, Die Rolle der katholischen Verbände und Bewegungen im polnischen<br />

Transformationsprozeß, in: M. Spieker (Hrsg.), Nach der Wende: Kirche und Gesellschaft in<br />

Polen und in Ostdeutschland. Sozialethische Probleme der Transformationsprozesse, Paderborn-<br />

München-Wien-Zürich 1995, S. 148–153.<br />

16) In den ersten Jahren nach der Wende hat sie sich auch tatsächlich so verhalten. Vgl. Z. Nosowski,<br />

Die polnische Kirche auf der „Farm der Tiere“, in: E. Kobylińska, A. Lawaty (Hrsg.), Religion<br />

und Kirche in der modernen Gesellschaft. Polnische und deutsche Erfahrungen, Wiesbaden 1994,<br />

S. 187–194.<br />

102


sozio-politischen Wirklichkeit zu finden. Ich denke, sie hat trotz vieler<br />

begangener Fehler und erlittener Niederlagen dennoch genug innere<br />

Kraft bewahrt, um einer zerstrittenen Welt ihren göttlichen Frieden anbieten<br />

zu können.<br />

Wie soll sie diese ihre grundsätzliche Aufgabe verwirklichen? Was für<br />

eine Kirche wird die Menschen von heute durch ein einleuchtendes Zeugnis<br />

der Versöhnung und Einheit ansprechen?<br />

3. Der mühsame Brückenbau<br />

Wegen der tiefen, viele Ebenen umfassenden Trennungslinien im Polen<br />

von heute, die die Kirche selbst nicht ausgespart haben, wird deren<br />

Überwindung ein schwieriger, langfristiger Prozeß sein. In einem kurzen<br />

Referat lassen sich nicht alle Initiativen oder Strategien von Handlungen<br />

zusammenfassend besprechen, die auf diesem Gebiet von der „Amtskirche“<br />

wie auch von einzelnen Diözesen, Pfarreien, katholischen Laienorganisationen<br />

oder religiösen Gruppen unternommen wurden. Eine<br />

besondere Art von Programm für den Bau der Einheit war für die Kirche<br />

in Polen die schon erwähnte letzte Pilgerreise des Papstes. Gerade so<br />

wurde sie von zahlreichen Kommentatoren bewertet. Bischof Tadeusz<br />

Pieronek stellte (auf der Konferenz nach deren Ende) ausdrücklich fest:<br />

„Der Hl. Vater kam, um zu einen und aufzurichten, was angesichts der<br />

frischen Trennungslinien nicht nur in Polen besondere Bedeutung hat.“<br />

Realistisch merkte er weiter an: „Es ist jedoch kaum zu erwarten, daß es<br />

zur Versöhnung im Laufe weniger Tage kommt.“ Auch drückte er die<br />

Hoffnung aus, daß nach dem Papstbesuch trotz der politischen Differenzierung<br />

in Polens Kirche zu manchen die Erkenntnis dringt, daß man in<br />

jedem den Menschen sehen muß. 17 In einer anderen Äußerung bemerkte<br />

er, daß Johannes Paul II. die Politiker enttäuscht, daß er keinen unmittelbar<br />

unterstützt habe. „Er erwies sich als wahrer Brückenbauer (Pontifex).“<br />

Das Bewußtsein der Unmenge uns erwartender Aufgaben drückte<br />

er in der rhetorischen Frage aus: „Wieviele dieser Brücken muß man in<br />

17) T. Pieronek, Äußerung auf der Konferenz am 8.6.<strong>1997</strong>. Zitiert nach: Rzeczpospolita, <strong>1997</strong>,<br />

<strong>Nr</strong>. 132.<br />

103


Polen errichten, damit wir eins werden, indem wir uns mit dem Wesentlichen<br />

zu verbinden imstande sind und Vielfalt in zweitrangigen Dingen<br />

zulassen?“ 18 Kennzeichnend ist auch der (in den Worten eines Kirchenliedes<br />

ausgedrückte) Aufruf, der im Kommuniqué der 289. Vollversammlung<br />

der Polnischen Bischofskonferenz vom 11. Juni <strong>1997</strong> enthalten<br />

ist: „Mögen aller Zorn und Streit aufhören, und zwischen uns möge<br />

Christus sein.“<br />

Wegen der Bedeutung dieser Pilgerreise werde ich mich jetzt vor allem<br />

auf ihre „einigenden Motive“ konzentrieren. Um so mehr, als Johannes<br />

Paul II. mit seiner Lehre den Kern der polnischen Probleme traf. Er berührte<br />

alle neuralgischen, schmerzhaften Punkte, die einer Regelung harren.<br />

Die ganze Reise war das nach 1989 erste Gemeinschaftserlebnis der<br />

Freude und des wechselseitigen Wohlwollens, das Menschen aller Stände<br />

und Generationen im Namen positiver Werte verband, nicht aber gegen<br />

etwas oder gegen irgendwen. Die Kirche in Polen erblickte erstaunt ihre<br />

eigene Stärke und Jugend.<br />

Wie bei jeder Reise, so vermittelte auch diesmal der Papst den Gläubigen<br />

das Gefühl der katholischen Einheit in der ganzen Welt. Er half der<br />

manchmal sehr provinziellen Kirche in Polen, sich in der Dimension der<br />

ihr eignenden Universalität zu sehen. Aussagekräftig in dieser Hinsicht<br />

waren selbst kleine Details, z.B. der in einer kleinen Stadt – Ludz´mierz –<br />

in Latein gebetete Rosenkranz. Hunderttausende versammelter Pilger,<br />

hauptsächlich Bauern, sahen, daß auf ihrer Heimaterde die Weltkirche<br />

präsent ist. Gelegenheit, die Universalität der Kirche zu erfahren, war<br />

auch der dem Papstbesuch vorangehende Eucharistische Weltkongreß in<br />

Wroclaw/Breslau.<br />

Eine dort verpaßte Chance, die zwischen den Katholiken selbst bestehenden<br />

Trennungen zu überwinden, bemerkte die deutsche Journalistin<br />

Annette Binninger. Die Einladung zu diesem großen Ereignis<br />

– zur Statio Orbis – der Weltkirche habe nur geringe Resonanz in der<br />

deutschen Öffentlichkeit gefunden. Nach dem Bericht der Journalistin<br />

scheint „Polen… da zu weit entfernt zu sein… durch die starke, eigene<br />

katholische Tradition und Verwurzelung Polens, die von manchem in<br />

18) T. Pieronek, Äußerung für den „Tygodnik Powszechny“: Polska po pielgrzymce (Polen nach der<br />

Pilgerreise), Tygodnik Powszechny, Krakau, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />

104


klischeeverliebter Borniertheit und selbstbestätigender Vorurteilsverklemmung<br />

eilfertig als überkommene Volksfrömmigkeit abgetan<br />

wird“ 19 . Die Meinung der Verfasserin zwingt zur Reflexion. Es ist<br />

schade um diese ungenutzte Chance, in nichtspektakulärer Weise Brükken<br />

zu bauen, fern vom „Versöhnungskitsch“ der professionellen Pseudoökumenisten,<br />

nämlich gestützt auf die tiefe Gemeinschaft mit anderen,<br />

an die Eucharistie glaubenden und sie als Quelle der Freiheit erfahrenden<br />

Christen.<br />

Die große Einigung der Kirche, wie sie von Johannes Paul II. unternommen<br />

wurde, kommt hauptsächlich in der ökumenischen Bewegung<br />

zum Ausdruck. In Wroclaw/Breslau fielen wichtige Worte zur Frage der<br />

Einheit der abendländischen Christenheit, der sich dieser Papst ganz<br />

besonders verschrieben hat: „Vom Weg der Ökumene gibt es keine<br />

Umkehr!“ Hier genügt nicht die bloße Toleranz noch die wechselseitige<br />

Akzeptierung. Christus „erwartet von uns ein deutliches Zeichen der Einheit,<br />

erwartet das gemeinsame Zeugnis“. Dahin führt der schwere Weg<br />

der Versöhnung. Dessen Voraussetzung aber ist die Vergebung, die wiederum<br />

Wandlung und Umkehr erfordert (Wroclaw, 31.5., S.18–20). Die<br />

ganze Papstreise war von zahlreichen ökumenischen Akzenten begleitet:<br />

Begegnungen mit konfessionellen und nationalen Minderheiten, Gebete<br />

und Grüße in verschiedenen Sprachen, die Bestimmung der St.Vinzenz-<br />

Kirche zur byzantinisch-ukrainischen Kathedrale u.a. Nach Tadeusz Pieronek<br />

sei das gemeinsame Gebet mit dem Oberhaupt der griechisch-katholischen<br />

Kirche Polens, Erzbischof Martyniak, vor einer Ikone und das<br />

Treffen mit den Vertretern der ukrainischen Minderheit (Krakau<br />

am 9.6.) eine Geste gewesen, die irgendwann zu den Worten führen<br />

müsse, die zwischen Ukrainern und Polen notwendig seien: „Wir gewähren<br />

Vergebung und bitten um Vergebung.“<br />

Die Eucharistie ist nicht nur in ökumenischer Dimension ein Sakrament<br />

der Einheit. Johannes Paul II. erklärte dieses Sakrament in seiner<br />

Bedeutung für das Leben jedes Christen in dessen Beziehung zum Nächsten<br />

und für die Gesellschaft – was sehr wichtig für den Aufbau der<br />

allseits vermißten Bürgergesellschaft in Polen war. Leitidee der Bürgergesellschaft<br />

muß dabei eine „Ordnung der Freiheit“ sein. Die Tradition<br />

19) A. Binninger, Eucharistie mitten im Leben, Deutsche Tagespost, 14.6.<strong>1997</strong>.<br />

105


des sich aus der Französischen Revolution ableitenden Liberalismus fand<br />

jedoch beim Papst keine Akzeptanz, er knüpfte vielmehr an die Traditionen<br />

der christlichen Aufklärung an, wo die Veranwortung eine natürliche<br />

Konsequenz der Freiheit ist. Schließlich „mißt sich wahre Freiheit am<br />

Grad der Bereitschaft, zu dienen und sich selber hinzuschenken. Nur eine<br />

so begriffene Freiheit ist wahrhaft schöpferisch, baut unser Menschtum<br />

auf, errichtet zwischenmenschliche Bande. Sie baut auf und eint, aber sie<br />

trennt nicht! Wie sehr braucht die Welt, braucht Europa, braucht Polen<br />

diese einende Freiheit!“ Der Papst merkte mit Nachdruck an, daß<br />

Anschuldigungen, die Kirche sei ein Feind der Freiheit, auf einem Mißverständnis<br />

gründen, sie sind ein „besonderer Unsinn“ in einem Land,<br />

„wo die Kirche so viele Male bewiesen hat, wie sehr sie Wächter der<br />

Freiheit ist“ (Wroclaw, 1.6., S. 34).<br />

Im politisch geteilten Land nahm der Papst überhaupt nicht zur aktuellen<br />

Politik Bezug. Er ließ sich nicht in Parteienstreit verwickeln. Er stand<br />

darüber. Er gebrauchte keine Worte, die als Ausdruck oder auch nur<br />

Anspielung für die Unterstützung oder Mißbilligung irgendeiner politischen<br />

Kraft gedeutet werden könnten. Nur einmal, und zwar inoffiziell,<br />

scherzhaft, benutzte er die Parteiterminologie. Als er sich vom Balkon<br />

des bischöflichen Palais in Gnesen (3.6.) an die Jugend wandte, sagte er:<br />

„Linke, Rechte, Zentrum. Der hl. Wojciech wird euch versöhnen.“ Auch<br />

tadelte er nicht, noch kritisierte er. Er stieß niemanden ab. Für alle<br />

– unabhängig von Bekenntnis und Nationalität, von der Erfahrung und<br />

der Situation, in der sie sich befinden – hatte er Worte des Friedens und<br />

der Liebe. So nimmt es nicht wunder, daß die politische Zerstrittenheit<br />

der Polen für die Zeit der päpstlichen Pilgerreise verstummte. Die Trennungen<br />

wurden durch Liebe und Gemeinschaftsgefühl gedämpft. Sogar<br />

die Politiker hüteten sich, den Gast parteilich zu vereinnahmen. Sie gaben<br />

selber zu, daß dies ein Versöhnungsbesuch war. Nur der ehemalige Ministerpräsident,<br />

Józef Oleksy, ein Politiker des postkommunistischen<br />

Lagers, kam zu dem Schluß, daß die sozialen Inhalte der päpstlichen<br />

Lehre den sozialdemokratischen Programmen nahe seien 20 . Wie jedoch<br />

20) Vgl. J. Oleksy, Äußerung für „Rzeczpospolita“: Nie jest niczyja˛ wlasnos´cia˛ (opr. K. Groblewski)<br />

(Er ist niemandes Eigentum) (Bearbeitung K. Groblewski), Rzeczpospolita, Warschau <strong>1997</strong>,<br />

<strong>Nr</strong>. 137.<br />

106


später Kommentatoren zeigten, „läßt sich der Papst in keine Partei einschreiben“<br />

21 , „er sprach über die Köpfe der Politiker, weil er tieferschürfend<br />

sprach“ 22 . So erteilte er der Kirche in Polen eine große Lektion. 23<br />

Dieser Besuch war gewissermaßen eine „Instruktion in politischer Kultur“<br />

24 . Johannes Paul II. überläßt den katholischen Laien die politischen<br />

Fragen (und auch die wirtschaftlichen und kulturellen). An die Bischofskonferenz<br />

gewandt, legte er dar: „Zweifellos muß man ihnen dabei<br />

hel fen, aber man darf ihnen diese Arbeit auch nicht abnehmen“ (Botschaft<br />

an die Bischöfe, Krakau, 8.6., S.176–177).<br />

Diese nur theologische „Politizität“ des Papstes bedeutet nicht, daß<br />

seine Pilgerreise keinen Einfluß auf das öffentliche Leben haben wird.<br />

Wir wurden ja schließlich zur „polnischen Tat“ und zur Reflexion über<br />

die „polnische Wahrheit“ aufgerufen. Wir sollen überlegen, ob wir diese<br />

Tat umsichtig angehen. „Ob sie die Menschen eint oder trennt? Ob sie<br />

nicht mit Haß oder Verachtung jemanden trifft?“ (Krakau 8.6., S. 168).Es<br />

ist also zu erwarten, daß Folge dieses Besuchs eine Vertiefung des politischen<br />

Diskurses, eine Verbesserung des Klimas und der politischen Sitten<br />

sein wird. Der Papst wies ja nachdrücklich darauf hin, daß man nicht verbohrt<br />

sein darf, daß Recht nicht hat, wer sich extrem verhält. Keinesfalls<br />

legte er dar, daß die beste Verteidigung der Werte ein Kreuzzug oder das<br />

Operieren mit dem Schreckgespenst der bolschewistischen Flut sei. 25 Er<br />

trennte die Menschen nicht in Anhänger „xenophobischer Rückständigkeit“<br />

und „jüdisch-freimaurerischer Verschwörung“.<br />

Im Lichte dieses Besuchs scheinen auch die Spaltungen in der polnischen<br />

Kirche etwas Kleinmütiges, geradezu etwas Unanständiges. Deutlich<br />

sichtbar in der Lehre des Papstes war es, wie er den Ärgernis erregenden<br />

inneren Konflikten eine Absage erteilte. Der Papst zeigte den Bischöfen,<br />

wie die Sprache der Kirche in Fragen des öffentlichen Lebens sein<br />

21) E. Wnuk-Lipiński. Äußerung für den „Tygodnik Powszechny“: Polska po pielgrzymce (Polen<br />

nach der Pilgerreise), Tygodnik Powszechny, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />

22) J. A. Kloczowski, Bylo inaczej… (Es war anders…), Tygodnik Powszechny, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />

23) Vgl. C. Gawrys´, Lekcja dla Kos´ciola (Eine Lektion für die Kirche), Rzeczpospolita, <strong>1997</strong>,<br />

<strong>Nr</strong>. 137.<br />

24) J. Czapiński, Äußerung für die Warschauer Zeitung „Rzeczpospolita“: Jak korzystać z wolnos´ci<br />

(opr. M.D. Zdort) (Wie die Freiheit nutzen, Bearbeitung: M.D. Zdort), Rzeczpospolita, <strong>1997</strong>,<br />

<strong>Nr</strong>. 137.<br />

25) Vgl. ebenda.<br />

107


soll. 26 Er gemahnte sie daran, daß sie verantwortlich sind für die innere<br />

Einheit der Kirche, für die Wahrheit der Glaubensvermittlung in Schulen,<br />

Hochschulen und Medien. Für die Bedeutung, die die Präsenz der Kirche<br />

in den Massenmedien hat, spricht die Tatsache, daß „mit ihrer Vermittlung…<br />

die Kirche in den Dialog mit der Welt eintritt“ (Botschaft an die<br />

Bischöfe, Krakau, 8.6., S.175). Manche Bischöfe (T. Pieronek, H. Muszyński)<br />

und Vertreter der organisierten Laien (Landesrat der katholischen<br />

Laien) zogen sofort daraus sehr konkrete Schlüsse. Sie verstanden,<br />

daß man die Fragen der umstrittenen katholischen Rundfunkstation<br />

Radio Maryja regeln muß (es geht hier um manche aufstachelnden<br />

Sendungen dieser katholischen Radiostation).<br />

Das in der Eucharistie verankerte päpstliche Programm der Einigung<br />

umfaßte auch die Spaltungen, die Ergebnis unserer ökonomischen Veränderungen<br />

sind. Der Papst mahnte mit Nachdruck, das Teilen des eucharistischen<br />

Brotes sei ein Aufruf, das tägliche Brot mit denen zu teilen, die<br />

es nicht haben. In dem Bewußtsein, daß die an den Rand Gedrängten am<br />

meisten die Stimme der Kirche brauchen, weil sie ihre Sorgen und<br />

Schmerzen nicht immer selber aussprechen können, trat er für die notleidenden<br />

kinderreichen Familien, für die alleinstehenden Mütter, für die<br />

Verlassenen, für die Alten, für die Kinder in Waisenhäusern, für Kranke<br />

und Obdachlose ein.<br />

Das Drama des infolge der Reorganisation der Unternehmen und der<br />

Landwirtschaft erfolgten Arbeitsplatzverlustes ist in gewissem Sinne<br />

auch eine christliche Herausforderung für jene, die über Produktionsmittel<br />

verfügen und imstande sind, Arbeitsplätze zu schaffen. Er warnte sie<br />

vor verschiedenen Formen der offenen oder getarnten Ausbeutung. Wenn<br />

sie sich in dieser Situation von der Vision schnellen Profits auf Kosten<br />

anderer verführen lassen, wenn sie den Beschäftigten keine Rechte<br />

garantieren, weil sie sie mit dem Gefühl der Vorläufigkeit und mit der<br />

Angst vor Arbeitsverlust unter Druck setzen, wenn sie ihnen das Recht<br />

auf Erholung, auf gerechte Entlohnung, auf Versicherungen und Gesundheitsfürsorge<br />

absprechen, dann wird jede Teilnahme an der Eucharistie<br />

für sie zur Anklage. Verantwortliche, ehrliche und solide Ausführung der<br />

26) Vgl. C. Gawrys´, a.a.O.; J. Moskwa, Triumf i co dalej (Ein Triumph und was weiter), Rzeczpospolita,<br />

<strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 137; Z. Nosowski, Zasluchanie moz · e trwać (Das Zuhören kann andauern), Tygodnik<br />

Powszechny, <strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />

108


anvertrauten Aufgaben wiederum ist die sich aus Glaube und Liebe ergebende<br />

Pflicht der Arbeitnehmer.<br />

Aus der päpstlichen Lehre resultiert, daß der Brückenbau sich auf<br />

wirtschaftlich-gesellschaftlichem Gebiet nicht nur auf den Appell an das<br />

christliche Gewissen der einzelnen Subjekte – der Konfliktparteien –<br />

gründen kann. Die strukturellen Disproportionen, die eine Konquenz der<br />

dynamischen Wirtschaftsentwicklung sind, erfordern auch gerechte<br />

Gesetze, eine fähige Wirtschaftsführung, eine angemessene Verwaltung<br />

des Gemeinwohls durch die Staatsmacht. Selbstverständlich erfordern<br />

die schmerzhaften Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens auch<br />

karitatives Engagement. Hilfe zu bringen, das ist „unsere gemeinsame<br />

Pflicht, die Pflicht der Liebe“. Der Papst lobte die vielfältigen karitativen<br />

Werke, die – kirchlichen und außerkirchlichen – Initiativen des ehrenamtlichen<br />

Dienstes und ermunterte zu weiteren (Legnica/Liegnitz, 2.6.,<br />

S. 51–56). Es ist gut, daß das Zeugnis der Solidarität dabei über die<br />

Grenzen unseres Landes hinausgeht. Das Gefühl der Dankbarkeit für die<br />

Hilfe, die wir selber vor kurzem erfahren haben, verlangt, daß wir sie jetzt<br />

zu erwidern verstehen (Krosno 10.6., S. 213–213).<br />

Tatsächlich gehört zu den Vorteilen der Solidarität die Tatsache, daß<br />

solidarisches Verhalten auf die Menschen ansteckend wirkt. Der Kreis<br />

der gutgesinnten, hilfsbereiten und unternehmerischen Menschen weitet<br />

sich. In den achtziger Jahren, während des Kriegszustandes und gleich<br />

danach, waren die Polen Adressaten der Auslandshilfe, insbesondere aus<br />

Deutschland. Jetzt organisieren auch sie enorme Hilfsaktionen. Die<br />

verschiedenen Unternehmungen, z.B. der „Caritas Polska“, wie die Aufnahme<br />

von Kindern aus Tschernobyl und aus anderen postsowjetischen<br />

Republiken zur Erholung bei polnischen Familien, die Medikamenten-,<br />

Kohlen- und Lebensmitteltransporte nach Bosnien, Ruanda, Tschetschenien<br />

usw. beweisen, daß die polnischen Katholiken zum christlichen<br />

Abendland gehören und von den Mitchristen gelernt haben, füreinander<br />

da zu sein. Die Zeugnisse und Taten der Solidarität können also als Ausdruck<br />

zwischenmenschlicher Verbundenheit und eine Art des Brückenbaus<br />

verstanden werden. 27<br />

27) Vgl. A. Dylus, Sozialethische Anmerkungen zur wirtschaftlichen Solidarität im europäischen<br />

Kontext, in: Solidarität ist unteilbar. Katholischer Kongreß 12.–15. September 1996 in Hildesheim<br />

(Red.: H. Bolzenius), Bonn <strong>1997</strong>, S. 112–113.<br />

109


Die auf christliche Solidarität gestützte Einheit Europas ist schon seit<br />

langem Gegenstand der Sorge von Johannes Paul II. In der seinen Landsleuten<br />

vermittelten Lehre erinnerte er daran, daß sie auch eine Herausforderung<br />

für die Kirche in Polen bleibt. Die zahlreichen „europäischen<br />

Fäden“ in seinen Predigten – sie konzentrierten sich auf die großen<br />

Gestalten des hl. Wojciech und der in Krakau kanonisierten Königin<br />

Jadwiga, die Völker und Kulturen des Ostens und Westens vereinigten –<br />

tauchten nicht nur aus äußeren Gründen auf, die vom Programm der<br />

Pilgerreise bestimmt waren. Sie mußten jenen hinterwäldlerischen Gruppen<br />

des polnischen Katholizismus zu denken geben, die bisher eine<br />

Öffnung zu Europa fürchten und den Westen ausschließlich mit Säkularisierung<br />

und Relativismus verknüpfen. Johannes Paul II. unterstützte<br />

nämlich nachdrücklich die Idee, Polen mit den europäischen Strukturen<br />

zu vereinen. Mehr noch, er stellt fest, das polnische Volk habe das Recht,<br />

„sich ebenbürtig mit anderen Nationen in den Prozeß der Schaffung eines<br />

neuen Antlitzes von Europa einzubringen“. Er merkte jedoch an, das vereinigte<br />

Europa dürfe sich nicht auf den gemeinsamen Markt beschränken.<br />

Seine Worte in dieser Hinsicht sind beredt: „Es wird keine Einheit Europas<br />

geben, solange es keine Gemeinschaft des Geistes geben wird.“ Die<br />

neueste Geschichte der Völker des ehemaligen Jugoslawiens zeugt davon,<br />

daß allein die Erweiterung politischer und ökonomischer Freiheiten<br />

nicht genügt, um europäische Einheit zu errichten. Um die europäische<br />

Identität zu bewahren, muß man zu den gemeinsamen Wurzeln zurückkehren,<br />

sie auf christliche Werte gründen. Die Mauer, die noch in den<br />

Herzen verblieben ist und „die Europa teilt, fällt nicht ohne Rückkehr<br />

zum Evangelium“. Zur geistigen Einheit des christlichen Europas gehören<br />

aber die zwei großen Traditionen: die des Westens und des Ostens.<br />

Diese „Vielfalt der es (Europa) bildenden Traditionen und Kulturen ist<br />

sein großer Reichtum“. Als Antwort auf die Ängste mancher seiner<br />

Landsleute erklärte der Papst, der offene Gang nach Westen mache es gar<br />

nicht notwendig, die Anhänglichkeit an die von der Kirche verkündeten<br />

und mit der heimischen Kultur verbundenen Werte aufzugeben. Geboten<br />

sei dagegen die „Fähigkeit, die verschiedenen Kulturen harmonisch zu<br />

verbinden“. Man könne auch nicht auf den Bau eines „gemeinsamen<br />

Hauses“ für ganz Europa ohne solidarische soziale Liebe zählen. Die<br />

Anwesenheit der Präsidenten von sieben Staaten in Gnesen zeugt – nach<br />

110


Meinung des Papstes – „von dem Willen zu friedlichem Zusammenleben<br />

und zum Bau eines neuen, durch die Bande der Solidarität vereinten<br />

Europas“ (Gniezno/Gnesen, 3.6., S.75–80). In einer besonderen Ansprache<br />

erinnerte er sie an ihre Verantwortung für die Festigung des Friedens,<br />

der demokratischen Institutionen, für die wirtschaftliche Entwicklung<br />

und die internationale Zusammenarbeit (Ansprache an die Präsidenten,<br />

Gniezno 3.6.,S.85/86).<br />

Zweifellos ist in der päpstlichen Vision eines vereinten Europas auch<br />

Platz für die „polnische Tat“. Johannes Paul II. ist überzeugt, daß seine<br />

Landsleute imstande sind, „einen schöpferischen Beitrag für den gemeinsamen<br />

Schatz der großen europäischen Völkerfamilie zu leisten“ (Krakau-Balice,<br />

10.6., S.216). Nachdrücklich definierte er auch die diesbezüglichen<br />

Möglichkeiten der Kirche. „Die Kirche in Polen kann dem sich<br />

einigenden Europa ihre Anhänglichkeit an den Glauben, ihre von Religiosität<br />

inspirierten Sitten, die pastoralen Bemühungen der Bischöfe und<br />

Priester und gewiß noch viele andere Werte bieten“ (Krakau, 8.6.,<br />

S.178).<br />

Eigentlich war die ganze Botschaft des Papstes an die Polen ein Programm,<br />

um „Brücken zu errichten“. Sie konzentrierte sich auf den Bau<br />

einer Gemeinschaft freier Menschen, auf die Schaffung eines Bandes<br />

zwischen ewigen Werten und den Herausforderungen der Welt von heute,<br />

auf die harmonische Verbindung von Werten der nationalen, europäischen<br />

und allgemein menschlichen Kultur (Motto der ganzen Reise<br />

waren die Worte: „Jesus Christus, einziger Erlöser der Welt, gestern,<br />

heute und in Ewigkeit“) 28 .Auf langfristige Früchte dieses Besuchs muß<br />

man noch warten. Dennoch weiß man schon eines heute mit Gewißheit:<br />

die im Glauben gefestigten Polen haben wieder Glauben zu sich selbst<br />

gefaßt. Indem sie Akzeptanz und Liebe des Menschen erfuhren, der wohl<br />

ihre einzige Autorität geblieben ist, sind sie still in sich gegangen und haben<br />

innerlich neue Mobilität gewonnen. Sie begriffen, daß das ein<br />

weiteres Mal erhaltene Geschenk des Glaubens und der Liebe sie zur Tat<br />

verpflichtet. Die erste Prüfung ihres konsequenten, solidarischen, aufbauenden<br />

Glaubens nach dieser Pilgerreise – in Form der Überschwemmungskatastrophe<br />

– ist wohl positiv bestanden worden. Die Kirche in<br />

28) Vgl. H. Woz´niakowski, Wolnos´ć, która jednoczy (Freiheit, die eint), Tygodnik Powszechny,<br />

<strong>1997</strong>, <strong>Nr</strong>. 25.<br />

111


Polen und ihre Gläubigen sind fähig zum Bau von Brücken, auch wenn<br />

diese Bauwerke noch immer von Vollkommenheit weit entfernt sind. Sie<br />

besteht ja aus größeren und kleineren Sündern.<br />

Ich möchte meine Überlegungen mit den Worten des Dichters Franz<br />

Hodjak abschließen. Sein Gedicht trägt den Titel „Die Zugbrücke in Arles<br />

nach van Gogh“.<br />

112<br />

Dort, wohin<br />

die Brücke führt, will ich<br />

nicht hin. Doch ich könnte<br />

mir vorstellen, gäbe es<br />

die Brücke nicht, wollte ich<br />

ans andere Ufer. An diesem<br />

Ufer bin ich fremd. Nun, da es<br />

die Brücke gibt, ist<br />

es egal, so kann ich gleich<br />

an diesem Ufer bleiben<br />

und den Schiffen zusehen, die<br />

weder kommen noch gehn.<br />

Brücken bauen ist also kein Endzweck für sich. Die Kirche baut kein<br />

Zuhause auf der Brücke, sondern ist unterwegs zum Menschen, der ihr<br />

Weg ist. Brücken haben nur eine Mittelfunktion zum Ziel der Solidarität<br />

zwischen den Menschen.


Prof. Dr. Tomásˇ Halík (Prag) referierte<br />

über das Thema „Rückzug auf<br />

Feindbilder oder Mut zur Öffnung?“<br />

Foto: KNA-Bild<br />

Prof. Dr. Franjo Topić (Sarajevo) untersuchte,<br />

ob die Kirchen in Ex-Jugoslawien<br />

sich nur der eigenen Gruppe<br />

verpflichtet fühlen. Foto: KNA-Bild<br />

Prof. Dr. Aniela Dylus (Warschau)<br />

sprach über Probleme von Polens<br />

Kirche. Foto: KNA-Bild<br />

Die Situation im ehemaligen Jugoslawien<br />

behandelte auch der serbischorthodoxe<br />

Erzpriester Slobodan Milunović.<br />

Foto: KNA-Bild<br />

113


Dr. Gerhard Albert, stellv.<br />

<strong>Renovabis</strong>-Geschäftsführer,<br />

moderierte u. a. die Podiumsdiskussion<br />

über Kirche<br />

und Gesellschaft in Rußland.<br />

Foto: Marianne Grycz<br />

V. r.: Prof. Dr. Konrad Feiereis (Erfurt), der<br />

über die Kirche in Ostdeutschland referierte,<br />

im Gespräch mit Wolfgang Grycz.<br />

Foto: Marianne Grycz<br />

114<br />

V.l.: Prof. P. Dr. Robert Hotz SJ (Zürich) und<br />

Dr. Gerd Stricker (Zollikon) während des Rußland-Podiums.<br />

Foto: Marianne Grycz<br />

Der Chefredakteur der „Stim me<br />

der Orthodoxie“, der russischorthodoxe<br />

Erzpriester Vladimir<br />

Ivanov, im Podiumsgespräch.<br />

. Foto: Marianne Grycz


Prof. Dr. Franjo Topić, Sarajevo<br />

Kirchen im ehemaligen Jugoslawien:<br />

Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?<br />

Hier ist die Rede von Ex-Jugoslawien, aber ich werde mich bemühen,<br />

kurz einige Dinge über Bosnien und Herzegowina zu sagen. Weiteres<br />

dann zum Titel dieses <strong>Kongress</strong>es „Herrschen oder dienen?“ und zum<br />

Untertitel meines Vortrags: „Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?“<br />

Man weiß vieles über Bosnien und Herzegowina, weil wahrscheinlich<br />

kein Land in der Geschichte soviel in den Medien behandelt wurde wie<br />

dieses Gebiet. Trotzdem halte ich es für wichtig, an einige Dinge kurz zu<br />

erinnern. Bosnien-Herzegowina war eine der sechs Republiken Ex-<br />

Jugoslawiens. Hierher kamen die Slawen im 7. Jahrhundert. Ein Grenzland<br />

war es seit den römischen Zeiten bis heute. Im Laufe der Geschichte<br />

fanden sich hier viele Religionen, Kulturen und Nationen. Bosnien war<br />

ein Herzogtum und vom 14./15. Jahrhundert auch ein Königreich.<br />

Bosnien wurde zuerst am meisten vom westlichen Christentum geprägt.<br />

Im 11. Jahrhundert tauchten hier die Patarenen oder Bogumilen,<br />

die sogenannten „bosnischen Christen“ auf. Rom organisierte 1203 auch<br />

eine Art Synode über die Rechtgläubigkeit dieser Christen. Dann kamen<br />

hierher die Dominikaner (1233), die Franziskaner (1291), um den Katholiken<br />

zu helfen und um die „bosnischen Christen“ – man würde heute<br />

sagen – zu „rechristianisieren“.<br />

Zu dieser Zeit findet man in Bosnien eine – für jene Zeit – blühende<br />

Kultur: sehr reich geschmückte Manuskripte, Evangelienbücher und, was<br />

noch unbedingt zu nennen ist, die Stećaks – besondere Grabsteine. Diese<br />

sind ungefähr 2 m lang, 1 m hoch und 1 m breit und tragen viele künstlerische<br />

Ornamente. Es gab auch eine eigene „bosnische Schrift“.<br />

1463 kamen die Türken, mit ihnen der Islam und eine neue Kultur. Die<br />

Zahl der Katholiken war gering, so daß es in Bosnien jahrzehntelang nur<br />

drei Klöster gab. Nach dem Rückzug des österreichischen Prinzen Eugen<br />

115


von Savoyen (1697) blieben nur 30.000 Katholiken zurück. Bosnien war<br />

danach die letzte westliche ottomanische Provinz.<br />

Von 1878 bis zum I. Weltkrieg herrschte dort das Habsburger Reich.<br />

Danach entstand das erste Jugoslawien als Königreich und von 1945 bis<br />

1990 das zweite Jugoslawien als kommunistischer Staat. 1<br />

Nach der Volkszählung 1991 hatte Bosnien-Herzegowina 4,6 Millionen<br />

Einwohner, davon waren 42% Moslems, 32% Serben und 17% Kroaten.<br />

Die Fläche Bosniens und der Herzegowina umfaßt ca. 53.000 km 2 .<br />

Die Serben sind Orthodoxe, die Kroaten sind Katholiken.<br />

Im Jahre 1990 fanden in Ex-Jugoslawien demokratische Wahlen statt.<br />

Nach der Lostrennung Sloweniens und Kroatiens von Jugoslawien gab es<br />

am 1. März 1992 ein Referendum für die Unabhängigkeit Bosniens und<br />

der Herzegowina. 64% der Bürger (Moslems und Kroaten) wählten die<br />

Unabhängigkeit. Die Serben aber lehnten das Referendum ab. Schon am<br />

2. März 1992 gab es erste serbische Barrikaden in Sarajevo.<br />

Am 6. April (an diesem Datum endete 1945 der Zweite Weltkrieg für<br />

Sarajevo) begannen die Serben, Sarajevo mit Granaten zu beschießen. Es<br />

ist hier noch zu erwähnen, daß die Jugoslawische Armee im Oktober<br />

1991 den Ort Ravno im Süden der Herzegowina zerstört hatte.<br />

Die Ergebnisse des Krieges sind mehr oder weniger bekannt: ca.<br />

200.000 Tote, über 100.000 Verwundete, über 1,5 Millionen Flüchtlinge<br />

und Vertriebene (davon in Deutschland 350.000). Man schätzt die Kriegsschäden<br />

allein in der Moslemisch-Kroatischen Föderation innerhalb<br />

Bosnien-Herzegowinas auf mehr als 40 Milliarden Dollar.<br />

Heute haben in dieser Föderation ca. 20% der Menschen Arbeit. Der<br />

Durchschnittslohn betrug im Juni <strong>1997</strong> 258 DM. Im Industriebereich<br />

funktionieren ca.15% der Werke (die Lage in der serbischen Entität ist<br />

uns nicht bekannt). Auch die humanitäre Hilfe, die wirklich groß war,<br />

wurde nach dem Ende des Krieges um über 80% vermindert. Jetzt lebt<br />

man in Ruhe, aber die endgültige politische Lösung kommt immer noch<br />

nicht zustande. Deshalb gibt es keine größeren Investitionen von seiten<br />

des Auslands, und man hat keinen richtigen Willen zum Aufbau.<br />

Jetzt komme ich zu manchen anderen Fragen, was hier von mir, glaube<br />

ich, erwartet wird.<br />

1) Vgl.: Bosnien-Herzegowina (verfaßt von einem Autorenteam), Sarajevo, Svjetlost, 1986 2 . In<br />

dieser Monographie findet man nützliche Informationen über Geschichte und Kunst von Bosnien-Herzegowina.<br />

116


Nation<br />

Ich werde hier, natürlicherweise, zum Thema Nation kein theoretisches<br />

Elaborat vorlegen, jedoch sollte man dazu etwas sagen. Die Nation ist<br />

eine der Dimensionen des menschlichen Daseins. Dies ist sehr wichtig<br />

für das Verständnis des Krieges, es ist wichtig dafür, eine gute Lösung zu<br />

finden. Man sollte diese Dimension nicht unterschätzen. Ich nehme hier<br />

Nation als Synonym für Volk, für eine ethnische Gruppe. Das unterscheidet<br />

sich von der Staatsangehörigkeit. Es ist für Bosnien-Herzegowina<br />

wichtig, daß zwischen Nation und Staat unterschieden wird.<br />

In der europäischen Geschichte spielt die nationale Frage eine wichtige<br />

Rolle. Sie war sehr wichtig auch in Ex-Jugoslawien.<br />

Im Kommunismus tat man so – und es wurde immer wiederholt –, als<br />

ob diese Frage nicht wichtig sei. Leider haben wir das Gegenteil in sehr<br />

grausamer Weise erfahren. Man sollte aber nicht vergessen, daß der<br />

Mensch zu gleicher Zeit Person und soziales Wesen ist.<br />

Aber wenn jemand die Bedeutung der Nation übertreibt, wenn er<br />

versucht, die Nation zu mythologisieren und zu vergötzen, dann entwickelt<br />

sich dies zum Nationalismus und Chauvinismus, demzufolge die<br />

eigene Nation das Heiligste, Größte und Beste sei. Den anderen Nationen<br />

aber werden verschiedene Rechte – bis hin zum Recht auf Existenz – verweigert.<br />

Und hier ist es dann nur ein kleiner Schritt zum Konflikt und<br />

zum Krieg.<br />

Der Heilige Vater wiederholte mehrmals, daß der fanatische Nationalismus<br />

Hauptgrund des Krieges ist. 2 Es ist in Kroatien und in Bosnien-<br />

Herzegowina durch diesen fanatischen Nationalismus zu einem verbrecherischen<br />

Begriff und zu einer Praxis gekommen, die als „ethnische<br />

Säuberung“ bezeichnet wird. Das ist sicher einer der grausamsten Aspekte<br />

dieses Krieges.<br />

Einige gingen so weit, daß sie jedes Verbrechen im Namen der Nation<br />

als berechtigt ansahen. Für mich was dies von Anfang an verbrecherisch,<br />

2) Für den für den 8.9.1994 vorgesehenen und dann verschobenen Besuch in Sarajevo vorbereitete<br />

und in Castel Gandolfo am 8.9. 1994 gehaltene Predigt, in: V. Blazˇević, Papst Johannes Paul II.,<br />

aufrichtiger Freund Bosniens – öffentliche Äußerungen des Heiligen Vaters und der führenden<br />

Persönlichkeiten des Heiligen Stuhls für die Herstellung des Friedens in Bosnien und Herzegowina<br />

und die Erhaltung von Bosnien-Herzegowina 1991–1996, Sarajevo <strong>1997</strong>, 167.<br />

117


und meine Meinung ist in dieser Hinsicht völlig klar. Denn solches Verhalten<br />

richtet sich gegen die Natur und gegen Gott. Gegen die Natur, weil<br />

alle über fünf Milliarden Menschen schon körperlich und erst recht<br />

geistig unterschiedlich sind. Gegen Gott, weil Gott nicht nur Schöpfer<br />

aller Menschen ist, sondern diese Unterschiedlichkeit mindestens zugelassen<br />

(wenn nicht gewollt) hat.<br />

Kirche<br />

Hier ist für uns zuerst „die dienende Kirche“ interessant, wie schon der<br />

allgemeine Titel dieses <strong>Kongress</strong>es suggeriert. 3<br />

Wie in jeder menschlichen Organisation, so soll auch in der Kirche eine<br />

Art des „Herrschens“ existieren, eine Art der Ordnung und Verwaltung.<br />

Die differentia specifica der kirchlichen Verwaltung besteht darin, daß<br />

das „Herrschen“ Dienen sein soll. Jesus war sich zweifellos und ausdrücklich<br />

klar: „Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken und<br />

die Mächtigen ihre Macht über die Menschen mißbrauchen. Bei euch soll<br />

es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener<br />

sein“ (Mt 20,25–26).<br />

H.U. von Balthasar sagte bildlich, daß der umgekehrt gekreuzigte<br />

Petrus die Macht in der Kirche symbolisiert. 4<br />

Jesus belehrte seine Jünger dahingehend, er zeigte diese Doktrin an der<br />

Gestalt des barmherzigen Samariters und im Gespräch mit der samaritischen<br />

Frau. Er deutete schon da an, daß es Zweifel geben könne, ob man<br />

nur den eigenen Leuten helfen solle oder auch den anderen! Zu Leviten<br />

und Priestern sagte er, es sei möglich, daß auch den „Hauptamtlichen“<br />

und „Professionellen“ in der Religion manchmal vieles nicht klar ist. Die<br />

Botschaft lautet, daß niemand ein Monopol auf Wissen und Güte hat.<br />

Auch in diesem Krieg war dieses Dilemma selbst für einige „Professionelle“<br />

nicht klar.<br />

3) G. Ruggieri, Kirche und Welt, in: Traktat Kirche (W. Kern, H.J. Pottmeyer, M. Seckler, Herausgeber),<br />

Herder, Freiburg-Basel-Wien 1986, 260–279.<br />

4) Il complesso antiromano, Brescia 1974, S. 226.<br />

118


Caritas<br />

Die Vision des Evangeliums ist verständlich: mit der Szene des Weltgerichts<br />

oder, anders gesagt, mit dem Ende der Geschichte (Mt 25,31–46).<br />

Jesus sagte: Ich war hungrig, durstig, nackt, obdachlos, krank usw.<br />

Hier ist noch etwas außerordentlich wichtig: für die Christen ist Caritas<br />

kein Luxus, keine Nebensache, nicht eine der verschiedenen Aktivitäten.<br />

Nach diesem Abschnitt im Evangelium stellt Caritas den Grund und das<br />

letzte Kriterium unseres Lebens dar. Und was ist Caritas anderes als praktische<br />

Liebe, als Liebe und Glaube in Praxis.<br />

Noch zwei Momente möchte ich bei der Weltgerichtsszene unterstreichen:<br />

Caritas ist die Pflicht jedes Jüngers Jesu, und Caritas umfaßt alle<br />

Menschen, nicht nur die Christen. Auch hier ist die christliche Lehre klar:<br />

Wir sollen nicht nur, sondern wir dürfen nicht nur der eigenen Kirche,<br />

Gruppe, Gemeinde oder Familie dienen. 5<br />

Christliche Liebe, wie die Liebe Jesu, kennt keine Grenze, und nur sie<br />

ist echt und glaubwürdig.<br />

Im umfassenderen Sinne des Wortes ist Caritas die Folge starken Glaubens,<br />

ein Bestandteil von ihm, der zweite Teil des Diptychons. Das von Christus<br />

inspirierte Wort lehrt klar: Der Glaube ohne Werke ist tot (Jak 2,26).<br />

Und dieses Wort sollte beachtet werden. Jakobus vergleicht auf erstaunliche<br />

Weise: „Wie der Körper ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube tot ohne<br />

Werke.“ Das kann man auch mit den Worten Jesu verstärken: „Nicht jeder,<br />

der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur,<br />

wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt“ (Mt 7,21).<br />

Versöhnung<br />

Hier möchte ich zunächst eine unpopuläre, trotzdem aber, denke ich, nicht<br />

weniger realistische Bemerkung machen. Manche, die auch über uns entscheiden,<br />

benehmen sich so, als ob in Bosnien-Herzegowina und Kroatien<br />

nichts geschehen wäre. Sie wollen sagen: Egal, was passiert ist, jetzt soll<br />

man zusammen, im Frieden, „brüderlich und einheitlich“ miteinander<br />

5) Was unser Verhalten im Krieg konkret betrifft, so kann ich sagen: Unsere Caritas stand immer<br />

auch den Nicht-Katholiken offen. Persönlich kann ich für den „Kulturverein Napredak“ (dessen<br />

Vorsitzender ich bin) bezeugen: Wir haben an die Nicht-Katholiken viel verteilt. Zum Beispiel<br />

wurden im Jahre 1994 die Pakete folgendermaßen verteilt: 56% an Moslems, 26% an Katholiken<br />

und 18% an Orthodoxe.<br />

119


leben (das war schon die kommunistische Parole). Das ist ziemlich naiv<br />

und meiner Meinung nach unnatürlich. Da, wo Blut ver gossen wurde, wo<br />

die Menschen Kinder und Eltern verloren haben, darf man nicht naiv sein,<br />

sonst riskiert man es, das Ziel zu verfehlen und falsche Fundamente für<br />

die Zukunft zu legen! Längere Zeit hindurch war im übrigen der richtige<br />

Unterschied zwischen Krieg und Bürgerkrieg nicht klar genug. Aber noch<br />

weniger haben diejenigen Recht, die jetzt sagen und leider auch so handeln,<br />

als ob die Versöhnung gar nicht möglich wäre. Ich glaube zutiefst,<br />

daß die Versöhnung möglich ist. Warum und wie?<br />

In erster Linie sind Versöhnung und Vergebung für einen Gläubigen<br />

eine der wichtigsten religiösen Kategorien. Wir Christen beten in jedem<br />

„Vaterunser“: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren<br />

Schuldigern.“ Das sagt uns ganz klar: wir dürfen von Gott nur Vergebung<br />

erbitten, ersuchen und erwarten, wenn wir bereit sind, den Mitmenschen<br />

zu vergeben. Jesus belehrt uns weiter in dieser Materie: Wenn du vor den<br />

Altar kommst und dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe<br />

liegen, geh zu deinem Bruder und versöhne dich mit ihm, dann komm<br />

und opfere deine Gabe (vgl. Mt 5,23).<br />

Jesus sprach auch von dem Maß der Vergebung: siebenundsiebzigmal<br />

sollen wir vergeben, das bedeutet unendlich, immer. Es ist sicher nicht<br />

leicht, zu vergeben. In der menschlichen Natur findet sich leider mehr<br />

Rache als Vergebung. Rache ist der erste Instinkt, die erste Reaktion auf<br />

eine Beleidigung, der erste Gedanke nach erlittener Ungerechtigkeit,<br />

nach Haß und Streit. Aber der Mensch ist aufgerufen, seine Natur zu<br />

verbessern, zu perfektionieren, sich jeden Tag zu überwinden. 6<br />

Das Böse tut sich sehr leicht, für das Gute dagegen muß man sich sehr<br />

anstrengen. Auch hier gilt die Regel: Im Schweiße deines Angesichtes<br />

sollst du dein Brot essen. Unser aus Bosnien stammender Schriftsteller<br />

und Nobelpreisträger Ivo Andrić warnt uns: Ohne Vergebung ist das<br />

Leben nicht möglich. Habt Verständnis für alle Menschen. Wir brauchen<br />

alle Menschen. 7 Für den Haß, wie für das Böse überhaupt, braucht man<br />

keinen Grund, denn „Grund“ ist eine Kategorie der Vernunft, während<br />

Haß und Rache irrationale Kategorien sind.<br />

6) Ein sehr nützlicher „Führer“ für die Vergebung ist: J. Monbourquette, Comment pardonnere?<br />

Pardonner pour guerir. Guerir pour pardonner, Ottawa-Paris 1992.<br />

7) Ivo Andrić, Ex Ponto, Sarajevo 1976, S.35.<br />

120


Für den Haß genügt jeder Anlaß. Das tägliche Leben und die ganze<br />

Geschichte sind voll von verschiedensten Anlässen. Die Menschen sind<br />

sich nicht genügend dessen bewußt, daß man einen Krieg leicht herbeiführen<br />

kann, die Folgen aber jahrelanger Heilung bedürfen. Auch hier ist<br />

die Geschichte eine gute Lehrerin. Es genügt, sich nur an den Zweiten<br />

Weltkrieg zu erinnern. Noch heute sind viele seiner Wunden nicht verheilt,<br />

viele seiner Folgen nicht überwunden.<br />

Deshalb war das Thema der 2. Ökumenischen Versammlung in Graz<br />

(23. – 29. 6.<strong>1997</strong>) gut gewählt: Die Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle<br />

neuen Lebens. Die Christen aller Denominationen brauchen Versöhnung.<br />

Wie viele Wunden in der älteren, aber auch in der jüngeren Geschichte haben<br />

die Christen einander zugefügt? In dem Schlußdokument von Graz bekennt<br />

man: „Wir Christen waren wiederholt unwürdige Verkünder innerer<br />

Ver söhnung. Unser Leben und unsere Taten sind oft unversöhnt und nicht<br />

auf Gottes Gnade gegründet, die uns in Jesus Christus offenbart wurde.“ 8<br />

Alle Christen, erinnert das Grunddokument, sind aufgerufen, den<br />

Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, welcher ewige Schuld und Bestrafung,<br />

Zorn und Rache nach sich zieht. Wir müssen uns von den Ketten der<br />

Schuld und der zerbrochenen Beziehungen befreien und Gottes Frieden<br />

suchen. 9 Die Voraussetzung der menschlichen Versöhnung ist Versöhnung<br />

mit Gott, wie Paulus empfiehlt: „Laßt euch mit Gott versöhnen“<br />

(2 Kor 5,20).<br />

Gläubig und auch menschlich gesehen (gratia supponit naturam), muß<br />

man feststellen, daß es unmöglich ist, das große Werk der Versöhnung<br />

ohne den Heiligen Geist gut und gründlich zu verwirklichen. Immer und<br />

selbstverständlich – besonders nach einer solchen Katastrophe, wie es der<br />

Krieg ist – sind wir zur Metanoia, d.h. zur Umkehr und totalen Veränderung,<br />

zu einer neuen Schöpfung (2 Kor 5,17) aufgerufen, zu einem neuen<br />

Herzen statt des bisherigen steinernen Herzens.<br />

Hier herrscht doch das Prinzip des „sowohl als auch“. Es geht um Gott<br />

und Mensch! Um umzukehren, braucht man Gottes und des Heiligen<br />

Geistes Gnade, aber man bedarf auch des menschlichen Einsatzes. Wir<br />

alle sind verantwortlich, aber nicht alle in gleichem Maße.<br />

8) Das christliche Zeugnis für die Versöhnung. Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen<br />

Lebens, <strong>Nr</strong>. 8.<br />

9) Ebenda.<br />

121


Normalerweise wirkt Gott keine Wunder, nur in außerordentlichen<br />

Fällen. Er braucht unsere Hände, unsere Fähigkeit. Das ist ein Gesetz<br />

seines Handelns. Manchmal ist es nur schwer zu verstehen, auf was für<br />

Abenteuer Gott sich eingelassen hat, das aber ist Sein Wille. Und wir<br />

können Gott nicht auffordern, sich vor uns zu rechtfertigen, uns Rechenschaft<br />

zu geben. „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure<br />

Wege sind nicht meine Wege“, erinnert uns Gott (vgl. Jes 55,8). Unser<br />

Teil ist es, mehr oder weniger gut unsere Pflichten zu erfüllen, unsere<br />

Mission zu verwirklichen.<br />

Und das sollte für uns wichtig sein. Erst wenn wir alles getan haben,<br />

erst dann können wir sagen: wir sind unnütze Diener. Aber nicht früher –<br />

und nicht, bevor wir alles Menschenmögliche getan haben. Auch bei den<br />

großen Schritten der Versöhnung müssen wir alles in unseren Kräften<br />

Stehende tun: Der Erfolg liegt letztlich doch bei Gott, hängt von Ihm ab.<br />

Man vergißt das öfter, daß der Begriff des irdischen Erfolges und der des<br />

himmlischen sich unterscheiden. Rein menschlich gesehen, wurde Jesus<br />

– selber Mensch und Gott – durch seinen Mißerfolg herabgewürdigt.<br />

Seine Kreuzigung war zu jener Zeit der schlimmste, schimpflichste Tod.<br />

Es wäre andererseits falsch und praktisch eine Häresie, wollte man<br />

sagen und so tun, als ob gar nichts möglich wäre. Das wäre purer Passivismus.<br />

Manchmal wird das nur als Ausrede benutzt.<br />

Das christliche – oder hier präziser gesagt: das katholische – Prinzip<br />

besagt: Aktion und Kontemplation gehen zusammen. Für mich als Theologen<br />

und als Arbeiter war der hl. Benedikt immer das Ideal: ora et<br />

labora. Die Maria und die Martha des Evangeliums sind Patroninnen<br />

dieses Binomions. Nur wer gut betet, kann gut arbeiten, und nur aktives,<br />

„praktisches Gebet“ ist wirklich christlich. 10<br />

Neue Menschen erziehen<br />

Vor dem Schluß möchte ich besonders die Bedeutung der Erziehung<br />

„neuer Menschen“ betonen.<br />

Man hebt nur sehr selten hervor, daß viele Werte durch den Krieg<br />

zerstört worden sind. Viele Menschen, die sehr gut, sehr tolerant waren,<br />

10) Der hl. Vinzenz von Paul sagte, daß man ein Gebet unterbrechen darf, wenn man jemandem<br />

Hilfe oder ein Medikament bringen muß. Vgl. seinen Brief, den man an seinem Gedenktag, dem<br />

27. September, im Stundengebet liest.<br />

122


sind nicht mehr dieselben. Ich habe so viele konkrete Beispiele erlebt.<br />

Nach dem Krieg ist fast nichts mehr wie vor dem Krieg, auch die Menschen<br />

nicht. Ich halte die Erziehung der jungen Menschen und die Umerziehung<br />

der jetzigen für sehr wichtig (dieser Terminus hatte in der kommunistischen<br />

Zeit sehr böse Konnotationen).<br />

Ich bin davon überzeugt, daß dies im jetzigen Augenblick unsere<br />

Grund aufgabe ist. Alles, oder fast alles, hängt vom Menschen ab: Krieg<br />

und Frieden, Haß und Liebe, Haus und Betrieb, Staat und Kirche. Der<br />

liebe Gott wirkt normalerweise, wie wir schon gesagt haben, keine Wunder,<br />

nur unter außerordentlichen Umständen. Er wirkt normalerweise nur<br />

durch den Menschen. Und das Christentum bestätigt die Meinung von<br />

Thomas Carlyle, daß die Geschichte von großen Persönlichkeiten<br />

geschaffen wird. Beweisen das nicht der hl. Paulus, der hl. Benedikt, der<br />

hl. Ignatius von Loyola, die hl. Kleine Theresia, Mutter Teresa oder<br />

Augustus, Karl der Große und Adenauer?<br />

Es ist deshalb außerordentlich wichtig, vor allem den vom Krieg<br />

verwirrten und geschädigten Menschen Wissen und Güte zu vermitteln.<br />

Man braucht nicht intelligente Menschen, die aber korrupt sind, auch<br />

nicht gute, die dumm sind, sondern gut ausgebildete und dazu gut erzogene<br />

Menschen.<br />

Wissen allein genügt nicht (klug ist auch Satan). Wissen kann aufblähen,<br />

wie der hl. Paulus warnt. Viele von den Kriegsverbrechern sind sehr<br />

intelligent! Es ist jetzt eine große Aufgabe für unsere Kirche und für alle<br />

anderen Gruppen und Personen, sich an den Versuch der Erziehung einer<br />

neuen Generation zu machen. Meiner Meinung nach ist dies das größte<br />

strategische Projekt. Wenn ich davon rede, bin ich mir bewußt, wie kompliziert<br />

dieses Projekt ist.<br />

Einen anderen Weg gibt es jedoch nicht. „Der Weg der Kirche ist der<br />

Mensch.“ Dieser Satz hat eine menschliche und religiöse Dimension.<br />

Man muß auch die neuen Politiker erziehen. Es ist sehr schwer vorstellbar,<br />

daß jene Leute die Versöhnung und den Aufbau verwirklichen könnten,<br />

die selber den Krieg geführt haben. 11<br />

11) Deshalb hält es der „Kulturverein Napredak“ für seine ureigene Priorität, Stipendien für Studenten<br />

zu beschaffen. Im Jahre 1996/97 hat die Napredak-Zentrale aus Sarajevo 159 Studenten<br />

geholfen, und die Napredak-Niederlassungen haben über 100 Studenten unterstützt.<br />

123


Erzpriester Slobodan M. Milunović, München<br />

Kirchen im ehemaligen Jugoslawien:<br />

Nur der eigenen Gruppe verpflichtet?<br />

Die schrecklichen Ereignisse der kriegerischen Auseinandersetzungen<br />

im ehemaligen Jugoslawien, insbesondere in Bosnien und Herzego-<br />

wina, haben dem hier gestellten Thema neue unaufschiebbare Imperative<br />

gestellt.<br />

Hat der Westen seit Augustin zwischen geistlicher und weltlicher<br />

Macht zu unterscheiden gelernt? Ist dem Osten das Idealbild der „Symphonia“<br />

zwischen Thron und Altar als absolut prägend geblieben?<br />

Kann man einen solch grausamen und schmutzigen Krieg im Namen<br />

der Religion und mit Glaubensüberzeugung führen, oder stecken dahinter<br />

die bekannten Kriegstreiber: die Kriegsprofiteure aus den Reihen der<br />

Atheisten, Nationalisten und Machtbesessenen? Hätten die heutigen<br />

Religionen auf dem Balkan mehr tun können, um den Krieg zu verhindern?<br />

Was können sie jetzt tun, um Frieden zu schaffen und Aussöhnung<br />

unter den Gruppen herbeizuführen? Sind vor allem die Kirchen und ihre<br />

Gläubigen bereit, über den Dienst an der eigenen Kirche und Nation hinaus,<br />

auch zur Versöhnung, zum Interessenausgleich und zum Kompromiß<br />

mit anderen Gruppen beizutragen? Wo sind Ansätze dafür zu finden und<br />

welche Versuche und Aktivitäten im sozialen und humanitären, insbesondere<br />

im ökumenischen und gesellschaftlichen Bereich, sind vorhanden?<br />

Inwieweit erliegen die jeweiligen kirchlichen und nationalen Kreise der<br />

Versuchung, auf Macht statt auf Dienen zu setzen? Findet eine Manipulierung<br />

durch politische Kräfte statt, und was kann getan werden, um diesem<br />

Streben entgegenzuwirken? Sind in den kirchlichen Kreisen Kräfte vorhanden,<br />

die sich dem Dienst an der Versöhnung widersetzen? Was<br />

unternehmen die Kirchen und ihre einzelnen Mitglieder zur Besserung der<br />

Situation? Fragen über Fragen, die sich dieser Kongreß zur Situation der<br />

Kirchen im ehemaligen Jugoslawien zur Aufgabe gemacht hat.<br />

124


Im Sommer 1994 richtete die Serbisch-Orthodoxe Kirche einen „Aufruf<br />

an die serbische Nation und die Weltöffentlichkeit“. Der Inhalt ist<br />

vielfach in der hiesigen Öffentlichkeit präsentiert worden. Darauf ging<br />

ein Schrei der Entrüstung durch die deutschen und europäischen Medien.<br />

Der Aufruf wurde als nationalistisch gewertet, gar als kriegstreibend<br />

bezeichnet. Einen besonderen Beitrag dazu brachte in seinem Habilitationsvortrag<br />

Heinz Ohme, gehalten am 23. 06.1995 vor der Theologischen<br />

Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (veröffentlicht<br />

in „Kerygma und Dogma“, Heft 2, April/Juni 1996).<br />

Es war sicherlich, unter anderem, ein guter Grund, das „besondere“<br />

Verhältnis von Kirche und Nation in der serbischen, aber auch in anderen<br />

osteuropäischen Kirchen genauer zu betrachten, weil nicht ganz selbstverständlich<br />

nachzuvollziehen ist, ob und wie denn die orthodoxen Christen<br />

Nation und Kirche miteinander verschmelzen. Ist das Phänomen<br />

dieser geschichtlichen Krankheit nur den Orthodoxen zuzuschreiben?<br />

Haben in diesem Land in der neueren Geschichte die Kirchen nicht eine<br />

leidvolle Erfahrung mit der Identifikation von Reich und Reichskirche<br />

gemacht?<br />

Deswegen meine ich: man soll nicht leichtfertig den ersten Stein werfen,<br />

sondern zunächst versuchen, selbstkritisch zu verstehen, um dann<br />

um so entschiedener die vorhandenen prophetischen Stimmen und ökumenischen<br />

Kräfte in der Orthodoxie, auch in der Serbisch-Orthodoxen<br />

Kirche, die den oben gestellten Fragen gerecht werden, zu unterstützen.<br />

Nicht der Sünder soll vernichtet werden, sondern die Sünde.<br />

Eine Standortbestimmung der serbischen Kirche im Spannungsfeld<br />

von Ethnizität und Katholizität ist schwer zu ermitteln. Die historischen<br />

Umstände, die Osmanenherrschaft, die k.u.k. Donaumonarchie und manches<br />

mehr müssen in die Darstellung mit einbezogen werden. Eine besondere<br />

Beziehung entstand zwischen dem Evangelium einerseits und<br />

der Kultur andererseits, die sich im Verhältnis zum Volk entwickelt hat.<br />

Demnach hat die Kirche die Entwicklung der Kultur und die Bewahrung<br />

der Identität der Nation ermutigt und unterstützt. Das Evangelium wurde<br />

gewissen örtlichen Formen unterzogen. Somit auch die Inkulturation des<br />

Evangeliums als etwas Normales betrachtet.<br />

Die Orthodoxe Kirche bildet die Gemeinschaft der autokephalen orthodoxen<br />

Kirchen, die denselben Glauben bekennen, dieselbe kirchliche<br />

125


kanonische Disziplin beachten und denselben Kult feiern. Sie drücken in<br />

den jeweiligen eigenen Formen dieselbe evangelische Wahrheit aus. Die<br />

Fülle und die Einheit der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen<br />

Kirche“ werden gemäß dem ekklesiologischen Selbstverständnis der Orthodoxen<br />

Kirche in der konkreten gottesdienstlichen Gemeinschaft mit<br />

dem Dreieinigen Gott, durch die Mysterien von Gotteswort und<br />

Eucharistie, am jeweiligen konkreten Ort verwirklicht. Eines der größten<br />

und gefährlichsten Mißverständnisse in der jetzigen unübersichtlichen<br />

Situation ist es, daß Orthodoxe Kirchen generell als „Nationalkirchen“<br />

denunziert werden. Die Serbische Orthodoxe Kirche verwaltet sich aufgrund<br />

der Kanones der Ökumenischen Konzilien und der von ihnen anerkannten<br />

apostolischen Kanones, der Kanones der Partikularsynoden und<br />

der heiligen Väter. So ist auch ihre Kirchenverfassung. Schließlich beginnt<br />

jede gottesdienstliche Handlung der Orthodoxen Kirche mit einer<br />

Friedensektenie, deren Inhalt der Friede für die ganze Welt, für das Wohlergehen<br />

und die Vereinigung aller Kirchen als Gebet voransteht.<br />

Die besondere Prägung der Verflechtung mit der eigenen Nation bis hin<br />

zur Identifikation mit dem eigenen Volk, und umgekehrt, erfuhr die Serbisch-Orthodoxe<br />

Kirche im Osmanenreich. Die Kirche war die einzige<br />

Institution, die das Volk gegenüber dem Herrscher vertreten konnte. Sie<br />

hatte die geistige Funktion des byzantinischen Reiches und des aufgelösten<br />

nationalen Staates übernommen. Die religiösen, kulturellen und<br />

nationalen Interessen des serbischen Volkes konnten auf diese Weise<br />

geschützt werden. Das Volk und seine Kirche gingen in der serbischen<br />

Geschichte einen gemeinsamen Weg, auf dem Ruhm und Demütigung<br />

zusammengehörten.<br />

Durch diese enge Verbindung zwischen Nation und Kirche nahm das<br />

Christentum einen betont nationalen Charakter an. Christsein bedeutete,<br />

das Evangelium nach der Frömmigkeit und den Ausdrucksformen des<br />

eigenen Volkes zu erleben, d.h. die Liturgie, den Kalender und die Bräuche<br />

der Nation zu bewahren.<br />

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts, und besonders am Anfang des 18.<br />

Jahrhunderts, gelang es Österreich, einige Territorien in Südosteuropa<br />

von den Türken zu erobern. Man wurde zum Teil Untertan eines christlichen<br />

Staates mit katholischem Bekenntnis. Die Metropolie von Karlowitz<br />

als eine autokephale Kirche wurde gegründet und respektiert. Mit<br />

126


den Rumänen bildeten die Serben in Österreich ein Art „Kirchen nation“,<br />

wie sie von Kirchenhistorikern genannt wurde. Sehr viele Elemente aus<br />

der damaligen Kirchenverfassung sind noch heute im Kirchengesetz dieser<br />

Kirchen enthalten. Die Autokephalie, die Autonomie wie auch die<br />

Synodalität bilden bis heute ihre Wesensprinzipien.<br />

Nun kam der Zweite Weltkrieg und die danach eingeführte und jahrzehntelang<br />

andauernde atheistisch-kommunistische Diktatur. Das Verhältnis<br />

von Staat und Kirche wurde ständig von dieser Diktatur überschattet<br />

und durch ein Sondergesetz reglementiert. Das sogenannte Kultgesetz<br />

sollte von der Kirche geachtet werden, das totalitäre System hat<br />

sich in Wirklichkeit nie daran gebunden gefühlt. Die Kirche wurde zu einer<br />

„gemeinnützigen“ Organisation degradiert und an den Rand der<br />

Gesellschaft gedrängt. Die gesellschaftspolitische Tätigkeit der serbischen<br />

Kirche und ihre Freiheit wurden streng kontrolliert, ihre Güter verstaatlicht.<br />

Die Pressefreiheit wurde entzogen, eine drastische Zensur eingeführt.<br />

Die Verbreitung kirchlicher Literatur, sogar der Bibel, wurde hart<br />

bestraft. Der Religionsunterricht wurde aus den Schulen verbannt, die<br />

Lehranstalten, wie Theologische Hochschule und Priesterseminare, wurden<br />

bis heute zu nichtöffentlichen und bedeutungslosen Privatschulen<br />

herabgestuft. Die sozialen und karitativen Tätigkeiten der Kirche wurden<br />

verboten, die geistig-geistliche Betreuung der Krankenhäuser, Altenheime,<br />

Schulen, Kindergärten, Waisenhäuser, des Militärs und anderes<br />

mehr zur lebensgefährlichen Verbotszone erklärt. Der Neubau oder Wiederaufbau<br />

von zerstörten Kirchen waren zufällige Ausnahmen.<br />

Im verzweifelten Kampf, Reste von Glaubensfreiheit zu erhalten und<br />

bessere Zeiten abzuwarten, bekundete die Kirche dem Staat manchmal<br />

überzogene Loyalität. Die tiefen Spuren dessen, besser gesagt die Wunden<br />

und Narben, die eines langen Heilungsprozesses bedürfen, werden<br />

noch lange sichtbar sein.<br />

Nach dem Versuch der neuerlichen Wende sieht man tendenziell eine<br />

gewisse Erholung und Autonomie dem Staat gegenüber aufkommen. Die<br />

Beziehung Staat-Kirche und Kirche-Nation sind gründlichst zu überprüfen<br />

und nachdenkend neu zu formulieren.<br />

Der russische Religionsphilosoph Vladimir Solovjev hat anläßlich des<br />

tausendjährigen Jubiläums der „Kiewer Rus’“ gesagt: „Wir müßten ein<br />

zweites Mal getauft werden, getauft durch den Geist der Wahrheit und<br />

127


das Feuer der Liebe. Wir müssen einem neuen Götzendienst entsagen:<br />

Jener neuen Abgötterei, jenem epidemischen Wahnsinn des Nationalismus,<br />

der die Völker dazu treibt, ihr eigenes Bild anstelle der höchsten und<br />

universalen Gottheit anzubeten. Die wahre Kirche wird stets die Lehre<br />

verurteilen, die behauptet, es gebe nichts Höheres als die nationalen<br />

Interessen; sie wird stets dieses neue Heidentum verurteilen, das die<br />

Nation zu seiner höchsten Gottheit macht, diesen falschen Patriotismus,<br />

der die Religion ersetzen will. Die Kirche erkennt die Rechte der Nationen<br />

an, bekämpft aber den nationalen Egoismus“ (V. Solovjev: Die russische<br />

Idee, Bd. 3,S.69, 81).<br />

Auch in der heutigen Serbisch-Orthodoxen Kirche gibt es solche<br />

prophetischen Stimmen:<br />

Radovan Bigović, Professor an der Theologischen Fakultät der Serbisch-<br />

Orthodoxen Kirche in Belgrad, beklagt sich über die metaphysische Zerrissenheit,<br />

in der sich sein Volk befindet. Er meint, man habe in seinem<br />

Land eine besiegte Ideologie, den Marxismus, durch eine „beschämende,<br />

nationale Ideologie“ ersetzt. „Die Nation wird in den Rang einer neuen<br />

Göttlichkeit, einer neuen Religion erhoben“, sagte Professor Bigović.<br />

Der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche, Aleksij II., wünscht<br />

keine Umfunktionierung der Kirche in eine exklusive Staatsreligion im<br />

Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern tritt für Toleranz ein, indem er sagt:<br />

„Der orthodoxe Christ darf Demokrat, Anhänger der parlamentarischen<br />

oder Präsidialrepublik, Monarchist oder sonst was sein. Nur eines darf er<br />

nicht tun: seinem Nächsten das Schlechte wünschen, danach streben, den<br />

Menschen einer anderen Nationalität, anderer Ansichten oder Überzeugungen<br />

zu schaden.“<br />

Nur in solcher Verbundenheit mit dem Schicksal des eigenen Volkes,<br />

dem sie in der Geschichte beistand, betrachtet sich die serbische Kirche<br />

als national. Dabei wird die Lokalkirche immer in Verbindung mit der<br />

universalen Kirche erfaßt. Ihre Katholizität überschreitet die Ethnizität,<br />

und die Ortskirche existiert in Wahrheit nur in der Gemeinschaft mit den<br />

Schwesterkirchen. Die Kirche darf sich nicht isolieren, andere Nationen<br />

nicht hassen. „Die Kirche betrachtet sich mit dem Schicksal des Volkes,<br />

dem sie in ihrer Geschichte beistand, verbunden, sie unterstützt jedoch<br />

nicht die Idee der Überlegenheit eines Volkes gegenüber einem anderen.<br />

Theologisch betrachtet, bleibt die Nation ein sekundäres Element“, so<br />

128


Pater Dr. Mircea Bassarab in „Ökumenische Perspektiven“ 1995: „Kirche<br />

und Nation“. Von Rassismus und Nationalismus hat sich die Orthodoxe<br />

Kirche – wie allgemein von jeder Diskriminierung – durch ihre<br />

Stellungnahme auf der III. Vorkonziliaren Panorthodoxen Konferenz in<br />

Chambesy 1986 deutlich abgewendet.<br />

Nun ist es aber Zeit, gewisse notwendige Schritte zur ökumenischen<br />

Erziehung zu unternehmen, nicht nur um pluralistisch denken zu lernen,<br />

sondern auch um die Idee der Einheit aller Christen in Christus Jesus –<br />

nach dem Zeugnis des Neuen Testaments sowie der durch Christi Kreuz<br />

ermöglichten Versöhnung der verfeindeten Völker (nach Eph 2,14–16) –<br />

zu verwirklichen. Die Idee der Solidarität der Jünger Christi (nach Gal<br />

6,2; Kor 12,12–27 und anderen Worten des N.T.). Die Idee, daß jeder<br />

Christ, jede Kirche und jedes Volk einen Dienst zu leisten hat am Reiche<br />

Gottes. Zu all diesen Worten „kommt die Tat“ (Gal 5,6).<br />

Die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien existierenden Religionen<br />

– das Christentum mit seinen kirchlichen Konfessionen, der Islam<br />

und das Judentum – brauchen in den Familien und in ihren Einrichtungen<br />

eine sogenannte multinationale, interkulturelle und interreligiöse ökumenische<br />

Bewußtseinsbildung, die das religiöse, christliche und moralischethische<br />

Menschenbild prägt und zum Überschreiten der national-geschichtlichen<br />

Bildschwelle verhilft. Durch Dialog, Kennenlernen und<br />

Aufklärung sollen wir in die Lage versetzt werden, nicht allein die heilsamen<br />

„Rezepte“ unserer heiligen Bücher – Thora, Bibel oder Koran – zu<br />

finden, sondern sie zur tatsächlichen Heilung unserer gleichermaßen<br />

erkrankten Gesellschaften anzuwenden. Wir sind keine bloßen, unbeteiligten<br />

Zuschauer, sondern in die Probleme voll verflochten. Unsere primäre<br />

gesellschaftsbezogene Aufgabe liegt in der Überwindung von jeglicher<br />

Fremdenfeindlichkeit, von Rassismus und Gewalt. Der Schutz des<br />

anderen ist nicht nur humanitäre Tat, sondern Gebot Gottes (2 Moses<br />

19,33–34). Gottesebenbildlichkeit gilt allen Menschen (1 Moses 1,27),<br />

und Seinen Segen hat er allen Menschen erteilt (1 Moses 12,3). Im Kreuz<br />

Jesu Christi sind verfeindete Völker auf den Weg der Versöhnung gerufen<br />

(Eph 2,14), und Wertunterschiede zwischen den Menschen gibt es in der<br />

Gemeinschaft durch Christus nicht (Gal 3,28).<br />

In den multinationalen und Vielvölkerstaaten kann die mögliche stabile<br />

Verbindung von Nation und Konfession in Ortskirchen ein wichtiges<br />

129


Mittel des politischen und religiösen Friedens wie auch des ökumenischen<br />

und interethnischen Miteinanders sein, obwohl dabei der Mißbrauch<br />

der Religion für nationalistische Zwecke sehr oft naheliegt. Zu<br />

warnen ist davor, sich von der Serbisch-Orthodoxen Kirche insgesamt zu<br />

distanzieren, wie das bereits gefordert wurde, indem man ihre Positionen<br />

mit denen von Nationalisten und pseudo-religiösen Fanatikern in einen<br />

Topf wirft. In dieser Perspektive ist der Krieg zwischen den südslawischen<br />

Völkern nicht ein lokaler Krieg, sondern ein fast gesamteuropäischer<br />

„Stellvertreter-Krieg“ (so Hermann Goltz, Professor für Konfessionskunde<br />

an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), in welchem<br />

nicht zuletzt Westeuropa und auch die westchristlichen Konfessionen<br />

unter unbewußtem Mißbrauch des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung<br />

den Weg hin zu nationaler und konfessionell-religiöser<br />

Koexistenz im ehemaligen jugoslawischen Bundesstaat abgeschnitten<br />

haben. Die serbische Kirche ist in ihrem Wesen ökumenisch, jedoch nicht<br />

alle ihre Mitglieder sind sich dieser Tatsache bewußt. Sie darf nicht dem<br />

militanten Laizismus und dem modernen Neophytismus gleichgestellt<br />

werden, deshalb wäre der Vorwurf des Ethnophiletismus gegen die serbische<br />

Kirche ungerecht. Es handelt sich vielmehr um eine tragikomische<br />

Verflechtung verschiedener Aktionen und Reaktionen, insbesondere hinsichtlich<br />

des brutalen gegenseitigen Vorgehens. Dieses dürfte mehr oder<br />

weniger auch auf ihre Nachbarn zutreffen.<br />

Daß das nicht immer so ist, bestätigt der Bericht des Schweizer parlamentarischen<br />

außenpolitischen Ausschusses über das Treffen der Religionsvertreter<br />

der in den Bosnienkrieg Verwickelten, das am 17. Januar<br />

1995 in Bern stattfand. Für die Katholische Kirche war Kardinal Puljić<br />

aus Sarajevo anwesend, für die Serbische Kirche Bischof Atanasije von<br />

Mostar und für die Islamische Gemeinschaft deren Reis-Ul-Ulema Cerić.<br />

Während der Anhörung, die offen und sachlich war, äußerten der Kardinal<br />

und der Bischof, sich in der Zwischenzeit mehrmals begegnet zu sein.<br />

Auf die Frage an den Reis-Ul-Ulema, ob es seinerseits zu einer Begegnung<br />

mit den Vertretern der Serbisch-Orthodoxen Kirche gekommen sei,<br />

antwortete er: „Nein, und wir wünschen auch keine!“<br />

In den Köpfen und Herzen eines jeden einzelnen Menschen beginnen<br />

Versöhnung und Frieden, nicht beim Abschluß eines internationalen Friedensvertrages.<br />

An der Versöhnung kräftig mitzuarbeiten lohnt sich. Es ist<br />

130


ein Wort, das hoffen läßt, Feindschaft überwindet, Unrecht wiedergutmacht,<br />

verletztes Leben heilt. Durch die verpflichtenden Aufgaben, die<br />

unzähligen Wunden zu heilen, zerstörte Gottes- und Wohnhäuser wiederaufzubauen,<br />

dem Haß durch Vergebung und Versöhnung ein Ende zu<br />

setzen und ein friedliches Leben mit Kroaten, Muslimen und anderen zu<br />

ermöglichen, wird man „eine neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17–21). Dazu<br />

braucht man Taten der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe.<br />

Der gottbekämpfende Atheismus hat eine viel zu große seelische und<br />

moralische Verwüstung bei den Völkern des Balkans hinterlassen. Die<br />

damals vorhandene zwischenmenschliche Ideologie war bei den meisten<br />

oberflächlich und vor allem gottlos, die Stimme der Kirche fremd, meistens<br />

überhört und nicht wahrgenommen. Als Folge dessen entstand die<br />

Ausweglosigkeit der Gesellschaft und der Kirche gleichermaßen.<br />

Die Stimmen der Einsamen verstummten nicht. Mitte Februar 1996<br />

fand in Belgrad ein ökumenisches Symposion über Versöhnung statt.<br />

Veranstaltet wurde es von der Theologischen Fakultät der Serbisch-<br />

Ortho doxen Kirche in Zusammenarbeit mit der Konferenz Europäischer<br />

Kirchen. Teilgenommen haben etwa dreißig Kirchenvertreter aus fünfzehn<br />

Ländern Europas und Nordamerikas, darunter auch aus Bosnien,<br />

Kroatien, Slowenien und Serbien als Gastgeber.<br />

In seinem Grußwort hat der serbische Patriarch Pavle betont, daß die<br />

Religionen und Kirchen nicht einen von Menschen geschaffenen, sondern<br />

einen von Gott gestifteten, ewigen Frieden anstreben müssen. „Die<br />

irdischen Interessen sind von zeitlicher Dauer. Die himmlischen haben<br />

eine ewige Gültigkeit. Kein Territorium auf dieser Erde, auch nicht eines<br />

Großserbiens, ist ein Menschenleben wert. Denn was nützt es dem Menschen,<br />

wenn er die ganze Welt besitzt und dabei seine Seele verliert,<br />

mahnt das heilige Evangelium.“<br />

Der Dekan der Theologischen Fakultät stellte fest, daß „Aufgabe und<br />

Pflicht der akademischen Bildungsstätte der Serbischen Kirche nicht<br />

allein die Wissensvermittlung ist, sondern auch die Hilfestellung für das<br />

eigene Volk und für die Völker des ehemaligen Jugoslawiens, um den<br />

Weg aus der Tragödie finden zu können.“ Nicht allein die Bereitschaft<br />

zur Versöhnung, sondern eine tiefe Buße für alle Vergehen seien unumgänglich<br />

und dringend notwendig. Ansonsten werde das Wort „Versöhnung“<br />

leer und inhaltslos bleiben. Die Versöhnung mit Gott und mitein-<br />

131


ander müsse sichtbare Frucht tragen und eine Quelle neuen Lebens werden.<br />

Denn wenn „jemand sagt: Ich liebe Gott (den er nicht sieht), aber<br />

seinen Bruder haßt (den er sieht), ist er ein Lügner“ (1 Joh 4,20).<br />

Der Rektor des Belgrader Priesterseminars mahnte, die Friedensbitte<br />

der Vaterunserbitte nach Brot gleichzusetzen. Und es wurde praktiziert.<br />

Dann die Initiativen zu den Friedenstreffen mit dem kroatischen Kardinal<br />

Kuharić in Sremski Karlovci, in Slavonski Brod, in Genf, zuletzt in<br />

Sarajevo. Der Patriarch hat sie guten Willens ergriffen und ist ihnen vorbehalts-<br />

und bedingungslos gefolgt. Manche solcher Initiativen wurden<br />

von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, übersehen oder durch den<br />

Medienkrieg verschwiegen. Schuld daran sind nicht nur die verschiedenen<br />

Interessen mancher Medienvertreter im Westen, sondern auch die<br />

bewußt kirchenfeindliche und wahrheitswidrige von den Verantwortlichen<br />

des serbischen bzw. jugoslawischen Staates gelenkte Medienpolitik.<br />

Auch weiß man kaum davon, daß in Belgrad analog zum „Unbekannten<br />

Soldaten“ ein Denkmal für den „Unbekannten Deserteur“ errichtet<br />

wurde. Ein Beweis dafür ist die neuerliche Torpedierung eines Versuchs<br />

der Annäherung der serbischen Stadt Kragujevac an die deutsche Bevölkerung<br />

zur Aufarbeitung der Folgen des II. Weltkriegs. Die staatlichen<br />

Politiker meinen, die Zeit sei noch nicht reif dafür. Ich meine: Es ist höchste<br />

Zeit dafür!!<br />

Daß die Serbisch-Orthodoxe Kirche einen unverwechselbaren Versöhnungsauftrag<br />

wahrgenommen hat, bestätigt der offizielle Bericht der<br />

Jahrestagung der Kirchensynode von Mitte Mai des Jahres <strong>1997</strong> unter<br />

Vorsitz Seiner Heiligkeit des Patriarchen Pavle. Dies kommt zum Ausdruck<br />

im folgenden Aufruf der Bischöfe zur Versöhnung und Erneuerung,<br />

in dem es heißt:<br />

„In vollem Bewußtsein der Hirtenverantwortung der Synodenmitglieder<br />

in dieser überaus schweren Zeit hat das Gremium versucht, sein Möglichstes<br />

zu tun. Ins Auge gefaßt wurden zunächst die schrecklichen geistlichen<br />

und materiellen Folgen des Bürgerkriegs, die vielen Menschen,<br />

die – auf allen beteiligten Seiten – Opfer des Krieges geworden sind, die<br />

seelisch und leiblich Kranken, die zu Hunderttausenden Vertriebenen,<br />

insbesondere Frauen und Kinder. Erst jetzt sind die tiefgreifenden Folgen<br />

der gottlosen Entwicklung der letzten Jahrzehnte sichtbar geworden: Ein<br />

Zerfall der geistigen und moralischen Grundwerte… Hoffnungslosigkeit<br />

132


und Entwürdigung der Menschen… und das alles am Vorabend des dritten<br />

Millenniums seit der Geburt unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus,<br />

der Hoffnung der Welt… Gleichzeitig werden gewisse Zeichen<br />

erblickt, die Hoffnung und Trost vermitteln und eine Wiederauferstehung<br />

versprechen. Ein geistiges Erwachen und der ehrliche Wunsch nach wahrem<br />

Frieden und nach Versöhnung, und zwar unter uns selbst wie auch<br />

mit allen anderen… Mit jedem Menschen als Ebenbild Gottes… Insbesondere<br />

setzen wir uns ein für die Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Heimatgebiete<br />

und für deren freies und friedliches Leben… Wir fordern für<br />

unsere Seelsorger in den nichtserbischen Gebieten volle Wirkungs- und<br />

Bewegungsfreiheit und unterstützen die die gleichen Rechte betreffenden<br />

Forderungen der Römisch-Katholischen Kirche und der Islamischen<br />

Gemeinschaft in der Republika Srpska…“<br />

Leider stellt auch hier, wie im Fall der „Berner Aussage“, die Synode<br />

„die Rechtlosigkeit der Serbisch-Orthodoxen Kirche im heutigen Mazedonien<br />

fest. Es ist das einzige Land der Welt, in dem durch geltendes<br />

Recht dem serbischen Klerus Zutritt und Wirken unter dem serbischen<br />

gläubigen Volk, das dort lebt, verwehrt ist.“ Der bisherige Administrator<br />

für die Serbisch-Orthodoxen in Mazedonien, Bischof Pachomius, hat aus<br />

Hoffnungslosigkeit sein Amt niedergelegt. Der Patriarch selbst hat sich<br />

der Sache angenommen und soll versuchen, die Beziehungen zu Mazedonien<br />

herzustellen.<br />

Zu Stützen der Aussöhnung zählen Ehrlichkeit und Offenheit, die alle<br />

zerstrittenen Parteien mitbringen müssen. Das Verschweigen unchristlicher<br />

und unmenschlicher Taten, die auch mißbräuchlich im Namen der<br />

Serbischen Kirche und des serbischen Volkes geschehen sind, wäre ein<br />

nicht mehr zu verzeihendes Verbrechen. Dies trifft genauso auf die<br />

anderen an den Auseinandersetzungen Beteiligten zu: Katholiken und<br />

Moslems.<br />

Die Serbische Kirche in der Diaspora, somit auch in Deutschland,<br />

schließlich auch meine Kirchengemeinde in München, für die ich die<br />

Verantwortung trage, hat all ihre zur Verfügung stehenden Mittel für<br />

Frieden und Völkerverständigung bereitgestellt. Friedensgespräche und<br />

-gebete wurden und werden initiiert, es wurde eingeladen und Einladungen<br />

gefolgt. Tage der Kriegsflüchtlinge, an denen auch katholische und<br />

muslimische Männer, Frauen und Kinder teilgenommen haben, wurden<br />

133


mit Benefizkonzerten im serbisch-orthodoxen Gemeindezentrum in<br />

München veranstaltet. Besonderen Wert lege ich dabei auf die aktive Mitarbeit<br />

meiner Gemeinde und von mir persönlich im Rahmen des internationalen,<br />

interreligiösen und interkulturellen Zentrums „Zajedno“ in<br />

München und Sarajevo unter der Leitung des Franziskanerpaters Prof.<br />

Marko Orsˇolić. Ebenfalls auch in der „Friedensrunde“ der Evangelischen<br />

Studentengemeinde in München unter der Leitung von Pfarrer Hans<br />

Löhr… Nicht selten haben wir die Grenze der Selbstverleugnung überschritten,<br />

indem man öffentliche Ermahnungen an das eigene Volk eindeutig<br />

und unmißverständlich ausgesprochen hat, das Schuldbekenntnis<br />

öffentlich ablegte, unter anderen auch beim vorletzten Evangelischen<br />

Kirchentag in Hamburg, und Gott und die Betroffenen für die durch mein<br />

Volk erlittene Ungerechtigkeit um Vergebung bat.<br />

Ein meiner Meinung nach von Gottes Vorsehung gegebenes, wichtiges<br />

und überzeugendes Ereignis hat mich zur Friedensarbeit noch weiter<br />

beflügelt:<br />

Im Sommer 1992, als der Krieg in Bosnien am heftigsten tobte, kam<br />

der in Sarajavo ansässige Franziskanerpater Prof. Marko Orsˇolić nach<br />

München. Zu unserem Patrozinium habe ich ihn eingeladen und meinem<br />

Bischof und der Gemeinde nach dem Festgottesdienst vorgestellt. Trotz<br />

aller herrschenden Umstände infolge des Krieges wurde er von allen<br />

Anwesenden – und es waren mehrere hundert Serben – sehr herzlich und<br />

begeistert willkommen geheißen. Daran habe ich erkannt: Die Menschen<br />

sind gut, zum Bösen werden sie verführt und verleitet, gar mißbraucht.<br />

Davon bin ich als Christ und Mensch fest überzeugt!<br />

Aus dieser Begegnung sind nun viele Initiativen und Brücken zwischen<br />

den Völkern des ehemaligen Jugoslawiens, besonders unter den Kriegsflüchtlingen,<br />

entstanden. Auch manche ökumenische Trauung oder Taufe,<br />

gar eine bislang nicht gekannte und ökumenisch-exemplarische Beerdigung<br />

erlebten wir und erleben wir immer wieder als lohnende Früchte der<br />

durch den Geist Gottes getragenen Versöhnungsarbeit. Die Verleihung<br />

des Abt-Emmanuel-Heufelder-Stiftungspreises der Abtei Niederaltaich<br />

für den „Mutigen Einsatz für Verständigung und Frieden zwischen orthodoxen<br />

und katholischen Christen im ehemaligen Jugoslawien“ an Pater<br />

Marko und an mich war ein zusätzlicher und kräftiger Impuls auf dem<br />

langen Weg der Aussöhnung.<br />

134


„Ohne friedvolle Menschen gibt es keinen Frieden auf Erden, weder in<br />

der Familie noch auf der Straße, noch zwischen Völkern und Kulturen“,<br />

so die Zweite Ökumenische Versammlung in Erfurt 1996. „Der christliche<br />

Glaube ist aus nationalistischen Verengungen herauszuführen, weil<br />

er, der Glaube, das Erfahrungsgeflecht einer Nation mit der Predigt vom<br />

Reich Gottes konfrontiert und damit horizonterweiternd wirkt“, heißt es<br />

weiter in der Versammlungserklärung (MD 6/96).<br />

Herr Professor Reinhard Frieling hat in „Evangelisches Profil und ökumenische<br />

Verpflichtung“ zum Ökumenischen Lagebericht 1993 geschrieben:<br />

„die jahrhundertelange national-, staats-, volks- oder freikirchliche<br />

Prägung der Kirchen in Europa wird noch lange bestimmend bleiben…<br />

Besseres gegenseitiges Kennenlernen ist immer noch eine unerläßliche<br />

Voraussetzung für mehr Gemeinschaft. Wo es nationalistische und konfessionalistische<br />

Enge in den Kirchen gibt, ist Selbstkritik und Buße nötig.<br />

Es ist dann auch notwendige Seelsorge der Kirchen aneinander, anderen<br />

Kirchen offene Worte, Klagen, Anklagen und Bitten vorzutragen…<br />

Es gibt keine rein innerkonfessionelle Angelegenheiten mehr, die andere<br />

nichts angehen würden. Es geht um gegenseitige Hilfe“ (EPD Dok, <strong>Nr</strong>.<br />

40/93).<br />

Durch die Religionen dürfen die Menschen nie mehr geteilt werden.<br />

Religionen müssen vertrauensbildend wirken durch theologische Arbeit<br />

zwischen Juden, Christen und Moslems. Dafür sind nicht primär politische,<br />

sondern vielmehr christlich-ethische Grundprinzipien als Voraussetzung<br />

notwendig.<br />

135


Prof. Dr. Robert Hotz SJ, Zürich<br />

Wie dienen die Kirchen den Menschen<br />

in Rußland?<br />

An religiösen Heilsbringern aller Art mangelt es derzeit nicht in Rußland,<br />

seit sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine Vielzahl<br />

von ausländischen Gruppierungen aus unterschiedlichen Motiven ans<br />

Werk gemacht hat, Rußland zu missionieren. Das Unheilvolle daran ist<br />

nur, daß unter den verschiedenen Religionsgemeinschaften, die derzeit in<br />

Rußlands Gefilden wirken, ein erbitterter Konkurrenzkampf ausgebrochen<br />

ist, wo das Erfolgsdenken der eigenen Gruppe nur zu oft wenig<br />

Raum für Nächstenliebe gegenüber Andersdenkenden offen läßt und wenig<br />

religiöse oder christliche Toleranz geübt wird. Insbesondere von den<br />

ausländischen Sekten wird auf die „einheimischen“ religiösen Bekenntnisse,<br />

orthodoxe Christen, Muslime und Buddhisten, kaum Rücksicht<br />

genommen. Deren Glaubensboten wissen oft auch wenig von russischer<br />

Geschichte, Kultur und Mentalität, verfügen aber dafür in vielen Fällen<br />

über erhebliche finanzielle Mittel, welche sie in karitative Aktionen investieren,<br />

um für ihre Sache zu werben.<br />

Solche karitative „Investitionen“ tragen zweifellos auch Früchte, um<br />

so mehr als das Leben für viele Bewohner Rußlands inzwischen noch<br />

weit schwieriger geworden ist als zu kommunistischen Zeiten. Da in der<br />

Orthodoxie traditionell der Kult und nicht karitative Unternehmungen im<br />

Vordergrund stehen, bedeutet der Erfolg der fremden Missionare eine<br />

schwerwiegende Herausforderung für die Russische Orthodoxe Kirche.<br />

Wenn es auch innerhalb des Moskauer Patriarchats nicht an diversen<br />

Versuchen fehlt, die karitative Tätigkeit der Kirche zu intensivieren, so<br />

mangelt es der Kirche doch sowohl an den ausgebildeten Leuten als auch<br />

am Geld. Somit vermag sie der ausländischen Caritas nichts Ebenbürtiges<br />

entgegenzusetzen.<br />

136


Um die westliche Konkurrenz zu bremsen, setzt das Moskauer Patriarchat<br />

einmal mehr in seiner langen Geschichte auf den Schutz des Staates.<br />

Durch eine Veränderung des bestehenden Religionsgesetzes soll gleichsam<br />

die privilegierte Stellung des Moskauer Patriarchats auf Kosten aller<br />

sogenannten „ausländischen Kirchen“ festgeschrieben werden. Manche<br />

orthodoxe Kirchenführer scheinen bereits die Lehren aus der Geschichte<br />

vergessen zu haben, daß eine enge Verquickung mit dem Staat gefährliche<br />

Abhängigkeiten in sich birgt. Es sind nämlich ausgerechnet nationalistische<br />

Gruppierungen aller Schattierungen sowie die Ex-Kommunisten,<br />

welche die Bestrebungen der russischen Orthodoxie zu neuem<br />

Staatskirchentum am eifrigsten unterstützen.<br />

Am 23. Juni <strong>1997</strong> votierte das russische Parlament mit 300 zu acht<br />

Stimmen für eine Gesetzesnovelle, welche der russischen Orthodoxie<br />

eine besondere Stellung einräumt und den Islam, den Buddhismus und<br />

das Judentum als „traditionelle“ Religionen der Ex-Sowjetunion anerkennt,<br />

aber zugleich den anderen religiösen Gruppierungen erhebliche<br />

Beschränkungen auferlegt. Es ist hier nicht der Platz, um im Detail auf<br />

dieses Gesetz einzugehen. Aber es kann schwerlich erstaunen, daß diese<br />

Novelle auch eine Beschränkung der karitativen Tätigkeit von Minderheitenkirchen<br />

vorsieht. Angesichts der eigenen Unfähigkeit zu weitreichenden<br />

karitativen Aktivitäten suchen das Moskauer Patriarchat und<br />

seine Helfer einfach die Caritas der „Konkurrenten“ zu unterbinden, ein<br />

aus christlicher Sicht wahrlich fragwürdiges Unterfangen.<br />

Als nicht weniger fragwürdig erscheint die Tatsache, daß das betreffende<br />

Gesetz weder der Katholischen noch der Evangelisch-Lutherischen<br />

Kirche irgendwelche Sonderrechte zuerkennt, obwohl diese beiden Kirchen<br />

auf russischem Boden Tausende von Gläubigen, vor allem Balten,<br />

Polen und Deutschstämmige, zu betreuen haben, welche im Gefolge der<br />

Stalinschen Deportationen nach Rußland verschleppt worden waren.<br />

Seit die mit Rom unierten Kirchen des byzantinischen Ritus aus ihrem<br />

Katakombendasein wieder an die Öffentlichkeit getreten sind, ist der<br />

ökumenische Honigmond zwischen Moskau und Rom einmal mehr tiefer<br />

Eiszeit gewichen. Während die Aktivitäten der Sekten vom Moskauer<br />

Patriarchat als Ärgernis empfunden werden, betrachtet es die Tätigkeiten<br />

der Katholischen Kirche als ausgesprochene Gefahr. Und während das<br />

Moskauer Patriarchat im westlichen Ausland munter missioniert, be-<br />

137


zeichnet es bereits die Betreuung von katholischen Gläubigen Rußlands<br />

durch eigene katholische Priester als „Proselytismus“ (d.h. als Abwerbung<br />

der eigenen Gläubigen). Die Angst des Moskauer Patriarchats ist<br />

nicht ganz unberechtigt, denn es ist schwerlich zu bestreiten, daß die<br />

Katholische Kirche heute gerade bei den Intellektuellen über ein beträchtliches<br />

Ansehen verfügt, weil sie sich im Gegensatz zur russischen<br />

Orthodoxie weit weniger durch Kollaboration mit den Kommunisten<br />

diskreditierte. Also soll auch dieser unbequeme Zeuge per Gesetz zum<br />

Schweigen verurteilt werden.<br />

Noch versucht Präsident Jelzin, die Unterzeichnung der intendierten<br />

Gesetzesänderung angesichts negativer Reaktionen im Ausland hinauszuzögern.<br />

Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Parlament den<br />

Präsidenten zu überstimmen vermag. Zudem ist das Moskauer Patriarchat<br />

zu keinerlei Kompromissen zu bewegen. Dabei erscheinen die derzeitigen<br />

Machtkämpfe eigentlich paradox, wenn man davon ausgeht,<br />

daß höchstens 40% der russischen Bevölkerung (nicht zu verwechseln<br />

mit der Bevölkerung Rußlands) orthodox sind oder sich zumindest der<br />

Orthodoxie zugehörig fühlen, womit im Grunde genommen 60% der<br />

russischen Bevölkerung einer seriösen Missionierung harren. Die Frage<br />

erhebt sich, ob das Moskauer Patriarchat überhaupt der Aufgabe einer<br />

Neumissionierung gewachsen ist. Denn der orthodoxe Klerus, in den<br />

letzten Jahren im Schnellverfahren herangezogen, ermangelt in vieler<br />

Hinsicht der nötigen Ausbildung, von der Kenntnis anderer religiöser<br />

Gemeinschaften als der eigenen ganz zu schweigen. Hier stoßen denn<br />

auch innerhalb der Orthodoxen Kirche die Vorstellungen einer kleinen,<br />

sozial aufgeschlossenen und modern denkenden Gruppe von Priestern<br />

mit denen der konservativen Majorität hart aufeinander und führen gelegentlich<br />

zu einem offenen Bruch.<br />

Umgekehrt sind allerdings auch viele Fragezeichen gegenüber den<br />

fremden Missionsbemühungen am Platz, welche den landeseigenen Traditionen<br />

oft wenig Rechnung tragen. Die Mischung von Ignoranz und<br />

Überheblichkeit, die meist auch noch mit religiösem Fanatismus gepaart<br />

ist, muß insbesondere bei denen Widerstand wecken, welche die Zeit der<br />

religiösen Verfolgung unter dem Kommunismus mit vielen Opfern<br />

durchlitten haben. Denn diese Glaubenszeugen fragen sich zu Recht,<br />

weshalb sie jetzt von westlichen Glaubensboten missioniert werden soll-<br />

138


ten, von denen sie in der Zeit der Verfolgung nie etwas gehört oder gesehen<br />

haben. Zudem kann man sich gelegentlich nur schwer des Eindrucks<br />

erwehren, daß bei der Mehrzahl der religiösen Gemeinschaften in<br />

Rußland gegenwärtig die eigenen Ziele und Interessen Vorrang vor dem<br />

Bemühen haben, der russischen Bevölkerung in ihrer seelischen und körperlichen<br />

Not helfen zu wollen. Zudem lehrt die Geschichte eindringlich,<br />

daß das „Reischristentum“, d.h. Bekehrungsversuche mittels Nahrungsgeschenken,<br />

meist keine dauerhaften Früchte zeitigt.<br />

Ganz allgemein drängt sich die Erkenntnis auf, daß die verschiedenen<br />

religiösen Gemeinschaften, welche zur Zeit in Rußland wirken, bisher<br />

nicht in der Lage waren, eine grundlegende Veränderung der ethischen<br />

Haltung herbeizuführen. Sie haben auch keine besondere integrative<br />

Kraft an den Tag gelegt und mit ihren Streitigkeiten nur neue Barrieren<br />

aufgerichtet. Denn letztlich geht es in Rußland für die christlichen Kirchen<br />

ja nicht in erster Linie darum, eine Mangelwirtschaft mit Almosen<br />

zu ergänzen, sondern ein geistliches Vakuum zu füllen, das mit dem Zusammenbruch<br />

des Kommunismus entstanden ist, und ein neues moralisches<br />

Bewußtsein zu entwickeln.<br />

Östliche und westliche Vorstellungen im Widerstreit<br />

Die derzeitigen Auseinandersetzungen zwischen den Kirchen in Rußland<br />

kommen allerdings nicht von ungefähr. Sie sind keineswegs nur die<br />

Folge eines egoistischen Gruppendenkens oder Machtstrebens, wie man<br />

gelegentlich vordergründig meinen könnte. Einmal mehr in der Geschichte<br />

treffen nämlich östliche und westliche Geisteshaltungen, die<br />

gegensätzlicher nicht sein könnten, auf russischem Boden hart aufeinander.<br />

Vereinfachend formuliert, könnte man sagen, daß der westliche<br />

Gläubige seinen Blick auf diese Welt richtet, die er im Geiste göttlicher<br />

Gerechtigkeit umzugestalten trachtet, während der östliche Gläubige<br />

seine Augen dem Himmel zuwendet und im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit<br />

versucht, in seinem Menschsein dem himmlischen Urbild<br />

immer besser zu entsprechen.<br />

Westliches Denken strebt nach einer Heiligung dieser Welt, derweil die<br />

östliche Spiritualität die Heiligung des Menschen, bzw. seine Vergottung<br />

139


(theosis) zum Ziele hat. Denn für den (noch immer neuplatonischem<br />

Denken verpflichteten) östlichen Gläubigen stellt diese Welt bloß ein<br />

schattenhaftes Abbild der überirdischen Wirklichkeit dar. Deshalb gilt es,<br />

den Blick auf die eigentliche, d.h. himmlische Realität zu richten. (Schatten<br />

verändern zu wollen scheint in der Tat wenig sinnvoll.)<br />

Aus östlicher Sicht verändert sich die Welt automatisch zum Besseren,<br />

wenn sich die Menschen ihrem göttlichen Vorbild angleichen. (Diese<br />

Auffassung vertritt beispielsweise auch Fjodor Dostojewskij in seinen<br />

Werken ständig.) Für den von aristotelischem Denken beeinflußten westlichen<br />

Gläubigen hingegen stellt die Welt eine Realität dar, der man sich<br />

stellen muß. Sie ist den Gläubigen als Ort der Bewährung zur Bearbeitung<br />

anvertraut, wobei bearbeiten zugleich verändern bedeutet. In einer<br />

schlechten und ungerechten Welt lasse sich schwer an Gottes Güte und<br />

Gerechtigkeit glauben, so meinen manche „Westler“ und versuchen sich<br />

deshalb eifrig als „Weltverbesserer“.<br />

Solchem Aktivismus gegenüber erscheinen die östlichen Gläubigen<br />

geradezu als Fatalisten. Eine kleine Episode mag dies vielleicht besser<br />

erhellen als alle theoretischen Erläuterungen. Als ich unlängst eine<br />

Großmutter, die sich völlig für das Wohl ihrer Kinder und Enkel aufopferte,<br />

fragte, weshalb denn niemand gegen die bestehenden Mißstände<br />

rebelliere, da antwortete diese fromme Frau mit unverhohlener Mißbilligung:<br />

„Was Gott uns schickt, das müssen wir auch tragen.“ Für sie<br />

schien es völlig unverständlich, sich gegen ein gegebenes Schicksal<br />

aufzulehnen.<br />

Es trifft sicherlich zu, was westliche Kreise immer wieder als Vorwurf<br />

an die Adresse der Orthodoxen Kirche formulieren, daß das östliche<br />

Christentum der Teilnahme am Kult, dem Gebet und der Askese (insbesondere<br />

dem Fasten und Almosenspenden für kultische Zwecke), kurz:<br />

der Hinwendung zum Überirdischen (der Spiritualität), einen weit höheren<br />

Rang einräumt als dem sozialen Engagement in dieser Welt.<br />

In den Klöstern hatte und hat auch heute noch das aktive Leben in<br />

dieser Welt gemäß dem anachoretischen Ideal der Wüstenmönche gegenüber<br />

dem kontemplativen Leben zurückzutreten. Die Arbeit der Mönche<br />

und Nonnen dient deshalb vorwiegend zur Beschaffung des Lebensunterhaltes.<br />

Werke der Nächstenliebe wie die Gastfreundschaft gegenüber<br />

Armen und Pilgern und die Betreuung von Kranken, Waisen und Alten<br />

140


sind dabei durchaus mit eingeschlossen, weil sich in diesen gleichsam die<br />

göttliche Barmherzigkeit darstellt. Diese karitativen Aktivitäten lassen<br />

sich jedoch nicht mit dem großen sozialen Einsatz westlicher Ordensgemeinschaften<br />

vergleichen. 1 Allerdings war gerade mit diesem sozialen<br />

Engagement auch stets die Gefahr verbunden, die Kirche im Endeffekt zu<br />

einer rein sozialen Institution zu degradieren.<br />

Sowohl die östliche wie auch die westliche Haltung haben demnach<br />

ihre Schwächen und Gefahren. Denn der westliche Drang zu sozialer<br />

Weltverbesserung drohte im Okzident immer wieder in einen reinen Aktivismus<br />

auf Kosten der Spiritualität auszuarten, während die Jenseitsorientierung<br />

des Ostens mit ihrer Tendenz zur Weltflucht nur zu oft geneigt<br />

war, das Diesseits zu vernachlässigen. 2 Im Grunde genommen handelt es<br />

sich in beiden Fällen um den Versuch, auf die Mängel und Mißstände dieser<br />

Welt zu reagieren, wobei Ost und West in religiöser Hinsicht bis zum<br />

heutigen Tag unterschiedliche, ja sogar oft gegensätzliche Positionen beziehen,<br />

was in der direkten Begegnung nur zu oft zu bitteren Konflikten<br />

führt. Und genau das ist heute auch in Rußland wieder der Fall.<br />

Der Kommunismus hatte als westlich orientierte Ideologie die Weltveränderung<br />

auf sein Panier geschrieben und ein irdisches Paradies versprochen.<br />

Sein erklärtes Ziel war es, den Westen nicht bloß einzuholen,<br />

sondern sogar zu überflügeln. Der Russischen Orthodoxen Kirche war<br />

dabei jede Möglichkeit eines weltlichen Wirkens entzogen worden, was<br />

deren Tendenz zur Weltflucht noch verstärkte. Ihre Aktivitäten blieben<br />

aus schließlich auf den Kult beschränkt, wobei sie sich auch dort noch<br />

schweren Behinderungen ausgesetzt sah. Der Zusammenbruch des Kommunismus<br />

kam auch für das Moskauer Patriarchat ganz überraschend<br />

und traf die Kirche völlig unvorbereitet.<br />

Zwar hatte die russische Orthodoxie jetzt plötzlich jene Freiheiten zurückerhalten,<br />

die ihr rund 70 Jahre versagt geblieben waren, aber<br />

da nun auch die Unierten wieder ihre Unabhängigkeit vom Moskauer<br />

Patriarchat verlangten, dem sie unter Stalin zwangsweise eingeglie-<br />

dert worden waren, mußte das Patriarchat gleichzeitig eine erhebliche<br />

1) Vgl. Heiler,F., Die Ostkirchen, Ernst Reinhardt Verlag, München/Basel 1971, S.437 und 274.<br />

2) Vgl. Hotz, R., Sakramente im Wechselspiel zwischen Ost und West, Benziger Verlag, Zürich/<br />

Köln 1979, S. 49.<br />

141


Schwächung in Kauf nehmen. Zwar erhielt das Moskauer Patriarchat<br />

(im Gegensatz zu den anderen christlichen Konfessionen) einen Großteil<br />

der vom Staate konfiszierten Kirchen und Klöster zurück, doch dabei<br />

handelte es sich zumeist um Ruinen, die erst wieder auf- und ausgebaut<br />

werden mußten. Außerdem fehlte es nun auch an Geistlichen für die<br />

neuen Pfarreien. Diese mußten dementsprechend im Schnellverfahren<br />

herangebildet werden, wobei schon jetzt abzusehen ist, daß sich deren<br />

mangelhafte Ausbildung in absehbarer Zeit für die Kirche zu einem<br />

Problem entwickeln könnte.<br />

Es scheint symptomatisch, daß sich der Moskauer Patriarch Aleksij II.<br />

auf der ordentlichen Bistumsversammlung der Moskauer Geistlichen, die<br />

am 12. Dezember 1996 in Moskau stattfand, recht unverblümt über bestehende<br />

Mängel im Klerus äußerte, wobei er u.a. neben Habgier, Materialismus,<br />

mangelndem Einsatz und fehlendem Kulturverständnis auch<br />

Herrschsucht, Lieblosigkeit sowie Alkoholismus als klerikale Laster<br />

anprangerte. 3<br />

Da die derzeitige Hauptsorge des Moskauer Patriarchats dem Aufbau<br />

funktionierender Kirchen und Pfarreien gilt, steht damit weiterhin der<br />

kultische Aspekt im Vordergrund, wobei nun allerdings auch der geistlichen<br />

Betreuung der Gläubigen durch Predigt und Katechese eine zusätzliche<br />

Bedeutung beigemessen wird. Hierbei steht man allerdings<br />

noch in den Anfängen, während die in den vergangenen Jahren bei der<br />

äußeren Reorganisation des Patriarchats erbrachten Leistungen durchaus<br />

verdienten, im Buch der Rekorde vermerkt zu werden. Denn in weniger<br />

als einem Jahrzehnt entstanden unter anderem Tausende neuer Kirchen<br />

und Gemeinden, über 400 neue Klöster, 18 neue Geistliche Seminare und<br />

vier neue Geistliche Akademien. Daß bei einem solchen Einsatz kaum<br />

mehr Kraft und Mittel zur Schaffung sozialer Institutionen übrigblieben,<br />

obwohl dies der Patriarch ebenfalls energisch forderte, kann eigentlich<br />

kaum erstaunen.<br />

Zwar gab es einige Bruderschaften und Klöster, die sich gezielt auf<br />

karitative Werke ( wie die Betreuung von Waisenhäusern, Altersheimen,<br />

Spitälern und Gefängnissen) spezialisierten, doch bildeten sie eine Aus-<br />

3) Vgl. Patr. Aleksij II., Wort zur kirchlichen Situation vor dem Moskauer Bistumskonvent; in:<br />

Stimme der Orthodoxie, Berlin <strong>1997</strong>/01/7.<br />

142


nahme. Die orthodoxen Gemeinden vermochten – sofern sie das überhaupt<br />

versuchten – kaum Gläubige für soziale Aufgaben zu mobilisieren,<br />

während beispielsweise Baptisten dem Aufruf ihrer Vorsteher in großer<br />

Zahl Folge leisteten.<br />

Das karitative Denken der Ostkirche<br />

Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Orthodoxe Kirche und deren Gläubige<br />

sich nicht um ihre bedürftigen Mitchristen kümmerten. In einer Botschaft<br />

des Bischofskonzils, das im Februar <strong>1997</strong> in Moskau tagte, findet<br />

sich ein Text, der es verdient, in extenso zitiert zu werden, weil damit<br />

diverse Mißverständnisse ausgeräumt werden.<br />

„Inmitten der Prüfungen und Kümmernisse dieser Welt leben wir aus<br />

dem Glauben an den endgültigen Sieg des Guten über das Böse und Christi<br />

über den Antichristen, an das Kommen jener verheißenen Seligkeit, da<br />

,Gott sein wird alles in allem‘ (1 Kor 15,18), wenn die Leiden der Menschen<br />

zu Ende gehen, da ,Gott abwischen wird alle Tränen von ihren<br />

Augen, und der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid, noch Geschrei, noch<br />

Schmerz wird mehr sein‘ (Apk 21,4).<br />

Doch auch in diesem Leben ist der Kirche die Sorge für die Schwachen<br />

und Unterdrückten, für die Leidenden und Ausgestoßenen, für die Erniedrigten<br />

und Beleidigten aufgetragen. Zur Fürsorge für jene, die in einer<br />

erbärmlichen Lage sind, ruft uns Christus selbst, der nach den Worten<br />

des ehrwürdigen Simeon des Neuen Theologen ,wollte, daß jeder<br />

Arme an Seiner Statt angenommen werde, und der sich selbst jedem Armen<br />

gleich gemacht hat‘. Beim Schrecklichen Endgericht wird er uns genau<br />

danach fragen, ob wir uns nämlich um die Hungernden, die Dürstenden,<br />

um die Obdach- und Kleiderlosen, um die Kranken und Gefangenen<br />

gekümmert haben – und in ihrer Person um Christi selbst. Und ,dann<br />

wird ein unbarmherziges Gericht über jenen ergehen, der nicht Barmherzigkeit<br />

getan hat‘ (Jak 2,13). Auf jene aber, die die Werke der Barmherzigkeit<br />

tun, wird das Wort Christi Anwendung finden: ,Kommt, ihr Gesegneten<br />

meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn<br />

der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben;<br />

ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich bin<br />

143


ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen; ich bin nackt gewesen,<br />

und ihr habt mich gekleidet; ich bin krank gewesen, und ihr habt<br />

mich besucht; ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen‘<br />

(Mt 25,34–36).<br />

Wir durchleben eine nicht leichte Zeit grundlegender Umwälzungen in<br />

allen Sphären des sozialen, ökonomischen und politischen Lebens unserer<br />

Länder. Opfer dieser Umwälzungen werden immer neue Kategorien<br />

von Menschen – Rentner und Kinder, die studierende Jugend und die<br />

Kriegsdienst Leistenden, die Arbeiter und Bauern, Lehrer und Ärzte,<br />

Wissenschaftler und die schöpferische Intelligenz.<br />

In dieser Situation rufen wir die Kinder der Russischen Orthodoxen<br />

Kirche auf, daß ,einer die Last des anderen trage‘ (Gal 6,2), daß alle<br />

unermüdlich ein Beispiel des barmherzigen Dienstes an den Nächsten<br />

geben und darin unserem Erlöser nacheifern. Wir rufen die Geistlichkeit<br />

und die Gläubigen auf, ihre besondere Aufmerksamkeit den Bedürfnissen<br />

der Unglücklichen zuzuwenden, alles Mögliche zu tun, um ihre Lage zu<br />

erleichtern und ihnen eine wirkliche Hilfe zu leisten in allem, dessen sie<br />

bedürfen.“ 4<br />

Tatsächlich werden an bestimmten Tagen in den orthodoxen Kirchen<br />

immer wieder Sammlungen für die Armen durchgeführt, welche auf ein<br />

erstaunliches Echo stoßen, indem die Gläubigen zumeist Naturalabgaben<br />

wie Brot, Butter, Marmelade, Früchte und Gemüse in die Kirche bringen<br />

oder daselbst eine kleine Geldspende leisten. Und dabei sind es oft arme<br />

Leute, welche für die Allerärmsten noch einen Bissen übrig haben. Diese<br />

Gaben werden anschließend von Vertrauensleuten der Pfarrei (meist sind<br />

es Nonnen oder Mönche) an die Armen verteilt. Bei diesem Almosensystem<br />

kommen gerade jene zwischenmenschliche Beziehungen zum<br />

Tragen, die bei der derzeitigen mißlichen wirtschaftlichen Situation, wo<br />

die ohnehin mageren Löhne oft Monate auf sich warten lassen, vielen<br />

Menschen überhaupt ein Überleben sichern. Wo das nackte Überleben<br />

auf dem Spiel steht, fehlt allerdings oft die Kraft, sich noch für größere<br />

karitative Einsätze zu engagieren.<br />

4) Botschaft des Bischofskonzils der Russischen Orthodoxen Kirche Februar <strong>1997</strong>; in: Stimme der<br />

Orthodoxie, Berlin <strong>1997</strong>/01/6.<br />

144


Hier sind die von ausländischen Geldgebern unterstützten fremden<br />

Missionare eindeutig im Vorteil, um so mehr als ihre harten Devisen bei<br />

den herrschenden Wechselkursen oft ein Mehrfaches an Kaufkraft ergeben.<br />

Sie können damit karitative Werke wie Spitäler, Waisenhäuser oder<br />

Ausbildungsstätten aufbauen, die natürlich erheblich mehr auffallen als<br />

die kleinen Almosen. Außerdem verfügen sie oft auch über die nötigen<br />

Kommunikationsmittel wie Rundfunk und Druckereien, um auf diese<br />

Weise breitgestreut ihre Ideen zu verbreiten. Was die technische Seite der<br />

Glaubensvermittlung angeht, sind sie der Orthodoxen Kirche oft weit voraus,<br />

nicht zuletzt auch dann, wenn sie Missionsspektakel im amerikanischen<br />

Stil mit Massenveranstaltungen organisieren. Daß sie damit auf<br />

ortho doxer Seite Widerstand wecken, kann eigentlich schwerlich erstaunen.<br />

Ist Rußland „orthodox“?<br />

Das Auftreten der fremden Glaubensboten hat insbesondere die ohnehin<br />

bedeutende konservative Fraktion innerhalb der russischen Orthodoxie<br />

erheblich verstärkt, welche der Ökumene stets ablehnend gegenüberstand.<br />

Für diese sowohl integristisch als auch nationalistisch denkende<br />

Gruppe bedeutet Ökumene schlicht Verrat an der eigenen Kirche und an<br />

der eigenen Nation, weil er auch anderen christlichen Konfessionen und<br />

fremden Religionen ermöglicht, in den mehrheitlich orthodoxen slawischen<br />

Regionen zu wirken. Im kommunistischen Einheitsdenken erzogen,<br />

gibt es für sie keinen pluralistischen Staat, obwohl dieser Pluralismus<br />

in Rußland de facto längst schon Tatsache geworden ist und es eine<br />

Fiktion darstellt, von einem „traditionell orthodoxen Rußland“ zu sprechen.<br />

Selbst wenn die Russen wirklich einmal traditionell orthodox<br />

gewesen sind, so bleibt zumindest die Tatsache bestehen, daß dies heute<br />

nicht mehr der Fall ist.<br />

Außerdem verdrängen die nationalistischen Traditionalisten geflissentlich<br />

die Tatsache, daß die Vertreter des Moskauer Patriarchats im<br />

westlichen Ausland nur dank der daselbst bestehenden ökumenischen<br />

Gesinnung frei wirken konnten und sich dabei zumeist auch noch einer<br />

kräftigen Unterstützung durch die jeweiligen Landeskirchen erfreuen<br />

145


durften. Von einer gegenseitigen Toleranz wollen sie nichts wissen.<br />

Dementsprechend ist ihnen auch die Mitgliedschaft im Weltkirchenrat<br />

ein Dorn im Auge. Und es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis die<br />

meisten Orthodoxen Kirchen diese ökumenische Organisation verlassen.<br />

Auch für Rußlands Orthodoxie würde das den Weg zurück ins religiöse<br />

Ghetto bedeuten und für die ökumenische Bewegung einen Rückfall in<br />

die Anfänge.<br />

In Rußlands Kirche ist wieder nationale Glorie angesagt. So scheute<br />

sich Patriarch Aleksij II. nicht, diejenigen zu tadeln, welche weder die<br />

heimischen Überlieferungen noch die orthodoxen Traditionen hochhalten<br />

und sich „der heute herrschenden Mode folgend“ schämen, „Rußland<br />

orthodox zu nennen“. 5 Die Russische Orthodoxe Kirche präsentiert sich<br />

mit einem neuen Selbstwertgefühl, dessen Auswirkungen nicht bloß die<br />

Heterodoxen zu spüren bekommen, sondern auch die orthodoxen Schwesternkirchen,<br />

vorab das Patriarchat von Konstantinopel, mit dem eine<br />

recht unchristliche Rivalität besteht.<br />

Angesichts seines Mehrfrontenkrieges und einer zunehmenden internationalen<br />

Isolation liegt es auf der Hand, daß das Moskauer Patriarchat<br />

sich immer mehr an den Staat anlehnen muß und dabei auch vor Koalitionen<br />

mit recht seltsamen Bundesgenossen nicht zurückschreckt. Allen<br />

gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, hat Rußlands Orthodoxie wieder<br />

den alten Weg zum Staatskirchentum eingeschlagen. Nationalen Minderheiten,<br />

die oft auch wie die Polen, Balten und Deutschen religiöse Minderheiten<br />

sind, stehen damit wieder härtere Zeiten bevor, von den verschiedensten<br />

Freikirchen und Sekten, die derzeit in Rußland missionieren,<br />

ganz zu schweigen. Allerdings dürfte das westliche Ausland eine<br />

Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Rußland nicht<br />

einfach stillschweigend und unbesehen hinnehmen.<br />

Es tönt recht eigenartig, wenn Patriarch Aleksij II. den Moskauer Klerus<br />

aufforderte, das Ghetto zu verlassen, um fremde Einflüsse zu bekämpfen,<br />

aber gleichzeitig die eigene Kirche in ein neues, staatliches<br />

Ghetto zu manövrieren scheint. Wörtlich sagte er:<br />

„Die Mehrheit von uns ist unter den Bedingungen einer halbillegalen<br />

5) Vgl. Patr. Aleksij II., Wort zur kirchlichen Situation vor dem Moskauer Bistumskonvent; in:<br />

Stimme der Orthodoxie, Berlin <strong>1997</strong>/01/12.<br />

146


Existenz der Russischen Kirche aufgewachsen. Aber jetzt sind andere<br />

Zeiten, und wenn wir wie bisher in einem Ghetto leben wollen, das man<br />

nicht verlassen kann, dann wird unsere potentielle Herde, unsere getauften<br />

orthodoxen Menschen, von anderen zerrissen, die sich Hirten nennen,<br />

aber nach den Worten der Schrift ,Wölfe im Schafspelz‘ sind.“ 6<br />

Verpaßte Chancen zum gemeinsamen Zeugnis<br />

Man wird der Sorge des Patriarchen um das Wohl seiner Gläubigen<br />

schwerlich die Berechtigung absprechen können, um so mehr als die<br />

Mission mancher religiöser Gruppierungen, die heute Rußland zu beglücken<br />

suchen, durchaus verständliche Kritik hervorrufen muß. Trotzdem<br />

ist es völlig falsch, wenn die Vertreter der Russischen Orthodoxen<br />

Kirche jede Aktivität heterodoxer Glaubensboten kurzerhand als Proselytenmacherei<br />

diskreditieren. Proselytismus bedeutet bekanntlich die<br />

Abwerbung von Gläubigen einer anderen christlichen Konfession. Doch<br />

nach wie vor sind 60% der russischen Bevölkerung gar nicht getauft und<br />

haben sich größtenteils im Verlauf der kommunistischen Herrschaft sowohl<br />

ihrer Kirche als auch der Religion völlig entfremdet. Somit handelt<br />

es sich auch nicht um Glieder der Russischen Orthodoxen Kirche. Wenn<br />

Heterodoxe unter diesen Ungläubigen zu missionieren suchen, wird man<br />

schwerlich von Proselytismus sprechen können.<br />

Außerdem bleibt festzuhalten, daß ungeachtet mancher Fehlformen<br />

von vielen heterodoxen Missionaren auch echte und positive Leistungen<br />

erbracht worden sind, von denen gerade die Ärmsten der Armen, Waisen<br />

und Straßenkinder, Kranke und Alte sowie sozial Benachteiligte durchaus<br />

profitieren. Außerdem hat auch die Russische Orthodoxe Kirche –<br />

selbst wenn sie das nicht eingestehen will – von solchen Aktivitäten im<br />

sozialen und karitativen Bereich durchaus positive Impulse empfangen,<br />

und wenn es nur das Konkurrenzdenken war, vor der Herausforderung<br />

der anderen zu bestehen. Zudem hatten sich manche der heterodoxen<br />

Helfer einer Zusammenarbeit mit dem Moskauer Patriarchat keineswegs<br />

6) Vgl. Patr. Aleksij II., Wort zur kirchlichen Situation vor dem Moskauer Bistumskonvent; in:<br />

Stimme der Orthodoxie, Berlin <strong>1997</strong>/01/9.<br />

147


verschlossen, so daß dieses von den ausländischen Erfahrungen durchaus<br />

hätte profitieren können. Daß solche zwischenkirchliche Hilfe am Ende<br />

scheiterte, hing nur zu oft damit zusammen, daß insbesondere die orthodoxe<br />

Seite diese Hilfe ausschließlich den eigenen Gläubigen zukommen<br />

lassen wollte. 7<br />

Dabei müßten eigentlich gerade angesichts herrschender Not (und die<br />

ist auch in Rußland nicht zu übersehen) konfessionelle Schranken fallen,<br />

weil die Not und das Leiden wahrlich nicht konfessionell gebunden sind.<br />

Hier wäre der gegebene Ort, christliche Nächstenliebe gemeinsam praktisch<br />

zu üben und einander über alle gegensätzlichen Vorstellungen hinweg<br />

die Hand zu reichen. Doch dafür scheint (auch) in Rußland die Zeit<br />

noch nicht reif, womit einmal mehr die Chance vertan wird, das Christentum<br />

glaubwürdig vorzuleben.<br />

Zwar fehlt es nicht an frommen Worten, und selbst die frommen Taten<br />

könnten sich sehen lassen, wenn sie mit- und nicht gegeneinander geübt<br />

würden. Denn nur zu oft benützen auch in Rußland die verschiedenen<br />

religiösen Gruppierungen ihr karitatives Handeln dazu, in einem unchristlichen<br />

Konkurrenzdenken eigene Süppchen zu kochen, womit sie<br />

neue Gräben zwischen den Menschen aufwerfen. Die vielbeschworene<br />

christliche Nächstenliebe bleibt dabei auf der Strecke.<br />

7) Siehe zum Beispiel die evangelischen Erfahrungen mit dem sog. „Runden Tisch“; in: G2W, Zollikon<br />

<strong>1997</strong>/04/7.<br />

148


P. Eugen Hillengass SJ<br />

Schlußwort<br />

Der erste Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> hat uns in konzentrierter<br />

Form die Vielfalt der Kirchen in Mittel- und Osteuropa und insbesondere<br />

ihre Auseinandersetzung mit dem Thema „herrschen oder dienen?“ vor<br />

Augen geführt.<br />

Diese Vielfalt ist gekennzeichnet durch einen geistigen und geistlichen<br />

Reichtum, der die Kirchen im Osten untereinander, aber vielmehr noch<br />

die Kirche im Westen Europas beschenken kann.<br />

Es gibt daneben aber auch die Erfahrung einer oft schmerzlichen Verschiedenheit,<br />

die nicht bereichernde Vielfalt der einen Kirche ist, sondern<br />

Ausdruck geschichtlich gewachsener Trennungen und noch unversöhnter<br />

Spannungen und Spaltungen. Unser Beitrag in Deutschland und darüber<br />

hinaus im Westen Europas zu Versöhnung und Verständigung ist nicht ein<br />

vermeintlich besseres Wissen im Ringen um bestimmte Fragen und nicht<br />

das Verteilen von Rezepten. Für uns bleibt vor allem die Frage an die<br />

Partner in Mittel- und Osteuropa, wie unser Beitrag zu Verständigung und<br />

mehr Ökumene aussehen könnte, konkret: Wie können wir in Deutschland<br />

und Westeuropa helfen, auf die Fragen der Kirchen im Osten Antworten<br />

zu finden?<br />

Die Erfahrung, die Kirchen im Osten in einer glaubensfremden und im<br />

Umbruch befindlichen Welt machen, ist nicht einfach dieselbe wie die<br />

des westlichen Säkularisierungsprozesses. Die Antworten, die in Bezug<br />

auf diese Frage diskutiert worden sind, können aber vielleicht auch für<br />

unsere Situation im westlichen Europa Impulse und Anregungen für die<br />

Glaubensverkündigung geben, vor allem aber können sie uns sensibler<br />

machen für unsere Partnerinnen und Partner und ihre Lebensumstände.<br />

Ein kurzer Ausblick sei erlaubt: Aus den Beiträgen, Diskussionen und<br />

vielleicht auch weiterführenden Ergebnissen dieser drei Tage, aber auch<br />

aufgrund unserer Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit unseren Partnern<br />

kristallisieren sich zwei Brennpunkte zunehmend heraus:<br />

149


Zum einen die Frage der Versöhnung, die uns in verschiedenen gesellschaftlichen<br />

und kirchlichen Erfahrungen begegnet. Dabei geht es um<br />

eine in die Zukunft führende Aufarbeitung des Geschehenen und nicht<br />

um das ständig zurückblickende Verharren in alten Konflikten.<br />

Zum anderen ist es der Fragenkomplex der Entwicklung der Kirchen in<br />

zunehmend pluraler und säkularer werdenden Gesellschaften und der<br />

vielfältigen Erscheinungsformen von Religion in ihnen. Hier stellen sich<br />

uns in Ost und West ähnliche Fragen auf dem Hintergrund sehr unterschiedlicher<br />

Ausgangssituationen. Beides könnten Themen sein, die uns<br />

im Blick auf den nächstjährigen Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong> beschäftigen.<br />

Dieser nächste Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> findet vom 3. bis<br />

5. September 1998 wieder in Freising statt.<br />

Der erste Internationale Kongreß <strong>Renovabis</strong> geht zu Ende. Wir haben<br />

zusammen mit unseren Partnern in Mittel- und Osteuropa einen Weg begonnen,<br />

auf dem uns sicher Ihre Eindrücke und Anregungen inhaltlicher<br />

und organisatorischer Art weiterhelfen können. Für entsprechende Hinweise<br />

und Rückmeldungen wären wir in Freising Ihnen sehr dankbar.<br />

Ich danke denjenigen, die in besonderer Weise durch ihre Beiträge diesen<br />

Kongreß geprägt haben:<br />

den Referenten, Predigern, Teilnehmern an Podiumsgesprächen: Kardinal<br />

Wetter, Kardinal Vlk, Bischof Lehmann, Erzabt Várszegi, Prof.<br />

Halík, Frau Prof. Dr. Dylus, Prof. Feiereis, Dr. Topić, Erzpriester Ivanov,<br />

Erzpriester Milunović, Prof. P. Hotz, Dr. Stricker;<br />

den Moderatoren: Dr. Albus, Frau Waschbüsch, Prof. Grulich, Prof.<br />

Hampel, Dr. Bremer, Herrn Franz Olbert, Herrn Wiesmann (eingesprungen<br />

für Dr. Kronenberg); Dr. Albert, der die Gesamtplanung des <strong>Kongress</strong>es<br />

hatte, zusammen mit Herrn Grycz.<br />

Danken möche ich auch sehr Herrn Dr. Steiner und Herrn Kirchenmusikdirektor<br />

Kiechle für die Abendveranstaltung im Freisinger Dom.<br />

Und so schließe ich den Ersten Internationalen Kongreß <strong>Renovabis</strong><br />

und freue mich auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr.<br />

150


II. Berichte über die Lage der Kirche<br />

in einzelnen Ländern


Dr. Ernst Benz, Königstein/Ts.<br />

Bericht zur Lage der katholischen Kirche<br />

in den baltischen Staaten<br />

1. Litauen<br />

Von den drei baltischen Staaten gilt der größte, Litauen, als ein traditionell<br />

katholisches Land. Man geht von ca. 3 Mio. nominellen Katholiken<br />

im Lande aus, d.h. über 80% der 3.7 Mio. Landesbewohner; 1 doch ist<br />

diese Zahl nur mit großer Vorsicht aufzunehmen. Der Prozentsatz der<br />

Getauften unter den Neugeborenen, der 1958 noch bei 81% gelegen hatte,<br />

war jedenfalls am Ende der Sowjetzeit (1987) auf gerade noch 32% zurückgegangen.<br />

Nur wenig höher lag der Anteil der kirchlichen Beerdigungen<br />

an der Gesamtzahl der Bestattungen (35%), noch weit niedriger<br />

der Anteil der kirchlichen Trauungen an allen Eheschließungen (18%). 2<br />

Von 1988 bis heute dürfte die Zahl der kirchlichen Amtshandlungen<br />

sprunghaft angestiegen sein, wie beispielsweise die Zahlen aus dem<br />

benachbarten Lettland zeigen. 3 Doch wird die Zahl der wirklich praktizierenden<br />

Katholiken auf deutlich unter 30% der Bevölkerung, von einigen<br />

Priestern gar nur auf 15% geschätzt. 4<br />

1) Dies ergibt die Addition der Angaben zu den einzelnen Bistümern (s.u.). Herkunftsmäßig müßten<br />

sogar knapp 85% der Landesbewohner mit der katholischen Kirche verbunden sein, wenn man<br />

die statistischen Angaben zur Zwischenkriegszeit auf die heutige Bevölkerungszusammensetzung<br />

in Litauen umrechnet; damals waren 96,3% der ethnischen Litauer sowie 100% der Polen<br />

und 66% der Weißruthenen katholisch; vgl. Nicola Turchi, La Lituania. Nella storia e nel<br />

presente. Roma, 1933, S. 151 (Tab. IX).<br />

2) Saulius Girnius, The Catholic Church in Post-Soviet Lithuania, in: RFE/RL Research Report,<br />

vol.2, No.41 v. 15.10.1993, S.43–46, hier: S.44.<br />

3) Siehe unten. Detailliert dazu Ernst Benz, Schwieriger Neubeginn. Die Kirche in den baltischen<br />

Ländern nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit. In: Acta Baltica XXXIII. 1995,<br />

S. 107–168, hier: S. 124–127.<br />

4) Girnius,a.a.O.; KNA – ID <strong>Nr</strong>. 16, 21.4.1994, S. 8.<br />

153


Höher liegt allerdings die Zahl derer, die sich selbst als Katholiken<br />

betrachten. Irena Egle · Laumenskaite · vom Zentrum für religiöse Studien<br />

an der Universität Vilnius hat anhand von drei repräsentativen Befragungen<br />

aus den Jahren 1990 bzw. 1991 (Gesamtbevölkerung) und 1994<br />

(junge Bevölkerung) Folgendes herausgefunden: 76% der erwachsenen<br />

Bevölkerung bzw. 52% der 16–30jährigen betrachten sich selbst als<br />

Katholiken. Doch unter den jungen Leuten, die sich als Katholiken betrachten,<br />

besuchten nur 12% jede Woche einen Gottesdienst (1990 noch<br />

25%), 15% einmal im Monat (ebenso wie 1990) und 43% lediglich an den<br />

wichtigen Feiertagen (1990: 20%). Das heißt: Die jungen Leute in Litauen<br />

folgen mehr und mehr dem im Westen schon seit längerem zu beobachtenden<br />

Trend, „zu glauben, ohne dazu zu gehören“. 5<br />

Ähnliche Zahlen finden sich auch in anderen soziologischen Untersuchungen.<br />

So hat Tadeusz Szawiel in einer auf Meinungsumfragen in den<br />

Jahren 1990/91 basierenden vergleichenden Untersuchung über den „Grad<br />

der Religiosität“ in neun ehemals sozialistischen Ländern Ostmitteleuropas<br />

Litauen genau in der Mitte eingeordnet, hinter Polen, der Slowakei,<br />

Slowenien sowie Ungarn und vor Lettland, Tschechien, der ehem. DDR<br />

und Estland. Als Parameter für die Einordnung diente zum einen die<br />

Selbsteinschätzung der Befragten: Dabei bezeichneten sich in Litauen<br />

49% als „religiös“, 34% als „areligiös“, 3% als „atheistisch“ und 15% als<br />

„unentschieden“. Zum anderen war es die Häufigkeit der Gottesdienstbesuche<br />

– „einmal pro Woche“ besuchten in Litauen 16% der Bevölkerung<br />

einen Gottesdienst, „einmal pro Monat“ 12%, „nur an Feiertagen“ 47%<br />

und „nie“ 26%. 6 Angesichts dieser Zahlen kann man Litauen nicht mehr in<br />

dem Sinne als „katholisches Land“ bezeichnen wie etwa Polen, man sollte<br />

es vielleicht als „weltliches Land mit katholischen Traditionen“ bezeichnen,<br />

wie es Pater V. Aliulis Anfang September 1995 getan hat. 7<br />

5) Irena Egle Laumenskaite, The role of the Church in social transition in Lithuania. In: Przemiany<br />

w Europie S ´ rodkowo-Wschodniej, oprac. Grzegorz Dobroczyński; Katolickie Biuro Informacji i<br />

Inicjatyw Europejskich, t.3, Warszawa 1996, S. 165–171, hier: S.166f.<br />

6) Tadeusz Szawiel, Die Christen und der innere Friede – aus der Sicht eines kritischen Beobachters.<br />

In: Osteuropa – die Christen und der Friede in der Gesellschaft. 45. Internationaler Kongreß<br />

„Kirche in Not“, Band 43/1995, Königstein 1996, S. 55–71, hier: S.56 (Tab.1).<br />

7) In einem Arbeitskreis zur Lage der katholischen Kirche in Litauen anläßlich des 45. <strong>Kongress</strong>es<br />

„Kirche in Not“ in Königstein/Ts. auf eine entsprechende Frage des Verfassers. P. Aliulis, ehem.<br />

Direktor des kath. Verlags „Kataliku˛ pasaulis“ und Leiter des Katechetischen Kurses in Vilnius,<br />

ist derzeit Generalvikar der Marianer-Kongregation (MIC) in Rom.<br />

154


Allerdings genießt die katholische Kirche nach wie vor von allen Institutionen<br />

des Landes das höchste Vertrauen, wie eine von der britisch-<br />

litauischen Gesellschaft „Baltic Surveys“ im September 1993 durchgeführte<br />

Meinungsumfrage ergab: Danach vertrauten der Kirche 75% der<br />

Befragten, 13% mißtrauten ihr; den an zweiter Stelle folgenden Massenmedien<br />

vertrauten 69% und mißtrauten 25% usw. 8 Eine gleiche Befragung<br />

im Mai 1994 ergab ein ganz ähnliches Ergebnis, 9 und auch die jüngsten<br />

Umfragen bestätigen dieses Ergebnis: Von allen Institutionen vertrauen die<br />

Menschen in Litauen am meisten der Kirche, gefolgt von den Medien. 10<br />

Dieses Vertrauen in die Kirche gründet nicht zuletzt in dem hohen<br />

Ansehen, das sie sich im litauischen Volk aufgrund ihrer historischen<br />

Verdienste um die Erhaltung und Bewahrung der nationalen Identität gegen<br />

fremde Unterdrückung erworben hat. Während der Sowjetperiode<br />

hatte die katholische Kirche trotz aller Verfolgungsmaßnahmen überlebt<br />

und einen wichtigen Beitrag zu dem Kampf der Litauer für die geistige<br />

und religiöse Wiedergeburt ihres Landes geleistet. Vor allem die Untergrund-Publikation<br />

„Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“, die<br />

von 1972 bis 1989 erschien und damit die am längsten ununterbrochen<br />

erscheinende „Samizdat“-Zeitschrift in der Sowjetunion war, hat zur<br />

kraftvollen Erneuerung der Kirche ganz entscheidend beigetragen. 11 Vom<br />

Jesuitenpater und heutigen Erzbischof von Kaunas Sigitas Tamkevičius<br />

bzw. nach dessen Verhaftung vom Jesuitenprovinzial Jonas Boruta herausgegeben,<br />

trat sie für die verbannten Bischöfe Steponavičius und<br />

Sladkevičius sowie die aus politischen und Gewissensgründen in den<br />

Lagern Sibiriens schmachtenden Litauer ein und ist als bedeutender Wegbereiter<br />

der nationalen Erneuerungsbewegung anzusehen.<br />

Mit der allgemeinen Erneuerung durch die Reformbewegung „Sa˛ju - dis“,<br />

deren Gründungskongreß im Oktober 1988 mit einem feierlichen Pontifi-<br />

8) Lithuania Today, Oct. 93, Issue 8(15), S. 2f.<br />

9) 77% der Befragten vertrauten der Kirche, 16% nicht. An zweiter Stelle folgten die Medien (68%<br />

„vertrauen“, 26% „mißtrauen“). Ebd., June 1994 Issue 5(22), S. 15.<br />

10) Kato - l˛u Dzeive, 1996 <strong>Nr</strong>. 8 (262), S. 48.<br />

11) Die in den Westen geschmuggelten Exemplare wurden dort in viele Sprachen übersetzt, eine<br />

deutsche Übersetzung der 81 Chronik-Nummern in Buchform ist fortlaufend vom Institutum<br />

Balticum des Albertus-Magnus-Kollegs in Königstein herausgegeben worden. Ein Gesamtinhaltsverzeichnis<br />

in: Chronik der Litauischen Katholischen Kirche, <strong>Nr</strong>. 78–81, hrsg. von Ernst<br />

Benz, Königstein 1991, S. 190–268.<br />

155


kalamt beendet wurde, kam die Wende. Zu Beginn des Jahres 1989 durfte<br />

der seit 28 Jahren in den kleinen Ort Zˇagare · verbannte Apostolische Administrator<br />

der Erzdiözese Vilnius, Bischof Steponavičius, in die Hauptstadt<br />

zurückkehren; seine erste Amtshandlung war die Wieder einweihung der<br />

Hauptkirche Litauens, der nach jahrzehntelanger Zweckentfremdung der<br />

Kirche zurückgegebenen Kathedrale. Im März 1989 konnten dann im Einvernehmen<br />

zwischen Vatikan und sowjetischen Behörden erstmals seit<br />

dem Krieg alle sechs litauischen Bischofsstühle besetzt werden.<br />

Am 3. November 1989 wurde die Gewissens- und Religionsfreiheit in<br />

die Verfassung (der damals noch „Sozialistischen Sowjetrepublik“) aufgenommen,<br />

am 1.Dezember der Religionsunterricht in den Schulen<br />

wieder gestattet; im Februar 1990 verabschiedete das litauische Parlament<br />

ein Gesetz „Über die Rückgabe von Gebetshäusern und anderen<br />

Einrichtungen an die religiösen Gemeinschaften“. 12<br />

Hatte somit noch das alte, kommunistisch dominierte Parlament die<br />

schwerwiegendsten Einschränkungen der Religions- und Gewissensfreiheit<br />

beseitigt, so sollte das im Februar 1990 neugewählte Parlament, in<br />

dem die Anhänger des „Sa˛ju - dis“-Vorsitzenden V. Landsbergis eine eindeutige<br />

Mehrheit hatten und das bekanntlich auf seiner ersten Sitzung am<br />

11. März 1990 die Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion erklärte,<br />

die Stellung der Kirche weiter verbessern, doch durch den Wahlsieg<br />

der Exkommunisten unter Algirdas Brazauskas bei den Parlamentswahlen<br />

1992 und anschließend auch bei den Präsidentschaftswahlen<br />

(1993) hatten sich die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat<br />

dann wieder verschlechtert.<br />

Der erdrutschartige Wahlsieg der Konservativen bei den Parlamentswahlen<br />

1996 (die Zahl der Mandate der LDDP, der Nachfolgepartei der<br />

KP, reduzierte sich von 65 auf 12, die von Landsbergis’ Vaterlandsunion<br />

stieg von 24 auf 70) dürfte für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen<br />

Staat und Kirche sorgen, zumal die mit 16 Sitzen als zweitstärkste<br />

Partei aus den Wahlen hervorgegangenen Christdemokraten an der neuen<br />

Regierung Vagnorius als Koalitionspartner beteiligt sind. 13<br />

12) „Zakon o vozvrasˇčenii moleb’nych domov i drugich zdanij religioznym obsˇčinam“ vom<br />

24.2.1990, in russ. Sprache veröffentlicht in: Sovetskaja Litva, 15.3.1990; eine deutsche Übersetzung<br />

in: Informationsdienst Osteuropäisches Christentum (IDOC), <strong>Nr</strong>. 5–6/1990 vom 21.3.1990.<br />

13) Vgl. The Baltic Times, 14.–20. Nov.1996, S. 1 und 8.<br />

156


Eine der Streitfragen zwischen der alten Regierung und der Kirche<br />

hatte die Rückgabe des ehemaligen Kirchenbesitzes betroffen. Im Frühjahr<br />

1994 war nämlich durch einen Regierungserlaß praktisch ein Stopp<br />

der Rückgabe des ehemaligen Kirchenbesitzes erfolgt, und ein im Januar<br />

1995 vom Parlament angenommenes Gesetz konnte zwar durch ein Veto<br />

des Staatspräsidenten, des ehemaligen KP-Chefs Algirdas Brazauskas,<br />

der sich seit dem Ende des kommunistischen Regimes demonstrativ zur<br />

katholischen Kirche bekennt, etwas im Sinne der Kirche abgemildert<br />

werden. Doch auch in der dann am 21. März 1995 vom Präsidenten<br />

vorgeschlagenen, endgültigen Form sind die Ansprüche der Kirche auf<br />

die vollständige Rückgabe ihres ehemaligen Besitzes erheblich eingeschränkt.<br />

14 Nun hofft man, daß es unter der neuen Regierung eventuell zu<br />

einer Revision dieses Gesetzes kommen wird.<br />

Weitere Streitpunkte zwischen Kirche und der LDDP-Regierung bzw.<br />

Parlamentsmehrheit waren die Frage des Religionsunterrichtes und die<br />

Auseinandersetzungen um die Gesetze zum Rundfunk- und Fernsehwesen<br />

sowie zu den Printmedien gewesen. Ein Gruppe linker Abgeordneter<br />

hatte im Februar 1996 einen Gesetzentwurf eingebracht, der das<br />

Bildungsgesetz ändern und den Religionsunterricht aus dem normalen<br />

Unterrichtsprogramm der staatlichen Schulen verbannen wollte. Doch<br />

nach heftigen Protesten der Kirche scheiterte dieser Vorstoß im Parlament.<br />

Im neuen, nun konservativ beherrschten Parlament wird sich sicher<br />

ebenfalls keine Mehrheit zur Änderung des Status quo beim schulischen<br />

Religionsunterricht finden. Derzeit besuchen 344,6 Ts. Schüler in Litauen<br />

den katholischen Religionsunterricht, 163,1 Ts. den alternativen Ethikunterricht<br />

und 12,6 Ts. den Religionsunterricht anderer Konfessionen (vor<br />

allem orthodox). Es ist dabei die Tendenz zu beobachten, daß die älteren<br />

Schüler die Wahlfreiheit nutzen, um in einem Jahr den Religionsunterricht,<br />

im nächsten Jahr den Ethikunterricht zu besuchen. 15 Bei den im Juli<br />

1996 in Kraft getretenen Gesetzen zur Aufsicht über das Rundfunk- und<br />

Fernsehwesen sowie über die Printmedien konnten durch die neue Parla-<br />

14) ·<br />

E cho Litvy, 23.3.95, S.1. The Baltic Observer, 23.–29.3.95, S. 2. Glaube in der 2. Welt (G2W)<br />

5–1995, S. 4.<br />

15) Kastantas Luke · nas, Gediminas Zˇ ukas, Die katholische Kirche in Litauen: Religionsunterricht<br />

und Katechese. In: Ost-West Informationsdienst des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche<br />

Fragen 193. <strong>1997</strong>, S. 72–78.<br />

157


mentsmehrheit am 5. Dezember Modifizierungen durchgesetzt werden,<br />

die den von der Kirche vorgebrachten Einwänden weitgehend Rechnung<br />

trugen. 16<br />

Seit Beginn des Jahres 1992 ist die röm.-kath. Kirche Litauens neu<br />

organisiert worden, und zwar in zwei Kirchenprovinzen mit je einer Erzdiözese<br />

und zwei Suffraganbistümern: Der neugeschaffenen Kirchenprovinz<br />

Vilnius wurden die beiden Diözesen Kaisˇiadorys und Paneve · zˇys<br />

angegliedert, die bisher der Metropolie Kaunas angehört hatten. Neuer<br />

Erzbischof von Vilnius wurde (als Nachfolger des unvergessenen, im<br />

Juni 1991 verstorbenen Bekennerbischofs Steponavičius) Audrys Juozas<br />

Bačkis (geb. 1937 in Kaunas, als Sohn eines litauischen Exildiplomaten<br />

in Frankreich und Italien aufgewachsen, seit 1964 im diplomatischen<br />

Dienst des Heiligen Stuhls). Das Erzbistum Vilnius umfaßt 89 Gemeinden<br />

und etwa 600 Ts. Gläubige, das Bistum Paneve · zˇys (Bischof Juozas<br />

Preiksˇas) 123 Gemeinden und etwa 490 Ts. Gläubige, das Bistum<br />

Kaisˇiadorys (Bischof Juozas Matulaitis) 68 Gemeinden und 226 Ts.<br />

Gläubige, die neu geschaffene Metropolie Vilnius, die den östlichen Landesteil<br />

umfaßt, mithin zusammen 280 Gemeinden mit 1.316 Ts. Gläubigen.<br />

Die Kirchenprovinz Kaunas umfaßt die Erzdiözese Kaunas und die<br />

beiden Suffraganbistümer Telsˇiai und Vilkavisˇkis. Die Diözese<br />

Vilkavisˇkis (Bischof Juozas Zˇemaitis) umfaßt 103 Gemeinden und 406<br />

Ts. Gläubige, die Diözese Telsˇiai (Bischof Antanas Vaičius) ist mit 154<br />

Gemeinden und rd. 680 Ts. Gläubigen das größte Bistum des Landes. Zu<br />

ihm gehört seit 1992 auch die bis dahin nur von ihm mitverwaltete ehem.<br />

Freie Prälatur Klaipe · da (Memel). Das Erzbistum Kaunas umfaßt 129 Gemeinden<br />

und ca. 600 Ts. Gläubige, die Kirchenprovinz Kaunas, die sich<br />

über den westlichen Teil Litauens erstreckt, insgesamt also 396 Gemeinden<br />

und 1.696 Ts. Gläubige. 17<br />

Am 4.Mai 1996 akzeptierte Papst Johannes Paul II. den aus Altersgründen<br />

angebotenen Rücktritt des 75jährigen Erzbischofs-Metropoliten von<br />

Kaunas, Vincentas Kardinal Sladkevičius, und ernannte dessen Weih-<br />

16) Vgl. The Baltic Times, 1.–7.August 1996, S.6; ebd., 12.–18. Dezember, S.6; E · cho Litvy,<br />

13.12.96, S. 2, und 14.12.96, S.1.<br />

17) Zahlenangaben nach: Stephan Lipsius, Die Erneuerung kommt voran. Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />

in Litauen. In: Herder-Korrespondenz 2/<strong>1997</strong>, S. 99–104, hier: S.101.<br />

158


ischof Sigitas Tamkevičius zu seinem Nachfolger. Der 1938 geborene<br />

Tamkevičius war 1962 zum Priester geweiht worden und hatte sich 1968,<br />

was damals verboten war, dem Jesuitenorden angeschlossen. Er war die<br />

zentrale Figur des katholischen Widerstands gegen das kommunistische<br />

Regime gewesen, hatte seit 1972 die illegale Untergrundzeitschrift<br />

„Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“ herausgegeben und 1978<br />

das „Komitee zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen“ gegründet.<br />

1983 verhaftet und zu 6 Jahren Straflager mit anschließender vierjähriger<br />

Verbannung in Sibirien verurteilt, 18 konnte er 1988 nach Litauen zurückkehren<br />

und wurde nach kurzer Tätigkeit als Regens („Rektor“) des interdiözesanen<br />

Priesterseminars zu Kaunas 1991 zum Weihbischof für die<br />

Erzdiözese Kaunas ernannt.<br />

Neben zehn Bischöfen ist die Zahl der Priester inzwischen wieder auf<br />

731 angewachsen. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991<br />

sind sechs Männer- und 24 Frauenorden offiziell wiederbegründet<br />

worden: Bei den Männerorden sind die Jesuiten mit z.Zt. 41 Mitgliedern<br />

und die Marianer mit 38 Mitgliedern führend, die insgesamt 967 Ordensschwestern<br />

sind vor allem im Gesundheits- und Erziehungswesen tätig.<br />

An den drei Priesterseminaren in Kaunas, Telsˇiai und Vilnius werden<br />

derzeit insgesamt 277 Priesteramtskandidaten ausgebildet. 19 So wird<br />

zwar nicht in nächster Zukunft, aber doch mittelfristig wieder eine ausreichende<br />

seelsorgliche Betreuung der Katholiken Litauens gewähr-<br />

leistet sein.<br />

Papst Johannes Paul II. hatte bei seiner Litauenreise im Jahre 1993 in<br />

seiner Ansprache an den Klerus, die Ordensleute und Seminaristen mit<br />

deutlichen Worten auf ihre Aufgaben in einer veränderten Welt hingewiesen:<br />

Auf die „Zeit des erzwungenen Schweigens über Gott“ müsse jetzt<br />

eine „Zeit der mutigen Verkündigung des Evangeliums und des Aufbaus<br />

des Reiches Gottes durch euer persönliches Zeugnis“ folgen. Dabei habe<br />

man „mit Gleichgültigkeit, Unverständnis, säkularistischen Tendenzen<br />

und psychologischer Isolierung in einer Gesellschaft zu rechnen, die tiefreichenden<br />

Wandlungen unterliegt“. Dringend mahnte der Heilige Vater<br />

18) Zu Tamkevičius s. Ernst Benz, Zwei Priesterschicksale in Litauen. In: Informationen und<br />

Berichte – Digest des Ostens, <strong>Nr</strong>.12/1988, S. 11–14, vor allem S.13f.<br />

19) KNA – ID <strong>Nr</strong>. 16 v. 21.4.1994, S.8; ZAG-KAI v. 24.3.1994.<br />

159


die soziale Verantwortung der Kirche an: „Als Söhne des Vaters… steht<br />

ihr beim Dienst an euren Mitmenschen in der ersten Reihe, wenn ihr mit<br />

ihnen die Probleme und Schwierigkeiten des wiederaufstehenden Litauens<br />

teilt. Macht euch die Gesinnungen Christi, des Lehrers und Heilands,<br />

zu eigen, der nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen<br />

(Mk 10,45).“ Man dürfe es nicht unterlassen, sich „in die Soziallehre<br />

der Kirche zu vertiefen, in der eure Gläubigen brauchbare Elemente und<br />

ermunternde Anregungen zur Lösung der heutigen dringlichsten Fragen<br />

des Landes nach einer so langen Zeit erzwungenen sozialen Schweigens<br />

finden können“. Er warnte vor „den Versuchungen sowohl zum Laizismus<br />

wie zum Klerikalismus“ und davor, daß „die Priester in der Ausübung<br />

ihrer Sendung zur Evangelisierung in die Politik der Parteien oder<br />

die direkte Führung der Nation eingreifen“. 20<br />

Bereits im Vorfeld des Papstbesuchs hatte der Apostolische Nuntius für<br />

die drei baltischen Staaten, Erzbischof Justo Mullor Garcia, in einem<br />

Interview betont, daß es sich nach der „grausamen und traurigen Erfahrung<br />

des staatlich-verordneten Atheismus“ empfehle, „selbst jeden<br />

Anschein von Klerikalismus zu vermeiden“. 21 Erzbischof Bačkis von<br />

Vilnius beschrieb die Aufgaben und Schwierigkeiten der litauischen<br />

Kirche in einem Vortrag beim Jahresempfang der deutschen Bischöfe am<br />

5. September 1994 in Bonn mit folgenden Worten:<br />

„Die Kirche hat den Widerstand eines ganzen Volkes gegen die totalitäre<br />

Unterdrückung, gegen die atheistische Ideologie angestoßen und in<br />

gewisser Weise katalysiert… Die Kirche hat sich so den Respekt der<br />

Nation erworben, der bis heute fortdauert. Sie ist gestärkt aus der Prüfung<br />

herausgekommen, jetzt muß sie sich einer neuen Evangelisierung des<br />

Landes stellen… Nachdem die Kirche daran gewöhnt war, gegen den<br />

Feind zu kämpfen, der eins mit dem Kommunismus war, war sie kaum<br />

darauf vorbereitet, in einer freien Gesellschaft die Verkündigung des<br />

Evangeliums zu unternehmen, ohne gut ausgebildete Menschen und ohne<br />

angemessenes Werkzeug. Arm in den Mitteln, aber reich im Glauben, hat<br />

20) Echter Friede kommt aus Barmherzigkeit und Liebe. Ansprache von Johannes Paul II. an den<br />

Klerus, an die Ordensfrauen und -männer und an die Seminaristen in Vilnius am 4.September.<br />

L’Osservatore Romano. Deutschsprachige Wochenausgabe, 10. September 1993, S. 7 und 12.<br />

21) In a Cultural Vacuum. In: The Catholic World Report, August/September 1993, S.24f, Zitat S.24.<br />

160


sie die Herausforderung angenommen und sich an die Arbeit der Katechese<br />

gemacht, an die Ausbildung der Priester und Laien, an soziale und<br />

karitative Werke.“ 22<br />

Auch der neuernannte Erzbischof von Kaunas setzt die gleichen<br />

Prioritäten: Bei seiner Amtseinführung im Mai 1996 betonte er die Dringlichkeit<br />

von Priesterausbildung, Katechese und kirchlichem Sozialengagement.<br />

Letzteres habe eindeutig Vorrang vor dem Neubau bzw. der<br />

Renovierung von Kirchen. 23<br />

Neben den Katholiken des lateinischen Ritus gibt es auch eine kleine<br />

Gemeinde des byzantinischen Ritus („Unierte“) in Vilnius; sie wird von<br />

insgesamt drei Priestern betreut, die außerdem noch Gottesdienste in<br />

Kaunas, Klaipe · da und in Estland abhalten. Die Mehrzahl der Gläubigen<br />

besteht aus Ukrainern, daher wird die Liturgie in ukrainischer Sprache<br />

gefeiert, das Sonntags-Evangelium aber wird auch in der litauischen<br />

Staatssprache verlesen. 24 Dieser kleinen unierten Gemeinde hatte der<br />

Stadtrat von Vilnius im Juni 1991 – gegen den Protest des russisch-orthodoxen<br />

Erzbischofs Chrizostom – die Kirche des leerstehenden Dreifaltigkeitsklosters<br />

in Vilnius zugesprochen, auf das aufgrund seiner wechselvollen<br />

Geschichte beide Kirchen Anspruch erhoben hatten. 25<br />

2. Lettland<br />

Lettland wird gemeinhin als evangelisch-lutherisches Land mit einem<br />

nur relativ kleinen katholischen (und orthodoxen) Bevölkerungsanteil<br />

angesehen, was jedoch heute nicht mehr zutrifft. Zwar ist Alt-Livland im<br />

Zeitalter der Reformation sehr rasch und praktisch vollständig lutherisch<br />

geworden, aber in einem Teil Alt-Livlands hat sich später die Gegenreformation<br />

durchgesetzt. Es handelt sich um Lettgallen (Latgale), d.h. den<br />

Teil Alt-Livlands, der nach dem Waffenstillstand von Altmark 1629 zu<br />

22) Zitiert nach dem auszugsweisen Abdruck des Vortrags in: Informationen und Berichte – Digest<br />

des Ostens, <strong>Nr</strong>. 10/1994, S. 1–7, Zitate: S.4.<br />

23) KNA – 8592 v. 23.5.96; Kathpress KP962683 v. 22.5.96.<br />

24) ·<br />

Interview mit Vater Pavlo Jachimec, einem der drei unierten Priester in Vilnius, in: E cho Litvy,<br />

28. Juni 1996. S.5.<br />

25) IDOC <strong>Nr</strong>. 11/12–91 vom 30.6.91.<br />

161


Polen/Litauen kam. Administrativ von den übrigen lettisch besiedelten<br />

Regionen (dem an Schweden gefallenen Livland/Vidzeme und dem unter<br />

polnischer Oberhoheit weitgehend selbständigen Herzogtum Kurland-<br />

Semgallen/Kurzeme-Zemgale) getrennt, machte dieses Gebiet eine<br />

geschichtlich-kulturelle Sonderentwicklung durch, auch als es dann mit<br />

der 1. Teilung Polens 1772 zu Rußland kam: Es gehörte nicht zu den weitgehend<br />

autonomen, deutsch und lutherisch geprägten sog. Ostseeprovinzen<br />

(Estland, Livland und Kurland), sondern zum Gouvernement<br />

Vitebsk.<br />

Nach fast 300jähriger Sonderentwicklung wurde Lettgallen dann durch<br />

die Entstehung des unabhängigen Staates Lettland wieder mit den übrigen<br />

lettisch besiedelten, protestantisch geprägten Gebieten Vidzeme und<br />

Kurzeme/Zemgale vereinigt und auch kirchlich der neugeschaffenen Kirchenprovinz<br />

Riga bzw. Lettland unterstellt. Die Erzdiözese Riga umfaßte<br />

damals 111 Gemeinden in 13 Dekanaten, die Diözese Liepa - ja 39 Gemeinden<br />

in 7 Dekanaten, die Kirchenprovinz Lettland also insgesamt 150<br />

Gemeinden, die von 198 Priestern betreut wurden. 26<br />

Heute schätzt man die Zahl der Katholiken in Lettland auf etwa 450–<br />

500 Tausend. Danach hätten die Katholiken als einzige Konfession ihren<br />

Stand aus der Vorkriegszeit durch all die Jahre der Glaubensverfolgung<br />

unter dem Sowjetregime halten können. Auch wenn gegenüber dieser<br />

hohen Zahl eine gewisse Skepsis angebracht scheint, so ist es doch unbestreitbar,<br />

daß die Katholiken weit weniger Substanzverluste zu er leiden<br />

hatten als vor allem ihre lutherischen Mitchristen, aber auch als die Orthodoxen,<br />

die angesichts der massenhaften Zuwanderung von Russen eigentlich<br />

eine enorme Verstärkung gegenüber der Zeit der ersten Lettischen<br />

Republik hätten erfahren müssen. 1935 stellten die Katholiken mit<br />

477 Ts. 24,5% der Bevölkerung des Landes (die Lutheraner 55,1%, die<br />

Orthodoxen 8,9% und die Altgläubigen 5,8%). 27 1994 gab es laut staatlichen<br />

Angaben 500 Ts. Katholiken in Lettland, was 20% der Gesamtbevölkerung<br />

entspricht, gegenüber nur noch 300 Ts. Lutheranern, 100 Ts.<br />

Orthodoxen und 60 Ts. Altgläubigen. 28<br />

26) Ebd., S. 77f.<br />

27) Vgl. Heinrihs Strods, Latvijas Katol˛u Baznı - cas ve - sture 1075.–1995., Riga 1996, S. 250, Tab.12.<br />

28) Angaben der Abteilung für Religionsangelegenheiten im Justizministerium der Republik<br />

Lettland; nach: Baltische Briefe 7/8–1995, S. 10.<br />

162


Die Zahlen der kirchlichen Amtshandlungen während der Sowjetepoche<br />

sprechen für sich und zeigen das hohe Maß an Entfremdung der<br />

Bevölkerung Lettlands von der Kirche: So wurden in den 60er Jahren<br />

nur noch knapp 30% eines Jahrgangs getauft, 29 in den 70er Jahren knapp<br />

ein Viertel, 30 in den 80er Jahren nur noch knapp 20%. 31 Auch die Zahl<br />

der kirchlich vollzogenen Beerdigungen betrug in den 60er Jahren nur<br />

noch knapp ein Drittel aller Bestattungen und sank weiter auf etwa<br />

ein Viertel in den 70er und weniger als 20% in den 80er Jahren; 32 von<br />

den Eheschließungen wurden seit Mitte der 70er Jahre sogar weniger als<br />

5% auch kirchlich vollzogen. 33 In den Jahren des nationalen Aufbruchs<br />

trat eine Trendwende ein, die durch einen Vergleich der Zahlen für 1988<br />

und 1989 deutlich wird: Die Zahl der Taufen stieg von 12.357 auf 21.662<br />

und die Zahl der kirchlichen Trauungen verdoppelte sich praktisch von<br />

1.832 auf 3.565. 34 Nach der Befreiung vom Sowjetsystem und der<br />

Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit haben sich zu Beginn<br />

der 90er Jahre die Zahlen sozusagen „normalisiert“: Die Taufe von Neugeborenen<br />

scheint zur allgemeinen Regel geworden zu sein (über 90%<br />

der registrierten Geburten, dabei aber auch gewiß zahlreiche „nachgeholte“<br />

Taufen älterer Kinder bzw. Erwachsener), immerhin 26% der<br />

Eheschließungen und 28% der Beerdigungen finden mit dem Segen der<br />

Kirche statt. 35<br />

Betrachtet man die Zahlen nach Konfessionen getrennt, so wird überaus<br />

deutlich, daß in den Jahren der Glaubensverfolgung die Katholiken<br />

ihrer Kirche in größerer Anzahl die Treue gehalten haben als ihre Mitbrüder<br />

anderer Konfession: Bei den kirchlichen Beerdigungen entfielen zu<br />

Beginn der 80er Jahre jeweils deutlich mehr als die Hälfte auf Katholi-<br />

29) 1963: 9.976 Taufen bei 34.973 Geburten, 1965: 8.735 Taufen bei 31.353 Geburten. Benz, Neubeginn,<br />

S. 124, Tab. 1. Die Zahlen für die Sowjetepoche wurden vom Verfasser im Staatsarchiv<br />

Lettlands (Latvijas Valsts Arhı - vs, Fonds 1419) ermittelt.<br />

30) 1972: 8.439 Taufen bei 35.190 Geburten, 1975: 7.821 Taufen bei 34.973 Geburten. Ebd.<br />

31) 1981: 20,6% (7.521), 1982: 19,1% (7.298), 1983: 18,5% (7.609), 1984: 19,5% (7.924). Ebd.<br />

32) 1963: 33,5%, 1965: 31,8%, 1972: 26,0%, 1975: 23,9%, 1981: 20,9%, 1982: 19,7%, 1983: 18,9%,<br />

1984: 19,0%. In absoluten Zahlen: Zwischen 7.631 (1963) und 6.124 (1983). Ebd.<br />

33) Ebd. Zum Beispiel 1972: 1.159 kirchliche bei 22.584 standesamtlichen Trauungen (5,1%), 1975:<br />

4,2%, 1981: 4,3%, 1982: 4,4%, 1983: 4,3%, 1984: 4,6%.<br />

34) IDOC 9–10/1991, 31. Mai 1991, S. 26.<br />

35) Im Jahre 1992 wurden 30.776 Taufen, 4.975 kirchliche Trauungen und 9.993 kirchliche Beerdigungen<br />

registriert, s. „Diena“, 23.7.1993, S. 7, und Katol˛u - kalenda - rs 1994, S. 36.<br />

163


ken. 36 Erst nach der Befreiung vom Sowjetsystem haben die Lutheraner<br />

ihren prozentualen Anteil auf knapp über 20% (1992: 2.013 von insgesamt<br />

9.793 kirchlichen Beerdigungen) steigern können, liegen jedoch<br />

noch immer deutlich hinter den Katholiken (53,5% i.J.1992). 37 Noch<br />

deutlicher wird das Bild, wenn wir die Zahl der kirchlichen Trauungen<br />

nach Konfessionen getrennt betrachten. Hier sehen wir, daß von den relativ<br />

wenigen kirchlich vollzogenen Trauungen in der ersten Hälfte der<br />

80er Jahre über 80%(!) auf die katholische Kirche entfielen. 38 Auch hier<br />

haben die Lutheraner erst nach der Wiederherstellung der Unabhängkeit<br />

aufgeholt (32% i.J.1992), liegen jedoch noch immer deutlich hinter den<br />

Katholiken (56,5% i.J.1992) zurück. 39 Bei dem zweifellos wichtigsten<br />

Indikator, den Taufspendungen, liegen die Lutheraner allerdings jetzt<br />

wieder vorne, nachdem sie auch hier in den 80er Jahren mit durchschnittlich<br />

10–13% deutlich hinter die Katholiken (über 60%) und noch hinter<br />

die Orthodoxen (durchschnittlich 15–19%) auf den dritten Platz zurückgefallen<br />

waren. 1991 konnten die Lutheraner mit den Katholiken gleichziehen<br />

(jeweils 35%), 1992 hatten sie sie überholt (40,5 gegenüber<br />

30,0%), da sich bei ihnen die Zahl der Täuflinge mehr als verzehnfacht,<br />

bei den Katholiken hingegen „nur“ verdoppelt hatte. 40<br />

Die neuesten Zahlen über die Sakramentenspendung der katholischen<br />

Kirche in Lettland 41 scheinen für die erste Hälfte der 90er Jahre einen<br />

leichten Rückgang zu signalisieren:<br />

1990 1991 1992 1993 1994<br />

Taufspendungen 10.726 10.695 9.827 8.801 7.280<br />

Kath. Beerdigungen 4.885 5.006 5.240 5.696 6.070<br />

Kath.Trauungen 2.642 2.677 2.777 2.336 1.920<br />

36) 1981: 3.672 (56,3%), 1982: 3.362 (55,9%), 1983: 3.526 (58,8%), 1984: 3.524 (57,5%). Benz,<br />

Neubeginn, S. 126, Tab.2.<br />

37) Ebd. Vgl. „Diena“, 23.7.1993, S. 7; Katol˛u - kalenda- rs 1994, S. 36.<br />

38) 1981: 878 von 1.057, 1982: 837 von 1.063, 1983: 884 von 1.048, 1984: 914 von 1.070, das<br />

entspricht 82,1–85,4%. Benz, Neubeginn, S. 126, Tab.3.<br />

39) „Diena“, 23.7.1993, S.7; Katol˛u - kalenda- rs 1994, S. 36. In absoluten Zahlen: Katholiken 2.783<br />

und Lutheraner 1.578 von insgesamt 4.925 kirchlichen Trauungen.<br />

40) Benz, Neubeginn, S. 127, Tab. 4.<br />

41) Strods, op.cit., S. 359, Tab. 23.<br />

164


Vergleicht man sie aber mit den Zahlen der allgemeinen Statistik über<br />

Geburten, Todesfälle und Trauungen im Lande, 42 ergibt sich ein anderes<br />

Bild: Angesichts der Zunahme der absoluten Anzahl von Todesfällen pro<br />

Jahr von 34.812 i.J.1990 auf 41.757 i.J.1994 liegt der Anteil der katholischen<br />

Bestattungen an der Gesamtzahl der Todesfälle in den Jahren 1990<br />

bis 1994 konstant bei 14,1 – 14,5%. Bei der extrem rückläufigen Zahl der<br />

standesamtlichen Trauungen (1990: 23.619, 1994: 11.572) stieg der<br />

Anteil der katholischen Trauungen an dieser Gesamtzahl von 11,2% in<br />

den Jahren 1990 und 1991 über 14,7% i.J.1992 auf 16,1 bzw. 16,6% in<br />

den Jahren 1993 und 1994. Und am wichtigsten schließlich: Angesichts<br />

des enormen Rückgangs der Geburtenzahlen in Lettland von 37.918<br />

i.J.1990 auf 24.256 i.J.1994 liegt der Anteil der katholisch Getauften seit<br />

1991 kontinuierlich bei über 30% aller Neugeborenen, was für die<br />

Zukunft hoffen läßt!<br />

Am 7. Dezember 1995 erfolgte durch die Neugründung zweier Diözesen<br />

eine grundlegende Neustrukturierung der Kirchenprovinz Lettland.<br />

Das Gebiet des traditionell katholischen Lettgallen wurde von der Erzdiözese<br />

Riga abgetrennt und zu einer Diözese mit der Bezeichnung<br />

Re - zekne-Aglona erhoben. Zum Bischof der nunmehr nach der Anzahl<br />

der Gläubigen größten Diözese Lettlands wurde der bisherige Bischof<br />

von Liepa - ja, Ja - nis Bulis; Bischofssitz wurde die Stadt Re - zekne, wobei<br />

der Wallfahrtsort Aglona, das spirituelle Zentrum der Katholiken Lettlands,<br />

durch Erhebung seiner Basilika zur zweiten Kathedrale 43 des<br />

neuen Bistums besonders gewürdigt wurde. Von den ca. 410 Ts. Bewohnern<br />

Lettgallens, das 13,3 Ts. km 2 umfaßt, sind 210 Ts. katholisch. Sie<br />

bilden 98 Gemeinden und 4 Filialen in 11 Dekanaten und werden von 46<br />

Diözesan- und 5 Ordensgeistlichen (Marianer) versorgt. 21 Seminaristen<br />

in Riga gehören der neuen Diözese an, und 30 Ordensschwwestern sind<br />

dort tätig. Das verbliebene Gebiet des Erzbistums Riga, flächenmäßig<br />

(23,3 Ts. km 2 ) noch immer deutlich größer als die übrigen Diözesen Lettlands,<br />

zählt etwa 170 Ts. Katholiken, die in 23 Gemeinden und 20<br />

Missions stationen von 22 Diözesan- und 12 Ordensgeistlichen betreut<br />

werden. Nur drei Dekanate (Riga, Valmiera und Valka) sind in diesem<br />

42) Nach: 1996, The Baltic States. Comparative Statistics, Riga <strong>1997</strong>, S. 17f.<br />

43) „Co-Cattedrale“ heißt es im italienischen Text des L’Osservatore Romano.<br />

165


lange Zeit fast rein evangelisch-lutherischen Gebiet eingerichtet, bei der<br />

übergroßen Mehrzahl der Katholiken handelt es sich um ursprüngliche<br />

Lettgaller, die heute im Ballungsgebiet Riga/Jurmala leben. Das weiterhin<br />

von Erz bischof-Metropolit Ja - nis Pujats geleitete Erzbistum Riga verfügt<br />

über 21 Priesteramtskandidaten und 38 Ordensschwestern.<br />

Das bis dahin einzige Suffraganbistum Rigas, Liepa - ja, wurde entlang<br />

der historischen Grenze zwischen den Landesteilen Kurland/Kurzeme im<br />

Westen und Semgallen/Zemgale im Osten geteilt. Die dadurch neugeschaffene<br />

Diözese Jelgava (Mitau), südlich an das katholische Lettgallen<br />

anschließend, verfügt noch über einen relativ hohen Katholikenanteil<br />

(ca. 90 Ts. der 418 Ts. Einw. auf einer Gesamtfläche von 16,6 Ts. km 2 );<br />

ihre 38 Gemeinden verteilen sich auf fünf Dekanate und werden von<br />

16 Diözesan- und einem Ordenspriester (Jesuit) betreut; 5 Priesteramtskandidaten<br />

dieser Diözese studieren im Seminar in Riga, und es gibt<br />

insgesamt 11 Ordensschwestern aus drei verschiedenen Kongregationen.<br />

Der verbliebene Westteil der Diözese Liepa - ja, von der Ausdehnung her<br />

nahezu gleich groß (13,2 Ts. km 2 ), ist hingegen ein ausgesprochenes Diasporagebiet:<br />

Nur ca. 30 Ts. der 314 Ts. Einwohner sind als Katholiken<br />

registriert; 14 Gemeinden in drei Dekanaten werden von 5 Diözesan- und<br />

einem Ordenspriester betreut; erstaunlich hoch ist für diese Verhältnisse<br />

die Zahl von vier Priesteramtskandidaten. 44 Für diese beiden Diözesen<br />

wurden neue Bischöfe ernannt, die erst nach der Unabhängigkeit vom<br />

westlichen Ausland her ins Land gekommen sind: Antons Justs, neuer<br />

Bischof von Jelgava, wurde 1931 in Varakla - ni in Lettgallen geboren;<br />

seine Familie floh 1944 vor der Roten Armee zunächst nach Westdeutschland<br />

und dann, 1949, in die Vereinigten Staaten. Dort war auch, nach dem<br />

Studium in Löwen und Innsbruck und der Priesterweihe 1960, sein Wirkungsfeld<br />

als Seelsorger und Professor. 1992 wurde er Spiritual, 1994<br />

Rektor des Priesterseminars in Riga.<br />

A - rvaldis Andrejs Brumanis, neuer Bischof von Liepa - ja, wurde 1926 in<br />

Klostere/Kurzeme geboren (also auf dem Gebiet seiner heutigen Diözese)<br />

und ist damit der einzige unter den lettischen Bischöfen, der nicht<br />

aus Lettgallen stammt. Seine Ausbildung erhielt er in Namur (Belgien),<br />

44) Alle Zahlenangaben nach: La rinascita della Chiesa in Lettonia dopo la lunga persecuzione. In:<br />

L’Osservatore Romano, 31.12.1995, S. 7; vgl. Kato - l˛u Dzeive 2/96, S. 2f.<br />

166


wo er auch 1954 zum Priester geweiht und in die Diözese Liepa - ja inkardiniert<br />

wurde. Weiterführende Studien betrieb er an der Universität Löwen/Louvain<br />

und an der Gregoriana in Rom; einen Doktorgrad der<br />

Geschichtswissenschaft erwarb er 1968 mit einer Arbeit über den Metropoliten<br />

Stanislav Siestrzencewicz von Mogilev; 1968–1992 war er<br />

Redakteur des lettischen Programms von Radio Vaticana. 45<br />

Eine Addition der Zahlen aller vier Diözesen ergibt für die Kirchenprovinz<br />

Lettland 177 Gemeinden und 20 Missionspunkte, 108 Priester und<br />

51 Seminaristen.<br />

Die katholische Kirche Lettlands hat die Jahre der Glaubensverfolgung<br />

mit beachtlichem Durchstehungsvermögen überstanden und sich aufgrund<br />

ihrer konsequenten Haltung Achtung und Respekt verschafft. Auch<br />

hat sie – soweit sich das in Zahlen und Statistiken niederschlägt – weniger<br />

Einbußen erlitten als die lutherische oder die orthodoxe Kirche in<br />

Lettland. Dennoch sind die Wunden, die ihr zugefügt wurden, schwer,<br />

und es bedarf einer längeren Zeit, bis sie geheilt sein werden.<br />

3. Estland<br />

In Estland gibt es lediglich 2.500–3.000 Katholiken verschiedener Nationalität,<br />

im Gegensatz zur Vorkriegszeit aber jetzt doch mehrheitlich Esten<br />

(Konvertiten bzw. Neophyten). Neben den beiden größeren Pfarreien in<br />

Tallinn (Reval) und Tartu (Dorpat) gibt es kleinere in Ahtme und Narva,<br />

in Valga und in Pärnu, die von drei ausländischen Priestern betreut werden.<br />

Ein Seminarist in Riga und zwei Dominikaner-Novizen lassen auf<br />

einheimischen Priesternachwuchs hoffen. 46 Die diplomatischen Beziehungen<br />

zwischen Estland und dem Hl. Stuhl wurden am 3.10.1991 wiederaufgenommen,<br />

und zu Ostern 1992 wurde Erzbischof Justo Mullor<br />

Garcia zum Nuntius im Baltikum ernannt, der gleichzeitig als Apostolischer<br />

Administrator für Estland Oberhirte der dortigen Katholiken ist. 47<br />

45) La rinascita, l.c.; Kato - l˛u Dzeive 2/96, S. 3f.<br />

46) Katholische Gemeinden in Estland. Beobachtungen zu einer oft übersehenen konfessionellen<br />

Minderheit. Von Vello Salo, ergänzt von Gerd Stricker. In: G2W <strong>Nr</strong>. 3/1995, S. 28f.<br />

47) IDOC, <strong>Nr</strong>. 24–25/91 v. 31. Dezember 1991, S. 13f; ebd. <strong>Nr</strong>. 12–14/93 v. 30. Juli 1993, S. 34f.<br />

167


Dr. Anna-Halja Horbatsch, Reichelsheim<br />

Kirchen in der Ukraine<br />

Allgemein heißt es in bezug auf die Ukraine, daß ihre Kirchen zerstritten<br />

seien und es im religiösen Bereich immer wieder zwischen den einzelnen<br />

Konfessionen zu Konflikten komme. Um sich indes ein wirklichkeitsnahes<br />

Bild zu verschaffen, möchten wir versuchen, aufgrund aktueller<br />

Berichte des in Lwiw (Lemberg) erscheinenden wöchentlichen Informationsbulletins<br />

„Agencija Relihijnoji Informaciji“ (Agentur religiöser<br />

Information) die wichtigsten kirchlichen Ereignisse des letzten halben<br />

Jahres zusammenzufassen. Für dieses Informationsbulletin, das von im<br />

Westen ausgebildeten Theologen begründet wurde, arbeitet heute eine<br />

Reihe von Journalisten aus der Ukraine, die mit dem von „Kirche in<br />

Not“ ins Leben gerufenen religiösen Nachrichtensender „Auferstehung“<br />

(Woskressinnja) verbunden sind. Das Bulletin ist nicht nur in griechischkatholischen<br />

Kreisen als seriöses, objektives Presseorgan bekannt, dem<br />

es um eine sachliche und wahrheitsgemäße Information geht, in letzter<br />

Zeit haben ihm auch staatliche und orthodoxe Kreise der Ukraine diese<br />

Qualität zuerkannt.<br />

Der Allukrainische Kirchenrat<br />

Nach der Neubesetzung des Staatskomitees für religiöse Angelegenheiten<br />

mit dem ehemaligen Philosophiedozenten Dr. Viktor Bondarenko wurde<br />

ein Allukrainischer Rat der Kirchen und religiösen Organisationen<br />

gegründet. Dieser Rat ist ein interkonfessionelles Beratungsorgan zur<br />

Koordinierung des ökumenischen Dialogs; seine Vertreter beraten über<br />

Fragen, die Kirche und Staat betreffen. In ihm sind alle Konfessionen und<br />

religiöse Gemeinschaften sowie das Staatskomitee für religiöse Angelegenheiten<br />

vertreten. Der neugewählte Vorsitzende des Staatskomitees,<br />

168


Viktor Bondarenko, hat gleich nach seiner Amtsübernahme die führenden<br />

Persönlichkeiten der einzelnen Kirchen und religiösen Organisationen<br />

zu gesonderten Gesprächen eingeladen.<br />

Das Verhältnis zwischen den Kirchen sowie den religiösen Organisationen<br />

und dem ukrainischen Staat beleuchtet am besten ein Kommuniqué,<br />

das am 20. Februar <strong>1997</strong> in Kiew vom Staatskomitee für religiöse<br />

Angelegenheiten und von den Vertretern der Kirchen sowie der religiösen<br />

Organisationen unterzeichnet und herausgegeben wurde. Es faßt die<br />

gegenseitigen Beziehungen in vier Punkten zusammen:<br />

1) Das Inkrafttreten der neuen Verfassung der Ukraine habe wesentlich<br />

dazu beigetragen, daß Gewissens- und Religionsfreiheit eine neue Qualität<br />

erhalten hat, was sich in einem verbesserten Verhältnis zwischen Staat,<br />

Kirchen und religiösen Organisationen widerspiegelt.<br />

Es müsse betont werden, daß in dem endgültigen Verfassungstext auch<br />

die Wünsche und Bemerkungen der Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften<br />

berücksichtigt und im Parlament gegen den Widerstand<br />

des kommunistischen Flügels durchgesetzt worden sind. Die Schaffung<br />

eines Staatskomitees für Religionsangelegenheiten wurde von kirchlichen<br />

Kreisen einstimmig begrüßt; es soll eine entscheidende Rolle bei<br />

der Regelung von Problemen übernehmen, die immer wieder zwischen<br />

den Konfessionen und religiösen Organisationen auftreten.<br />

2) Die durchgeführte Diskussion über die Erziehung der Kinder und<br />

Jugendlichen im Geiste der im Lande vorherrschenden christlichen Religion<br />

habe gezeigt, daß dieses Problem von erstrangiger Bedeutung ist.<br />

Angestrebt wird eine enge Zusammenarbeit zwischen den kirchlichen<br />

und religiösen Institutionen sowie den staatlichen Erziehungs- und Bildungsanstalten<br />

und den Einrichtungen für Gesundheit und Kultur.<br />

3) In Anbetracht des akuten Bedarfs an humanitärer und sozialer Arbeit<br />

werden die Gläubigen dazu aufgerufen, sich in diesem Bereich zu engagieren.<br />

Die Kirchen sehen darin einen wichtigen Dienst am Menschen im<br />

Namen Gottes. Diese Tätigkeit erfordert jedoch Mittel, über die die<br />

Kirchen z.Zt. nicht verfügen. In der schwierigen Übergangszeit wird<br />

diese Arbeit mit den humanitären Mitteln finanziert, die als Spenden aus<br />

dem Ausland kommen. Allerdings gefährden die neuen Steuergesetze,<br />

die vorschreiben, die Transporte zu verzollen, eine große Zahl von bereits<br />

bestehenden Projekten.<br />

169


4) Das Wesen der Tätigkeit religiöser Organisationen ist auf die Gesundung<br />

der Seele ausgerichtet. Sie hat weder politischen noch gesellschaftlichen<br />

Charakter. Die ukrainische Regierung dürfe den Unterschied zwischen<br />

den religiösen Organisationen und politischen Parteien nicht aus<br />

den Augen verlieren, da göttliche Gesetze nicht von Parteibeschlüssen<br />

und ihren Veränderungen abhängig seien.<br />

Dieses Kommuniqué wurde von den Vertretern aller drei orthodoxen<br />

Kirchen der Ukraine (Ukrainisch-Orthodoxe Kirche der Moskauer Jurisdiktion,<br />

Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, Ukrainische<br />

Autokephale Orthodoxe Kirche), der Griechisch-Katholischen sowie<br />

der Römisch-Katholischen Kirche, ferner von den Vertretern der Moslemgemeinden<br />

der Krim sowie jüdischer Organisationen unterzeichnet.<br />

Am 20. Mai <strong>1997</strong> fand in Kiew unter dem Vorsitz des griechisch-katholischen<br />

Auxiliarbischofs Lubomyr Husar eine weitere Sitzung des Allukrainischen<br />

Kirchenrates statt, auf der es um die Rückgabe von Kultgebäuden<br />

durch den Staat an die im Rat zusammengeschlossenen religiösen<br />

Gemeinschaften ging.<br />

Bislang wurden über 3000 Kultgebäude rückerstattet, für weitere 1500<br />

Objekte wurden Grundlagen geschaffen, die Bauarbeiten ermöglichen.<br />

Der ukrainische Staat hält noch 87 Kultgebäude zurück.<br />

Ferner wurde über die repräsentative Rolle der Kirchen im Ausland<br />

gesprochen. Die Vertreter des Staates sind sich bei den zahlreichen Kontakten<br />

der Kirchen mit dem Ausland bewußt, welch bedeutenden Beitrag<br />

sie zur Festigung eines positiven Images des jungen ukrainischen Staates<br />

leisten können, in welchem die Religionsfreiheit und die Menschenrechte<br />

geachtet würden.<br />

Die ukrainische Griechisch-Katholische Kirche<br />

nach der Herbstsynode 1996<br />

Im Verlauf der letzten Bischofssynode wurde eine ganze Reihe von Kommissionen<br />

berufen, in denen Vertreter der Diözesen mitarbeiten. Wir<br />

möchten einige Bereiche erwähnen, in denen inzwischen die Arbeit aufgenommen<br />

wurde und wo erste Erfolge zu verzeichnen sind.<br />

170


Die Kommissionsmitglieder, die sich mit Jugendfragen befassen, treffen<br />

sich monatlich. Dabei arbeiten Vertreter der männlichen oder weiblichen<br />

Orden zusammen mit christlich orientierten Jugendorganisationen,<br />

wie etwa der „Ukrainischen Jugend für Christus“, der studentischen Vereinigung<br />

„Obnowa“ ( Erneuerung), sowie mit kirchlichen Verwaltungsstrukturen.<br />

Im Bereich der Erziehung des Priesternachwuchses wird angestrebt,<br />

dem Priestertyp, der vor dem Zweiten Weltkrieg in der West ukraine<br />

vorherrschend war, wieder Vorrang zu geben. Die griechisch- katholischen<br />

Priester vor dem Zweiten Weltkrieg waren dafür bekannt, daß sie sich<br />

neben ihren seelsorgerischen Aufgaben auch einem sozial engagierten<br />

Dienst an der Gemeinde widmeten, Lesehallen gründeten und für ein höheres<br />

kulturelles Niveau der Landbevölkerung sorgten. Leider stehen<br />

viele heutige Priester noch in der Tradition der orthodoxen Kirche der<br />

Sowjetzeit, sie verstehen sich lediglich als Kultdiener, die Alltagsprobleme<br />

ihrer Pfarrmitglieder sind in ihren Augen zweitrangig. Da die meisten<br />

Priester in der Griechisch-Katholischen Kirche verheiratet sind, wird<br />

auch der Ausbildung der Pfarrfrauen zu Katechetinnen, Chorleiterinnen<br />

und Sozialarbeiterinnen zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt.<br />

Es gibt inzwischen auch eine ukrainische „Caritas“, die in allen sieben<br />

griechisch-katholischen Diözesen ihre Tätigkeit aufgenommen hat,<br />

wobei das Exarchat Kiew-Wyschhorod mit einbezogen ist.<br />

Als großer Erfolg der Bemühungen der Griechisch-Katholischen Kirche<br />

im Bereich der Schulerziehung wird die Einführung des Schulfachs<br />

„Christliche Ethik“ angesehen, das bereits ab Herbst <strong>1997</strong> in vier westukrainischen<br />

Verwaltungsgebieten (Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Ternopil<br />

und Tscherniwzi) als Pflichtfach gelten soll. Als Lehrer sollen praktizierende<br />

Christen katholischer, orthodoxer oder evangelischer Konfession<br />

mit besonderer Ausbildung eingesetzt werden.<br />

Ein Novum ist auch eine gezielte Gefangenenbetreuung, die zunächst<br />

in der Diözese Tscherniwzi-Kolomyja eingeführt wurde. Die Geistlichen,<br />

die dabei eingesetzt werden, sollen einen dreijährigen Ausbildungskurs<br />

absolvieren. Außerdem erhalten die Häftlinge eine Bibliothek. Sechs<br />

Priester dieser Diözese arbeiten bereits als Seelsorger in psychiatrischen<br />

Anstalten, Kindergärten, TBC-Heilanstalten, Armeeinheiten. Ein Treffen<br />

der Mitglieder der Synodalkomitees war der Begegnung und Aussprache<br />

mit Herrn Georg Kopetzky am 21. Januar <strong>1997</strong> gewidmet. Georg Ko-<br />

171


petzky ist Vorsitzender der katholischen Männerbewegung in Österreich.<br />

Er ist im Auftrag des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vor allem<br />

im Bereich des Laienapostolats Mittel- und Osteuropas tätig. Da die<br />

Bewegung des Laienapostolats in der Griechisch-Katholischen Kirche<br />

nur eine schwache Tradition besitzt, war es für die Mitglieder der Synodalkomitees<br />

von großer Bedeutung, aus berufenem Munde in die Materie<br />

eingeführt zu werden. Georg Kopetzky erläuterte die Bedeutung und<br />

Rolle konkreter Menschen innerhalb des Staates und der Kirche.<br />

Auxiliarbischof Lubomyr Husar, der einige Zeit dem griechisch-katholischen<br />

„Exarchat Kiew-Wyschhorod“ vorstand und heute an der Seite<br />

des Oberhauptes der Kirche, Metropolit Kardinal Lubatschiwskyj, die<br />

Geschäfte der Lemberger Metropolie leitet, hat im Dezember 1996 den<br />

neuen Exarchen, Bischof Mychajlo Kowtun, für die in der Ostukraine verstreuten<br />

und in etwa 100 Gemeinden zusammengefaßten Gläubigen eingeführt.<br />

Der neue Exarch, Bischof Kowtun, hat inzwischen eine ganze<br />

Reihe von Aktivitäten entwickelt, die sich auch auf den Jugendbereich<br />

beziehen. Ein Seelsorger seiner nicht sehr großen Priesterschar wurde für<br />

die Jugendarbeit abgestellt. So wurde am 20. April, am Tag der Jugend, in<br />

Kiew ein Forum mit Diskussionen und Konzerteinlagen organisiert, das<br />

großen Zulauf fand. Ein Oberschüler erläuterte einem Korrespondenten<br />

gegenüber: „Meiner Meinung nach führen die traditionellen Kirchen in<br />

der Ukraine (gemeint sind die orthodoxen Kirchen – A.d.Ü.) keine aktive<br />

Arbeit durch, um die Jugend zu organisieren und sie dem geistigen Leben<br />

zuzuführen. Dieses Vakuum füllen all die Missionare aus dem Westen aus<br />

(gemeint sind die einreisenden Prediger der Freikirchen – A.d.Ü.), die<br />

geschickt die Massenmedien dafür einsetzen und eine breit angelegte<br />

Propaganda betreiben. Daher haben sie einen großen Zulauf an jungen<br />

Menschen. Wenn die Griechisch-Katholische und die Orthodoxe Kirche<br />

ständig solche Abende für die Jugend durchführen würden, wäre dies von<br />

großem Nutzen.“<br />

Anfang Dezember 1996 brach Bischof Wassyl Medwit, der die Betreuung<br />

der griechisch-katholischen Gläubigen in Mittelasien (Kasachstan)<br />

übernommen hat, zu einer Visitationsreise auf. In Almaty traf er mit dem<br />

Apostolischen Nuntius in Kasachstan und Mittelasien, Erzbischof Marjan<br />

Oles, zusammen. Bislang wurden viele katholische Ukrainer, von denen<br />

es in Kasachstan etwa eine Million gibt, von römisch-katholischen Seel-<br />

172


sorgern betreut. Nun erhielten die Ukrainer eine eigene Kirche in<br />

Karaganda, deren Baukosten von <strong>Renovabis</strong> mitbestritten wurden.<br />

Große Bedeutung wird dem vom 30.6. bis 6.7. <strong>1997</strong> in Ungarn durchgeführten<br />

Treffen der Hierarchen und Gläubigen aller katholischen Ostkirchen<br />

beigemessen, das auf eine Initiative der Kongregation für die<br />

Ostkirchen zurückgeht. Die wissenschaftliche Begegnung „Die Identität<br />

der katholischen Ostkirchen“ hat zum ersten Mal Vertreter aller Ostkirchen<br />

zusammengeführt, ihnen ein näheres Kennenlernen ermöglicht<br />

und die veränderte positive Einstellung zu diesen Kirchen, die auf dem<br />

II. Vatikanum begonnen hatte, bestätigt. Zentrale Themen der Begegnung<br />

waren: Herausbildung der Identität, Liturgie als Ausdruck der Identität,<br />

Ökumenismus als Voraussetzung der Identität, das Mönchstum als<br />

Grund element der Identität u.a. Die Ukraine war mit allen griechisch-<br />

katholischen Bischöfen vertreten.<br />

Die drei orthodoxen Kirchen in der Ukraine<br />

Wegen orthodoxer innerkirchlicher und zwischenkonfessioneller Konflikte<br />

sowie der Einbeziehung der Kirche in politische Auseinandersetzungen<br />

sind die Hauptbestimmungen der Kirche – Evangelisierung,<br />

Jugendarbeit, Krankenfürsorge, Gefangenenbetreuung – in den Hintergrund<br />

getreten.<br />

Beim Streit zwischen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche der Moskauer<br />

Jurisdiktion und der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Kiewer<br />

Patriarchats spielen politische Momente eine große Rolle. Patriarch Filaret,<br />

der bis 1991 dem ukrainischen Exarchat der Russisch-Orthodoxen<br />

Kirche in Kiew als Metropolit vorstand, hatte 1991 für die Orthodoxe<br />

Kirche der Ukraine die Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat gefordert<br />

und dabei die Mehrzahl der in der Ukraine amtierenden Bischöfe auf<br />

seine Seite gebracht.<br />

Das Moskauer Patriarchat reagierte darauf mit seiner Amtsenthebung und<br />

dem Entzug des geistlichen Standes, ferner dem Einsetzen von Metropolit<br />

Wolodymyr Sabodan als Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine und<br />

schließlich mit einem <strong>1997</strong> ausgesprochenen Bann. Begründet wurde er mit<br />

„antikirchlicher, spalterischer Tätigkeit, die der Einheit der Kirche schadet“.<br />

173


In einem Brief an den Präsidenten der Ukraine nach der Synode, die<br />

Mitte April von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche Moskauer Jurisdiktion<br />

abgehalten wurde, schrieb Metropolit Sabodan, daß die Synode es<br />

nicht ablehne, die sechzehnte unabhängige Teilkirche zu werden, nur<br />

brauche man dazu noch Zeit und es müsse „der Wille Gottes“ sein. Im<br />

Zusammenhang mit dem massiven gesellschaftspolitischen Druck, der<br />

die drei orthodoxen Kirchen zu einer Versöhnung drängt, hieß es: „Wir<br />

wollen in Frieden mit allen Konfessionen leben, doch eine Vereinigung<br />

unter Zwang kommt nicht in Betracht.“ Einen großen Hinderungsgrund<br />

sehe er im Patriarchen Filaret, der von der Russisch-Orthodoxen Kirche<br />

(ROK) unter Bann gestellt wurde. Er wirft der Kirche Filarets vor, daß die<br />

Geistlichkeit und die Gläubigen widerrechtlich Kirchen in Besitz nähmen,<br />

die der Orthodoxen Kirche der Moskauer Jurisdiktion gehörten.<br />

Filaret hingegen rief auf einer Konferenz der einflußreichen gesellschaftlichen<br />

Organisation „Proswita“ (Aufklärung) die ukrainische<br />

Geist lichkeit, die Regierungsvertreter, die Berufsverbände und die Intelligenz<br />

des Landes dazu auf, sich für die Schaffung einer einheitlichen<br />

ukrainischen orthodoxen Teilkirche einzusetzen, denn sie stelle nicht nur<br />

einen bedeutenden Schritt in Richtung auf Wiederherstellung der historischen<br />

Gerechtigkeit dar, sondern auch einen Ausweg aus der ökonomisch-geistigen<br />

Krise, die die Gesellschaft erfaßt habe… Die kanonische<br />

Anerkennung sei nicht vorrangig, sie werde mit der Zeit kommen. Auch<br />

schlug er vor, die ukrainischen kirchlichen Würdenträger von Übersee als<br />

Vermittler einzusetzen und sich nicht an der Hierarchie der von Moskau<br />

abhängigen Ukrainischen Orthodoxen Kirche, sondern an den Gläubigen<br />

zu orientieren, bei denen der Wunsch zur Einheit vorhanden sei.<br />

Inzwischen haben sich jedoch Abgeordnetenkreise in den Streit der<br />

beiden größten orthodoxen Fraktionen eingemischt. Nachdem linke Parlamentarier,<br />

zu denen eine Reihe führender kommunistischer Kräfte gehören,<br />

eine Unterstützungsgruppe der Orthodoxen Kirche Moskauer Jurisdiktion<br />

gebildet haben, hat sich in der rechten Mitte eine Gruppe<br />

Abgeordneter „zur Verteidigung des kanonischen Rechts der ukrainischen<br />

Orthodoxie“ organisiert. Sie wollen beide orthodoxen Kirchen<br />

unterstützen, die eine unabhängige Ukrainische Orthodoxe Teilkirche<br />

anstreben. Sie erinnern daran, daß die ROK von der politischen Führung<br />

Rußlands als traditionelles Instrument der großstaatlichen imperialen<br />

174


Politik ausgenutzt wurde und noch wird. Zudem geht es auch um wirtschaftliche<br />

Momente: aus den orthodoxen Pfarrgemeinden der Moskauer<br />

Jurisdiktion fließen etwa 200 Millionen Dollar jährlich aus der Ukraine in<br />

die Kasse des Patriarchats. Zunehmend werden Befürchtungen laut, daß<br />

der Streit der Orthodoxen sogar die für 1998 anberaumten Parlamentswahlen<br />

mit beeinflussen könnte.<br />

Autor eines bemerkenswerten Beitrags zur Frage der rechtmäßigen<br />

Nachfolge auf dem Kiewer Metropolitansitz ist Serhij Sdioruk, Mitglied<br />

des wissenschaftlich-konsultativen Rates des Staatskomitees für Religionsangelegenheiten<br />

und anerkannter Experte für die Beziehungen zwischen<br />

Staat und Kirche, das Kirchenrecht und die Kirchengeschichte. Er<br />

betrachtet die Konflikte innerhalb der ukrainischen Orthodoxie als sehr<br />

gefährlich, wobei er die Ansprüche der Orthodoxen Kirche der Moskauer<br />

Jurisdiktion auf die Kiewer Metropolie als unrechtmäßig ansieht. Solche<br />

Ansprüche könnten sowohl die beiden anderen Orthodoxen Kirchen in<br />

der Ukraine (die des Kiewer Patriarchats und die Autokephale Kirche)<br />

und eine Reihe von ukrainischen Orthodoxen Kirchen (in Polen, in Übersee)<br />

sowie die Griechisch-Katholische Kirche erheben. Seiner Meinung<br />

nach habe bereits ein Prozeß begonnen, der zu einem Kompromiß führe,<br />

dem stehe lediglich die Orthodoxe Kirche der Moskauer Jurisdiktion im<br />

Wege, zumal ein Teil ihrer Hierarchie jeglichen Dialog ablehne. Er unterstreicht<br />

dabei, daß die Ukraine im Verlauf ihrer Geschichte stets eine besondere<br />

Beziehung zum Apostolischen Stuhl unterhalten habe, dessen<br />

heutige Bedeutung innerhalb der religiösen Zentren dieser Welt erstrangig<br />

sei. Eine Zusammenarbeit mit dem Weltkirchenrat, wo die Ukraine nicht<br />

vertreten sei, weil Rußland die Ukraine als seinen Bestandteil vorstelle,<br />

sowie mit der Konferenz der Europäischen Kirchen sei dringend geboten.<br />

Ökumenische Anfänge in der Ukraine?<br />

Ohne Zweifel sind in der Ukraine, ungeachtet der um Kultgebäude aufflackernden<br />

Streitigkeiten, hoffnungsvolle Anfänge einer ökumenischen<br />

Bewegung zu verzeichnen. Sie sind zunächst auf lokaler Ebene festzustellen<br />

und führen zu gemeinsamen Beratungen auf Bezirks- und Gebietsebene.<br />

So fand im ostukrainischen Industriegebiet, in der Stadt Donetzk,<br />

175


im Frühjahr <strong>1997</strong> ein gemeinsames Forum der beiden katholischen Kirchen<br />

sowie der Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats statt, das als<br />

überkonfessioneller Dialog gedacht war. Zwar enthielten einige Beiträge<br />

Ausfälle gegen die Orthodoxe Kirche der Moskauer Jurisdiktion, der man<br />

vorwarf, sich in den Dienst einer Wiederherstellung eines imperialen<br />

Rußland zu stellen und die nationalen Bewegungen zu unterdrücken, im<br />

allgemeinen habe jedoch das Forum die Hoffnung geweckt. „daß wir mit<br />

der Zeit lernen werden, einander zuzuhören, zu diskutieren und schließlich<br />

zum gemeinsamen Gebet zu finden“. Ein ähnliches Treffen fand in<br />

Solotschiw in der Westukraine statt, an dem beide katholischen sowie<br />

zwei ukrainische orthodoxe Denominationen teilnahmen. Das Treffen<br />

stand unter dem Zeichen der Worte des Apostel Paulus „Wir bitten an<br />

Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20). Der gemeinsame<br />

Aufruf appellierte, alles daranzusetzen, das zweitausendjährige<br />

Jubiläum der Geburt Christi in Liebe und Einvernehmen zu begehen. Das<br />

Dokument unterzeichneten fünf Geistliche verschiedener christlicher<br />

Konfessionen.<br />

Die oben angeführten Beispiele stehen nicht einzeln da. Einen ausführlichen<br />

Bericht über ähnliche Aktivitäten erlaubt der Umfang dieses<br />

Berichtes nicht. (Ebenfalls aus Raumgründen mußte auf die Darstellung<br />

mancher Ereignise der römisch-katholischen Kirche und der protestantischen<br />

Kirchen in der Ukraine verzichtet werden.) Die größte Zurückhaltung<br />

bei interkonfessionellen Gesprächen und Abkommen ist leider bei<br />

einer Vielzahl der Vertreter der Orthoxen Kirche der Moskauer Jurisdiktion<br />

festzustellen. Bei Übereinkommen, die eine gemeinsame Nutzung<br />

von Kultgebäuden betreffen, geht die Ablehnung zuweilen soweit, daß<br />

mit dem Argument operiert wird, man müsse vor dem Gottesdienst eine<br />

Kirche neu weihen, wenn eine andere christliche Konfession zuvor darin<br />

einen Gottesdienst abgehalten habe…<br />

Das herannahende 2000-Jahr-Jubiläum der Geburt Christi soll in der<br />

Ukraine in breitem Rahmen nicht nur in kirchlichen Kreisen gefeiert werden.<br />

An ihm sollen sich staatliche, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen<br />

beteiligen. Viele besorgte Christen versprechen sich von den<br />

breit angelegten Feierlichkeiten und Initiativen eine mächtige, versöhnende<br />

Bewegung, die zur Lösung der heute bestehenden Konflikte beitragen<br />

werde.<br />

176


Prof. Dr. Miklós Tomka, Budapest<br />

Dienstbereitschaft und/oder herrschaftliche<br />

Bedrohlichkeit der Kirche:<br />

Dilemmata der katholischen Kirche Ungarns<br />

Herrschaft oder Dienst? Das ist eine unhöfliche Frage. Zumindest auf der<br />

prinzipiellen Ebene. Die Katholiken Ungarns und ganz besonders die<br />

Priester haben das Evangelium soweit gut gelernt, daß sie das Dienen für<br />

eine Christenpflicht halten, die Herrschaft dagegen mißtrauisch beäugen<br />

und für sich selbst ablehnen.Die Kirche ist arm. Die Leiden einer vierzigjährigen<br />

Verfolgung sind noch sehr nahe. Die Schäden sind noch nicht<br />

behoben. Die Kirche macht jede Anstrengung, um sich für die Erfüllung<br />

ihrer Aufgaben zu rüsten. Sie vergißt dabei auch die Notleidenden nicht.<br />

Sie will dienen. Die vorhin gestellte Alternative ist somit keine reale. Fast<br />

wäre man geneigt, das Thema damit überhaupt zu schließen. Was sollen<br />

darüber noch viele Worte gesagt werden? Die Sache hat nur einen Haken.<br />

Nicht wenige beurteilen die Stellung der Kirche genau umgekehrt.<br />

Von jener anderen Warte ist die Sache genauso klar. Die Kirche hat<br />

immer geherrscht, wird behauptet. So ein Satz ist freilich ein Kampfwort.<br />

Aber keineswegs ohne eine bittere Erfahrung. Die katholische Kirche<br />

Ungarns war für ein Jahrtausend die stabilste politische, wirtschaftliche<br />

und kulturelle Macht des Landes. Sie hat ihre Herrschaft wie selbstverständlich<br />

ausgeübt. Das Intermezzo des Kommunismus erscheint in<br />

dieser weltgeschichtlichen Perspektive nur als eine kurze Pause. Ist die<br />

Kirche nach der Wende wieder bemüht, die frühere Herrschaftsposition<br />

zurückzuerobern? Sie kann auf diesem Weg bereits nicht unerhebliche<br />

Erfolge verbuchen.<br />

Herrschaft der Kirche…? Viele sind überzeugt, diese gehöre zu ihrem<br />

Wesen. Schlimm sei nur, daß sie das nicht eingestehen wolle und daß sie<br />

177


die durch die Gesetze gewährte Religionsfreiheit und ihre institutionalisierte<br />

religiöse „Exterritorialität“ zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche<br />

mißbrauche. Sie ist mächtig, ein Elefant zwischen vielen Mäus chen,<br />

die weit größte Organisation in der wachsenden Vielfalt der sich neu gliedernden<br />

Gesellschaft. Sie ist aber ein Elefant im Porzellanladen, der sich<br />

nicht darum kümmert, wie es den anderen um ihn herum ergeht. Wegen<br />

dieser Unbekümmertheit sei die Kirche für alle, die nicht zu ihr gehören,<br />

eine Gefahr. Sie beherrsche die Szene, wolle aber nicht dafür einstehen.<br />

Sie praktiziere eine unverantwortete Herrschaft. – So sprechen immer<br />

mehr Menschen, darunter die gar nicht Religiösen und die nicht kirchlich<br />

Glaubenden, die Mitglieder anderer, besonders der kleineren Religionsgemeinschaften<br />

und die Anhänger einer antireligiös-liberalen Gesinnung.<br />

Diese Mahner mögen die sozialnützlichen Dienste der Kirche wahrnehmen,<br />

welche aber in ihren Augen die Gefahr nicht schmälern, die durch<br />

das Machtgehabe der Kirche entstehe. Die Über legung, ob die Kirche<br />

herrscht und ob sie nach Herrschaft lechzt, ist aus dieser Sicht keine<br />

Frage, sondern eher eine Provokation. Schlimme Fakten sollen nicht<br />

durch Hinterfragung verniedlicht werden!<br />

Es wäre zu einfach, hier den Schiedsrichter spielen zu wollen. Es wäre<br />

aber auch falsch, zu behaupten, die eine Seite hätte recht, die andere<br />

unrecht. Es sollten dagegen die Selbstverständnisse etwas genauer untersucht<br />

werden, die hinter der einen und der anderen Position stehen. Wahrscheinlich<br />

reicht es nicht aus, den guten Willen und die Absichtserklärungen<br />

auf die Waagschale zu legen. Lauterkeit und Vertrauenswürdigkeit<br />

werden nicht nach Worten, sondern nach der Erfahrung beurteilt. Man<br />

muß also die Vorgeschichte befragen.<br />

Es gibt noch ein Problem. Die Begriffe „Dienst“ und „Herrschaft“ werden<br />

von verschiedenen Menschen und von verschiedenen Gruppen der<br />

Gesellschaft unterschiedlich verstanden. Sollte es dabei nur um eine<br />

semantische, um eine Verständnisdifferenz gehen? Die Herrschaftsfrage<br />

ist offensichtlich stark interessenbeladen. Es fragt sich, welche Motive<br />

die unterschiedlichen Auffassungen bestimmen. Wer bezweckt was mit<br />

der einen oder anderen Position?<br />

178


Historische Hypotheken<br />

Im historischen Zusammenhang bedeutet die katholische Kirche für das<br />

Karpatenbecken die Kultur, die Ordnung der Geschichte, die Staatlichkeit,<br />

die Zugehörigkeit zu Europa. Die Reiterstämme der Ungarn sind<br />

durch ihre Christianisierung zu einem Kulturvolk der europäischen Völkergemeinschaft<br />

geworden. Mit diesem Glauben und für diese Kirche<br />

haben die hier Lebenden die wiederholten Angriffe aus dem Osten, die<br />

Verwüstungen durch Tataren und Türken überstanden. Jene „Heiden“<br />

boten Waffenbrüderschaft gegen Europa an. Ungarn hielt aber zu seinem<br />

Glauben. Es ist bis heute stolz darauf, immer wieder in der Geschichte<br />

das Christentum und Europa gewählt und verteidigt zu haben. Das katholische<br />

Königreich „der Heiligen Krone des heiligen Stephan“ war eines<br />

der bedeutendsten Reiche des Mittelalters und das langlebigste an den<br />

östlichen Grenzen Europas. Die wichtigste tragende Institution dieses<br />

ethnisch heterogenen Volkes und dieses Staates war die katholische Kirche.<br />

Sie vermochte selbst in den 150 Jahren der Türkenherrschaft die<br />

vielsprachige Nation zusammenzuhalten. Sie tat auch mehr. Als weiter<br />

westlich in Europa die bürgerliche Entwicklung Institutionen der zivilen<br />

Gemeinschaft schuf, stand Ungarn im Krieg und wurde von Türken und<br />

von den Söldnern Österreichs geplündert. Ein leistungsfähiges Gemeinwesen<br />

konnte nicht entstehen. Die Kirche errichtete die ersten Waisen-,<br />

Alten- und Krankenhäuser. Sie öffnete bereits in der Zeit der Staatsgründung<br />

die ersten Schulen und baute in späteren Jahrhunderten ein vollständiges<br />

Bildungssystem aus. Die Kirche leistete also ununterbrochen große<br />

Dienste. Zusätzlich dazu wurde sie in Notzeiten immer wieder eine den<br />

Armen, den Flüchtenden, den Bedürftigen dienende Kirche. Dies ist die<br />

frühere Vergangenheit. Sie wird jedoch durch die Entwicklungen der<br />

Neuzeit überschattet.<br />

Die gleiche katholische Kirche ist in den letzten beiden Jahrhunderten<br />

innerhalb der öffentlichen Organisation der Gesellschaft ein Relikt geworden,<br />

das mit seiner Macht nicht mehr umzugehen vermochte, aber<br />

krampfhaft daran festhielt. Die Existenz ihrer Institutionen (bis 1948 über<br />

die Hälfte aller Schulen, ein Großteil der Einrichtungen des Sozial- und<br />

Gesundheitswesens) und ihre Macht im Staat wandelten sich vom Segen<br />

der Nation zu einem Bremsklotz der Entwicklung. Die Entstehung einer<br />

179


katholischen Partei und auch einer innerkirchlichen Laienorganisation<br />

wurde durch die katholische Hierarchie (im 19. Jahrhundert) verhindert,<br />

weil ihre paternalistische Auffassung den Laien keine Stimme erlauben<br />

wollte… Die Kirche – als die größte Großgrundbesitzerin im Land der<br />

Domänen und der Millionen von landlosen Bauern – widerstand (bis zum<br />

Anbruch des Kommunismus) einer Agrarreform. Sie hütete eifersüchtig<br />

ihren Reichtum, ohne aber ihre Landwirtschaft gewinnbringend zu betreiben…<br />

Konsequenterweise mußten ihre Institutionen zum großen Teil<br />

vom Staat finanziert werden… Der hohe Klerus teilte das reiche Leben<br />

der Aristokratie… Durch ihre Besitztümer, durch ihre Institutionen,<br />

durch die ihr rechtlich zugestandenen Positionen und durch ihren gesellschaftlichen<br />

Einfluß besaß die Kirche eine umfassende Macht. Sie selbst<br />

war Macht – in andauernder struktureller Sünde.<br />

Die Herrschaft der Kirche wurde zu einer berechtigten Zielscheibe der<br />

marxistisch geprägten Religions- und Kirchenkritik. Die kommunistische<br />

Propaganda hörte nicht auf, über die reiche Kirche und deren Machtmißbrauch<br />

zu sprechen. Die Kinder haben das bereits im Kindergarten und in<br />

der Schule zu hören bekommen. Es wurde auch anderswo, in allen möglichen<br />

Kontexten, refrainartig wiederholt. Dieses stereotype Bild kennen<br />

auch jene, die sonst überhaupt nichts über die Kirche wissen.<br />

Bedauerlicherweise haben die kommunistischen Angriffe beziehungsweise<br />

der Versuch der Kirche, diese abzuwehren, den Weg für eine<br />

Vergangenheitsbewältigung verbaut. Von ihrer herrschaftlichen Geschichte<br />

hat sich die katholische Kirche Ungarns bis heute nicht distanziert.<br />

Eine anachronistisch anmutende Vergangenheit wirft ihre Schatten<br />

auf die Kirche Ungarns.<br />

Die Sünden der Kirche rechtfertigen freilich nicht die Unmenschlichkeiten<br />

des Parteistaates. Es wäre völlig abwegig, die Kommunisten<br />

schlicht als Moralisten darstellen zu wollen. Die vergangenen vierzig<br />

Jahre waren eine herzlose Diktatur erst in totalitärer, später in autoritärer<br />

Ausgabe. Sie wurden von den Menschen als Unterdrückung, als Entmündigung,<br />

als Freiheitsentzug erlebt. Diese Nöte ließen die Sorgen der vorkommunistischen<br />

Jahrzehnte in einem rosigen Licht erscheinen. Nicht<br />

die Vorkriegszeit, sondern die sowjetische und die kommunistische Herrschaft<br />

hat das Denken der Menschen über die Kirche und ihre Beziehungen<br />

zur Kirche bestimmt. Man schätzte die Rolle der Kirchen in der<br />

180


Bewahrung jener historisch gewachsenen Kultur, welche der Kommunismus<br />

vernichten wollte. Viele erkannten die Rolle der Kirchen bei der<br />

Schaffung und Bewahrung von Gemeinschaften in einer Zeit, als die<br />

Modernisierung frühere Bindungen zersetzte und die staatliche Gewalt<br />

deren Regeneration verhinderte.Man stützte sich auf die Kirchen, wenn<br />

man eine freie geistige Atmosphäre und die Gemeinschaft von Seines/Ihresgleichen<br />

brauchte, wenn man im Widerstand gegen das aufoktroyierte<br />

System bestärkt werden wollte. Die Kirchen konnten sich in all diesen<br />

Jahren einer breiten Sympathie sicher sein. Mehr noch, die Kirchen gewannen<br />

im Kommunismus neue gesellschaftliche Funktionen. Sie wurden<br />

zu Idolen, auf welche jede Hoffnung projiziert wurde.<br />

Die Hoffnungslosigkeit und die Apathie nach der niedergeschlagenen<br />

Revolution (1956) und die plötzliche, extensive Industrialisierung und<br />

Modernisierung in den sechziger Jahren haben zunächst eine starke Entchristlichung<br />

ausgelöst. Es mag dabei auch die Tatsache mitgewirkt haben,<br />

daß inzwischen die erste, bereits in kommunistischen Schulen ausgebildete<br />

Generation herangewachsen war. In den sechziger und siebziger<br />

Jahren fiel der Anteil der Sonntagskirchgänger von fast 80 auf 8 (!)<br />

Prozent der Katholiken Ungarns. Ende der siebziger Jahre schlug allerdings<br />

diese Entwicklung um. Seit dieser Zeit gibt es einen religiösen Aufschwung.<br />

(Der Anteil der Sonntagskirchgänger liegt heute bei 12–13<br />

Prozent.) In den achtziger Jahren, die wir nachträglich als Demontage des<br />

kommunistischen Systems bezeichnen, haben alle gesellschaftlichen<br />

Institutionen an Ansehen eingebüßt. Im Gegensatz dazu stieg das Prestige<br />

der Kirchen von Jahr zu Jahr. In den Monaten unmittelbar vor der Wende<br />

überflügelte die Hochschätzung der Kirchen alle anderen Institutionen.<br />

Im Einklang damit stiegen die Erwartungen an die Kirchen sprunghaft<br />

an. Die Umfragen selbst staatlicher Institute vermittelten ein unglaubliches<br />

Bild. Im Augenblick, als das Gebäude des sozialistisch-kommunistischen<br />

Systems dabei war, zusammenzustürzen, rechnete die öffentliche<br />

Meinung damit, daß die Kirchen aus der Konkursmasse eine neue heile<br />

Welt errichten könnten. Verzweifelte Hoffnungen nahmen überhand.<br />

Kind liche Zuwendung zu den Kirchen wuchs selbst bei Nichtglaubenden.<br />

In dieser Euphorie wurde ein Restitutionsgesetz zugunsten der Kirchen<br />

beschlossen – ohne daß dessen Durchführbarkeit überhaupt geprüft<br />

worden wäre. Dies waren die kurzen Momente einer moralischen Auf-<br />

181


wallung, die die Pragmatik ungefragt ließ. Sie zeigten aber auch die<br />

Chancen der Kirchen und die Brüchigkeit der vierzigjährigen Propaganda.<br />

Diese Momente waren kurz, sie waren jedoch Augenblicke, die<br />

historische Epochen trennten.<br />

Die noch unerfüllte Erwartung einer dienenden Kirche<br />

Die Wende öffnete Schleusen aufgestauter Probleme. Damit ist auch der<br />

Bedarf für eine dienende Kirche angewachsen. Die sich plötzlich verschärfende<br />

soziale Differenzierung, die Masse von Kleinrentnern, die auf<br />

einmal aus ihrem Einkommen die laufenden Kosten ihrer Wohnung nicht<br />

bezahlen können, die Kürzung des Kinder- und des Erziehungsgeldes,<br />

die medizinische Versorgung, die jetzt kostenpflichtig geworden ist, das<br />

Studium, wofür immer mehr gezahlt werden muß (usw.), haben breite<br />

Schichten geschaffen, die mit ihren Problemen nicht fertig werden. Mehr<br />

denn je wird nach Mitmenschlichkeit und nach Hilfe gefleht. Der Staat<br />

zieht sich aber aus der Affäre unter Berufung auf die Privatisierung. Die<br />

Sozialpolitik wird einem Manchester-Kapitalismus geopfert. Der Staat<br />

ist Werkzeug jener Menschen geworden, die sich bereits in den vergangenen<br />

Jahrzehnten eine wirtschaftliche Sicherheit verschafft haben. Viele<br />

von diesen konnten sich jetzt einen westlichen Wohlstand sichern. Es gibt<br />

wieder sehr Reiche und sehr Arme, Herrschende und solche, die durch<br />

die neue Struktur unmündig gemacht werden. Es ist unmöglich, in dieser<br />

Polarisierung unbeteiligt zu bleiben. Auch die Kirchen werden herausgefordert,<br />

ihre Fahrtrichtung in diesem grausamen „freien Wettbewerb“,<br />

ihre Position zu bestimmen. Wollen sie ihren Platz unter den Etablierten<br />

oder unter den nicht Abgesicherten und den Wegesuchenden einnehmen?<br />

Die Stunde Null schlug für die Kirchen in einem eigenartigen Dilemma.<br />

Die Bevölkerung rechnet mit dem karitativen Beistand der Kirche.<br />

Vielleicht hält man sie für reich. Vielleicht fragt man gar nicht nach<br />

den Grenzen des Möglichen, wenn man in tiefer Not ist. Die Kirchen<br />

wurden jedenfalls zu Hilfe gerufen. Viele haben ihnen Vertrauen entgegengebracht<br />

– und die Kirchen meinten, nicht die Mittel zu besitzen, die<br />

zur Lösung der erwarteten Aufgaben notwendig gewesen wären. Ordenshäuser,<br />

Schulen, Gemeindezentren, sämtliche Gebäude der katholischen<br />

182


Organisationen, selbst Kirchen sind in den ersten Jahren des Kommunismus<br />

verstaatlicht und anderen Zwecken zugeführt worden. Geld besaßen<br />

die Kirchen auch keines. Also meldeten sie sich, statt eines versöhnenden<br />

und heilenden Wortes und statt der erwarteten sozialen Leistungen, mit<br />

Restitutionsforderungen. Erst wenn sie, als Institution, durch die Rückgabe<br />

ihrer entwendeten Besitztümer wieder funktionsfähig gemacht werden,<br />

können sie die von ihnen erwarteten Aufgaben erfüllen, hieß es. Es<br />

ist eine klare Sache: der Schulunterricht bedarf einer Schule, Altersheime<br />

brauchen Gebäude, Orden benötigen einen Platz für ihre Gemeinschaft,<br />

die völlig verarmte Kirche braucht Geld, um ihre Organisation instand zu<br />

setzen und um ihre Institutionen wiederzuerwecken. Jeder Ökonom<br />

würde diesen Argumenten zustimmen. Bei den einfachen Menschen hat<br />

aber eine solche Umdrehung der Erwartungen eine Enttäuschung gebracht.<br />

Eine Spannung ist entstanden zwischen den Hoffnungen, die in<br />

die Kirche gesetzt wurden, und den Forderungen der Kirche nach Restitution<br />

und nach ihrer Finanzierung durch den Staat.<br />

Kann Dienst in Macht und Herrschaft umschlagen?<br />

Am 20. Juni <strong>1997</strong> hat der Vatikan – zugunsten der katholischen Kirche<br />

Ungarns – mit der ungarischen Regierung eine Vereinbarung über Finanzfragen<br />

unterzeichnet. Den Konfessionsschulen wurde eine mit den<br />

öffentlichen Schulen gleichgestellte staatliche Subventionierung zugesichert.<br />

Die bisherigen Privilegien der Kirche in Steuerfragen wurden<br />

nochmals festgeschrieben. Keine der anderen Kirchen verfügt zunächst<br />

über einen ähnlichen Vertrag (auch wenn sie, aufgrund der Gleichheit der<br />

Kirchen, die gleichen Ansprüche stellen können). Die kleinen Kirchengemeinschaften<br />

können nicht einmal in den Genuß einer solchen Regelung<br />

kommen, zumal sie keine Bildungsinstitutionen unterhalten. Die Kleinkirchen<br />

(wie in Ungarn auch die Sekten in der Amtssprache heißen) und<br />

die Nichtglaubenden beklagen einen Machtzuwachs der katholischen<br />

Kirche. Ihr werden auch in der Politik Herrschaftsgelüste nachgesagt,<br />

u.a. auch deshalb, weil die Anhängerschaft der Christdemokratischen<br />

Volkspartei weitgehend aus praktizierenden Katholiken besteht. Zweifelsohne<br />

ist die katholische Kirche – als eine eigenständige Institution,<br />

183


aber auch über viele Organisationen, die ihre Tätigkeit nach der Kirche<br />

richten – eine politische Größe und damit Objekt politischer Auseinandersetzungen.<br />

Ob damit der Vorwurf der Herrschaft gerechtfertigt wäre,<br />

ist jedoch mehr als zweifelhaft. Es bleibt aber bestehen, daß die katholische<br />

Kirche selbst jetzt, in der Phase ihrer nachkommunistischen Genesung,<br />

Angst um sich herum verbreitet. Diese Lage der Dinge macht es<br />

verständlich, warum viele die Religion, und ganz besonders die katholische,<br />

strikt als Privatsache bestimmen und die öffentliche Präsenz der<br />

Kirche beschränken wollen.<br />

Repräsentanten der katholischen Kirche haben ein gutes Gewissen.<br />

Das Recht der Kirche auf eine uneingeschränkte soziale Präsenz ist von<br />

Gott gegeben, ist in das Naturrecht eingeschrieben und ist auch in der<br />

geschriebenen Verfassung enthalten. Die Kirche will ausschließlich ihre<br />

Mission erfüllen und dabei den Menschen dienen, behaupten sie. Diese<br />

Argumentation gelangt aber leicht auf rutschiges Gelände. Sie behauptet,<br />

jede Art von Evangelisation sei Dienst an den Menschen, ob sie das wahrhaben<br />

wollen oder nicht. Die Kirche meint, selbst bestimmen oder aus<br />

ihrer Tradition herauslesen zu können, worin die Evangelisation (und damit<br />

der Dienst an den Menschen) zu bestehen, wie sie zu erfolgen hat. Sie<br />

meint, im Dienst an der Gesellschaft vielleicht ihre direkte Klientel<br />

– Glieder der Kirche und potentielle Nutzer ihrer Institutionen – beachten<br />

zu sollen, aber ansonsten nicht auf einen Dialog mit anderen Kirchen<br />

oder mit dem kirchenfernen Teil der Gesellschaft angewiesen zu sein. Sie<br />

fühlt sich (im doppelten Sinne des Wortes) groß genug, um auch allein<br />

eine Meinung bestreiten zu können. Sie litt viel zu sehr an der Gängelung<br />

durch den Kommunismus, um jetzt noch auf die Zustimmung anderer zu<br />

warten. Die Nichtkatholiken und der nicht kirchengebundene Teil der<br />

Bevölkerung fühlen sich freilich wie vor den Kopf gestoßen. Sie übersetzen<br />

diese Art von Dienst als Bevormundung, als Fraktionsbildung, als<br />

Spaltung der Gesellschaft. Sie meinen, die Botschaft zu hören, daß die<br />

katholische Kirche ihren Willen gegebenenfalls auch auf Kosten von<br />

anderen durchsetzen will. Das sind mit anderen Worten: Herrschaftsansprüche.<br />

Solche Vorwürfe sind für ein vorkonziliares Denken unverständlich.<br />

Die Bereitschaft, das eigene Tun im Dialog mit der Gesellschaft, mit<br />

Gläubigen und mit Nichtglaubenden vorzubereiten und auszuhandeln,<br />

184


diese Bereitschaft ist in der Kirche noch nicht genug gewachsen. Kritiken<br />

und Ängste werden nur als Kaschierungen entgegengesetzter Herrschaftsbemühungen<br />

verstanden. Eigenartigerweise ist diese Deutung<br />

gegnerischer Positionen nicht einmal so falsch. Die Aufdeckung von<br />

Eigeninteressen der Kirchenkritiker kann aber zu kurzschlüssigem Denken<br />

verleiten und dazu beitragen, den wahren Kern der Kritiken nicht<br />

anzuerkennen. Die Kirche ist damit in Gefahr, im Gewirr ausschließlich<br />

machtpolitischer Überlegungen gefangen zu bleiben.<br />

Es stehen zwei gleichermaßen überholte Positionen einander gegenüber.<br />

Im innerkirchlichen Denken wirkt eine Vergangenheit nach, in der<br />

eine organische und einheitlich gegliederte Gesellschaft unter der<br />

Schirmherrschaft der Kirche stand. In diesem Denken wird die ewige,<br />

einheitliche Natur aller Menschen beschworen und der Pluralismus<br />

innerlich abgelehnt. Auch wenn die Koexistenz mit Nichtglaubenden<br />

gezwungenermaßen akzeptiert wird, Wahrheit und Rechtmäßigkeit empfindet<br />

man nur auf der eigenen Seite. Es ist ein Menschen- und Gesellschaftsbild,<br />

das von vornherein eine nicht nur maßgebliche, sondern auch<br />

herrschende Stellung für die (katholische) Religion und Kirche reserviert.<br />

Dies kann allerdings schlecht den Vorwurf entkräften, eine Ideologie des<br />

kirchlichen Machthungers zu sein.<br />

Mit umgekehrtem Vorzeichen, doch im Grunde nicht viel anders steht<br />

es mit den liberalen Kritikern dieser kirchlichen Position. Diese Kritiker<br />

sprechen im Namen der Selfmademen, auch der Technokraten bzw. aller<br />

jener, die sich trotz Kommunismus (oder gerade mit dessen Hilfe) politisch<br />

oder wirtschaftlich hocharbeiten konnten. Sie beschwören den Wert<br />

des Individuums und lehnen jegliche gemeinschaftliche Vertretung, jede<br />

subsidiäre Gliederung der Gesellschaft, auch jede Sozialpolitik ab. Indem<br />

sie die Privatinitiative und den Wirtschaftserfolg zu alleinigen bestimmenden<br />

Faktoren machen will, ist diese Position gleichermaßen gegen<br />

Kirchen und Gewerkschaften gerichtet. Sie ist die Stimme der Erfolgreichen,<br />

die ihren Vorsprung gerade dadurch wahren wollen, daß sie den<br />

Zusammenschluß der anderen verhindern. Die interessengelenkte Natur<br />

dieser Argumentation ist gleichfalls offensichtlich.<br />

185


Auf dem Weg zur wirklich dienenden Kirche<br />

Die genannte Gefahr einer Verstrickung in die Machtpolitik konnte in einer<br />

doppelten Hinsicht bereits überwunden werden. Im Konkreten wächst<br />

und gedeiht die teils von unten entstehende, teils auch organisatorisch<br />

gefestigte Caritastätigkeit. Dienst erfolgt also tagtäglich, faßbar, wo er<br />

am meisten gebraucht wird. Im Prinzipiellen kam es auch zu einem wichtigen<br />

Schritt. Die katholische Bischofskonferenz hat im Sommer 1996 einen<br />

Sozialhirtenbrief herausgegeben, worin die Mißstände angeprangert,<br />

das Gemeinwohl eingefordert, eine Verpflichtung für die Not leidenden<br />

ausgesprochen, die vorrangige Option für die Armen zur Zukunftsstrategie<br />

bestimmt werden. Damit wurde ein neues Kapitel in der Geschichte<br />

der katholischen Kirche Ungarns aufgeschlagen.<br />

Um den Stellenwert der Wohltätigkeit der Kirche richtig beurteilen zu<br />

können, muß man mit der gesellschaftlichen Situation beginnen. Das<br />

kommunistische System hat die elementare Versorgung und eine gewisse<br />

soziale Sicherheit garantiert. Unter Berufung auf diese staatlichen Leistungen<br />

wurde aber jede Eigeninitiative und ganz besonders jede gemeinschaftliche<br />

Unternehmung konsequent bekämpft. Eine Verantwortung<br />

füreinander und für den öffentlichen Bereich konnte sich nicht entwikkeln.<br />

Es entstand eine individualistische, atomisierte Gesellschaft. Diese<br />

besaß weder die Fähigkeit noch die Instrumente zur Linderung der sozialen<br />

Not, als das Gerüst des sozialistisch-kommunistischen Versorgungsstaates<br />

einstürzte. Zwei Ausnahmen korrigieren das gezeichnete Bild. In<br />

den frühen achtziger Jahren ist das Ausmaß der Armut und der sozialen<br />

Benachteiligung bestimmter Gruppen (nicht zuletzt der Roma-Bevölkerung)<br />

in mehreren aufsehenerregenden Studien dokumentiert worden. Liberal-oppositionelle<br />

Kreise organisierten und betrieben daraufhin die<br />

(nicht genehmigte) Stiftung zur Unterstützung der Armen (SZETA). Die<br />

katholische Kirche, deren öffentliche Tätigkeit untersagt und behindert<br />

war, konnte an der Arbeit dieser Stiftung, zumindest formal, nicht teilnehmen.<br />

Etwa zur gleichen Zeit und unabhängig von wissenschaftlichen Erhebungen<br />

entstand aber eine andere Bewegung innerhalb der Kirche.<br />

Christen begannen in ihrer Nachbarschaft und im Rahmen ihrer Kirchengemeinde<br />

eine systematische Tätigkeit zur Unterstützung der Armen, der<br />

Alten, der Kranken, der kinderreichen Familien. Bald bildeten sich kleine<br />

186


Grüppchen, die sich diese Arbeit zu ihrer Hauptaufgabe machten und deren<br />

Kosten auch trugen. Sie gewannen rasch das Vertrauen von anderen<br />

Gemeindemitgliedern, das unerläßlich war, da wegen der nichtgenehmigten<br />

Art dieser Tätigkeit Spenden nirgends verbucht werden durften. Es<br />

gab sie aber. Diese weitgefaßte „Nachbarschaftshilfe“ war Ende der achtziger<br />

Jahre stark genug, um auch den Hauptanteil in der Pflege, Versorgung,<br />

zum Teil auch Eingliederung der Flüchtlinge aus Rumänien zu<br />

übernehmen. Dieses informelle Netz von örtlichen Caritasgruppen bildete<br />

später die Grundlage der landesweiten Organisation des Malteser Hilfsdienstes,<br />

der in der vorübergehenden Versorgung der DDR-Flüchtlinge<br />

und später in der länger andauernden Unterbringung und Pflege der<br />

Flüchtlinge des Jugoslawien-Krieges einen Löwenanteil der Arbeiten<br />

übernahm. Die länderübergreifende Wohl fahrts tätigkeit wurde inzwischen<br />

von neu entstandenen Verbänden übernommen. Die Zahl der eigenständigen<br />

und selbsttätigen katholischen Caritasgruppen steigt aber weiter<br />

an und beträgt gegenwärtig über 400. Ihr Beitrag ist nicht nur die Linderung<br />

der Not, sondern das Wachhalten der Verantwortung füreinander.<br />

Ein öffentlich sichtbares Zeichen ist mit dem Sozialhirtenbrief der<br />

katholischen Kirche gesetzt worden. Dieser wurde in vielfacher Hinsicht<br />

zu einem spektakulären Ereignis. Er ist zunächst eine kritische Bilanz der<br />

gesellschaftlichen und der politischen Lage. Die Kritik ist aber nicht stärker<br />

als weit und breit in Kreisen von Sozialwissenschaftlern und auch in<br />

der Presse. Kritik wie Bilanz sind nur Ausgangspunkte der Besinnung<br />

und der Aufgabenstellung. Es werden die Prinzipien der katholischen<br />

Soziallehre beschworen. Die Grundaussagen lassen sich einfach zusammenfassen.<br />

Entgegen allen Modernisierungstheorien und allen Argumenten,<br />

die sich auf Sachzwänge berufen, wird der Wert Mensch betont.<br />

Erfolg und Mißerfolg sollen daran gemessen werden, ob und wie weit sie<br />

den Menschen und dem Gemeinwohl dienen. Ein jeder Mensch hat ein<br />

Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben. Der Staat ist also verpflichtet<br />

– und jeder Mensch und jede Gemeinschaft ist aufgefordert –, die<br />

Schwächsten zu unterstützen und sie zu einer vollwertigen Teilnahme am<br />

Leben der Gesellschaft zu befähigen.Die aktive Einbeziehung aller in das<br />

Funktionsgefüge der Gesellschaft kann nur erfolgen, wenn den unterschiedlichen<br />

Fähigkeiten Rechnung getragen wird. Das erfordert den<br />

Ausbau einer subsidiär gestalteten Zivilgesellschaft. Der Hirtenbrief hat<br />

187


einen unmißverständlich appellativen Duktus. Der Staat, die öffentliche<br />

Sphäre der entstehenden Zivilgesellschaft und jedes einzelne Individuum<br />

haben eine Verantwortung für die Vermenschlichung unserer Welt. (Der<br />

„an alle Menschen guten Willens“ gerichtete Hirtenbrief trägt den Titel<br />

„Für eine gerechtere und geschwisterlichere Welt!“) Auch die Kirche will<br />

sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Im Gegenteil! Sie verpflichtet<br />

sich im Hirtenbrief klar und eindeutig zum sozialen und zum gesellschaftlichen<br />

Dienst. „Dem Beispiel ihres Gründers folgend, soll sich die<br />

Kirche mit besonderer Liebe um die Armen, die Entmachteten, die Unterdrückten<br />

kümmern“ (Punkt 23). Und: „Die Kirche selbst trägt ebenfalls<br />

zum gesellschaftlichen Dialog und zum erwünschten allgemeinen Konsens<br />

bei, indem sie innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften die verschiedenen<br />

Formen des ehrlichen und brüderlichen Dialogs unterstützt“<br />

(Punkt 111).<br />

188


III. Predigt und Meditation<br />

in den Eucharistiefeiern


Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, Mainz<br />

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz<br />

Predigt beim ersten Internationalen<br />

Kongreß RENOVABIS in der Eucharistiefeier<br />

am 5. September <strong>1997</strong> in Freising<br />

I.<br />

Das Jahr 1989 kommt mir immer mehr geradezu als ein Wunder vor.<br />

Mögen die kommunistischen Staatsdiktaturen des Ostens innerlich<br />

morsch und zum Abbruch reif gewesen sein, so hatten wir im Westen<br />

doch kaum mehr Hoffnung, daß es zu einer solchen Befreiung kommen<br />

könnte. Der Weltgeist kam wieder einmal mit sachten Taubenfüßen. Die<br />

unblutigen Revolutionen waren eine andere Überraschung, an die niemand<br />

gedacht hat. Wie sah es z.B. im Frühsommer 1989 noch in Prag<br />

aus, als wir den 90. Geburtstag von Kardinal Tomásˇek feierten? Der<br />

heutige Bischof Karel von Königgrätz in Tschechien, damals als einer der<br />

geheim geweihten Bischöfe interniert oder verbannt, mußte im Dom die<br />

bischöflichen Insignien wieder ablegen. Über dem Kopf des greisen Kardinals<br />

schwebte immer ein Mikrofon bei den Glückwünschen der vielen<br />

Gäste. Aber schon wagten sich einige tapfere Ordensleute zum Erstaunen<br />

vieler in ihrem Habit auf die Straßen der Stadt.<br />

Mit Recht war es eine unbeschreibliche Freude, als ein Land nach dem<br />

anderen sich selbst befreite. Aber für eine Zeitlang war vielen doch nicht<br />

bewußt, daß die von Menschenhand gemachten Trennmauern und der<br />

Eiserne Vorhang zwar rasch fallen können, es jedoch mit den Sperren in<br />

unseren Köpfen nicht so rasch geht. Im Westen schaute man insgeheim<br />

immer noch etwas mitleidig auf die zurückgebliebenen armen Nachbarn<br />

hinunter. Viele wollten sie in einem theologischen und kirchenpolitischen<br />

Schnellkurs umerziehen und mit den modernen Errungenschaften segnen.<br />

191


Da waren manchmal Überheblichkeit und Hochmut mit im Spiel. So war<br />

es vielleicht nicht überraschend, daß nicht wenige im Osten vor einer solchen<br />

missionierenden Invasion aus dem Westen die Angst packte, daß sie<br />

befürchteten, wehrlos überschwemmt zu werden. Aber man hat vielleicht<br />

auch zu wenig bedacht, daß zur Einführung der Demokratie als Staatsform<br />

und zum Gebrauch der neuen Freiheit mehr Offenheit und Auseinandersetzung,<br />

Mut zum Dialog und zum geistigen Wettbewerb gehören. Man<br />

kann nicht Ja sagen zur Demokratie und zu den Menschenrechten und<br />

zugleich kritische Reflexion und wache Öffentlichkeit einschränken.<br />

Es dauerte eine Weile, bis man sich nicht mehr mißtrauisch belagerte,<br />

sondern aufrichtig aufeinander zuging und langsam Vertrauen einübte.<br />

Der Westen mußte Einsicht darin gewinnen, daß die östlichen Kirchen<br />

Sorge hatten, ihre in der Verfolgung bewährte, lebendige Glaubenssubstanz<br />

könnte bei den unumgänglichen Modernisierungsschüben schweren<br />

Schaden leiden; der Schatz des Glaubens hätte die Unfreiheit überstanden,<br />

aber nicht die Freiheit überlebt.<br />

Es sind viele kleine und große Begegnungen, die manches Mißtrauen<br />

überwinden halfen. Angefangen von der baldigen Einberufung einer<br />

ersten europäischen Bischofssynode durch Papst Johannes Paul II. über<br />

die Kontakte der einzelnen Bischofskonferenzen und Diözesen, die<br />

neuen Kontakte der Orden und der geistlichen Gemeinschaften, die<br />

Zusammenkünfte des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen bis<br />

hin zur Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz vor<br />

wenigen Monaten.<br />

192<br />

II.<br />

So sprach man vom „Austausch der Gaben“, auch wenn der Weg noch<br />

länger war. Es war deutlich, daß man andere Wege beschreiten mußte als<br />

bei den übrigen Hilfswerken. Es ging nicht um die missionarische Verkündigung<br />

an solche, die das Evangelium nicht kannten. Es waren vielmehr<br />

reiche und hohe Kulturen, die ein großes Spektrum religiöser und<br />

künstlerischer Ausdrucksgestalten des Glaubens geschaffen hatten. Es<br />

war klar, daß „Hilfe“ keine Einbahnstraße sein durfte, die von einer Seite<br />

gesteuert werden sollte.


Das Hilfswerk, das geschaffen werden sollte, mußte also von Anfang<br />

an auf einen inhaltlichen Austausch hin orientiert sein. Es ging nicht nur<br />

darum, den Empfänger der Hilfe nicht zu entmündigen, vielmehr zu<br />

respektieren, sondern uneingeschränkt einen wahrhaft wechselseitigen<br />

Dialog zu beginnen. Deshalb mußte auch noch ein anderes Element hinzukommen<br />

bzw. verändert werden: In der kommunistischen Zeit war es<br />

notwendig, die Hilfeleistungen möglichst diskret und bei einem sehr<br />

eingeschränkten Wissen nur weniger Leute zu vermitteln. Heute noch ist<br />

vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Europäischen Hilfsfonds<br />

in Wien für diese jahrzehntelange Diskretion zu danken. Aber nun<br />

kommt es gerade darauf an, daß die „Hilfe“ nicht nur auf einer Schiene<br />

allein, besonders des verantwortlichen Amtes in der Kirche, zu den<br />

Schwesterkirchen kommt. Darum war es auch von Anfang an eine gute<br />

Fügung, daß vor allem Laien, besonders aus dem Bereich des Zentralkomitees<br />

der deutschen Katholiken, die Vorschläge für die Schaffung<br />

eines ganz neuen Werkes einbrachten. Es war eine gute Idee, Partnerschaften,<br />

kleine und große Kreise konkreter Versöhnung zu schaffen, die<br />

zugleich einen lebendigen Kontakt von Gesprächsgruppen gewährleisten.<br />

So ist der Untertitel des neuen Werkes sehr präzis und sehr<br />

bezeichnend: Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den<br />

Menschen in Mittel- und Osteuropa.<br />

In diesem Sinne ist auch eine seit Jahrzehnten hochverdiente Einrichtung<br />

in diese Umstrukturierung einbezogen worden. Das Albertus-<br />

Magnus-Kolleg als Einrichtung katholischer Heimatvertriebener und das<br />

Hilfswerk „Kirche in Not/Ostpriesterhilfe“ von Pater Werenfried van<br />

Straaten hatten seit Beginn der 50er Jahre den Kongreß „Kirche in Not“<br />

ausgerichtet, um Jahr für Jahr die Situation in den einzelnen Ländern zu<br />

studieren und das Bewußtsein um die bedrängten Christen wachzuhalten.<br />

Die Tradition dieses <strong>Kongress</strong>es, für dessen Abhaltung man nicht genug<br />

danken kann, geht nun als ein wichtiges Element der bisherigen Beziehungen<br />

in das neue Konzept der Solidaritätsaktion <strong>Renovabis</strong> mit ein.<br />

Damit ist auch eine gute Klammer zwischen den bisherigen und den<br />

gegenwärtigen Bemühungen gegeben.<br />

Ich freue mich, daß unsere Schwesterkirchen in Mittel- und Osteuropa<br />

nach einigem verständlichen Zögern mehr und mehr die Struktur des<br />

neuen Werkes angenommen haben und es auch von ihrer Seite mit Leben<br />

193


erfüllen. Zugleich bin ich froh, daß es uns in der Bischofskonferenz<br />

gelungen ist, künftig die Kollekte entsprechend auch dem Leitwort <strong>Renovabis</strong><br />

in allen Diözesen an Pfingsten abzuhalten, so daß die Aufmerksamkeit<br />

vertieft und stabilisiert werden kann.<br />

194<br />

III.<br />

Diese neue Form der Hilfe entspringt gewiß heutigen Bedürfnissen und<br />

trägt in den Strukturen auch dem partnerschaftlichen Verhältnis der<br />

Kirchen untereinander Rechnung. Aber wir dürfen auch einen Blick auf<br />

die Hl. Schrift zurücklenken.<br />

Zwar ist die Hilfe von Mensch zu Mensch in der Bibel stark an die<br />

Gebebereitschaft und die Zuwendungsfähigkeit des einzelnen Glaubenden<br />

gebunden. Es kommt darauf an, ob jeder das Leid des anderen wahrnimmt<br />

und bereit wird zu einem helfenden Eingriff des Mitleids und der<br />

Barmherzigkeit, ohne gönnerisch oder gar herablassend auf den Bedürftigen<br />

von oben herunterzuschauen. Dies ist und bleibt gerade gegenüber<br />

dem Nächsten eine auch heute entscheidende Form der Hilfe. Einer meiner<br />

Verwandten, der aus wirtschaftlichen und geschäftlichen Gründen<br />

schon vor der Wende mit dem Auto in viele Länder Mittel- und Osteuropas<br />

kam, hatte meist seine gesamte Wäsche mit allen Hemden, Anzügen<br />

und Schuhen unterwegs verschenkt, als er wieder nach Hause kam. Die<br />

unmittelbare Not der Menschen hatte ihn angerührt.<br />

Aber es läßt sich nicht übersehen, daß das Neue Testament schon<br />

in einem frühen Stadium auch eine institutionelle zwischenkirchliche<br />

Hilfe kennt, nämlich die Kollekte für die Jerusalemer Urgemeinde (vgl.<br />

Gal 2, 10; 2 Kor 8; 9). Paulus kam es dabei auf eine freiwillige Hilfe der<br />

Gemeinden an. Die eigene Armut und Bedürftigkeit hat dies nicht verhindert,<br />

im Gegenteil: „Während sie durch große Not geprüft wurden, verwandelten<br />

sich ihre übergroße Freude und ihre tiefe Armut in den Reichtum<br />

ihres selbstlosen Gebens.“ (2 Kor 8, 2)<br />

Paulus zieht jedoch diese kleine theologische Skizze mit wenigen Strichen<br />

aus und vertieft die Kollekte durch eine christologische Überlegung.<br />

„Denn ihr wißt, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat:<br />

Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch mit seiner Armut reich


zu machen“ (2 Kor 8, 9). Diese Hingabe und dieser Austausch zwischen<br />

Reichtum und Armut bringen eine ganz neue Form der Kommunikation<br />

und des Umgangs miteinander. Hier fällt auch das wichtige Wort vom<br />

„Ausgleich“. „Wenn nämlich der gute Wille da ist, dann ist jeder willkommen<br />

mit dem, was er hat, und man fragt nicht nach dem, was er nicht<br />

hat. Denn es geht nicht darum, daß ihr in Not geratet, indem ihr anderen<br />

helft; es geht um einen Ausgleich. Im Augenblick soll euer Überfluß ihrem<br />

Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluß einmal eurem Mangel abhilft.<br />

So soll ein Ausgleich entstehen, wie es in der Schrift heißt: Wer viel<br />

gesammelt hatte, hatte nicht zuviel, und wer wenig hatte, hatte nicht zu<br />

wenig“ (2 Kor 8, 12–15).<br />

<strong>Renovabis</strong> wird auf die Dauer nicht lebensfähig sein, wenn wir die<br />

Kollekte nicht in einer solchen Tiefe verwurzeln. Diesen geistgewirkten<br />

Ausgleich, den niemand erzwingen kann, gewinnt man nur aus dem Lebensgeheimnis<br />

und der Lebenshingabe Jesu für alle. Darum wurzelt auch<br />

der neue Geist, den uns <strong>Renovabis</strong> schenken soll und den die Aktion zugleich<br />

dringend braucht, im Geheimnis der Eucharistie. Sie führt uns alle<br />

am tiefsten zusammen und mahnt, daß wir nicht folgenlos auseinandergehn.<br />

Amen.<br />

195


Weihbischof Leo Schwarz, Trier<br />

Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong><br />

Meditation in der Eucharistiefeier<br />

am 6. September <strong>1997</strong>:<br />

(Meßformular: Marien-Samstag-Messe<br />

Texte: 1. Lesung: Spr 8,22–31 Evangelium: Lk 2,27–35)<br />

Die Feuerprobe bestehen<br />

Liebe Schwestern und Brüder,<br />

in diesem Abschluß-Gottesdienst unseres <strong>Kongress</strong>es möchte ich Sie einladen,<br />

ein Bild zu betrachten, das uns von der Ostkirche geschenkt wird.<br />

Es handelt sich um eine Ikone, die im byzantinischen Raum eine besondere<br />

Bedeutung hat und die nur sehr selten in unserer westlichen Welt<br />

zu finden ist: Die Darstellung der Gottesmutter im nicht verbrennenden<br />

Dornbusch (Russische Ikone: 19. Jahrhundert).<br />

Zugrunde liegt die Gotteserfahrung, die Mose auf dem Berge Horeb<br />

gemacht hat. Die damit verbundenen Ereignisse werden auf die Gottesmutter<br />

hin umgedeutet. (Besonders die Theologen Ephraim der Syrer und<br />

Johannes von Damaskus wagen diese Interpretation.)<br />

So wie der Dornbusch im Feuer unversehrt geblieben ist, so bleibt<br />

Maria durch die Überschattung des Heiligen Geistes die „Unbefleckte<br />

Jungfrau“, die immer geheiligte und immer begnadete, die reine und<br />

heilige Gottesgebärerin.<br />

Es gibt verschiedene Gründe, bei diesem Abschlußgottesdienst gerade<br />

diese Ikone zu betrachten, damit wir sie und diesen Kongreß in Erinnerung<br />

behalten.<br />

1. Die Ikone führt uns zu dem zentralen Ereignis, das am Anfang der<br />

Gestaltwerdung des Gottesvolkes steht, vor dem Aufbruch des Gottesvolkes<br />

aus Ägypten.<br />

196


Der entscheidende Weg Israels beginnt mit der Berufung des Mose, mit<br />

seiner Gotteserfahrung und seiner Gottesbeziehung. Mose erlebte viele<br />

Begegnungen mit Gott.<br />

Seine Erfahrung mit Gott am Horeb war das Schlüsselerlebnis. Mose<br />

wird aus seinem Hirtenalltag herausgerissen. Völlig unerwartet stößt er<br />

auf die wunderbare Erscheinung des brennenden Dornbusches, auf das<br />

geheimnisvolle Feuer, aus dem sein erster Dialog mit Gott erwächst.<br />

Diese Begegnung ist Grundlage seiner Berufung und damit seiner Lebensverpflichtung.<br />

Mose erhält eine göttliche Beauftragung, die nicht seiner<br />

Lust und Laune entspringt, sondern die klar und deutlich mit seinem<br />

Volk in Verbindung steht. Mag es auch um ihn selbst gehen, vor allem aber<br />

geht es um die Sendung, die dem Volk in Gefangenschaft zuteil wird.<br />

In unserer Zeit wissen wir, wie es um die Feuerproben des Lebens bestellt<br />

ist, wie es aussieht mit dem „Feuerfangen“ – bis hin zu den Strohfeuern,<br />

den abgebrannten Feuern.<br />

2. In den Kirchen von Ost und West ist von jeher die Gottesmutter diejenige,<br />

die in ihrer Erwählung und im Durchhalten dieser Erwählung unübertroffen<br />

ist. Durch die Gnade Gottes steht sie an erster Stelle.<br />

Gerade in der Ostkirche sind wichtige Entscheidungen, was ihre Person<br />

angeht, getroffen worden. Wie schmerzlich und unermüdlich hat man<br />

im Osten Europas um ihre Ehrenposition gerungen. Ist vielleicht deshalb<br />

in der Ostkirche das Bild der Gottesmutter bis zur Stunde so ausgeprägt?<br />

Auf der vorliegenden Ikone sehen wir, mit welcher Sorgfalt der Ikonenmaler<br />

Maria in die Mitte der Ikone gestellt hat, wie die beiden übereinanderliegenden<br />

Sterne diese Gestalt herausstellen.<br />

Im zugrunde liegenden roten Stern ist das Bild des brennenden Dornbusches<br />

angedeutet. In diesen Feuerzeichen sind die Symbole der vier<br />

Evangelisten dargestellt, die Maria ganz in das Heilsgeschehen hineinnehmen.<br />

Maria trägt Christus - als Hoher Priester dargestellt - auf ihren Armen.<br />

Das Bild des brennenden Dornbusches wird in den roten Engelgestalten<br />

in den vier äußeren Feldern wieder aufgegriffen.<br />

Gestalten des Alten Testamentes werden auf Maria bezogen.(Mose am<br />

Berg Horeb - Berufung des Jesaja-Ezechiel und die Vision von der verschlossenen<br />

Tür - Jakobs Traum von der Himmelsleiter.)<br />

198


3. Wir stehen am Ende einer internationalen Tagung, die den Titel hatte<br />

„Kirche in Osteuropa: herrschen oder dienen?“. Im Laufe dieser Tagung<br />

ist uns klargeworden, wie groß die Feuerprobe war, die der christliche<br />

Osten in den letzten Jahrzehnten bestehen mußte. Wir stehen voll Bewunderung<br />

vor der Glaubenshaltung der Ostkirchen.<br />

Immer, wenn wir vom Austausch der Gaben zwischen Ost und West<br />

sprechen, ist das die hervorragendste Gabe des Ostens an den Westen.<br />

Die Kirchenverfolgungen in Osteuropa haben in einer Weise gewütet,<br />

die uns erst nach und nach bewußt wird. Eine Feuerprobe wurde bestanden,<br />

von der wir noch nicht wissen, wie sie im Westen ausgeht.<br />

Gottes Gegenwart, seine Macht und sein Handeln sind nicht schwächer<br />

geworden in unserer Zeit. Schwestern und Brüder aus den Kirchen des<br />

Ostens öffnen unsere Augen für das brennende Feuer der Gottesliebe.<br />

Am Ende dieser Tagung steht uns die Vielfalt der Situation der Kirchen<br />

in den Ländern Osteuropas deutlich vor Augen.<br />

Wir wissen, daß nur die dienende Kirche den Auftrag Christi erfüllen<br />

kann.<br />

Wir alle sind in die Spannungen des Umbruchs, der Transformation,<br />

hineingestellt. Wir spüren, daß Antworten spärlicher sind als die Vielzahl<br />

der Fragen.<br />

Wir danken den Kirchen des Ostens für ihre Treue und ihre Glaubwürdigkeit.<br />

Für ihre Wegsuche wünschen wir Mut und Offenheit. Wir wünschen<br />

auch, daß sie ihren Auftrag begreifen, der angeschlagenen westlichen<br />

Kirche auf ihrer Wegsuche entgegenzukommen, damit wir im<br />

Westen und im Osten die Feuerprobe bestehen.<br />

199


Liste der Referenten und Podiumsteilnehmer<br />

Prof. Dr. Aniela Dylus<br />

Wirtschaftsethikerin an der<br />

Fakultät für Kirchliche Geschichts-<br />

und Sozialwissenschaften an der<br />

Akademie für Katholische<br />

Theologie, Warschau/Polen<br />

Prof. Dr. Konrad Feiereis<br />

Professor für Philosophie an der<br />

Philosophisch-Theologischen<br />

Hochschule Erfurt<br />

Prof. Dr. Tomásˇ Halík<br />

Präsident der Tschechischen Christlichen<br />

Akademie, Prag/Tschechische<br />

Republik<br />

Prof. Dr. Robert Hotz SJ<br />

Ostreferent am Institut für Weltanschauliche<br />

Fragen, Zürich/<br />

Schweiz<br />

Erzpriester Vladimir Ivanov<br />

Chefredakteur der Zeitschrift<br />

„Stimme der Orthodoxie“, Berlin<br />

200<br />

Erzpriester Slobodan Milunović<br />

Seelsorger der serbisch-orthodoxen<br />

Gläubigen in München<br />

und Oberbayern<br />

Dr. Gerd Stricker<br />

Chefredakteur der Zeitschrift<br />

„Glaube in der Zweiten Welt“<br />

(G2W), Zollikon/Schweiz<br />

Prof. Dr. Franjo Topić<br />

Präsident des Kroatischen<br />

Kulturvereins „Napredak“,<br />

Sarajevo/Bosnien-Herzegowina<br />

Erzabt Imre Asztrik Várszegi OSB<br />

Titularbischof von Culusi,<br />

Erzabtei Pannonhalma/Ungarn<br />

Miloslav Kardinal Vlk<br />

Erzbischof von Prag, Vorsitzender<br />

der Tschechischen Bischofskonferenz,<br />

Präsident des Rates<br />

der Europäischen Bischofskonferenzen

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