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Ludwig Meyer (1827-1900): Forscher, Lehrer und ... - sanp.ch

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<strong>Ludwig</strong> <strong>Meyer</strong> (<strong>1827</strong>–<strong>1900</strong>):<br />

<strong>Fors<strong>ch</strong>er</strong>, <strong>Lehrer</strong> <strong>und</strong> Begründer des «no restraint»<br />

n H. Kayser<br />

Züri<strong>ch</strong><br />

Einleitung<br />

Mit <strong>Ludwig</strong> <strong>Meyer</strong> soll ein vergessener, aber<br />

bedeutender Psy<strong>ch</strong>iater der zweiten Hälfte<br />

des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts gewürdigt werden.<br />

Ni<strong>ch</strong>t nur die Begründung <strong>und</strong> Dur<strong>ch</strong>setzung<br />

des No-restraint ist sein Verdienst; er war<br />

au<strong>ch</strong> ein begnadeter psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>er <strong>Lehrer</strong>,<br />

ab 1866 Inhaber des ersten psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en<br />

Lehrstuhls in Deuts<strong>ch</strong>land in Göttingen – zur<br />

glei<strong>ch</strong>en Zeit mit Griesinger in Berlin. Seine<br />

Auffassungen von der Entstehung, den Ers<strong>ch</strong>einungen<br />

<strong>und</strong> der Dynamik der Geisteskrankheiten<br />

sind – für uns heute – erstaunli<strong>ch</strong><br />

modern. Die von ihm geleiteten Anstalten<br />

in Hamburg «Friedri<strong>ch</strong>sberg», dana<strong>ch</strong> die<br />

Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt Göttingen, wurden<br />

Vorbilder für Deuts<strong>ch</strong>land. Er prägte eine<br />

Generation von S<strong>ch</strong>ülern, unter anderen<br />

<strong>Ludwig</strong> <strong>und</strong> Otto Binswanger,Begründer <strong>und</strong><br />

Leiter der privaten psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en Klinik<br />

«Sanatorium Bellevue»,in Kreuzlingen.Seine<br />

Enkel Hans-Hermann <strong>Meyer</strong> <strong>und</strong> Joa<strong>ch</strong>im-<br />

Ernst <strong>Meyer</strong> wurden Lehrstuhlinhaber in<br />

Saarbrücken <strong>und</strong> Göttingen.<br />

Lebensbild von <strong>Ludwig</strong> <strong>Meyer</strong><br />

<strong>1827</strong> in Bielefeld geboren in einer jüdis<strong>ch</strong>en<br />

Familie. In Paderborn besu<strong>ch</strong>te er das Jesuitengymnasium.<br />

Dort spra<strong>ch</strong> man nur Lateinis<strong>ch</strong>,<br />

<strong>und</strong> so nahm er in sein späteres Leben<br />

eine grosse Vorliebe für Latein <strong>und</strong> Grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong><br />

mit. Bis ins hohe Alter las er in Werken<br />

alter lateinis<strong>ch</strong>er,medizinis<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>riftsteller,<br />

zitierte gerne Horaz. Na<strong>ch</strong> dem Abitur wollte<br />

er Baumeister werden.Wegen der s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten<br />

Berufsaussi<strong>ch</strong>ten gab er na<strong>ch</strong> 5 Semestern<br />

dieses Studium in Hagen auf <strong>und</strong> begann<br />

mit dem Medizinstudium 1848 in Bonn. Bonn<br />

war von den politis<strong>ch</strong>en Ereignissen der 48er<br />

Revolution geprägt. Er s<strong>ch</strong>loss si<strong>ch</strong> einer<br />

politis<strong>ch</strong> aktiven Burs<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aft an, zu der<br />

Gottfried Kinkel gehörte,Professor für Kunst<br />

<strong>und</strong> Kulturges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te. Von ihm erwarb er die<br />

Kunst der Rhetorik dur<strong>ch</strong> Rezitationsübungen<br />

von Shakespeare-Dramen. Diesen Di<strong>ch</strong>ter<br />

hat er zeitlebens verehrt <strong>und</strong> si<strong>ch</strong> in seinen<br />

S<strong>ch</strong>riften wiederholt auf ihn berufen. Na<strong>ch</strong><br />

dem S<strong>ch</strong>eitern eines bewaffneten «Aufstan-<br />

Korrespondenz:<br />

Dr. med. Hans Kayser<br />

Seestrasse 59<br />

CH-8002 Züri<strong>ch</strong><br />

e-mail: drhkayser@bluewin.<strong>ch</strong><br />

39<br />

des» in Elberfeld, sass <strong>Meyer</strong> 5 Monate in<br />

Untersu<strong>ch</strong>ungshaft. Er wurde von der Universität<br />

relegiert.Kinkel erhielt Festungshaft.<br />

Das Studium setzte er 1850 bis 1851 in<br />

Würzburg fort, wobei er besonders von<br />

Vir<strong>ch</strong>ow beeinflusst wurde. 1851 we<strong>ch</strong>selte<br />

er an die Friedri<strong>ch</strong>-Wilhelm-Universität na<strong>ch</strong><br />

Berlin. Dort betrieb er ausgedehnte Studien<br />

bei Johannes Müller, dem Begründer der<br />

modernen Physiologie. Seine Dissertation<br />

verfasste er über die pathologis<strong>ch</strong>-anatomis<strong>ch</strong>en<br />

Lungenbef<strong>und</strong>e von Kranken, die an<br />

Tuberkulose verstorben waren. Es folgte eine<br />

Arbeit über Cholera. 1853 Abs<strong>ch</strong>luss des<br />

Medizinstudiums. Er tritt zum evangelis<strong>ch</strong>lutheris<strong>ch</strong>en<br />

Glauben über, weil er – wie<br />

viele deuts<strong>ch</strong>e Juden – wusste, dass eine<br />

akademis<strong>ch</strong>e Laufbahn als Jude unmögli<strong>ch</strong><br />

war. (Diese jüdis<strong>ch</strong>e Abkunft war vergessen.<br />

Erst ab 1934 trafen die Nürnberger Gesetze<br />

die Na<strong>ch</strong>kommen.) 1853 – 26jährig, trat er<br />

als Assistenzarzt auf die Irrenabteilung der<br />

Charité ein – eine Ents<strong>ch</strong>eidung, die dur<strong>ch</strong><br />

seine angespannte pekuniäre Situation bestimmt<br />

war. Eigentli<strong>ch</strong> hätte er in der pathologis<strong>ch</strong>en<br />

Anatomie seine Laufbahn fortsetzen<br />

wollen <strong>und</strong> sei «gegen seinen ursprüngli<strong>ch</strong>en<br />

Willen zur Psy<strong>ch</strong>iatrie gekommen».<br />

Irrenabteilung der Charité 1853–1858<br />

Professor Karl Ideler (1795–1860) war ein<br />

typis<strong>ch</strong>er Vertreter der «Psy<strong>ch</strong>iker» in der<br />

ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Für Ideler<br />

waren Geisteskrankheiten «Ausdruck der<br />

despotis<strong>ch</strong>en Herrs<strong>ch</strong>aft der Leidens<strong>ch</strong>aften,<br />

die zur sittli<strong>ch</strong>en Entwürdigung des Mens<strong>ch</strong>en<br />

führten». Ideler hielt alle körperli<strong>ch</strong><br />

stimulierenden Verfahren für geeignet, eine<br />

Gesamtumstimmung des Kranken zu bewirken.<br />

Die eigentli<strong>ch</strong>e «psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Behandlung»<br />

spielte si<strong>ch</strong> wie folgt ab: Die Patienten<br />

standen an der Wand entlang aufgereiht. Die<br />

Aufgabe des Assistenten, so au<strong>ch</strong> <strong>Meyer</strong>s,<br />

war es, von einem Tis<strong>ch</strong> in der Mitte aus das<br />

Ges<strong>ch</strong>ehen zu beoba<strong>ch</strong>ten <strong>und</strong> bei einer<br />

belehrungsbedingten Erregung eines Kranken<br />

dem Professor zur Seite zu stehen. – Anwendung<br />

der Dus<strong>ch</strong>e, regelmässiger Turnunterri<strong>ch</strong>t<br />

<strong>und</strong> das diätetis<strong>ch</strong>e Prinzip gehörten<br />

zu den körperli<strong>ch</strong>en Behandlungsmethoden.<br />

Bei Halluzinationen wurde Bre<strong>ch</strong>weinsteinsalbe<br />

angewendet.<br />

In seinem 1854 – ein Jahr na<strong>ch</strong> dem Eintritt<br />

– veröffentli<strong>ch</strong>ten programmatis<strong>ch</strong>en<br />

Erstlingswerk «Die Stimmung <strong>und</strong> ihre<br />

Beziehung zu den Hauptfunktionen des<br />

Nervensystems» untersu<strong>ch</strong>t er vers<strong>ch</strong>iedene<br />

Berei<strong>ch</strong>e seelis<strong>ch</strong>er Phänomene,vom Magne-<br />

Forum<br />

tismus, über die religiösen W<strong>und</strong>erers<strong>ch</strong>einungen,<br />

bis zu den fantastis<strong>ch</strong>en Romanen<br />

von E. T. A. Hoffmann. Anhand dieser Beispiele<br />

zeigt er, dass die Produktion psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>er<br />

Phänomene, ebenso wie die Wahrnehmung<br />

dur<strong>ch</strong> den Beoba<strong>ch</strong>ter, «einem ganzheitli<strong>ch</strong><br />

gestaltenden Prinzip» folgen müsse,<br />

das er als Stimmung bezei<strong>ch</strong>net. Phänomene<br />

der Stimmungsübertragung <strong>und</strong> der Stimmungswahrnehmung<br />

– wie in der grossen<br />

Literatur, in der Musik – seien ni<strong>ch</strong>t als<br />

physiologis<strong>ch</strong>e Sinnessensationen der Reizwahrnehmung<br />

oder ihrer Verarbeitung zu<br />

erklären. Es handle si<strong>ch</strong> vielmehr um integrierende<br />

psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Kategorien. In seiner<br />

Auffassung, dass die Stimmung die zentrale<br />

psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Kategorie des Seelenlebens darstellt,<br />

beruft si<strong>ch</strong> <strong>Meyer</strong> auf die S<strong>ch</strong>riften<br />

Spinozas <strong>und</strong> auf die Dramen Shakespeares.<br />

Ihn hält er für den grössten Psy<strong>ch</strong>ologen<br />

bis heute. Die zeitgenössis<strong>ch</strong>e dogmatis<strong>ch</strong>e<br />

Psy<strong>ch</strong>ologie sei dagegen ein «dürres Gerippe».Seine<br />

Fallbeispiele werden dur<strong>ch</strong> ähnli<strong>ch</strong><br />

lautende Bes<strong>ch</strong>reibungen aus Krankenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten<br />

der Antike, von Hippokrates bis<br />

Galen, ergänzt. Die Stimmung definiert er als<br />

eine «psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Kategorie, wel<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> in<br />

der Breite ents<strong>ch</strong>iedener Affekte wie der<br />

Leidens<strong>ch</strong>aft <strong>und</strong> Wut, bis zur Launenhaftigkeit<br />

zeige». Diese Stimmungen sind eine<br />

von Vorstellungen unabhängige Kategorie,<br />

wel<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t vom Willen beeinflusst werden;<br />

sie sind dur<strong>ch</strong> die Kriterien von Lust <strong>und</strong><br />

Unlust bestimmt (!). Die zugr<strong>und</strong>eliegende<br />

physiologis<strong>ch</strong>e Aktivität dieser psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en<br />

Kategorie sei eine Eigenaktivität des Gehirns.<br />

Wenn die Stimmung die «zentrale Kategorie<br />

des Seelenlebens darstellt», ma<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> eine<br />

krankhafte Veränderung zuerst als Verstimmung<br />

bemerkbar. Jede langanhaltende Verstimmung,<br />

wel<strong>ch</strong>e fixiert <strong>und</strong> ni<strong>ch</strong>t wieder<br />

revidiert werden könne, führe zur Geisteskrankheit.<br />

Darin liege das ents<strong>ch</strong>eidende<br />

Moment für ihre Heilbarkeit. Wahnvorstellungen,<br />

Halluzinationen begriff er dabei<br />

als Umbildungsprodukte jener Entwicklung.<br />

Ursa<strong>ch</strong>en der Verstimmung lägen in einer<br />

vererbten Anlage <strong>und</strong> der Disposition.<br />

In den folgenden Jahren entstanden an der<br />

Charité dazu Arbeiten zur Hysterie, Hypo<strong>ch</strong>ondrie,<br />

Pyromanie <strong>und</strong> Manie. Während<br />

seiner 5jährigen Assistenzzeit in der Charité<br />

war er mit 14 Veröffentli<strong>ch</strong>ungen hervorgetreten.<br />

Er habilitierte si<strong>ch</strong> 1858 als Privatdozent<br />

<strong>und</strong> hielt zweimal unentgeltli<strong>ch</strong> Vorlesungen<br />

in klinis<strong>ch</strong>er Psy<strong>ch</strong>iatrie. Dabei<br />

äusserte er si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> erstmals zur Notwendigkeit<br />

der freien Irrenbehandlung:<br />

SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE www.asnp.<strong>ch</strong> 158 n 1/2007


«… dass die Verhältnisse, unter denen die<br />

Geisteskranken in den Anstalten lebten,<br />

namentli<strong>ch</strong> die Anwendung der körperli<strong>ch</strong>en<br />

Zwangsmittel, sehr wesentli<strong>ch</strong> ihr Verhalten<br />

bestimmen müssen. Vieles, was als Symptom<br />

der Erkrankung gelte, sei Reaktion gegen<br />

die Härte der Pfleger <strong>und</strong> Behandlung. Der<br />

Ents<strong>ch</strong>luss, die Zwangsmittel na<strong>ch</strong> Übernahme<br />

einer selbständigen Stellung zu beseitigen<br />

stand also bei mir fest.»<br />

1858 wurde <strong>Meyer</strong> als Oberarzt an die Irrenstation<br />

des Allgemeinen Krankenhauses<br />

St. Georg in Hamburg berufen. Die Stadt<br />

verlangte die Einstellung eines «tü<strong>ch</strong>tigen<br />

<strong>und</strong> erfahrenen Irrenarztes ... der no<strong>ch</strong> längere<br />

Zeit wirken kann». Er erhielt zuglei<strong>ch</strong><br />

den Auftrag, das reformbedürftige Hamburger<br />

Irrenwesen umzugestalten. Als <strong>Meyer</strong><br />

die Irrenstation im Jahre 1858 übernahm,<br />

befanden si<strong>ch</strong> dort über 500 Geisteskranke,<br />

bei einem Gesamtbestand von etwa 900<br />

Kranken des Allgemeinen Krankenhauses.<br />

Die Zustände müssen sehr s<strong>ch</strong>limm gewesen<br />

sein. Er begann sofort, unterstützt dur<strong>ch</strong> zwei<br />

Assistenten, mit der räumli<strong>ch</strong>en Umgestaltung<br />

der Stationen. Diese Irrenabteilung<br />

war ja überfüllt. Denno<strong>ch</strong> liess er zwei<br />

Männers<strong>ch</strong>lafsäle zu Arbeitsräumen umbauen<br />

<strong>und</strong> eine Mattenfle<strong>ch</strong>terei einri<strong>ch</strong>ten.<br />

Später gab es die Mögli<strong>ch</strong>keit zur Tis<strong>ch</strong>ler-,<br />

Dre<strong>ch</strong>sel-, S<strong>ch</strong>uhma<strong>ch</strong>er- <strong>und</strong> Bu<strong>ch</strong>binderarbeiten.<br />

Ebenso wurde ein Arbeitsraum für<br />

20 weibli<strong>ch</strong>e Kranke eingeri<strong>ch</strong>tet. Die «Tobzellen»<br />

im Keller, die mit 12 bis 16 Kranken<br />

belegt waren, liess er s<strong>ch</strong>liessen, da diese keinen<br />

Zugang zu Li<strong>ch</strong>t <strong>und</strong> Luft hatten! In<br />

den Räumen der ruhigen Kranken wurden<br />

Fenstergitter entfernt, Gartenanlagen ges<strong>ch</strong>affen,<br />

damit die Kranken si<strong>ch</strong> dort betätigen<br />

konnten. Der andere S<strong>ch</strong>werpunkt seiner<br />

Bemühungen lag in der Verbesserung der<br />

Wärtersituation. Er errei<strong>ch</strong>te bei der Verwaltung,<br />

dass jüngere <strong>und</strong> intelligente Wärter<br />

mit besserer Bezahlung <strong>und</strong> Aufstiegsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />

eingestellt wurden. Mit dem Rückgang<br />

von Zwangsmassnahmen wurden die<br />

Abteilungen ruhiger. 1861 standen für 560<br />

Kranke nur no<strong>ch</strong> 6 Einzelräume zur Isolierung<br />

zur Verfügung. 1864 liess <strong>Meyer</strong>, «um<br />

alle Versu<strong>ch</strong>ungen aus dem Wege zu s<strong>ch</strong>affen»,<br />

sämtli<strong>ch</strong>e 150 Zwangsjacken versteigern.<br />

– Heirat mit Anna Hübener,Arzt-To<strong>ch</strong>ter<br />

in Hamburg.<br />

Die Irrenanstalt Friedri<strong>ch</strong>sberg<br />

<strong>und</strong> ihre Konzeption 1864–1866<br />

Er errei<strong>ch</strong>te bei der Hamburger Behörde,<br />

dass der jahrzehntelang vers<strong>ch</strong>obene Bau<br />

einer eigenen Irrenanstalt vorangetrieben<br />

wurde. Er legte eine eigene Konzeption<br />

bereits 1860 dem Senat vor. Er legte Wert<br />

darauf, dass die Einweisung aufgr<strong>und</strong> eines<br />

ärztli<strong>ch</strong>en Attestes vor allem für die heilbaren<br />

<strong>und</strong> besserungsfähigen Kranken zu gelten<br />

habe, lehnte jedo<strong>ch</strong> die Trennung von Heilbaren<br />

<strong>und</strong> Unheilbaren ents<strong>ch</strong>ieden ab, da<br />

er deren wohltuenden Einfluss ho<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ätzte:<br />

«… eine grosse Zahl jener fleissigen <strong>und</strong><br />

harmlosen Wesen, die unablässig bestrebt<br />

sind, der sie s<strong>ch</strong>ützenden Anstalt si<strong>ch</strong> dankbar<br />

zu erweisen». Die Bürgers<strong>ch</strong>aft stimmte<br />

dem von <strong>Meyer</strong> <strong>und</strong> dem Ar<strong>ch</strong>itekten Tim-<br />

40<br />

mermann entworfenen Plan s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> zu.<br />

Im Oktober 1864 wurde die neue Anstalt<br />

«Friedri<strong>ch</strong>sberg» eröffnet. Der Umzug von<br />

200 Kranken verlief völlig reibungslos, was<br />

er als Auswirkung der bereits dur<strong>ch</strong>geführten<br />

Reformen ansah.<br />

Die Abteilungen waren na<strong>ch</strong> der Art einer<br />

Familienwohnung eingeri<strong>ch</strong>tet:eigene Wohn<strong>und</strong><br />

S<strong>ch</strong>lafräume, eine Kleiderkammer, Tee<strong>und</strong><br />

Abwas<strong>ch</strong>kü<strong>ch</strong>e. Die Kranken konnten<br />

si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Belieben im Hausgarten bewegen.<br />

Es gab vier Abteilungen: In der ersten waren<br />

alle ruhigen Kranken untergebra<strong>ch</strong>t. Eine<br />

klinis<strong>ch</strong>e Abteilung befand si<strong>ch</strong> direkt im<br />

Hauptgebäude <strong>und</strong> diente als Aufnahmestation.<br />

Eine weitere Abteilung war das sogenannte<br />

«Zellengebäude» für die besonders<br />

störenden Geisteskranken; die innere Einri<strong>ch</strong>tung<br />

entspra<strong>ch</strong> aber der bequemen häusli<strong>ch</strong>en<br />

der anderen Abteilungen. Es gab<br />

dann no<strong>ch</strong> eine «Pensionatsanstalt» für die<br />

wohlhabenden Klassen. Der grösste Teil der<br />

arbeitsfähigen Kranken wurde in den Gärten<br />

der Anstalt bes<strong>ch</strong>äftigt. Handwerker erhielten<br />

Arbeitsmögli<strong>ch</strong>keiten in den Magazinen.<br />

Die Arbeitszeit betrug im Winter se<strong>ch</strong>s, im<br />

Sommer a<strong>ch</strong>t St<strong>und</strong>en. Im ganzen arbeiteten<br />

von den 230 Kranken sogar 190 Kranke! Es<br />

gab einen grossen Festsaal im Mittelbau, eine<br />

Bibliothek mit Lesesaal, ein Musikzimmer<br />

<strong>und</strong> eine Kegelbahn. Mit der Aufgabe der<br />

Zwangsbehandlung, au<strong>ch</strong> unter den räumli<strong>ch</strong><br />

viel ungünstigeren Verhältnissen der Irrenstation<br />

St. Georg, hatte <strong>Meyer</strong> den Beweis<br />

erbra<strong>ch</strong>t, dass die Dur<strong>ch</strong>führung des Norestraint<br />

prinzipiell mögli<strong>ch</strong> sei. Friedri<strong>ch</strong>sberg<br />

war somit die erste deuts<strong>ch</strong>e Anstalt, die<br />

ohne Zwangsmittel auskam.<br />

1861 reiste <strong>Meyer</strong> – wie viele andere<br />

Psy<strong>ch</strong>iater seiner Generation – na<strong>ch</strong> England,<br />

um das dortige Irrenwesen zu studieren. Dort<br />

gab es ja bereits eine 20jährige Tradition<br />

des No-restraint, die Conolly (1794–1866) begründet<br />

hatte. Beeindruckt war <strong>Meyer</strong> dur<strong>ch</strong><br />

die Tatsa<strong>ch</strong>e, dass die Diskussion darüber in<br />

England längst abges<strong>ch</strong>lossen war. 1863 veröffentli<strong>ch</strong>te<br />

<strong>Meyer</strong> den Aufsatz «Das Norestraint<br />

<strong>und</strong> die deuts<strong>ch</strong>e Psy<strong>ch</strong>iatrie». Griesinger<br />

anerkannte erst in der zweiten Auflage<br />

seines Lehrbu<strong>ch</strong>es «Pathologie <strong>und</strong> Therapie<br />

der psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Krankheiten» (1861) das<br />

No-restraint, na<strong>ch</strong> einem eigenen Besu<strong>ch</strong> in<br />

England, als Voraussetzung für eine Reform<br />

der Irrenanstalten in Deuts<strong>ch</strong>land. Dies war<br />

im übrigen die einzige öffentli<strong>ch</strong>e Würdigung<br />

Griesingers gegenüber <strong>Meyer</strong>. Warum hatte<br />

si<strong>ch</strong> das No-restraint in England dur<strong>ch</strong>setzen<br />

können, <strong>und</strong> zwar 20 Jahre vor Deuts<strong>ch</strong>land<br />

<strong>und</strong> Frankrei<strong>ch</strong>? <strong>Meyer</strong>, der die Statistiken<br />

genau verfolgte, betonte, dass es in England<br />

s<strong>ch</strong>on früh staatli<strong>ch</strong>e Kontrollorgane gegeben<br />

hatte. «Der grösste Vorzug dieses Landes,<br />

nämli<strong>ch</strong> seine Fähigkeit zur öffentli<strong>ch</strong>en <strong>und</strong><br />

rücksi<strong>ch</strong>tslos klaren Beri<strong>ch</strong>terstattung aller<br />

das Gemeinwesen betreffenden S<strong>ch</strong>äden»,<br />

die Beri<strong>ch</strong>te der «lunacy commissioners», mit<br />

den folgenden Diskussionen in Presse <strong>und</strong><br />

Parlament bewirkten s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong>, dass die<br />

Reformen dort dur<strong>ch</strong>gesetzt werden konnten.Die<br />

S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e des deuts<strong>ch</strong>en Irrenwesens<br />

verrate si<strong>ch</strong> gerade darin, dass sol<strong>ch</strong>e Missstände<br />

ni<strong>ch</strong>t zugegeben, oft gar ni<strong>ch</strong>t als<br />

sol<strong>ch</strong>e erkannt wurden.Die sogenannte «Auf-<br />

si<strong>ch</strong>t» über Irrenanstalten blieb Geri<strong>ch</strong>tsärzten<br />

überlassen, die si<strong>ch</strong> um die wirkli<strong>ch</strong>en<br />

Zustände ni<strong>ch</strong>t kümmerten. In Deuts<strong>ch</strong>land<br />

ging der Streit um «das absolute oder relative<br />

No-restraint» weiter. Deuts<strong>ch</strong>land hatte die<br />

s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>teste Versorgungsstatistik, dazu mit<br />

der grössten Zahl von Zwangsbehandlungen:<br />

Das Verhältnis von hospitalisierten Kranken<br />

auf die Einwohnerzahl sah wie folgt aus:<br />

In Deuts<strong>ch</strong>land: ein hospitalisierter Kranker<br />

auf 3100 Einwohner! In England: ein hospitalisierter<br />

Kranker auf 620 Einwohner! So<br />

bestätigt si<strong>ch</strong> die von Conolly formulierte<br />

These, dass Zwang die Folge von Verna<strong>ch</strong>lässigung<br />

sei.<br />

Weil an der Jahresversammlung des «Vereins<br />

der deuts<strong>ch</strong>en Irrenärzte» in Kassel 1878<br />

das No-restraint auf die Tagesordnung der<br />

Sitzung gesetzt worden war, verweigerte<br />

<strong>Meyer</strong> eine Wiederwahl zum Vorstand <strong>und</strong><br />

trat aus dem Verein aus. Er forderte für eine<br />

wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> aufgeklärte Psy<strong>ch</strong>iatrie die<br />

Wiedereinführung des ärztli<strong>ch</strong>-hippokratis<strong>ch</strong>en<br />

Prinzips. Die ents<strong>ch</strong>eidende S<strong>ch</strong>lüsselrolle<br />

für die Verzögerung der Reformen<br />

liege im philosophis<strong>ch</strong>en Dogmatismus der<br />

deuts<strong>ch</strong>en Psy<strong>ch</strong>iatrie, die in ihren unbewussten<br />

Ans<strong>ch</strong>auungen mit dem «historis<strong>ch</strong>en<br />

Gefängniserbe» verwurzelt geblieben<br />

sei.<br />

Ordinarius für Psy<strong>ch</strong>iatrie <strong>und</strong> Direktor<br />

der Irrenanstalt Göttingen 1866–<strong>1900</strong><br />

Na<strong>ch</strong> nur zwei Jahren Friedri<strong>ch</strong>sberg wird<br />

<strong>Meyer</strong> als Ordinarius auf den ersten psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en<br />

Lehrstuhl in Göttingen berufen. Er<br />

tritt glei<strong>ch</strong>zeitig die Leitung der Irrenanstalt<br />

an,die 430 Betten aufwies.Versorgungsgebiet<br />

war der südli<strong>ch</strong>e Teil von Hannover.Als erstes<br />

ri<strong>ch</strong>tete er eine Aufnahme- <strong>und</strong> Beoba<strong>ch</strong>tungsstation<br />

ein, wie in Friedri<strong>ch</strong>sberg, die<br />

klinis<strong>ch</strong>e Abteilung. Diese lag im Erdges<strong>ch</strong>oss<br />

des Direktoriumsgebäudes. Sie enthielt für<br />

25 Kranke einige Drei- bis Fünfbettzimmer.<br />

Es gab ein Überwa<strong>ch</strong>ungszimmer, dessen Tür<br />

stets geöffnet war. Die Zellenabteilung liess<br />

er so sanieren, dass dicke Fensters<strong>ch</strong>eiben<br />

zum Lüften eingesetzt wurden, aber ein Entwei<strong>ch</strong>en<br />

unmögli<strong>ch</strong> war. In der «Pensionatsabteilung<br />

für die besseren Stände» gab es<br />

Zimmer für 32 Kranke.Am Mittagstis<strong>ch</strong> nahmen<br />

au<strong>ch</strong> die Assistenzärzte teil. Wegen der<br />

zunehmenden Überfüllung in den hannovers<strong>ch</strong>en<br />

Anstalten Hildesheim, Osnabrück, bekam<br />

<strong>Meyer</strong> die Mögli<strong>ch</strong>keit, 100 Plätze für<br />

männli<strong>ch</strong>e Kranke dur<strong>ch</strong> Neubauten zu<br />

s<strong>ch</strong>affen. Na<strong>ch</strong> dem Vorbild der Anstalt<br />

Friedri<strong>ch</strong>sberg entwarf er das Konzept der<br />

sogenannten Villen, mit Wohnräumen, kleineren<br />

Zimmern, ein grosses erkerartiges<br />

Gartenzimmer. 1884 wurde die erste, 1888<br />

die zweite Villa eröffnet. Er legte grössten<br />

Wert auf die Arbeitsbes<strong>ch</strong>äftigung der Kranken.Da<br />

der grösste Teil der Landbevölkerung<br />

angehörte, wurden die männli<strong>ch</strong>en Kranken<br />

im Acker- <strong>und</strong> Gemüsebau der Anstalt bes<strong>ch</strong>äftigt.<br />

Es gab sieben Hektar Land, mit<br />

Anstaltsgärtner, einen grossen Kuh- <strong>und</strong><br />

S<strong>ch</strong>weinestall, vier Pferde. In der S<strong>ch</strong>uhma<strong>ch</strong>erwerkstatt<br />

wurde das gesamte S<strong>ch</strong>uhwerk<br />

der allgemeinen Patienten angefertigt,<br />

es gab au<strong>ch</strong> eine S<strong>ch</strong>neider- <strong>und</strong> Tis<strong>ch</strong>lerwerkstatt.<br />

Im Näh- <strong>und</strong> S<strong>ch</strong>neiderzimmer<br />

SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE www.<strong>sanp</strong>.<strong>ch</strong> 158 n 1/2007


stellten Frauen sämtli<strong>ch</strong>e Kleider her. Es gab<br />

eine grosse Bibliothek mit deuts<strong>ch</strong>er, englis<strong>ch</strong>er<br />

<strong>und</strong> französis<strong>ch</strong>er Literatur; einmal<br />

im Monat fand ein Konzert mit Tanz statt, im<br />

Sommer ein Gartenkonzert.<br />

Allgemeine Gr<strong>und</strong>sätze der Anstaltsbehandlung<br />

«Erfolge <strong>und</strong> Misserfolge in der Behandlung<br />

der Geisteskranken hängen von den ihnen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden ärztli<strong>ch</strong>en Ans<strong>ch</strong>auungen<br />

ab, über deren Ri<strong>ch</strong>tigkeit allein die<br />

Antwort der Kranken ents<strong>ch</strong>eidet!» Der erste<br />

therapeutis<strong>ch</strong>e Gr<strong>und</strong>satz: Bei Geisteskranken<br />

muss im besonderen Masse auf eine<br />

unbedingte rücksi<strong>ch</strong>tsvolle, höfli<strong>ch</strong>e <strong>und</strong><br />

fre<strong>und</strong>li<strong>ch</strong>e Umgangsform gea<strong>ch</strong>tet werden.<br />

Umgekehrt sei alles zu vermeiden, dass den<br />

Kranken in eine innere Bedrängnis bringt,<br />

aufgr<strong>und</strong> von S<strong>ch</strong>uldzuweisung <strong>und</strong> Strafandrohung,<br />

denn dies verbinde sie aufs innigste<br />

mit den glei<strong>ch</strong>lautenden Inhalten ihrer<br />

krankhaften Vorstellungen in Wahnideen,<br />

Sinnestäus<strong>ch</strong>ungen <strong>und</strong> aggressiven Impulsen.<br />

Geisteskranke brau<strong>ch</strong>en im besonderen<br />

Masse einen psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utz. Sie finden<br />

diesen oft in ihrer s<strong>ch</strong>einbaren geistigen<br />

Abstumpfung. Man solle ihnen den gewüns<strong>ch</strong>ten<br />

Rückzug gewähren. Ihre s<strong>ch</strong>einbare<br />

«Abstumpfung», au<strong>ch</strong> ihre Gutmütigkeit,<br />

helfe ihnen in den unvermeidli<strong>ch</strong>en<br />

Reibereien, so dass ein Eins<strong>ch</strong>reiten des<br />

Pflegepersonals nur in seltenen Fällen notwendig<br />

wurde. Alle Anordnungen müssten<br />

vermieden werden, die an eine Bestrafung<br />

erinnerten. Auf diese Weise sei es während<br />

der 25 Jahre zu keinen s<strong>ch</strong>wereren Konflikten<br />

mit gefährli<strong>ch</strong>en Verletzungen gekommen.<br />

Die Bettruhe wurde besonders bei Erstaufnahmen<br />

verordnet. So erhielten sie den<br />

Eindruck, in einem normalen Krankenhaus<br />

zu sein. Das wesentli<strong>ch</strong>e Phänomen, nämli<strong>ch</strong><br />

das eigenständig Triebhafte des Selbstmordverlangens<br />

als «reiner Selbstzerstörungstrieb»<br />

sei ni<strong>ch</strong>t nur s<strong>ch</strong>wer erklärbar, sondern<br />

au<strong>ch</strong> kaum therapeutis<strong>ch</strong> beeinflussbar. Aus<br />

dem äusseren Verhalten könne ni<strong>ch</strong>t auf<br />

eine Selbstmordabsi<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>lossen werden,<br />

da die Kranken es verstünden, zu dissimulieren.<br />

Er verzi<strong>ch</strong>tete bewusst auf ein eigenes<br />

Überwa<strong>ch</strong>ungszimmer für suizidale Kranke,<br />

was eine zusätzli<strong>ch</strong>e Ängstigung bedeutet<br />

hätte. In 25 Jahren sind nur 13 Suizide vorgekommen<br />

– weniger als ein Viertel der allgemeinen<br />

Selbstmordrate in der Aussenbevölkerung!<br />

Eine Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en<br />

«krankhaft bedingtem Selbstmord» <strong>und</strong> einem<br />

Selbstmord aus «freiem Ents<strong>ch</strong>luss»<br />

hielt <strong>Meyer</strong> für wenig sinnvoll.<br />

Die medikamentöse Behandlung<br />

<strong>Meyer</strong> war von der Nützli<strong>ch</strong>keit einer<br />

medikamentösen Behandlung im Sinne einer<br />

symptomatis<strong>ch</strong>en Beeinflussung des Krankheitsverlaufes<br />

überzeugt. Opium gab es<br />

bei Angst- <strong>und</strong> Erregungszuständen <strong>und</strong> bei<br />

langdauernder Melan<strong>ch</strong>olie. Bromkalium<br />

kam zur Kupierung manis<strong>ch</strong>er Anfälle <strong>und</strong><br />

als Hypnotikum bei S<strong>ch</strong>lafstörungen zur Anwendung.<br />

Über <strong>Meyer</strong>s Einstellung <strong>und</strong> Einsatz<br />

für das Pflegepersonal beri<strong>ch</strong>tet Otto<br />

Binswanger, als ehemaliger Assistenzarzt in<br />

Göttingen während der 70er Jahre, das fol-<br />

41<br />

gende: «Das Pflegepersonal verehrte in <strong>Ludwig</strong><br />

<strong>Meyer</strong> den strengen, aber gere<strong>ch</strong>ten <strong>und</strong><br />

wohlwollenden Direktor, wel<strong>ch</strong>er fortdauernd<br />

bemüht war, die materielle Lage des<br />

Pflegepersonals zu heben. Sein Umgang<br />

ges<strong>ch</strong>ah vorbildli<strong>ch</strong> in einer ruhigen <strong>und</strong><br />

bestimmten Art. Ein einziges Mal habe i<strong>ch</strong><br />

<strong>Meyer</strong> in einem heftigen Zorn erlebt, als ein<br />

Wärter einen Kranken misshandelt hatte.»<br />

Aus der Familie Binswanger wird die folgende<br />

Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te beri<strong>ch</strong>tet: Als ein erregter<br />

Kranker auf <strong>Meyer</strong> bei einer Visite mit<br />

gezücktem Messer zustürzte, sagte er ruhig<br />

<strong>und</strong> bestimmt: «Strecken Sie die Zunge heraus.»<br />

Der Kranke gehor<strong>ch</strong>te <strong>und</strong> konnte vom<br />

Personal überwältigt werden.<br />

Die Methode des psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>ts<br />

Die Psy<strong>ch</strong>iatrie war bis 1906 kein Prüfungsfa<strong>ch</strong>.<strong>Meyer</strong><br />

legte aber als Ordinarius grössten<br />

Wert auf einen klinis<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>t. Es<br />

kamen in die – relativ abgelegene – Anstalt<br />

20 bis 30 Medizinstudenten, bei einer Gesamtzahl<br />

von ungefähr 200. Die Vorlesungen<br />

an der Universität ergänzte er,den Wüns<strong>ch</strong>en<br />

der Studierenden entspre<strong>ch</strong>end, dur<strong>ch</strong> eine<br />

fortlaufende Vorlesung mit Falldemonstrationen<br />

in der Heilanstalt. Diese wurde als eine<br />

Art «Kompaktkurs» von vier St<strong>und</strong>en Dauer<br />

einmal wö<strong>ch</strong>entli<strong>ch</strong> angeboten. Na<strong>ch</strong> einer<br />

St<strong>und</strong>e theoretis<strong>ch</strong>er Vorlesung folgte ein<br />

halbstündiger R<strong>und</strong>gang, wobei die wesentli<strong>ch</strong>en<br />

Punkte der Vorlesung an einzelnen<br />

geeigneten Patienten hervorgehoben wurden.<br />

Dur<strong>ch</strong> diese R<strong>und</strong>gänge hatten die Studierenden<br />

Gelegenheit, auf unbefangene<br />

Weise die Kranken zu beoba<strong>ch</strong>ten, mit ihnen<br />

zu spre<strong>ch</strong>en.<br />

Als «psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>e Klinik im eigentli<strong>ch</strong>en<br />

Sinne» bezei<strong>ch</strong>nete <strong>Meyer</strong> das si<strong>ch</strong> nun<br />

ans<strong>ch</strong>liessende zweistündige Praktikum. Ein<br />

Kranker wurde einem Studierenden zur<br />

Untersu<strong>ch</strong>ung <strong>und</strong> Exploration übergeben.<br />

Bei der ans<strong>ch</strong>liessenden Bespre<strong>ch</strong>ung sollte<br />

das Krankheitsbild na<strong>ch</strong> seinen vers<strong>ch</strong>iedenen<br />

Kriterien, wie die «Verbindung zum<br />

Normalen», Diagnose, Prognose <strong>und</strong> Therapie,<br />

bes<strong>ch</strong>rieben werden. Der klinis<strong>ch</strong>-psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>e<br />

Unterri<strong>ch</strong>t wurde das wi<strong>ch</strong>tigste Fors<strong>ch</strong>ungsinstrument<br />

<strong>und</strong> nahm eine zentrale<br />

Stellung ein, die bisher dem No-restraint<br />

gegolten hatte. Dieser Unterri<strong>ch</strong>t stellte das<br />

Bindeglied dar, über wel<strong>ch</strong>es die Irrenheilk<strong>und</strong>e<br />

si<strong>ch</strong> zu einer glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten Wissens<strong>ch</strong>aft,<br />

innerhalb der übrigen medizinis<strong>ch</strong>en<br />

Wissens<strong>ch</strong>aften, entwickeln konnte.<br />

Dieses wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Anliegen war der<br />

Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit zwis<strong>ch</strong>en<br />

<strong>Meyer</strong> <strong>und</strong> Griesinger <strong>und</strong> führte 1867<br />

zur Gründung des «Ar<strong>ch</strong>ivs für Psy<strong>ch</strong>iatrie».<br />

Aufnahmebedingungen für Kranke<br />

Bisher war es mögli<strong>ch</strong>, dass die Kranken freiwillig<br />

oder mit einem ärztli<strong>ch</strong>en Zeugnis ohne<br />

S<strong>ch</strong>wierigkeiten eintreten konnten. 1877 erliess<br />

die hannovers<strong>ch</strong>e Regierung ein Reglement,das<br />

die freiwillige Aufnahme überhaupt<br />

auss<strong>ch</strong>loss. Es konnte ein Geisteskranker<br />

gr<strong>und</strong>sätzli<strong>ch</strong> nur dur<strong>ch</strong> behördli<strong>ch</strong>e Vermittlung<br />

eintreten, wel<strong>ch</strong>es die Zustimmung der<br />

nä<strong>ch</strong>sten Verwandten oder Vormünder erforderte.<br />

Der Kranke wurde einvernommen;<br />

dana<strong>ch</strong> wurde der Kreisarzt zugezogen, der<br />

erst dann den Aufnahmeantrag für die zuständige<br />

Anstalt stellen konnte. Dieses bürokratis<strong>ch</strong>e<br />

Aufnahmereglement verursa<strong>ch</strong>te<br />

eine unverantwortbare Verzögerung für dringend<br />

behandlungsbedürftige Fälle, die mehr<br />

als drei Wo<strong>ch</strong>en dauerte.<strong>Meyer</strong> wies in seinen<br />

Anstaltsberi<strong>ch</strong>ten jedes Mal kritis<strong>ch</strong> darauf<br />

hin. Vor allem würden die Gr<strong>und</strong>lagen für<br />

eine freiwillige Behandlung untergraben.<br />

1891 stellte er den Antrag, eine «Aufnahmestation<br />

für Geisteskranke <strong>und</strong> Neurosen»,<br />

direkt im Klinikum der Universität, zu erri<strong>ch</strong>ten,<br />

bere<strong>ch</strong>net für 36 Kranke. Diese Station<br />

sollte si<strong>ch</strong> auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> dem psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en<br />

Unterri<strong>ch</strong>t widmen. Weil es in der Anstalt<br />

kein eigenes Auditorium gab, musste der<br />

Unterri<strong>ch</strong>t in Nebenzimmern abgehalten<br />

werden! <strong>Meyer</strong> wehrte si<strong>ch</strong> gegen den Ausdruck<br />

«Provinzial-Irrenanstalt». Er würde<br />

den Ausdruck «Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt» vorziehen.<br />

Leider hätte si<strong>ch</strong> der Abs<strong>ch</strong>eu des<br />

Publikums gegen alles,was Irrenanstalt heisst,<br />

in den letzten Jahren no<strong>ch</strong> gesteigert.<br />

Allgemeine Lehre <strong>und</strong> Systematik<br />

der Geisteskrankheiten<br />

Aus didaktis<strong>ch</strong>en Gründen unterteilte <strong>Meyer</strong><br />

die Geisteskrankheiten in die Gruppe der<br />

affektiven Geistesstörungen mit Manie <strong>und</strong><br />

Melan<strong>ch</strong>olie, <strong>und</strong> deren Übergängen zu den<br />

Neurosen <strong>und</strong> Hypo<strong>ch</strong>ondrie. Zur «Dementia»<br />

re<strong>ch</strong>nete er – neben dem angeborenen<br />

Idiotismus – au<strong>ch</strong> die im heutigen Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong><br />

geltenden <strong>ch</strong>ronifizierten Psy<strong>ch</strong>osen.<br />

Der me<strong>ch</strong>anis<strong>ch</strong>-zergliedernden Betra<strong>ch</strong>tungsweise<br />

der psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Reflexlehre von<br />

Griesinger setzte er seine Auffassung über<br />

die einheitli<strong>ch</strong>e Wirkungsweise des Nervensystems<br />

entgegen: Das gemeinsame Zusammenspiel<br />

der Gefühls-, Denk- <strong>und</strong> Bewegungssphäre<br />

zum Zwecke einer bestimmten<br />

Handlungssituation, die er am Beispiel der<br />

motoris<strong>ch</strong>en Entwicklung des Kleinkindes<br />

erörterte. Damit stellte er die Bahnung innerhalb<br />

des Nervensystems dur<strong>ch</strong> Lernprozesse<br />

in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Wahnvorstellungen entstehen dur<strong>ch</strong> den<br />

Ausfall oder die Störung der Resistenz des<br />

allgemeinen Nervensystems, das im akuten<br />

Stadium zur Bildung psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>er Symptome<br />

im Sinne der affektiven Geisteskrankheiten<br />

führt. Die «untrennbare Einheit der<br />

Seele» impliziert stets eine Störung sämtli<strong>ch</strong>er<br />

psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>er Funktionen wie Empfinden,<br />

Vorstellen <strong>und</strong> Wollen. Deswegen sei eine<br />

nosologis<strong>ch</strong>e Klassifizierung na<strong>ch</strong> einzelnen<br />

hervorstehenden psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en Symptomen<br />

unnötig. Die Heredität hielt er für einen<br />

bestimmenden Faktor.<br />

S<strong>ch</strong>werpunkte seiner wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Fors<strong>ch</strong>ungsarbeit<br />

Die progressive Paralyse<br />

<strong>und</strong> ihre Behandlung<br />

1867 trat er mit einer Arbeit «Die Veränderungen<br />

des Gehirns in der allgemeinen progressiven<br />

Paralyse» als erster <strong>Fors<strong>ch</strong>er</strong> hervor.<br />

Dana<strong>ch</strong> war die Dementia paralytica als <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e<br />

Leptomeningitis <strong>und</strong> <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e Enzephalitis<br />

von ihm in vielen histopathologis<strong>ch</strong>en<br />

Untersu<strong>ch</strong>ungen na<strong>ch</strong>gewiesen. Eine Therapie<br />

des entzündli<strong>ch</strong>en Charakters der luetis<strong>ch</strong>en<br />

Hirnerkrankung war kaum mögli<strong>ch</strong>.<br />

SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE www.asnp.<strong>ch</strong> 158 n 1/2007


Das zirkuläre Irresein<br />

Unter der Voraussetzung einer eigenständigen,<br />

zyklothym verlaufenden Geisteskrankheit<br />

bewertete er die Aufeinanderfolge von<br />

Manie <strong>und</strong> Melan<strong>ch</strong>olie als psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Reaktion<br />

des jeweiligen Zustandes aus dem vorangegangenen.<br />

Er wandte si<strong>ch</strong> gegen die<br />

traditionelle Auffassung als entgegengesetzte<br />

Krankheitszustände. Er bes<strong>ch</strong>rieb Übergänge,<br />

Vermis<strong>ch</strong>ungen von manis<strong>ch</strong>en <strong>und</strong> melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong>en<br />

Bildern, die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong><br />

einem psy<strong>ch</strong>oreaktiven Gesetz erklären lassen<br />

konnten. In seinen Arbeiten gab er<br />

ans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>e Fallbeispiele. Sie zeigen sein<br />

psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>es Interesse, aber au<strong>ch</strong> die therapeutis<strong>ch</strong>e<br />

Einstellung, mit der er diesen<br />

Geisteskranken gegenübertrat. Seine Art der<br />

Krankenbes<strong>ch</strong>reibung wahrt deren persönli<strong>ch</strong>e<br />

<strong>und</strong> moralis<strong>ch</strong>e Integrität: Er würdigt<br />

ihre krankheitsbedingten Inszenierungen<br />

mit Anteilnahme <strong>und</strong> Humor als kreative<br />

Leistungen.<br />

<strong>Meyer</strong> als forensis<strong>ch</strong>er Guta<strong>ch</strong>ter<br />

<strong>Meyer</strong> war der erste Psy<strong>ch</strong>iater in Deuts<strong>ch</strong>land,<br />

der als Lehrstuhlinhaber regelre<strong>ch</strong>te<br />

psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>e Vorlesungen für die Studenten<br />

der Jurisprudenz einführte. Sie fanden mit<br />

Krankendemonstrationen einmal wö<strong>ch</strong>entli<strong>ch</strong><br />

in der Irrenanstalt Göttingen statt. Ziel<br />

war es, die Kluft der Feinds<strong>ch</strong>aft zwis<strong>ch</strong>en<br />

Psy<strong>ch</strong>iatrie <strong>und</strong> Geri<strong>ch</strong>tsbarkeit dur<strong>ch</strong> eine<br />

ans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>e <strong>und</strong> sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Annäherung<br />

zu überwinden. 1869/70 verfasste er eine<br />

Stellungnahme zur Novelle des preussis<strong>ch</strong>en<br />

Strafre<strong>ch</strong>tes. Es ging um Sexualdelinquenten,<br />

Fälle von Tots<strong>ch</strong>lag, Brandstiftung. Er wurde<br />

in vielen Prozessen als Sa<strong>ch</strong>verständiger von<br />

vers<strong>ch</strong>iedenen S<strong>ch</strong>wurgeri<strong>ch</strong>ten beigezogen.<br />

Seine Auffassung lautete wie folgt: «Es wird<br />

mein stetes Bestreben bleiben, die dur<strong>ch</strong><br />

Kollisionen mit dem Gesetze zwiefa<strong>ch</strong><br />

42<br />

unglückli<strong>ch</strong>en Geisteskranken vor der unverdienten<br />

S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> einer Verurteilung <strong>und</strong><br />

ihren hier unbes<strong>ch</strong>reibli<strong>ch</strong> harten Folgen zu<br />

bewahren.»<br />

Für die Gesetzesnovellierung verfasste er<br />

eine Einteilung in «Täter bei Unzure<strong>ch</strong>nungsfähigkeit»<br />

<strong>und</strong> Täter mit «verminderter<br />

Zure<strong>ch</strong>nungsfähigkeit». Er wehrte si<strong>ch</strong> dagegen,<br />

dass geisteskranke Verbre<strong>ch</strong>er in den<br />

Provinzial Heilanstalten mit anderen Kranken<br />

untergebra<strong>ch</strong>t würden. Er forderte dafür<br />

eigene Anstalten oder Gefängnisabteilungen<br />

unter psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>er Leitung. Es gab die<br />

«private Familienpflege». Er setzte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong><br />

für «Irrenkolonien» na<strong>ch</strong> englis<strong>ch</strong>em Vorbild<br />

ein.<br />

Die besondere Situation der staatli<strong>ch</strong>en<br />

Irrenpflege<br />

1889 nahm er letztmals zum Stand der deuts<strong>ch</strong>en<br />

Irrenpflege öffentli<strong>ch</strong> Stellung. Das<br />

rückständige Niveau der Irrenfürsorge in<br />

Deuts<strong>ch</strong>land sei mit dem Ansehen dieser<br />

Kulturnation unvereinbar. Die grosse Mehrzahl<br />

der Geisteskranken würde verna<strong>ch</strong>lässigt.<br />

Eine Hoffnung, au<strong>ch</strong> im internationalen<br />

Verglei<strong>ch</strong> diesen Widerspru<strong>ch</strong> zu überwinden,<br />

setzte er auf den inzwis<strong>ch</strong>en errei<strong>ch</strong>ten<br />

Vorsprung des akademis<strong>ch</strong>-psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en<br />

Unterri<strong>ch</strong>ts, von dem er si<strong>ch</strong> eine wirksame<br />

Beeinflussung der öffentli<strong>ch</strong>en Meinung verspra<strong>ch</strong>.<br />

Neben dem Unterri<strong>ch</strong>t lag der zweite<br />

S<strong>ch</strong>werpunkt in seinem Einsatz für die Umgestaltung<br />

der konservativen Anstaltspsy<strong>ch</strong>iatrie.Eine<br />

Verwirkli<strong>ch</strong>ung seiner praktis<strong>ch</strong>en<br />

Ideen vom No-restraint gelang erst 1874 mit<br />

der Irrenanstalt in Marburg, die na<strong>ch</strong> seinen<br />

Plänen erbaut wurde <strong>und</strong> den kustodialen<br />

Anstalts<strong>ch</strong>arakter völlig verloren hatte. Er<br />

wurde häufig als Sa<strong>ch</strong>verständiger für Neubauten<br />

beigezogen, so au<strong>ch</strong> für viele S<strong>ch</strong>weizer<br />

Anstalten.<br />

Als Wissens<strong>ch</strong>aftler war er mit pathologis<strong>ch</strong>-anatomis<strong>ch</strong>en<br />

Arbeiten ausserordentli<strong>ch</strong><br />

produktiv. 70 Arbeiten ers<strong>ch</strong>ienen im<br />

«Ar<strong>ch</strong>iv». Er war ein begnadeter klinis<strong>ch</strong>er<br />

<strong>Lehrer</strong>, der die Begabung hatte, klinis<strong>ch</strong>e<br />

ätiologis<strong>ch</strong>e Gesamtzusammenhänge in seinen<br />

klinis<strong>ch</strong>en Falldarstellungen zu erfassen.<br />

Die Mens<strong>ch</strong>engüte, die ihn für jeden einzelnen<br />

seiner Kranken beseelte, war so gross,<br />

dass au<strong>ch</strong> die Angehörigen der Kranken ihn<br />

ni<strong>ch</strong>t selten um Rat in ihren eigenen Angelegenheiten<br />

fragten. Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten duldete<br />

er ni<strong>ch</strong>t. Beri<strong>ch</strong>tet wird von 14tägli<strong>ch</strong>en<br />

Sitzungen bei si<strong>ch</strong> zu Hause, wo von Wissens<strong>ch</strong>aftlern<br />

abwe<strong>ch</strong>selnd Vorträge gehalten<br />

wurden. Er kannte Gebiete der Kunst, Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

<strong>und</strong> Philosophie genau, wobei ihn<br />

ein ausgezei<strong>ch</strong>netes Gedä<strong>ch</strong>tnis unterstützte.<br />

In seiner Gr<strong>und</strong>ans<strong>ch</strong>auung hielt er an dem<br />

traditionellen philosophis<strong>ch</strong>en Postulat von<br />

der Einheit der Seele fest. Der Begriff der<br />

Stimmung, als einer Gr<strong>und</strong>aktivität der Seele,<br />

war zentral. Den einzelnen psy<strong>ch</strong>opathologis<strong>ch</strong>en<br />

Ers<strong>ch</strong>einungen mass er keinen<br />

Krankheitswert zu; es handle si<strong>ch</strong> hier ledigli<strong>ch</strong><br />

um «angepasste Umformungen des Denken’s<br />

<strong>und</strong> Wahrnehmen’s». Hier ist sein gestalterfassendes<br />

Denken <strong>und</strong> Wahrnehmen<br />

hervorzuheben, verknüpft mit einer ästhetis<strong>ch</strong>en<br />

Auffassung,wel<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> der Mittel<br />

literaris<strong>ch</strong>er Darstellung bediente, um das<br />

intuitiv «Vernünftige» des Krankheitsverhaltens<br />

hervortreten zu lassen. Sein Mens<strong>ch</strong>enbild<br />

wurzelt im humanistis<strong>ch</strong>en Erbe<br />

der jüdis<strong>ch</strong>en Aufklärung, wie sie von Moses<br />

Mendelssohn vermittelt wurde. Er starb <strong>1900</strong><br />

an einer Angina pectoris.<br />

<strong>Ludwig</strong> <strong>Meyer</strong> soll als bedeutender <strong>Fors<strong>ch</strong>er</strong>,<br />

<strong>Lehrer</strong> <strong>und</strong> Reformator des Anstaltswesens<br />

in Erinnerung bleiben!<br />

SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE www.<strong>sanp</strong>.<strong>ch</strong> 158 n 1/2007

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