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Leitartikel - RotFuchs

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Seite 10 ROTFUCHS / April 2008<br />

Das Dresdner Inferno und dessen aktuelle Bedeutung<br />

Bilder eines Elfjährigen<br />

Sind Sie Französin?“ fragte der Augenarzt,<br />

der meine Mutter untersuchte,<br />

nachdem ich mit ihr seine Praxis in<br />

Freital erreicht hatte. Dabei war ich sehr<br />

darauf bedacht gewesen, daß keine der<br />

Brandbomben berührt wurde: „Großer<br />

Schritt! ... Halt, ein bißchen rechts“ So<br />

hatte ich sie am Arm geführt. Denn wir<br />

waren unsicher und vermuteten in jedem<br />

der „wie dicht gesät“ liegenden kantigen<br />

Stäbe einen Blindgänger. Schutt, Trümmer<br />

und Körper hatten das Vorwärtskommen<br />

behindert.<br />

Wir verstanden die Frage des Arztes nicht.<br />

Ihn mußte wohl die rauchdunkle Haut<br />

meiner Mutter und ihre Unfähigkeit, zu<br />

antworten, irritiert haben. Sie war überfordert:<br />

„Oh, Dieter, wie heißen wir?“ gab<br />

sie schließlich eine seiner Fragen an mich<br />

weiter. Wir hatten ja nichts bei uns, was<br />

uns hätte ausweisen können.<br />

Mutter hatte, anstatt die Habe zu retten,<br />

nach dem ersten Bombardement zusammen<br />

mit anderen Erwachsenen, meist<br />

Frauen, vergeblich versucht, die Brände<br />

im Dachboden zu löschen, während ich<br />

meine Fische vom Schutt auf dem Teppich<br />

sammelte. Das Aquarium war wie alles<br />

Glas geborsten. Die Briefmarkensammlung,<br />

Künstlerölfarben und einige „meiner<br />

Wichtigkeiten“ konnte ich wieder einräumen.<br />

Dann machte die zweite Angriffswelle<br />

allem sinnlosen Bemühen ein Ende.<br />

Aber Mutter konnte mit den brennenden<br />

Augen kaum noch etwas sehen. Das erneute<br />

Bombardement trieb uns in den<br />

Keller zurück, auch einen fremden Soldaten,<br />

der zu unserem Glück auf sanfte Art<br />

und Weise das Kommando übernahm. Er<br />

befahl, im Keller zu bleiben, wenn jemand<br />

sich nach draußen retten wollte. Als der<br />

infernalische Lärm der Einschläge und<br />

niederstürzenden Trümmer alle erstarren<br />

ließ, beruhigte er uns „Zivilisten“ mit<br />

den Worten, das sei „sehr weit weg“. Das<br />

Pfeifen und Bersten kommentierte er mit<br />

lauter Stimme: „Keine Angst, das fliegt<br />

nur vorüber!“ Mit dem Blick zur Kellerdecke,<br />

die im schwachen Licht der Kerze<br />

zu schwanken schien, dachte ich: Hält sie<br />

oder stürzt sie jetzt ein? Ich erinnere mich<br />

genau, daß jegliche Angst gewichen war<br />

und einer fatalen Apathie Platz gemacht<br />

hatte.<br />

Dann ein alles überbietender Donnerschlag,<br />

der uns erstarren ließ: Unsere<br />

Haustür, so schwer sie war, wurde mitsamt<br />

dem Gemäuer nach innen geschleudert.<br />

Ohrenbetäubender Lärm drang ungehindert<br />

herein. Jetzt drückten sich die<br />

Schutzsuchenden noch mehr in die Ecken.<br />

Aber gerade da kam das Kommando zum<br />

Verlassen der schützenden Wände! Beißender<br />

Qualm drückte herein. Ich erinnere<br />

mich an das Wort: „Phosphorkanister“!<br />

Was es wirklich war, kann ich nicht sagen.<br />

Der Soldat befahl: „Alles naß machen! Die<br />

Kleinen am besten in die Wanne tauchen!<br />

Nasse Tücher vor den Mund! Rette sich,<br />

wer kann!“<br />

Wir stolperten über die herabgestürzten<br />

Trümmer, über die schräg liegende Haustür<br />

und stemmten uns gegen den beißenden<br />

Rauch, kamen wie durch ein Wunder<br />

vor oder hinter herabfallenden Brocken<br />

und brennenden Balken ins Freie und<br />

waren fast augenblicklich wie ausgedörrt.<br />

Der Angriff hatte uns im Schlaf überrascht.<br />

Erst mit den Einschlägen hörten<br />

wir die Sirenen. In dieser Zeitnot hatte<br />

ich nur den Trainingsanzug über die<br />

Schlafsachen gezogen und darüber den<br />

Lodenmantel. An den Füßen trug ich noch<br />

die Hausschuhe. Und diese naß gemachte<br />

Kleidung war im Nu trocken und ständig<br />

in Gefahr, vom Funkenflug in Brand gesetzt<br />

zu werden.<br />

Meine Mutter und ich strebten zur nahen<br />

Falkenbrücke, einer Eisenbahnüberführung<br />

dicht beim Hauptbahnhof, so<br />

gut und schnell es Krater und Schutt erlaubten.<br />

Dort war Luft! Allerdings heiß<br />

auch und in unvorstellbar stürmischer<br />

horizontaler Bewegung alles mit sich<br />

reißend, was nicht genügend widerstehen<br />

konnte. Die Menschen suchten Schutz und<br />

Halt am stählernen Brückenbogen und im<br />

Nachdrängen in der Menge, deren Angst-<br />

und Hilfeschreie durch das Toben des<br />

Feuersturmes kaum vernehmbar wurden.<br />

Vom Durst geplagt, von dem herabregnenden<br />

Feuer beim Ausdrücken der glimmenden<br />

Brandlöcher ständig in abwehrender<br />

Bewegung gehalten, warteten wir. Worauf?<br />

Auf Wunder? Auf Hilfe, nach der<br />

Verletzte schrieen!?<br />

Wir warteten auf das Licht eines neuen<br />

Tages, das dieses prasselnde, berstende<br />

Lodern überstrahlen und einen Ausweg<br />

zeigen sollte: Alle Häuser im Blickfeld<br />

brannten Etage für Etage von oben nach<br />

unten nieder.<br />

Ausdruckslos, wie entseelt wies meine<br />

Mutter auf unser Haus, Zwickauer Str. 2:<br />

Mein Klavier! Wir konnten deutlich erkennen,<br />

wie die inzwischen das Hochparterre<br />

erreichende Feuersbrunst die Decke<br />

zur darunter liegenden Backstube meines<br />

Vaters zermürbte. Und nun stürzte wie<br />

Am 19. April um 10 Uhr<br />

spricht Fred Spiegel, Leiter des<br />

DDR-Museums Tutow,<br />

Kreis Demmin, im Sozio-Kulturellen<br />

Zentrum Arche N, Reitbahnweg 38,<br />

auf einer Veranstaltung der<br />

Regionalgruppe Neubrandenburg<br />

über das Thema<br />

Die DDR – unser<br />

eingeschläfertes<br />

V a t e r l a n d<br />

ein anklagendes Wesen die glühende<br />

Harfe, der nicht brennbare Rest des<br />

Klaviers, hinunter in die Unbrauchbarkeit<br />

der Schutt- und Trümmerberge. Ich<br />

würde uns gern die Wiederbelebung der<br />

schlimmsten Begegnungen ersparen, die<br />

wir vom Tagesanbruch an auf unserem<br />

Weg aus dieser Hölle noch zu ertragen<br />

hatten. Doch gerade sie sind es, die uns<br />

Überlebende jeden Krieg verabscheuen<br />

lassen: Kein Krieg mehr! Nirgendwo!<br />

Ich meine die Verstümmelten, die Zerrissenen,<br />

die uns im anbrechenden Tageslicht<br />

wie stumme Schreie aufhielten, weil<br />

wir sie nicht umgehen konnten, sondern<br />

manchen großen Schritt über sie tun<br />

mußten. Sie begleiteten unsere behinderte<br />

Flucht aus dem Inferno. Ich sehe sie deutlich<br />

vor mir, die versengten, blutigen Leiber,<br />

ihre offenen Münder und Augen, die<br />

unnatürlich verdrehten Gliedmaßen, die<br />

gespaltenen Köpfe, deren Leiber geöffnet<br />

waren wie im Schlachthaus! Jedoch die<br />

schlimmsten Schritte meines damals elfjährigen<br />

Lebens waren diejenigen, die uns<br />

weitertrieben, vorwärts und vorbei an<br />

den Jammernden, an den Schwerverwundeten,<br />

an den Sterbenden, an denen, die<br />

unter anderen Umständen hätten gerettet<br />

werden können. Wir konnten nicht sie,<br />

wir mußten uns retten! Heraus aus dem<br />

Kessel! Wer hatte sich wohl aus der engen<br />

Feldschlößchenstraße in Sicherheit bringen<br />

können? Wo waren meine Freunde?<br />

Nicht einem einzigen Klassenkameraden<br />

bin ich wieder begegnet. Meine Kindheit<br />

war faktisch zu Ende.<br />

Und mein Vater, der Bäcker- und Konditormeister<br />

Alfred Schlicke, der vielleicht<br />

hätte retten und helfen können,<br />

dessen Existenz gerade in Rauch und<br />

Schutt vernichtet war, lag im Dreck im<br />

Osten. Er konnte nicht mal sich selbst<br />

helfen. Seine letzten Zeilen mit der Bitte<br />

um klärende Post von daheim wurden<br />

im April 1945 zwischen Frankfurt<br />

an der Oder und Berlin geschrieben,<br />

vielleicht in Halbe oder Seelow. Dort<br />

wurde noch gründlicher geschlachtet.<br />

„Nie wieder Krieg!“ Alle waren sich darin<br />

einig. Danach über vierzig Jahre Frieden!<br />

Welch eine Errungenschaft! Und<br />

die Botschaft und Mahnung: DRESDEN!<br />

Dresden und Coventry. Warschau und Lidice.<br />

Seelow und Halbe. Und Buchenwald,<br />

und Berlin. Und Hiroshima! Und, und,<br />

und. Vietnam! Irak! Und nun: „Wir“ am<br />

Hindukusch!<br />

Wozu! Wofür? Für wen! Wem nützt es?<br />

Sollen doch die Nutznießer oder deren<br />

Söhne gehen! Dorthin, wo es aussieht wie<br />

damals auf der Zwickauer Straße! Und<br />

noch etwas: Wo sind sie jetzt, die großen<br />

„Friedenskämpfer“? Wo sind die Leute, die<br />

zu DDR-Zeiten skandierten: „Schwerter<br />

zu Pflugscharen“, „Frieden schaffen ohne<br />

Waffen“. Wieso sind sie jetzt stumm?<br />

Wofür waren sie damals wirklich? Man<br />

möchte schreien ...<br />

Fred Schlicke, Dresden

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