Georg Simmel

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Vorlesung „Philosophische Anthropologie“: WS 2009/10 – PD Dr. Dirk Solies Begleitendes Thesenpapier – nur für Studierende gedacht! Georg Simmel – Biographie (Quelle: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/SimmelGeorg/index.html - gekürzt) 1858: Georg Simmel wird in Berlin als jüngstes von sieben Kindern des Fabrikanten Edward Simmel und dessen Frau Flora (geb. Bodenstein) geboren. Edward Simmel stammt aus einer jüdischen Familie und ist zum Katholizismus konvertiert. Flora Bodensteins Familie ist vom Judentum zum Protestantismus übergetreten. Georg Simmel wird evangelisch getauft. Simmels erste Promotionsschrift "Psychologisch-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik" abgelehnt. Stattdessen mit "Darstellung und Beurteilungen von Kants verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie" promoviert 1885 Habilitation, Privatdozent in Berlin 1894: "Das Problem der Soziologie": Programm der Soziologie als selbständiger Wissenschaft. 1898: Der Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats scheitert (Antisemitismus, Außenseiterposition) PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de 1

Vorlesung „Philosophische Anthropologie“: WS 2009/10 – PD Dr. Dirk Solies<br />

Begleitendes Thesenpapier – nur für Studierende gedacht!<br />

<strong>Georg</strong> <strong>Simmel</strong> – Biographie<br />

(Quelle: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/<strong>Simmel</strong><strong>Georg</strong>/index.html - gekürzt)<br />

1858: <strong>Georg</strong> <strong>Simmel</strong> wird in Berlin als jüngstes von sieben Kindern<br />

des Fabrikanten Edward <strong>Simmel</strong> und dessen Frau Flora (geb.<br />

Bodenstein) geboren. Edward <strong>Simmel</strong> stammt aus einer jüdischen<br />

Familie und ist zum Katholizismus konvertiert. Flora Bodensteins<br />

Familie ist vom Judentum zum Protestantismus übergetreten. <strong>Georg</strong><br />

<strong>Simmel</strong> wird evangelisch getauft.<br />

<strong>Simmel</strong>s erste Promotionsschrift "Psychologisch-ethnologische<br />

Studien über die Anfänge der Musik" abgelehnt. Stattdessen mit<br />

"Darstellung und Beurteilungen von Kants verschiedenen Ansichten<br />

über das Wesen der Materie" promoviert<br />

1885<br />

Habilitation, Privatdozent in Berlin<br />

1894: "Das Problem der Soziologie": Programm der Soziologie als selbständiger<br />

Wissenschaft. 1898: Der Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats scheitert<br />

(Antisemitismus, Außenseiterposition)<br />

PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />

1


1900: Der zweite Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats angenommen.<br />

"Philosophie des Geldes".<br />

1903 "Die Großstädte und das Geistesleben"<br />

1908: Die Philosophische Fakultät der Heidelberger Universität will eine vakante Professur<br />

mit <strong>Simmel</strong> besetzen. Auch Max Weber setzt sich für ihn ein. Die Regierung in Karlsruhe<br />

lehnt jedoch ab, nachdem der im Alldeutschen Verband engagierte Berliner Historiker<br />

Dietrich Schäfer (1845-1929) in einem Gutachten <strong>Simmel</strong> als "Israelit durch und durch"<br />

verunglimpft und der Soziologie den Rang als Wissenschaft bestreitet.<br />

"Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung": Mikrosoziologie<br />

1911: Die Fakultät für Staatswissenschaften der Freiburger Universität verleiht <strong>Simmel</strong> die<br />

Ehrendoktorwürde.<br />

1914: <strong>Simmel</strong> erhält einen Lehrstuhl an der Straßburger Universität (heute: Strasbourg,<br />

Frankreich).<br />

Im I. WK nähert er sich nationalistischen Positionen an und verleiht einem weitverbreiteten<br />

Unbehagen an der Kultur Ausdruck. <strong>Simmel</strong> hofft, der Krieg werde "die Anbetung des Geldes<br />

und des Geldwertes der Dinge" überwinden und die "Einheit und Ganzheit" des Volkes<br />

festigen.<br />

1918: 26. September: <strong>Georg</strong> <strong>Simmel</strong> stirbt in Straßburg.<br />

„Lebensanschauung“<br />

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2


<strong>Simmel</strong>s Werk: Grobperiodisierung<br />

(1) 1879 1 bis 1900 Geschichts- und Moralwissenschaft:<br />

a. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892)<br />

b. Einleitung in die Moralwissenschaft (1892-93).<br />

c. Aber: 1905 und 1907 völlig überarbeitete Neuaufl. der Geschichtsphilosophie,<br />

d. Fragen der Moralwissenschaft auch nach 1900 relevant. 2<br />

(2) 1894 – 1908 soziologischer Schwerpunkt<br />

a. Das Problem der Soziologie, GSG 5<br />

b. Soziologie, GSG 11<br />

c. Auch nach 1908 noch Aufsätze mit explizit mikrosoziologischer Themenstellung: Die<br />

Soziologie der Mahlzeit und die Soziologie der Geselligkeit (beide 1910) und Über<br />

Takt; Soziologie der Geselligkeit (1912, alle GSG 12).<br />

d. Soziologische Fragestellung der Frühzeit sukzessive durch das Projekt einer<br />

Philosophie der Kultur auf der Basis des Lebensbegriffes abgelöst.<br />

(3) Lebensbegriff nach 1908, z. T. auch in ästhetischen Einzelanalysen<br />

a. Über den Schauspieler; Aus einer ‚Philosophie der Kunst’ (1909) und Michelangelo;<br />

Ein Kapitel zu einer Metaphysik der Kultur (1910),<br />

1 Bereits 1879 erscheinen erste Rezensionen von <strong>Simmel</strong> (in: GSG 1).<br />

2 Vgl. Ü b e r G o e t h e s u n d K a n t s m o r a l i s c h e W e l t a n s c h a u u n g (1908), in: GSG 8, sowie N i e t z s c h e s M o r a l (1911), in: GSG 12.<br />

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3


. Rembrandt; ein kunstphilosophischer Versuch (1916): innerer Zusammenhang von<br />

Ästhetik und Lebensphilosophie. ‚Leben’ als idealer Fluchtpunkt, in dem alle die<br />

kulturellen Gegensätze und Antinomien in ihrer Tragik vermittelt erscheinen.<br />

c. Lebensanschauung<br />

► Frage nach <strong>Simmel</strong> als Lebensphilosophie: Notwendigkeit, das simmelsche Werk „von<br />

hinten“ zu lesen<br />

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4


VB. Zur methodischen Rolle der Ästhetik<br />

Das Wesen der ästhetischen Betrachtung liegt für uns darin, daß in dem Einzelnen der Typus, in dem<br />

Zufälligen das Gesetz, in dem Aeußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge<br />

hervortreten [...] In das Gleichgiltigste [sic], das uns in seiner isolirten Erscheinung banal oder<br />

abstoßend ist, brauchen wir uns nur tief und liebevoll genug zu versenken, um auch Dies als Strahl<br />

und Wort der letzten Einheit der Dinge zu empfinden, aus der ihnen Schönheit und Sinn quillt. [...]<br />

Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so giebt es in den<br />

Schönheitswerten der Dinge keine Unterschiede mehr. Die Weltanschauung wird ästhetischer<br />

Pantheismus. 3<br />

� Nicht welt- und realitätsflüchtiger Ästhetizismus, 4 sondern philosophische Prinzipialisierung:<br />

� <strong>Simmel</strong>s ästhetische Detailanalysen 5 als Lebensweltanalysen:<br />

� moderne Mensch steht im Zentrum<br />

� philosophische, genauer gesagt metaphysische Theorie der Kultur in der Krise<br />

� <strong>Simmel</strong>s Anthropologie sieht den Menschen innherhalb dieser Kultur, in einem ambivalentkritischen<br />

Kulturverhältnis: Chance und Risiko<br />

3 GSG 5, 198f.<br />

4 Z. B. Hübner-Funk (1982) und Lieber (1974). Zur kritischen Diskussion dieses Ästhetizismus-Vorwurfes vgl. Solies (1998: 186-192).<br />

5 Vgl. seine Aufsätze D e r H e n k e l ; e i n ä s t h e t i s c h e r V e r s u c h (1905, GSG 7) sowie B r ü c k e u n d T ü r (1909), GSG 12.<br />

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5


Grenzbestimmtheit des Lebens:<br />

Von dem Sonnenspektrum ist uns, was jenseits des Rot und des Violett liegt, optisch<br />

überhaupt nicht zugänglich usw. Unser Vorstellen und primäres Erkennen schneidet<br />

eben aus der unendlichen Fülle des Wirklichen und seinen unendlichen<br />

Auffassungsmöglichkeiten Bezirke heraus, wahrscheinlich so, daß die damit umgrenzte<br />

Größe als Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen ausreicht. 6<br />

� Wahrnehmungsfenster menschlicher Existenz durch pragmatisch-existentielle<br />

Verweisungszusammenhänge charakterisiert<br />

� Entgrenzung: Durch Mikroskop und Teleskop Überwindung großer Distanzen zwischen<br />

Mensch und Welt: „aber sie [die Distanzen, D. S.] sind doch für das Bewußtsein erst in<br />

dem Augenblick entstanden, in dem es sie auch überwand“. 7<br />

6 L e b e n s a n s c h a u u n g . V i e r m e t a p h y s i s c h e K a p i t e l (GSG 16, 4).<br />

7 GSG 6, 662.<br />

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6


Begrenztheit (naturwissenschaftlich) als Grundbestimmung des Lebendigen<br />

Unser konkretes, unmittelbares Leben setzt einen Bezirk, der zwischen einer oberen und<br />

einer unteren Grenze liegt; das Bewußtsein aber, die Rechenschaft hierüber, hängt<br />

daran, daß das Leben, zu einem abstrakten, weitergreifenden werdend, die Grenze<br />

hinausrückt oder überfliegt und sie damit als Grenze konstatiert. 8<br />

� „Grenzscharakter unserer Existenz“: 9<br />

� Wahrnehmungsfenster<br />

� Schachspieler-Beispiel<br />

� Grenze wird durch Erkenntnis festgestellt, d.h. konstatiert und transzendiert<br />

8 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 214f.<br />

9 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 213.<br />

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7


Leben als<br />

� „Mehr-Leben“ und zugleich<br />

� „Mehr-als-Leben“<br />

Wie das Leben auf seiner physiologischen Stufe ein fortwährendes Erzeugen ist, so daß,<br />

mit komprimiertem Ausdruck, Leben immer Mehr-Leben ist –, so erzeugt es auf der Stufe<br />

des Geistes etwas, das Mehr-als-Leben ist: das Objektive, das Gebilde, das in sich<br />

Bedeutsame und Gültige. 10<br />

� Umschlag von der reinen Dynamik (Mehr-Leben) zur Transzendenz (Mehr-als-Leben)<br />

� „Darstellungszwang“ des Lebens:<br />

� L. genügt sich nicht in der reinen Dynamik des Mehr, es muss sich selbst auf die Weise<br />

der Transzendenz darstellen<br />

� Keine akzidentelle, sondern substantielle Bestimmung geistigen Lebens<br />

10 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 295.<br />

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8


<strong>Simmel</strong>s Baumbeispiel: 11<br />

Baum Gartenobstbaum: Kultivierung<br />

Baum Segelmast: Zweckarbeit, Kultivierung<br />

11 <strong>Simmel</strong>, BTK 197<br />

� Kultur als Kultivierungsvollzug<br />

� „Entwicklung zu einer Erscheinung hin [...], die in den Keimkräften einer<br />

Persönlichkeit angelegt [...] ist.“<br />

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9


Fragmentarität der (modernen) Existenz:<br />

Wir wandeln in uns selbst als die einzige Wirklichkeit in einem Schattenreiche<br />

unerlöster Möglichkeiten unser selbst, die nur nicht zu Worte gekommen, aber<br />

keineswegs nichts sind. 12<br />

� Kultur realisiert Möglichkeiten<br />

� Notwendigkeit dieser Realisierung: Selbstausdruck der Idee<br />

� Ambivalenz: Objektivierung – Entfremdung:<br />

Sobald unser Werk dasteht, hat es nicht nur eine objektive Existenz und ein Eigenleben,<br />

die sich von uns gelöst haben, sondern es enthält in diesem Selbstsein - wie von Gnaden<br />

des objektiven Geistes - Stärken und Schwächen, Bestandteile und Bedeutsamkeiten, an<br />

denen wir ganz unschuldig sind und von denen wir selbst oft überrascht werden. 13<br />

� Entfremdung bereits im Kulturprozess angelegt: „Tragödie“ der Kultur<br />

� objektiver Geist entfremdet<br />

12 Leb 117<br />

13 BTK 213<br />

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10


Fragmentarität des Kulturprozesses:<br />

Kein einziger, in die Formulierbarkeit des Bewußtseins aufgestiegener Inhalt nimmt den<br />

seelischen Prozeß ganz in sich auf; ein jeder läßt einen Rest Leben hinter sich, der<br />

gleichsam an die von jenem abgeschlossene Tür klopft. 14<br />

� Unvollständigkeit der modernen Existenz<br />

� als Motor der Kultur!<br />

Mode als Hunger nach Gegenwart:<br />

Das Wesen der Mode besteht darin, daß immer nur ein Teil der Gruppe sie übt, die<br />

Gesamtheit aber sich erst auf dem Wege zu ihr befindet. 15<br />

► Typen:<br />

o Modenarr<br />

o Avantgardist<br />

o Modeverweigerer<br />

o Sprachmoden<br />

Der Wechsel der Moden zeigt das Maß der Abstumpfbarkeit der Nervenreize an; je<br />

nervöser ein Zeitalter ist, desto rascher werden seine Moden wechseln [...] 16<br />

14 Leb 116<br />

15 Mode 16<br />

16 Mode 15f.<br />

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11


Intellekt und Geld – eine Strukturanalogie<br />

Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des<br />

Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der<br />

auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist ersichtlich auch<br />

die Charakterlosigkeit des Geldes. 17<br />

17 PHG 595; vgl. auch PHG 273 - Diese Charakterlosigkeit läßt sich wertungsfreier als Indifferenz ausdrücken: vgl. dazu Müller, L. (1988: 22).<br />

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12


Mode und moderne „Nervosität“:<br />

Der Wechsel der Moden zeigt das Maß der Abstumpfbarkeit der Nervenreize an; je<br />

nervöser ein Zeitalter ist, desto rascher werden seine Moden wechseln, weil das<br />

Bedürfnis nach Unterschiedsreizen, einer der wesentlichsten Träger aller Mode, mit<br />

der Erschlaffung der Nervenenergien Hand in Hand geht. 18<br />

Psychologische Erklärung der Mode, metaphysisch gewendet und vertieft:<br />

„Nervosität“ als kulturphilosophische Diagnose<br />

Mode aus Aufmerksamkeitsdefizit erklärt<br />

18 Mode 15f.<br />

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13


Siglen der Moderne als Kompensationsformen:<br />

Ich glaube, daß diese heimliche Unruhe, dies ratlose Drängen unter der Schwelle des<br />

Bewußtseins [...] nicht nur der äußeren Hast und Aufgeregtheit des modernen Lebens<br />

entstammt, sondern daß umgekehrt diese vielfach der Ausdruck, die Erscheinung, die<br />

Entladung jenes innersten Zustandes ist. Der Mangel an Definitivem im Zentrum der<br />

Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine<br />

momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die<br />

wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als<br />

Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne<br />

Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der<br />

Beziehungen offenbart. 19<br />

19 PHG 675<br />

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14


Wahrnehmung und Kompensation:<br />

Es ist von einer noch gar nicht genug beachteten Bedeutung für die soziale Kultur, daß<br />

mit der sich verfeinernden Zivilisation offenbar die eigentliche Wahrnehmungsschärfe<br />

aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust- und Unlustbetonung steigt. [...] Der moderne<br />

Mensch wird von Unzähligem chokiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich<br />

unaushaltbar, was undifferenziertere, robustere, Empfindungsweisen ohne irgend<br />

eine Reaktion dieser Art hinnehmen. 20<br />

20 SozSin 290<br />

� Neurasthenie und Schockdiskurs 21<br />

� Wiederaufnahme bei Benjamin in Anschl. an Baudelaire<br />

� Suche nach Schock als Signum der Moderne<br />

21 Damit greift er einen Begriff des amerikanischen Neurologen <strong>Georg</strong>e Miller Beard auf . Durch Beards Aufsatz von 1869, „Neurasthenia or nervous exhaustion“, wurde der Begriff<br />

erstmals in die Diskussion eingeführt 21 . Bekannt wurde dieser aber erst durch die Monographie „A practical treatise on nervous exhaustion (neurasthenia)“, die 1880<br />

herausgegeben wurde und ab 1881 in deutscher Übersetzung vorlag.<br />

Hieran schloß sich eine lebhafte Diskussion über Symptome und Ursachen dieses neuen Krankheitsbildes an, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Wesentlich für die<br />

Verwendung des Begriffs bei <strong>Simmel</strong> ist hier nur, daß im Verlauf der psychiatrischen Diskussion (Binswanger, Krafft-Ebing) der Begriff Neurasthenie im Verhältnis zur Nervosität so<br />

gefaßt wurde, daß man im folgenden unter konstitutioneller Nervosität die auf krankhafter nervöser Anlage beruhenden Krankheiten unterschied und unter Neurasthenie im<br />

eigentlichen Sinne die „erworbenen, auf (chronischer) Erschöpfung beruhenden Formen gefaßt werden“ 21 .<br />

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15


Die modernen Ambivalenzen der Distanzierung:<br />

Die Verhältnisse des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im<br />

ganzen so, daß er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den ferneren mehr zu<br />

nähern. Die wachsende Lockerung des Familienzusammenhanges, das Gefühl<br />

unerträglicher Enge im Gebundensein an den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung<br />

oft ebenso tragisch verläuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität,<br />

die sich gerade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt - diese ganze<br />

Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Beziehungen zu dem Fernsten,<br />

mit dem Interessiert-sein für weit Entlegenes, mit der Gedankengemeinschaft mit<br />

Kreisen, deren Verbindung alle räumliche Nähe ersetzt. Das Gesamtbild aus alledem<br />

bedeutet doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen, ein<br />

Distanzverringern in den mehr äußerlichen. 22<br />

� Entfremdung und Annäherung<br />

� Nähe unerträglich<br />

� Unerfülltheit der modernen Existenz<br />

22 PHG 663<br />

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16


Großstadt und „Neurasthenie“:<br />

Im allgemeinen wird mit steigender Kultur die Fernwirkung der Sinne schwächer, ihre<br />

Nahwirkung stärker, wir werden nicht nur kurzsichtig, sondern überhaupt kurzsinnig; aber<br />

auf diese kürzeren Distanzen hin werden wir um so sensibler. 23<br />

► Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt, Lust- und Unlustbetonung steigt<br />

23 SozSin 290f. [Hervorhebung hinzugefügt]<br />

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17


Blasiertheit und der moderne Hunger nach Gegenwart<br />

Wie ein maßloses Genußleben blasiert macht, weil es die Nerven so lange zu ihren<br />

stärksten Reaktionen aufregt, bis sie schließlich überhaupt keine Reaktion mehr hergeben<br />

- so zwingen ihnen auch harmlosere Eindrücke durch die Raschheit und Gegensätzlichkeit<br />

ihres Wechsels so gewaltsame Antworten ab, reißen sie so brutal hin und her, daß sie ihre<br />

letzte Kraftreserve hergeben und, in dem gleichen Milieu verbleibend, keine Zeit haben,<br />

eine neue zu sammeln. 24<br />

► Zyniker: Lust an der Abwertung aller positiven Werte<br />

► Blasierter:<br />

o Mangel an „Lebensreizen“<br />

o Verlust von Erlebnisfähigkeit<br />

24 GG 232<br />

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18


Das Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des großstädtischen<br />

Verkehrs wären ohne jene psychologische Distanzierung einfach unerträglich. Daß man<br />

sich mit einer so ungeheuren Zahl von Menschen so nahe auf den Leib rückt, [...] würde<br />

den modernen, sensiblen und nervösen Menschen völlig verzweifeln lassen, wenn nicht<br />

jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine innere Grenze und Reserve mit sich<br />

brächte. 25<br />

� Objektivierung als Distanzierung:<br />

� Selbstschutz des modernen Individuums<br />

� Großstadterleben als „Nahfremdheit“: …<br />

25 PHG 665<br />

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19


Großstadterleben als „Nahfremdheit“:<br />

Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen<br />

enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die<br />

Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein<br />

aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive<br />

Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns<br />

nicht eigentlich fremd - dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht<br />

kommenden Sinne des Wortes -, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie<br />

stehen jenseits von Fern und Nah. 26<br />

Ambivalenzen der Distanzierung<br />

„Exkurs über den Fremden“ (Soziologie)<br />

26 Soz 765<br />

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20


Porträt (bes. Rembrandts):<br />

Darstellung der „transphänomenale[n] Wesensintuition“ 27 der Erscheinung des Menschen<br />

► Der Andere als „Totalexistenz“:<br />

► Das Du zugleich näher und ferner als „Bäume und Wolken“: „Kurz, das Du ist<br />

wahrscheinlich eine ganz primäre, nicht weiter zurückführbare, nur unmittelbar zu<br />

erlebende Kategorie“. 28<br />

► Phänomen des Schauspielers<br />

„Wie es das Wesen des Lebens ist, in jedem Augenblick ganz da zu sein, [...] so ist es das<br />

Wesen der Rembrandtschen Ausdrucksbewegung, das ganze Nacheinander ihrer Momente<br />

in der Einmaligkeit eines einzelnen fühlen zu lassen [...].“ 29<br />

27 Rem 35<br />

28 Rem 26<br />

29 Rem 3<br />

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21


„Zwei Erfassungen des Lebens“<br />

► Psychologisch:<br />

o Kenntnis aus Begriffen, die ich bereits mitbringe<br />

o Typik<br />

► Der Andere als Individualität:<br />

Von diesem unmittelbaren Wissen ist das erste Stadium schon in dem Augenblick<br />

gewonnen, in dem - kurz ausgedrückt - der Mensch ins Zimmer tritt. Wir wissen in diesem<br />

ersten Augenblick nicht dies und das, keine jener angedeuteten Kategorien von ihm, aber<br />

doch unendlich viel mehr, sein Unverwechselbares. Die körperliche Unverwechselbarkeit, an<br />

diese erste Gegenwart geheftet, ist davon ein Symbol und vielleicht mehr als ein Symbol. 30<br />

30 Rem 84 - aus demselben Grund verwirft <strong>Simmel</strong> auch den Psychologismus als hermeneutische Methode der Textinterpretation, wie er in der<br />

Einleitung seines „Kant“-Buches ausführt.<br />

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22


► <strong>Simmel</strong>s ästhetische Kritik an der kategorialen Trennung Leib-Seele:<br />

Es ist wohl eine durchgehende Erfahrung, daß je tiefer wir die Individualität eines Menschen<br />

erfassen, sein Äußeres und Inneres um so unscheidbarer für uns zusammengehen, um so<br />

weniger auseinandergedacht werden können. 31<br />

► Das Gesicht als Ort der Erkenntnis<br />

► Ästhetische Bedeutung des Gesichts:<br />

Das Gesicht, als Ausdrucksorgan betrachtet, ist sozusagen ganz theoretischen Wesens, es<br />

handelt nicht, wie die Hand, wie der Fuß, wie der ganze Körper; es trägt nicht das innerliche<br />

oder praktische Verhalten des Menschen, sondern es erzählt nur von ihm. 32<br />

31 Rem 39<br />

32 Soz 485<br />

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23


Das Gefüge des Gesichts macht solche Zentrifugalität, d. h. Entgeistigung, von vornherein<br />

fast unmöglich. Wo sie einigermaßen stattfindet, beim Aufsperren des Mundes und dem<br />

Aufreißen der Augen, ist sie nicht nur ganz besonders unästhetisch, sondern gerade diese<br />

beiden Bewegungen sind, wie nun begreiflich ist, der Ausdruck des „Entgeistertseins“, der<br />

seelischen Lähmung, des momentanen Verlustes der geistigen Herrschaft über uns selbst. 33<br />

► Die Erfassung des Anderen als Ausdruck einer Lebensgeschichte – diesem Ausdruck<br />

genügt das Punktuelle des Moments:<br />

Hier aber ist es, als wenn ein Mensch einen tiefsten Affekt, der ihn ganz durchschüttert,<br />

aussprechen will: er braucht gar nicht den ganzen Satz zu sagen, der den Inhalt seiner<br />

Bewegtheit logisch ausbreitet, da doch schon am ersten Worte der Stimmklang alles<br />

offenbart. 34<br />

33 ÄBedGes 155<br />

34 Rem 4<br />

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24

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