Kulturnotizen - Druckservice HP Nacke KG
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46<br />
Nie mehr fi el sie zurück in das Lebensgefühl<br />
des rechtlosen, unehelichen Mädchens<br />
aus der Oberpfalz. In den kommenden<br />
Monaten fuhr ich sie fast täglich mit dem<br />
Auto, das ich von der Firma bekommen<br />
hatte, nach Dienstschluß und am Wochenende<br />
durch die schönsten Landschaften. Sie<br />
schaute mit glänzenden Augen hinaus und<br />
freute sich.<br />
Und dann geschah es doch. Sie bekam Fieber,<br />
die Verdauung funktionierte nicht. Einlauf,<br />
Abführmittel, nichts half. Wieder kam<br />
sie ins Krankenhaus, und dort fand man<br />
erst heraus, was sie schon seit Jahren als<br />
zweite, schwere Krankheit hatte – Darmkrebs.<br />
Der Arzt hatte es nicht erkannt.<br />
Schon zwei Stunden nach ihrer Einlieferung<br />
wurde sie operiert. Draußen warteten<br />
Mann und Sohn. Der Arzt kam heraus und<br />
sagte: „Wir haben sie gleich wieder zugemacht.<br />
Es war schon alles schwarz.“<br />
„Wie lang hat sie noch zu leben?“ fragte ich.<br />
„Höchstens noch bis morgen.“<br />
Der Vater und ich saßen an ihrem Bett, als<br />
sie am Nachmittag langsam erwachte. „War<br />
es Krebs?“<br />
„Ach, Unsinn!“ sagte ich empört. „Nur<br />
Darmverschluss.“ Sie nickte lächelnd und<br />
beruhigt. Es war besprochen worden, dass<br />
sie keine Herzmittel bekommen sollte, aber<br />
Dolantin. Ich hoffe, es hat sie glücklich<br />
gemacht. Bevor sie am Abend einschlief,<br />
bestand sie noch darauf, dass Vater und ich<br />
mit Essen und Tee versorgt wurden. Dann<br />
fuhren wir in meinem kleinen Auto nach<br />
Hause, bis ein Anruf kam – „es wird bald<br />
zu Ende sein“.<br />
Sie war bewußtlos, atmete schwerer und<br />
mit immer größeren Intervallen. Der unentbehrlichste<br />
Mensch auf der Welt starb.<br />
Als sie zu atmen aufgehört hatte, gingen<br />
wir hinaus – ich kehrte an der Türe noch<br />
einmal um, küsste sie auf die Stirn und fl üsterte<br />
ihr etwas zu.<br />
Wieder fuhren wir nach Hause. Trostlosigkeit<br />
im Gesicht meines Vaters, dem das<br />
Licht seines Lebens genommen war; mir<br />
liefen die Tränen über die Wangen. Heute<br />
erinnere ich mich an den Satz eines jüdischen<br />
Emigranten: „Ich bin jetzt Neunzig,<br />
aber die Mutter fehlt mir immer noch.“<br />
Karl Otto Mühl<br />
Neue Kunstbücher<br />
Über Architektur<br />
vorgestellt von Thomas Hirsch<br />
Zunehmend hat sich die Architektur nicht<br />
nur als wichtiger Aspekt unserer urbanen<br />
Wahrnehmung und unseres Wohlbefi ndens<br />
erwiesen, sondern auch als eigene<br />
Gattung der visuellen Kunst etabliert.<br />
Konsequenterweise spiegelt sich dies in der<br />
Menge an Buchveröffentlichungen, auch<br />
den Ausstellungen heutiger Tage wider.<br />
Konstatiert bzw. destilliert werden spezifi<br />
sche (monographische) Handschriften<br />
zur Ästhetik und Funktionalität, dann der<br />
Zustand im Städtebau zwischen Tradition,<br />
gewachsener Struktur und globaler<br />
Avantgarde, wobei noch die zunehmende<br />
Nomadisierung der Bevölkerung und ein<br />
wachsendes Interesse für andere Kulturen<br />
mitschwingen ... Die Architektur hat sich<br />
damit aus den Reservaten der fachspezifi<br />
schen Theorie und der Kunstgeschichte<br />
„befreit“ und setzt sich nun zugleich einer<br />
kritischen Rezeption aus – sie ist Allgemeingut.<br />
Derartige Überlegungen berührt schon<br />
eine recht klar umfasste kulturgeschichtliche<br />
– komparativistische – Untersuchung,<br />
die das Fenster als Moment der Architektur<br />
in seiner Relevanz, Bildhaftigkeit und<br />
Bedeutung begreift. Spätestens seit der<br />
deutschen Romantik ist dessen Stellung<br />
Rolf Selbmann: Die Kulturgeschichte des<br />
Fensters, 222 S. mit 126 farb. Abb., geb.<br />
mit Schutzumschlag, 24,7 x 17,5 cm,<br />
Reimer, 39,- Euro<br />
zwischen baulichem Element, metaphysischer<br />
Vermittlung von Innen und Außen<br />
und metaphorischem Ausblick in die Ferne<br />
offensichtlich. Das Buch „Die Kulturgeschichte<br />
des Fensters“ geht dem nach,<br />
indem der Autor Rudolf Selbmann – als<br />
professioneller Literaturwissenschaftler<br />
– neben die Kunst die Literatur und in<br />
Ansätzen auch den Film setzt. Das Vorgehen<br />
an sich ist sinnvoll und sein Buch ist<br />
eine relativ kurzweilige Stoffsammlung.<br />
Es reicht freilich nur selten in die Tiefe,<br />
hat noch etwas Zerstreutes, zwar nicht<br />
Beliebiges, aber bisweilen doch wenig Ergiebiges.<br />
Schnell gesagt, ein Verschenkbuch<br />
der Kulturinteressierten, aus dem man<br />
noch einiges lernen kann. Also, zumal zu<br />
Weihnachten: Gut.<br />
Eine ganz andere Intensität und Leidenschaft<br />
kennzeichnet demgegenüber Bruno<br />
Tauts „Nippon mit europäischen Augen<br />
gesehen“: die Rückübersetzung seiner<br />
Aufzeichnungen nach mehr als einem<br />
dreiviertel Jahrhundert. Taut schildert<br />
mit dem geschulten Blick der Architekturkoryphäe<br />
und mit dem Staunen des<br />
Auswärtigen skizzenartig, wissbegierig, nie<br />
langweilig, dabei sehr kenntnisreich seine<br />
Eindrücke vor Ort. Seine Ausführungen<br />
werden unterstützt durch eigene, oft laienhafte<br />
Fotografi en, die Tauts Möglichkeiten<br />
Bruno Taut: Nippon mit europäischen<br />
Augen gesehen, 215 S. mit 210 s/w-Abb.,<br />
Broschur, 24 x 17 cm, Gebr. Mann Verlag,<br />
59,- Euro