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Kulturnotizen - Druckservice HP Nacke KG

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44<br />

Foto: Frank Becker<br />

Karl Otto Mühl<br />

Schlechte Karten einem Foto sehen, das ich noch habe und<br />

Natürlich habe seit über vierzig Jahren<br />

mit ihr und dem Vater zu tun, nämlich,<br />

seit beide in kurzem Abstand nacheinander<br />

gestorben sind. Ich führe oft Gespräche<br />

mit ihnen. Manches würde ich gerne<br />

nachholen. Etwa so, dass der Sohn vor sie<br />

tritt, den Arm um die Schultern seiner<br />

Frau gelegt, und sagen würde: Mutter, das<br />

ist sie. Wir kümmern uns um dich.<br />

Aber so war es nicht. Der Sohn hatte<br />

keine Frau, und er hing wie ein Kind an<br />

seiner Mutter, die er ein Leben lang zu<br />

verlieren fürchtete. Die Gefahr des Verlustes<br />

bestand wirklich seit vierzig Jahren.<br />

Damals war er Sechs, der Vater dienstlich<br />

seit Monaten in einer anderen Stadt.<br />

Der Vater hatte ihr einen Schallplattenkasten<br />

mit Arm geschickt, und auf<br />

dem wurde immer wieder „Träumerei“<br />

von Schumann gespielt. Mit diesem<br />

Kasten, mir und einem halben Dutzend<br />

Nachbarskindern zog sie in den nahen<br />

Tannenwald. Wir setzten uns auf den<br />

nadelbedeckten Waldboden, der Kasten<br />

jammerte vor sich hin. Sie trug eine weiße,<br />

kurzärmlige Bluse, das kann ich auf<br />

von dem ich nicht weiß, wer es geknipst<br />

hat.<br />

Der Waldboden war schon kühl. Das war<br />

der Grund, dass sie am nächsten Tag erkältet<br />

war und fi eberte.<br />

Das Fieber nahm täglich zu. Plötzlich bekam<br />

sie heftige Gelenkschmerzen, konnte<br />

nicht mehr aufstehen. Es blieb ihr und<br />

mir nichts übrig, als in die Zweizimmerwohnung<br />

der Schwiegermutter zu ziehen,<br />

die in einem grauverputzten Arbeiterhaus<br />

lebte, dass noch heute steht.<br />

Das aber war vor achtzig Jahren. Es besuchte<br />

sie Dr. Bär, ein freundlicher, jüdischer<br />

Arzt, aber ich weiß nicht, ob er viel<br />

für sie tun konnte. Ihre Schultern wurden<br />

in Watte eingepackt, aber die Schmerzen<br />

hielten noch länger an. Sie lag auf dem<br />

Sofa in der Wohnstube, ich auf der hölzernen<br />

Eckbank am Fenster. Während der<br />

ganzen Nacht hörte ich ihr Stöhnen. Ich<br />

war froh, wenn der Morgen kam und die<br />

Großmutter Babette einen großen Becher<br />

Kathreiner-Kaffee brachte. Ich glaube, es<br />

hat mir gegen die Langeweile gereicht, den

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