Kulturnotizen - Druckservice HP Nacke KG
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Foto: Frank Becker<br />
Karl Otto Mühl<br />
Schlechte Karten einem Foto sehen, das ich noch habe und<br />
Natürlich habe seit über vierzig Jahren<br />
mit ihr und dem Vater zu tun, nämlich,<br />
seit beide in kurzem Abstand nacheinander<br />
gestorben sind. Ich führe oft Gespräche<br />
mit ihnen. Manches würde ich gerne<br />
nachholen. Etwa so, dass der Sohn vor sie<br />
tritt, den Arm um die Schultern seiner<br />
Frau gelegt, und sagen würde: Mutter, das<br />
ist sie. Wir kümmern uns um dich.<br />
Aber so war es nicht. Der Sohn hatte<br />
keine Frau, und er hing wie ein Kind an<br />
seiner Mutter, die er ein Leben lang zu<br />
verlieren fürchtete. Die Gefahr des Verlustes<br />
bestand wirklich seit vierzig Jahren.<br />
Damals war er Sechs, der Vater dienstlich<br />
seit Monaten in einer anderen Stadt.<br />
Der Vater hatte ihr einen Schallplattenkasten<br />
mit Arm geschickt, und auf<br />
dem wurde immer wieder „Träumerei“<br />
von Schumann gespielt. Mit diesem<br />
Kasten, mir und einem halben Dutzend<br />
Nachbarskindern zog sie in den nahen<br />
Tannenwald. Wir setzten uns auf den<br />
nadelbedeckten Waldboden, der Kasten<br />
jammerte vor sich hin. Sie trug eine weiße,<br />
kurzärmlige Bluse, das kann ich auf<br />
von dem ich nicht weiß, wer es geknipst<br />
hat.<br />
Der Waldboden war schon kühl. Das war<br />
der Grund, dass sie am nächsten Tag erkältet<br />
war und fi eberte.<br />
Das Fieber nahm täglich zu. Plötzlich bekam<br />
sie heftige Gelenkschmerzen, konnte<br />
nicht mehr aufstehen. Es blieb ihr und<br />
mir nichts übrig, als in die Zweizimmerwohnung<br />
der Schwiegermutter zu ziehen,<br />
die in einem grauverputzten Arbeiterhaus<br />
lebte, dass noch heute steht.<br />
Das aber war vor achtzig Jahren. Es besuchte<br />
sie Dr. Bär, ein freundlicher, jüdischer<br />
Arzt, aber ich weiß nicht, ob er viel<br />
für sie tun konnte. Ihre Schultern wurden<br />
in Watte eingepackt, aber die Schmerzen<br />
hielten noch länger an. Sie lag auf dem<br />
Sofa in der Wohnstube, ich auf der hölzernen<br />
Eckbank am Fenster. Während der<br />
ganzen Nacht hörte ich ihr Stöhnen. Ich<br />
war froh, wenn der Morgen kam und die<br />
Großmutter Babette einen großen Becher<br />
Kathreiner-Kaffee brachte. Ich glaube, es<br />
hat mir gegen die Langeweile gereicht, den