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Fritz Poppenberg zu Andorra von Max Fritsch - Drei Linden Film

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<strong>Max</strong> Frischs Hauptangriff ist nicht gegen den judenfeindlichen deutschenNationalsozialismus gerichtet.Der Großvater meiner dänischen Frau musste ins KonzentrationslagerGleich auf der ersten Seite präsentiertuns Frisch den Soldaten, dem erim weiteren Verlauf der EreignisseEigenschaften wie Aufsässigkeit,Trunksucht, Ungerechtigkeit, Aggressivität,Vergewaltigung und schließlichLandesverrat andichtet.Auf der zweiten Seite lässt Frischden Tischler auftreten, dem er Feigheit,Geldgier und Ignoranz anhängt. DenTischlergesellen lässt Frisch gnädigmit beruflichem Versagen, Verlogenheitund Verrat da<strong>von</strong> kommen.Auf Seite drei lernen wir <strong>Max</strong>Frischs Zerrbild des Paters kennen,einen kirchlichen Schwätzer.Es gibt noch einige weitere Negativfigurenin „<strong>Andorra</strong>", doch die dreihier erwähnten sollen genügen, um <strong>zu</strong>verstehen, gegen wen Frisch seinenHauptangriff vorträgt. Es geht nämlichnicht gegen den judenfeindlichen deutschenNationalsozialismus und wohlkaum gegen Antisemitismus, nein, esgeht, wie schon angedeutet, gegen dasBürgertum.Von Frisch erfahren wir natürlichnicht, dass der Soldat und damit dieArmee in der bürgerlichen GesellschaftWehrhaftigkeit in einem durchauspositiven Sinn bedeutet und <strong>zu</strong>demin aller Regel staatliche Souveränitätgarantiert, und wir erfahren auch nichtsüber den mutigen Widerstand, der ausden Reihen der Armee kam.Ebenso erfahren wir in seiner Darstellungdes Tischlers nichts über diesubstantielle Bedeutung des europäischenkleinen und mittleren Unternehmertumsfür unsere Kultur mitseiner enormen Anziehungskraft aufMillionen Menschen anderer Erdteile.Dagegen ist Frischs Karikatur auf dasBürgertum geeignet, den orientierungslosenLeser <strong>zu</strong> vereinnahmenund <strong>zu</strong> einem Parteigänger totalitärerRegimes (wie <strong>zu</strong>m Beispiel sozialistischerDiktaturen) <strong>zu</strong> machen, derenApparatschiks aus gutem Grund dieKreativität und Vitalität bürgerlicherUnternehmer fürchten und bekämpfen.Und schließlich die Geistlichkeit:Nur ein Ignorant wie Frisch bringtes fertig, den großartigen geistig-kulturellenEinfluss der Verbindung <strong>von</strong>Hellenismus und Christentum auf dieeuropäischen Völker <strong>zu</strong> leugnen undauf eine abstoßende Figur <strong>zu</strong> reduzieren,wie sie der Pater in „<strong>Andorra</strong>"darstellt.Im Gegensatz <strong>zu</strong> Frischs Pater, dernicht für den verfolgten „Jud" eintrittund seine Feigheit hinter Geschwätzverbirgt, sind während der Zeit desNationalsozialismus unzählige Kirchenleutefür Verfolgte eingetreten.Erinnert sei hier nur an Bischof <strong>von</strong>Galen, der durch seinen Mut den Abbruchder so genannten T-4-Aktionbewirkt hat und damit ZehntausendeMenschenleben retten konnte.Inzwischen liegt das Ergebnis <strong>von</strong>Untersuchungen über Opfer- undHilfsbereitschaft vor, das deutlichsagt, dass in Deutschland die überwiegendeAnzahl <strong>von</strong> echter Hilfeunter Einsatz des eigenen Lebensnicht aus politisierten „antifaschistischen",sondern aus religiös orientiertenBevölkerungskreisen kam.Die Überlebensgeschichte der Vorsitzendendes Zentralrates der Judenin Deutschland, Charlotte Knobloch,mag als Beispiel dienen: es war diekatholische Hausangestellte der jüdischenFamilie, die die zehnjährigeCharlotte in ihrem Elternhaus, einemfränkischen Bauernhof, unter Lebensgefahraufnahm und als eigenesuneheliches Kind ausgab.Überall werden solchen mutigenMenschen Denkmäler gesetzt, Straßennach ihnen benannt und Büchergeschrieben, doch in „<strong>Andorra</strong>" sindsie der Selektion des Autors <strong>zu</strong>m Opfergefallen.Obwohl „<strong>Andorra</strong>" also das Lichtder Wirklichkeit scheuen muss, umbestehen <strong>zu</strong> können, feiert es seit324 DER FELS 11/2006


seiner Uraufführung 1961 Triumphe:Alle großen Bühnen Deutschlandsund der Schweiz haben es gespielt,Millionen Schüler mussten und müssenes im Deutschunterricht durchkauen,aber eine kritische Auseinanderset<strong>zu</strong>ngmit dem fragwürdigenStück sucht man vergebens.Dabei wäre es im Rahmen derSchule ein Leichtes, den Schülern dieempörende Einseitigkeit des Textes <strong>zu</strong>vermitteln - es müsste dafür lediglichim fakten- und datenorientierten Geschichtsunterrichtdurchgenommenwerden.Aber selbst im Deutschunterrichtkönnte „<strong>Andorra</strong>" ein echter Gewinnfür die Schüler sein, nämlich dann,wenn die dramaturgischen MethodenFrischs nicht ausgespart bleibenwürden.Die Aufmerksamkeit könnte aufdie merkwürdige Tatsache gelenktwerden, dass nur den „Guten" einfamiliärer Hintergrund und anderepositive soziale Attribute <strong>zu</strong>gestandenwerden, die „Bösen" bleiben isolierteFiguren ohne menschliches Gesicht.Die Frage könnte <strong>zu</strong>dem gestelltwerden, ob derartige Manipulationennicht eher <strong>zu</strong>m Instrumentariumpolitischer Propagandaliteratur mitVerführungsabsicht gehören und keineswegs<strong>zu</strong> guter Literatur.Zum Beispiel gibt Frisch derjungen Barblin und dem „Jud", alsoden Hauptcharakteren, in etwa dasgleiche Alter wie es die jugendlicheLeserschaft hat und stellt <strong>zu</strong>dem eineLiebesbeziehung zwischen ihnen her,also starke Gefühle, die er freilichden negativen Figuren verweigert.Man stelle sich vor, dass der Soldatebenfalls eine zarte Liebesbeziehung<strong>zu</strong> einem Mädchen hätte, was beiSoldaten aus der Realität ab und <strong>zu</strong>vorkommen soll und man stelle sich,durchaus nicht unrealistisch, fernervor, dass der Soldat dem „Jud" <strong>zu</strong>rFlucht verhilft.Das Stück erführe eine wesentlicheVeränderung, vorbildliches Handelnwäre erkennbar, Hoffnung keimte aufund Identifikation mit einer konstruktivenLösung.Doch Frisch, das ist unübersehbar,will keine Hoffnung.Mit der FigurenkonstellationBarblin-"Jud" schleicht sich Frischin die altersspezifische Problematikseiner jugendlichen Leserschaft ein.Auch die kennt das Empfinden, <strong>von</strong>Frisch schleicht sich in die altersspezifische Problematik unserer Jugendlichenein und versucht die positive Bedeutung <strong>von</strong> kultureller Verwurzelung<strong>zu</strong> zerstören.der Welt getrennt und unverstanden<strong>zu</strong> sein und weiß um die berechtigteFurcht, auf der Suche nach beruflichemErfolg, nach Identität und Liebescheitern <strong>zu</strong> können.Ist die emotionale Identifikationerst einmal hergestellt, folgt derzweite Schritt in die Unmündigkeit:die frisch gebackenen Parteigängerdes (irrationalen) Modells „<strong>Andorra</strong>"werden nun <strong>zu</strong>nehmend unaufmerksamfür die Fragwürdigkeiten desTextes, wobei die Reihe der bereitserwähnten mit leichter Hand verlängertwerden kann:- In „<strong>Andorra</strong>" gibt es, einzigartigin der Menschheitsgeschichte, keineObrigkeit, ein Umstand, der leichtmit Frischs gestörtem Verhältnis <strong>zu</strong>rlebendigen Wirklichkeit <strong>zu</strong> erklärenist. Daraus ein Beispiel: Als diedeutsche Besat<strong>zu</strong>ngsmacht <strong>von</strong> dendänischen Behörden die Kennzeichnungder Juden verlangte, lehnte derdänische König ab und erklärte: „Ichbin der erste, der sich den Judensternanheftet!"- In „<strong>Andorra</strong>" verleugnet derVater ohne Not seinen Sohn und gibtihn als jüdisches Findelkind aus, eineKonstruktion, die an Unglaubwürdigkeitkaum <strong>zu</strong> überbieten ist.- In „<strong>Andorra</strong>" sind ausnahmslosalle Erwachsenen unfähig oder„böse", eine Darstellungsweise, dienatürlich mit den guten Beziehungen,die reale Jugendliche vielfach<strong>zu</strong> Erwachsenen haben, nicht in Einklang<strong>zu</strong> bringen ist.Doch Frischs Methoden sindraffiniert und nicht so einfach <strong>zu</strong>durchschauen. Den Amtsarzt, einweiterer <strong>Andorra</strong>ner, lässt FrischWerte wie Heimat, Verwurzelungund Vaterland preisen, doch wenigspäter gegen Juden hetzen. Die jugendlichenLeser lehnen natürlichden Amtsarzt deshalb berechtigt ab.Aber da sie emotional vereinnahmtsind, lehnen sie ebenfalls alles dasab, was er Positives über Heimat undVerwurzelung sagt - auch wenn dasWerte sind, die sie unbedingt für denAufbau ihres Selbstwertgefühls undihrer Identität benötigen.„<strong>Andorra</strong>" tritt wie ein Fremder,der seine Knochengestalt kaum verbirgt,in das Schulleben unserer Kinder.Doch die schließen nicht die Türab und rufen um Hilfe, denn sie sindbereits wehrlos gemacht worden,bevor der niederträchtige Geselledas Klassenzimmer betritt. „<strong>Max</strong>Frisch" wird ehrfürchtig geraunt,„<strong>Andorra</strong>" und „Antisemitismus".Auf diesem Altar wird geopfert, wasunsere Kinder <strong>zu</strong>r nüchternen undgerechten Beurteilung der eigenenGeschichte benötigen.Vater: „Ich habe übrigens „<strong>Andorra</strong>"gelesen."Sohn: „Was?! Wirklich?! Das findeich echt toll! Jetzt binich gespannt, was du da<strong>zu</strong>sagst!"•DER FELS 11/2006 325

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