1 Rechtsetzung, Rechtsanwendung und ... - Fernstudieninstitut

Günter Schmidt
Rechtsanwendung und Rechtskontrolle
in der Europäischen Union

© 2012 Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, 2. aktualisierte Ausgabe, unveröffentlichtes Ma-
nuskript
Am Fernstudieninstitut der Hochschule für Wirtschaft und Recht wurde der Studienbrief für den
Master-Studiengang Europäisches Verwaltungsmanagement entwickelt. Dort wird er im Rahmen von
Modul 3.2 eingesetzt.
www.fernstudieninstitut.de

Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ........................................................................................................................... 3
Abkürzungsverzeichnis ................................................................................................................... 5
Einleitung ....................................................................................................................................... 7
1 Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtskontrolle im supranationalen Kontext ............. 9
1.1 Annäherung an die Begriffe Rechtsanwendung und Rechtskontrolle über das
Gewaltenteilungsprinzip ............................................................................................................... 9
1.2 Beschränkung auf das Unionsrecht ............................................................................................ 10
1.3 Grundlagen der Anwendung des Unionsrechts .......................................................................... 10
1.3.1 Vorrang der EU-Rechtsordnung .................................................................................................. 11
1.3.2 Unmittelbare Anwendbarkeit ..................................................................................................... 13
1.3.3 Vollzug des Unionsrechts als Teil seiner Anwendung ................................................................. 16
1.4 Rechtskontrolle ........................................................................................................................... 17
2 Die Rechtsanwendung in der Europäischen Union .............................................................. 19
2.1 Vollzug des Unionsrechts ............................................................................................................ 19
2.1.1 Zum Verständnis der Begriffe Anwendung, Vollzug und Ausführung des Unionsrechts ............ 19
2.1.2 Unterschiede beim Vollzug des Unionsrechts ............................................................................ 21
2.1.3 Einzelheiten des (indirekten) Vollzugs am Beispiel Deutschlands .............................................. 25
2.2 Anforderungen an den verwaltungsmäßigen Vollzug ................................................................ 31
2.2.1 Vorgaben des Gemeinschaftsrechts ........................................................................................... 31
2.2.2 Äquivalenzgrundsatz und Effektivitätsgrundsatz ........................................................................ 32
2.2.3 Rückforderung staatlicher Beihilfen ........................................................................................... 33
2.3 Rechtsfolgen bei Defiziten im legislativen Vollzug – Staatshaftung und unmittelbare
Wirkung von Richtlinien .............................................................................................................. 37
2.3.1 Das Problem des Vollzugsdefizits ................................................................................................ 37
2.3.2 Staatshaftung .............................................................................................................................. 38
2.3.3 Unmittelbare Anwendung von Richtlinien, Vorwirkung von Richtlinien und
richtlinienkonforme Auslegung ................................................................................................... 40
2.4 Die Anwendung der Unionsbürgerschaft .................................................................................... 42
2.4.1 Die Unionsbürgerschaft .............................................................................................................. 43
2.4.2 Die in der Unionsbürgerschaft gründenden Rechte ................................................................... 44
2.5 Die Anwendung des Diskriminierungsverbots und des Gleichbehandlungsgebots ................... 48
2.5.1 Systematik und Zusammenwirken der Vorschriften ................................................................... 48
2.5.2 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung am Beispiel der Staatsangehörigkeit (Art.
18 AEUV) ..................................................................................................................................... 49
2.5.3 Umsetzung der Diskriminierungsverbote des Art. 19 AEUV ....................................................... 50
2.5.4 Die Gewährleistung gleichen Entgelts für Männer und Frauen Art. 157 AEUV - ex Art.
141 EG-Vertrag ............................................................................................................................ 50
2.6 Die Anwendung des Rechts der Grundfreiheiten ....................................................................... 56

Günter Schmidt - Rechtsanwendung und Rechtskontrolle in der Europäischen Union
2.6.1 Dogmatik der Grundfreiheiten .................................................................................................... 56
2.6.2 Die Grundfreiheiten in der konkreten Anwendung durch die Mitgliedstaaten ......................... 57
2.7 Die Anwendung der Grundrechte im Gemeinschafts- und Unionsrecht .................................... 60
2.7.1 Stellenwert der Grundrechte in der EG und der EU bis Dezember 2009 ................................... 60
2.7.2 Einzelheiten des Grundrechtsschutzes ....................................................................................... 61
2.7.3 Unterschiede zum Menschenrechtsschutz der EMRK ................................................................ 62
3 Die Rechtskontrolle in der Europäischen Union .................................................................. 65
3.1 Das System der Rechtskontrolle ................................................................................................. 65
3.2 Interne Rechtskontrolle durch die Exekutive (administrative Kontrolle) ................................... 67
3.3 Externe Rechtskontrolle durch die Gerichte der Europäischen Union ....................................... 68
3.3.1 Systematik der externen Rechtskontrolle ................................................................................... 68
3.3.2 Vorabentscheidungsersuchen (Vorabentscheidungsverfahren) ................................................ 69
3.3.3 Vertragsverletzungsverfahren .................................................................................................... 71
3.3.4 Nichtigkeitsklage ......................................................................................................................... 74
3.3.5 Untätigkeitsklage ........................................................................................................................ 76
3.3.6 Schadensersatzklage ................................................................................................................... 77
4 Abschluss und Ausblick ..................................................................................................... 79
Hinweise zu den Aufgaben............................................................................................................ 81
Glossar ......................................................................................................................................... 83
Europa-Vokabular ........................................................................................................................ 85
Literaturempfehlung .................................................................................................................... 87
Literaturverzeichnis ...................................................................................................................... 88
Verzeichnis der Internetlinks ................................................................................................................... 89
Abbildungsverzeichnis .................................................................................................................. 91
Sachwortverzeichnis ..................................................................................................................... 92

Einleitung
Dieser Studienbrief ist der zweite zu den Grundlagen des europäischen
Rechts und schließt an den Studienbrief „Grundzüge der europäischen
Rechtsordnung“ 1 an. Die Kenntnis der dort behandelten Thematik ist für
das Verständnis des vorliegenden Studienbriefs notwendig. Der Verfasser
erlaubt sich, auf Inhalte dieses Studienbriefs Bezug zu nehmen, um unnöti-
ge Wiederholungen zu vermeiden. Andererseits ist es unvermeidbar, ein-
zelne Fragestellungen unter dem Blickwinkel von Rechtsanwendung und
Rechtskontrolle erneut aufzugreifen, denn die Inhalte bauen nicht nur auf-
einander auf, sondern greifen bisweilen sogar ineinander.
Während im Studienbrief „Grundzüge der europäischen Rechtsordnung“
auch auf die Rechtsquellen der Europäischen Union (EU) eingegangen und
das Rechtsetzungsverfahren dargestellt wurden, ergänzt dieser Studienbrief
das Gesamtbild der europäischen Rechtsordnung um eine eingehende Be-
handlung von Rechtsanwendung und Rechtskontrolle. Zur Annäherung an
diese Systematik helfen Ihnen das Modell des Zusammenspiels der Gewal-
ten im Staat und die Erkenntnisse des Mehrebenensystems. Wegen der
herausragenden Bedeutung der Europäischen Union 2 ist die Konzentration
auf deren supranationales Recht angebracht. 3 Dies folgt im Übrigen auch
dem Begriffsverständnis von „europäischer Rechtsordnung“. 4 In diesem
Sinn ist der Titel Rechtsanwendung und Rechtskontrolle in der EU nicht auf
die supranationale Ebene Europäische Union beschränkt, sondern umfas-
send zu verstehen, nämlich als die ganzheitliche Betrachtung, wie das
Recht, das aus der der EU zustehenden Kompetenz stammt, sowohl in der
Rechtsordnung der EU als auch in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaa-
ten Wirkungen entfaltet. Das geht über den Rechtsakt des bloßen Vollzugs
im engeren Sinn (Ausführung von Rechtsnormen) weit hinaus und nimmt
1
Vgl. Prümm/von Stoephasius, Grundzüge der europäischen Rechtsordnung, 2. Auflage
Berlin 2011
2
Europäische Union ist durch den Reformvertrag von Lissabon (in Kraft seit dem 1.
Dezember 2009) die supranationale Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft
(EG), die aus dem Vertrag über die Gründung der EWG hervorgegangen war und bis zum
Vertrag von Nizza mit der EGKS (die 2002 in der EG aufging) und der EAG, die als letzte
der europäischen Gemeinschaften als supranationales Gebilde weiterbesteht die erste
Säule der EU (im damaligen Sprachsinn) bildete. Beide zusammen bildeten die
Europäischen Gemeinschaften. Dieses Modell, auf dem die Vorauflage des Studienbriefs
beruhte, ist nunmehr überholt. Die neben der EU als supranationale Gemeinschaft
fortexistierende EAG bleibt im Studienbrief unberücksichtigt.
3
Jedoch dürfen, vor allem zur Abgrenzung bei der Anwendung von Grundrechten, die
intergouvernementalen Rechtssätze und die Rechtsprechung des EGMR zur EMRK nicht
fehlen, die seit einigen Jahren zu Konfliktfällen mit dem innerstaatlichen Rechtsschutz
führen.
4
Zum Begriff: Rodriguez Iglesias, NJW 1999, S. 1ff. und Schmidt, Grundzüge der
Europäischen .Rechtsordnung in Furtak/Groß Europa studieren, Frankfurt 2012.
Einleitung
7

Günter Schmidt - Rechtsanwendung und Rechtskontrolle in der Europäischen Union
8
den gesamten, auch mittelbaren Einfluss des Unionsrechts auf die Rechts-
ordnungen der Mitgliedstaaten in den Blick. Der Abschnitt zur Rechtskon-
trolle ergänzt notwendigerweise diejenigen zu Rechtsetzung und Rechts-
anwendung. Dabei wird Kontrolle sowohl intern (durch die Verwaltung) als
auch extern (durch die Gerichte als Gewährung von Rechtsschutz für zur
Anstrengung eines Verfahrens berechtigte Personen oder Institutionen)
verstanden. Deshalb wird der Systematik der Verfahren vor dem EuGH be-
sondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Dieser Studienbrief soll in Verbindung mit demjenigen über die Grundzüge
der europäischen Rechtsordnung 5 , dem praxisorientierten Ansatz des Mas-
terstudiengangs Rechnung tragen, indem er querschnittartig, aber an Hand
typischer Beispiele möglichst umfassend die Anwendung des Rechts der EU
in der Verwaltungspraxis der Mitgliedstaaten, hier am Beispiel Deutsch-
lands darstellt.
Damit Rechtsanwendung und Rechtskontrolle an europarechtlichen
Rechtssätzen behandelt werden können, ließ es sich nicht vermeiden, bis-
weilen auf Ihnen (noch) nicht eingehend bekannte Einzelgebiete des EU-
Rechts 6 zurückzugreifen. Sofern und soweit es für das Verständnis erforder-
lich erscheint, werden die wesentlichen Sach- und Rechtsfragen erläutert.
Rechtsmaterien, die in einem eigenen Studienbrief behandelt sind (so etwa
die Grundfreiheiten des Binnenmarktes), werden nur knapp beleuchtet.
Doch müssen Doppelungen dort in Kauf genommen werden, wo der Zu-
sammenhang ansonsten unverständlich bliebe.
Jetzt bleibt mir nur noch, Ihnen viel Erfolg für Ihr Studium und möglichst
problemlose Handhabung dieses Studienbriefs zu wünschen.
5 S. o. Fußnote 1
6 Vgl. z.B. von Stoephasius, Die Rechtsgrundlagen des Binnenmarktes der Europäischen
Union1.,. Auflage, Brandenburg 2011 ; Prümm, Einführung in die Methodik der
Rechtsanwendung (juristische Methodik) anhand des EU- und des nationalen deutschen
Rechts, 2. Auflage, Brandenburg 2011

1 Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtskontrolle im supranationalen Kontext
1 Rechtsetzung, Rechtsanwendung und
Rechtskontrolle im supranationalen Kontext
In diesem als allgemeiner Teil dienenden und deshalb etwas abstrakt-
generell abgefassten Kapitel lernen Sie,
• dass auf die Rechtsetzung die Anwendung des Rechts durch die Praxis
und auf diese wiederum die Kontrolle folgt; und zwar entweder intern
durch die Verwaltung oder extern durch die Gerichtsbarkeit;
• dass dieses System, das politwissenschaftlich und rechtlich als Modell
der Gewaltenteilung überliefert ist, in der europäischen Rechtsord-
nung eine Entsprechung findet, die jedoch wichtige Besonderheiten
aufweist;
• dass der supranationale Charakter des Rechts der EU für die Ausge-
staltung des Systems wesentlich ist, weil es eine eigene Rechtsordnung
ist, die vorrangige Anwendung findet, wobei die einzelnen Bestim-
mungen indes nicht sämtlich unmittelbar anwendbar sind oder direkt
Wirkung entfalten.
1.1 Annäherung an die Begriffe Rechtsanwendung und
Rechtskontrolle über das Gewaltenteilungsprinzip
Rechtsanwendung und Rechtskontrolle mag als Titel für einen für die Zwe-
cke eines Studiengangs – gleichsam segmentartig – erstellten Studienbrief
auf den ersten Blick unvollständig klingen; fehlt doch das dritte Element der
von Montesquieu entwickelten und bis heute grundlegenden Theorie von
der Gewaltentrennung: die Rechtsetzung. In der Tat ist die Rechtsetzung
des europäischen Rechts (insbesondere des EU-Rechts) an anderer Stelle
eingehend behandelt worden. 7 Hierauf wird vollinhaltlich Bezug genom-
men.
Das Modell der Gewaltentrennung mag für Sie eine Hilfe beim ersten ein-
ordnenden Verständnis sein. 8 Bei der Übertragung auf die europäische
Rechtsordnung ist jedoch größte Umsicht geboten. Sie müssen erkennen,
dass dieser Ansatz für das Recht der EU in doppelter Hinsicht ungenau und
unvollständig ist.
7 Vgl. Z.B Prümm/von Stoephasius, Grundzüge, S. 34ff. (Abschnitt 4: Rechtsquellen).
8 Eine derartige Zuordnung nimmt Hakenberg, Europarecht, RdNrn. 162f. 166, vor, der
sich eingehender damit auseinandersetzt.
Lernziele
9

Günter Schmidt - Rechtsanwendung und Rechtskontrolle in der Europäischen Union
Definition
10
Ungenau ist das Modell der Gewaltenteilung, weil es für die gegenseitige
Kontrolle und Ausbalancierung der die einheitliche Staatsgewalt ausüben-
den Funktionsträger gedacht ist, die EU aber kein Staat ist. 9 Das ändert auch
Art. 47 EUV nicht, der der Union Rechtspersönlichkeit zuerkennt.
Unvollständig ist das Modell, weil es die Besonderheiten des Unionsrechts,
wie sie sich aus dem Zusammenwirken von EU und Mitgliedstaaten erge-
ben, nicht angemessen abbilden kann. Insoweit ist eine Ergänzung durch
das Mehrebenenmodell hilfreich. 10
1.2 Beschränkung auf das Unionsrecht
Rechtsanwendung und Rechtskontrolle lassen sich sinnvoll nur an einem
geschlossenen Modell darstellen, das Züge einer kohärenten Rechtsord-
nung aufweist und den Staatsordnungen eines souveränen Staates ver-
gleichbar ist. Diesen Erfordernissen wird auf europäischer Ebene die EU
gerecht. Dabei wird nicht verkannt, dass neben der EU noch eine supranati-
onale Gemeinschaft fortbesteht: die EAG (Euratom) 11 . Sie war und ist bis-
lang schon neben der EG vergleichsweise unbedeutend, was sich durch die
weitere Entwicklung noch verstärken wird, weswegen sie in diesem Studi-
enbrief nicht näher betrachtet wird.
Unionsrecht ist das primäre und sekundäre Recht der Europäischen Union,
wie es vor allem in deren Verträgen – EUV, AEUV, Charta der Grundrechte
der EU niedergelegt ist (Primärrecht) oder aus ihnen im Wege der Recht-
setzung hervorgegangen ist (Sekundärrecht); einschließlich des unge-
schriebenen Rechts (wie es sich aus den allen mitgliedstaatlichen Rechts-
ordnungen gemeinsamen Grundsätzen ergibt) und des durch die dafür
berufenen Organe (insbesondere den EuGH) im Wege der Auslegung oder
Fortbildung entwickelten Rechts. Dabei werden auch die in Art. 290 und
291 AEUV erwähnten Rechtsakte miterfasst, die bisweilen als Tertiärrecht
qualifiziert werden.
1.3 Grundlagen der Anwendung des Unionsrechts
Die Anwendung des Unionsrechts ist wesentlich geprägt durch drei grund-
legende Erkenntnisse der europäischen Rechtsordnung, die Sie bereits an
anderer Stelle kennengelernt haben. Diese haben als Grundsätze und Leitli-
9 Der Staat weist drei Elemente auf: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt. Die EU erfüllt
bei allen drei Elementen die Anforderungen nicht vollständig.
10 Vgl. Marauhn, Unionstreue, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, S. 285ff. (287f.)
11 Vgl dazu eingehend: Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rz. 1ff. 4.

1 Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtskontrolle im supranationalen Kontext
nien wesentliche Bedeutung für die Anwendung des Unionsrechts; ihr Ver-
ständnis ist für die Praxis der Rechtsanwendung im Einzelfall unerlässlich.
Daher müssen sie hier unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für das
Phänomen der Rechtsanwendung ins Gedächtnis gerufen und vertieft wer-
den.
1.3.1 Vorrang der EU-Rechtsordnung
Das Unionsrecht ist eine eigene Rechtsordnung, die unabhängig von den
Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten besteht, vorrangig gilt und von den
Gerichten der Mitgliedstaaten angewendet werden muss. Dies hat der
EuGH 1964 in der epochalen Entscheidung Costa/ENEL zum damaligen Ge-
meinschaftsrecht der EWG ausgesprochen. 12 Diese Erkenntnisse sind nun-
mehr auf die EU als Rechtsnachfolgerin der EWG und der EG uneinge-
schränkt zu übertragen.
Für die Anwendung des Unionsrechts führt diese Erkenntnis zu drei Fest-
stellungen:
1. Die Erkenntnis betrifft zunächst die Qualität der EU-Rechtsordnung.
Für sie gelten die Regelungen des Völkerrechts ebenso wenig wie
die des innerstaatlichen Rechts. Das Unionsrecht ist vielmehr eine
eigenständige Rechtsordnung, für deren Anwendung und Kontrolle
grundsätzlich eigene Regeln gelten.
Da ein Nebeneinander von Rechtsordnungen ohne die Festlegung ihrer
Hierarchie nicht hinnehmbar ist, hat
2. diese Erkenntnis Auswirkungen auf die Geltung der Unionsrechts-
ordnung; und zwar zunächst auf die Geltung als solche.
Das Unionsrecht ist von der EU, ihren Mitgliedstaaten und den Uni-
onsbürgern (vorrangig) zu beachten; das Unionsrecht genießt allgemeine
Geltung. 13
Da rechtliche Konflikte nur ausnahmsweise mit allgemeinen Prinzipien,
regelmäßig aber durch konkrete Normen entschieden werden, kann die
Frage nach dem Vorrang nur bei der Anwendung jeder einzelnen Bestim-
mung beantwortet werden. Daher hat
3. diese Erkenntnis schließlich Konsequenzen für die Geltung jeder
einzelnen im konkreten Fall in Betracht kommenden Vorschrift. Das
nennen wir das Prinzip der vorrangigen Anwendung des Unions-
rechts.
Die Anwendung der Rechtsvorschriften der EU (z.B. eines Artikels des EUV;
einer EU-Verordnung) ist an rechtliche Bedingungen geknüpft, die man als
12 EuGH-Urteil vom 15.4.1964 Slg. S. 1251; dazu Prümm/von Stoephasius, Grundzüge, S. .
13 So z.B. BVerfGE 31, 145 (147).
11

Günter Schmidt - Rechtsanwendung und Rechtskontrolle in der Europäischen Union
Beispiel
12
Anwendbarkeit bezeichnet; zumeist synonym auch als Wirkung. Die An-
wendbarkeit jeglicher Vorschrift kann nur unter Beachtung ihres jeweiligen
Tatbestands (das sind die Tatbestandsmerkmale, welche die Voraussetzun-
gen für die Rechtsfolge bilden) bestimmt werden. Allerdings gelingt das oft
nicht, ohne den Wortlaut der (unbestimmten Rechtsbegriffe) der Vorschrift
auszulegen, was wiederum nach den Prinzipien des Unionsrechts geschieht.
Dies kann man am Beispiel der Grundfreiheiten veranschaulichen.
Wenn Art. 34 AEUV von „Einfuhrbeschränkungen zwischen den Mitglied-
staaten“ spricht, so drückt der Vertrag damit aus, dass er die Warenver-
kehrsfreiheit für den Wirtschaftsraum gewährleisten will, der durch die
Außengrenzen der Mitgliedstaaten gezogen wird.
Wenn Art. 56 AEUV ein Verbot für „Beschränkungen des freien Dienstleis-
tungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die
in einem anderen Mitglieds als demjenigen des Leistungsempfängers an-
sässig sind“ aufstellt, so befreit das den niederländischen Estrichverleger
von einzelnen Erfordernissen, die das deutsche Handwerksrecht aufstellt.
Insoweit findet die deutsche Handwerksordnung auf ihn keine Anwendung
und das Unionsrecht geht vor. 14 Jedoch bleibt die Handwerksordnung als
deutsches Gesetz gültig: Sie wird dann angewendet, wenn die Tatbe-
standsvoraussetzungen des Art. 56 AEUV nicht vorliegen. Das ist z.B. dann
der Fall, wenn ein deutscher Handwerker seinen Beruf in Deutschland
ausübt. In diesem Sinne verallgemeinernd, versteht das Unionsrecht die
Grundfreiheiten als Vorschriften zur Befreiung der wirtschaftlichen Betäti-
gung über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg, aber innerhalb der
Außengrenzen derselben von Beschränkungen und folgert daraus das Tat-
bestandsmerkmal der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Betätigung.
15
Daher kann verallgemeinernd festgestellt werden:
Das Unionsrecht als europäische Rechtsordnung genießt Vorrang vor den
Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Dies betrifft sowohl die Geltung der
gesamten Rechtsordnung als auch deren einzelne Rechtssätze; diese ist von
der Frage der Anwendung im konkreten Einzelfall nicht zu trennen. Sofern
man dem Unionsrecht Geltungsvorrang zuspricht, ist damit nicht gleichzei-
14 Näheres dazu im EuGH-Urteil C-58/98 Slg. I 2000 S. 7919 (Corsten).
15 Näheres im Studienbrief /von Stoephasius, Die Rechtsgrundlagen des Binnenmarktes der
Europäischen Union, S. 17ff. Die Einzelheiten werden in Abschnitt 2.6.. ausgeführt.

1 Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtskontrolle im supranationalen Kontext
tig die Ungültigkeit der verdrängten Norm gemeint. 16 Das würde sowohl der
kasuistischen Souveränitätsübertragung (Art. 23 Abs. 1 GG) als auch dem
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung widersprechen; es stünde
schließlich auch dem Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 2 EG) entge-
gen.
Der Anwendungsvorrang gilt als Prinzip des Unionsrechts: Da nämlich die
vorrangige Geltung der Rechtsordnung ohne eine ebenso vorrangige An-
wendung ihrer Einzelbestimmungen eine leere Hülle wäre, verlangt das
Recht der EU ein verallgemeinerndes Prinzip der vorrangigen Anwendung
des Unionsrechts (Anwendungsvorrang). 17
Daher ist festzustellen: Unionsrecht besitzt grundsätzlichen Anwendungs-
vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Die Einzelheiten ergeben sich
aus der konkreten Vorschrift des Unionsrechts: Soweit die Tatbestands-
merkmale der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift reichen, ist für die An-
wendung jeglicher mitgliedstaatlicher Norm kein Raum. Nur außerhalb der-
selben können Vorschriften des mitgliedstaatlichen Rechts Anwendung
finden.
1.3.2 Unmittelbare Anwendbarkeit
Ein weiteres tragendes Prinzip der Rechtsanwendung in der EU ist die Ei-
genschaft mancher Vorschriften, auch für Privatpersonen unmittelbar an-
wendbar zu sein, zumeist wird synonym davon gesprochen, dass sie unmit-
telbare Wirkung besitzen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass das
Unionsrecht für den Mitgliedstaat grundsätzlich immer unmittelbar an-
wendbar ist, weil dieser Adressat des Rechtsanwendungsbefehls der EU ist.
So ist es gemeint, wenn davon die Rede ist, dass alle EU-Vorschriften unmit-
telbar anwendbar seien.
Für andere Rechtssubjekte, z. B. Privatpersonen, ist das nicht selbstver-
ständlich. Denn nur der Mitgliedstaat hat die Verträge geschlossen, folglich
wird auch nur er berechtigt und verpflichtet. Das Sekundärrecht entstammt
der supranationalen Gemeinschaft bzw. jetzt der EU, die beide keine
Staatsgewalt besitzen und daher nicht – wie ein souveräner Staat für sich in
16 Wie etwa bei Art. 31 GG, „Bundesrecht bricht Landesrecht“. Die Aussage zum Vorrang
des Gemeinschaftsrechts ist also vorrangig eine positive, bejahende zu Gunsten des
Gemeinschaftsrechts und nicht so sehr eine negative, verneinende zu Lasten des Rechts
der Mitgliedstaaten.
17 Die Darstellung folgt den aus den EuGH-Entscheidungen Simmenthal II (Slg. 1978 S. 629,
vor allem RdNr. 17f.) und Nimz (Slg. 1991 I S. 297, vor allem RdNr. 21) gezogenen
Erkenntnissen. Bezeichnenderweise äußert sich der EuGH nicht in Form des
Bekenntnisses für oder gegen eine wissenschaftliche Theorie, sondern spricht in
einzelnen Fällen von „nicht anwenden“, „to set aside“, „en laissant inappliquée“, was
dem Gesagten aber schon sehr nahe kommt. Aktuell zu diesem Komplex: Funke, DöV
2007, S. 733ff. (734f.)
13

Günter Schmidt - Rechtsanwendung und Rechtskontrolle in der Europäischen Union
Definition
14
Anspruch nehmen kann, ihr Recht als unmittelbar anwendbares auf private
Personen zu erstrecken.
Von UNMITTELBARER ANWENDBARKEIT DES UNIONSRECHTS ist in diesem
Studienbrief die Rede, wenn andere Rechtssubjekte als der Mitgliedstaat
berechtigt oder verpflichtet werden, ohne dass irgendein Umsetzungs-
oder Vollzugsakt durch ebendiesen Mitgliedstaat notwendig wäre.
Die Grundlagen, Voraussetzungen und Grenzen der unmittelbaren An-
wendbarkeit hat der EuGH erstmals 1963 in einer weiteren epochalen Ent-
scheidung festgestellt, indem das Gericht sie nach den Regeln der juristi-
schen Auslegungskunst aus der Vertragsnorm abgeleitet und entwickelt
hat.
In seinem Urteil in der Sache van Gend & Loos entwickelt der EuGH erst-
mals am Beispiel einer dem Primärrecht entnommenen Unterlassungs-
pflicht das Modell von gemeinschaftsrechtlichen – jetzt: unionsrechtlichen -
Rechtsvorschriften, die unmittelbar den Bürger eines Mitgliedstaates be-
rechtigen und im gleichen Zug den Mitgliedstaat verpflichten. Die an den
Mitgliedstaat gerichteten, aus dem Gemeinschaftsrecht stammenden
Pflichten bedürfen keines Vollzugsakts des Mitgliedstaats und können damit
von ihm auch nicht eingeschränkt oder verändert werden. 18
In den folgenden Jahren ist den Gemeinschaften vom EuGH in vielen Tätig-
keitsfeldern die Fähigkeit zuerkannt worden, für die Marktbürger 19 unmit-
telbares, weil nicht durch den Mitgliedstaat gemitteltes Recht zu setzen.
Dieses Recht ist direkt, also ohne zuvor durch die Mitgliedstaaten umge-
setzt worden zu sein, integraler Bestandteil der allgemein geltenden Ge-
meinschaftsrechtsordnung und wird damit unmittelbar auf alle Privaten -
angewendet. Hier liegt der Vorteil des supranationalen Rechts, das seine
Existenz konkret der Übertragung von Souveränität verdankt, nämlich dass
die supranationale Gemeinschaft -und jetzt ihre Rechtsnachfolgerin, die EU-
in der Lage ist, vollgültiges Sekundärrecht zu setzen und unmittelbar zur
Anwendung zu bringen.
Daneben kennt das Unionsrecht indes auch Vorschriften, die nicht die Ei-
genschaft besitzen, unmittelbar anwendbar zu sein. Dabei handelt es sich
zunächst um solche Vorschriften, die etwa wegen ihres unverbindlichen
18 Urteil vom 5. Februar 1963, Slg. 1963 S. 3.
19 Marktbürger sind die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten , sofern sie sich auf die
Vorschriften des Binnenmarktes berufen.

1 Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtskontrolle im supranationalen Kontext
Inhalts dafür nicht geschaffen sind: Primärrecht oder Verordnungen, deren
Tatbestand keine unmittelbare Anwendung zulässt.
Der ehemalige Art. 3 Abs. 1 EG fasste in einem Katalog die Tätigkeitsberei-
che der EG zusammen. Die Vorschriften entsprachen einem Kompetenzka-
talog, für den unmittelbare Anwendbarkeit Art. 3 Abs. 1 lit. a EG die un-
mittelbare Anwendbarkeit ausschloss. Nunmehr sind die Art 3- 6 AEUV an
dessen Stelle getreten. Diese Kompetenzvorschriften verweisen auf detail-
lierte Bestimmungen (Art. 30ff. AEUV ), die ihrerseits Vorschriften mit
unmittelbarer Anwendbarkeit enthalten können (Art. 36 AEUV).
Daneben sind es die Richtlinien, die ja private Personen nicht berechtigen
oder verpflichten wollen (Art. 288 Abs. 3 AEUV), denn:
„Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet
wird, … verbindlich …“
Der Mitgliedstaat ist also Adressat der Richtlinie.
„… überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form
und der Mittel.“
Der Mitgliedstaat schafft erst durch die Umsetzung die Anwendbar-
keit.
Art. 288 Abs. 3 AEUV schweigt sich zu anderen Rechtssubjekten aus. Die ,
Unionsbürger, alle natürlichen Personen und juristische Personen des Pri-
vatrechts sind nicht Adressaten von Richtlinien. Diese Privatpersonen sind
es jedoch, für die allein die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit des
Unionsrechts relevant ist.
Richtlinien sind damit auf Private grundsätzlich nicht unmittelbar anwend-
bar. Dennoch können Richtlinien für Private Wirkungen entfalten. Das ist
regelmäßig dann der Fall, wenn der Mitgliedstaat seiner Umsetzungspflicht
innerhalb der von der Richtlinie bestimmten Frist nicht nachgekommen
ist. 20 Abgesehen vom Regelfall einer Staatshaftung kommt nur ausnahms-
weise – nämlich dann, wenn die Richtlinie bereits alle für einen Anspruch
nötigen Voraussetzungen enthält – eine unmittelbare Wirkung dieser Richt-
linie in Betracht. 21
Letztlich muss in jedem Einzelfall entschieden werden, ob die betreffende
primärrechtliche Vorschrift oder Verordnungsbestimmung auch andere
Rechtssubjekte, vor allem also Privatpersonen berechtigt oder verpflichtet.
20 EuGH Slg. I 1991 S. 5357 (Francovich); siehe eingehend Abschnitt 2.3.
21 Eine aktuelle Entscheidung des EuGH erläutert anschaulich, wie das nationale Recht mit
Richtlinien zu verfahren hat: EuGH (Große Kammer) Urteil vom 24. 1. 2012 – C-282/10;
abgedruckt in NJW 2012, 509ff (Maribel Dominguez).
Beispiel
15

Günter Schmidt - Rechtsanwendung und Rechtskontrolle in der Europäischen Union
Literaturverzeichnis
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