Gedenktafel - carocktikum.de
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viel geliebte Bibliothek, o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rerseits in <strong>de</strong>r Klinik. Hier hielt er sich am liebsten im<br />
Wachsaal bei <strong>de</strong>r Krankenbeobachtung auf o<strong>de</strong>r im Dienstzimmer, völlig hingegeben <strong>de</strong>n<br />
Gedanken einer möglichen Perfektionierung <strong>de</strong>r Krankenaufzeichnungen, ihrer Führung<br />
und Gruppierung. Das wollte er möglichst immer allein erledigen, <strong>de</strong>nn er hegte die Überzeugung<br />
<strong>de</strong>s frenetischen Sammlers, außer ihm könnte niemand es wirklich richtig machen.<br />
Politisch soll Kraepelin anfangs <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie und <strong>de</strong>n Arbeiterfragen sehr zugeneigt<br />
gewesen sein. Sehr gut möglich, dass dies in seine Leipziger Phase fiel, <strong>de</strong>nn im<br />
›Roten Sachsen‹, einem Grundpfeiler <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokratie in <strong>de</strong>n Anfangsjahren<br />
<strong>de</strong>s Wilhelminischen Reiches, wäre ein solcher Einfluss <strong>de</strong>nkbarer als in Mecklenburg-<br />
Strelitz, Franken o<strong>de</strong>r im nie<strong>de</strong>rschlesischen O<strong>de</strong>rwald. Zunehmend öffnete er sich jedoch<br />
<strong>de</strong>m anschwellen<strong>de</strong>n Nationalismus und Chauvinismus völkisch-<strong>de</strong>utschtümeln<strong>de</strong>r Kräfte.<br />
Dies konnte sogar so weit führen, dass er internationale Tagungen und Versammlungen<br />
boykottierte, bei <strong>de</strong>nen statt Deutsch Französisch die Konferenzsprache war. Zu diesem<br />
übersteigerten Patriotismus traten ausgeprägte absolutistisch-autoritäre, sittlich-puritanische,<br />
das Bildungsbürgertum extrem glorifizieren<strong>de</strong> Ten<strong>de</strong>nzen, mitunter sogar latent rassische<br />
Vorbehalte. Damit allerdings bil<strong>de</strong>te Kraepelin keinesfalls eine Ausnahme in <strong>de</strong>r<br />
europäischen Wissenschaftslandschaft <strong>de</strong>r ersten Jahrzehnte <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Die Zeit<br />
vor <strong>de</strong>m einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ereignis <strong>de</strong>s verlorenen Weltkrieges erscheint ihm im Rückblick<br />
als eine Epoche <strong>de</strong>r Sicherheit, <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r Gerechtigkeit, für die die auserwählte<br />
Person Otto von Bismarcks (1815-1898) Garant gewesen sei, <strong>de</strong>m er das Attribut „größter<br />
Staatsmann seines Jahrhun<strong>de</strong>rts“ zuerkennt. Während <strong>de</strong>s Krieges engagiert sich <strong>de</strong>r Münchener<br />
Professor einige Zeit politisch, 1916/17 sieht er das Reich in akuter Gefahr, verfolgt<br />
sogar Umsturzpläne gegen <strong>de</strong>n Kanzler Theobald von Bethmann-Hollweg (1856-1921).<br />
Danach, so in <strong>de</strong>r Räteherrschaft, „die wahllos Gesin<strong>de</strong>l aller Art in die verantwortungsvollsten<br />
Ämter hineinspüle” und in <strong>de</strong>r schon <strong>de</strong>r Sozialismus-Kommunismus entstehe,<br />
meinte er alle <strong>de</strong>utschen Werte verloren gehen zu sehen. Eine führen<strong>de</strong> Staatsleitung sei<br />
nicht mehr gegeben, es walte nur noch <strong>de</strong>r Kleingeist von Parteiengesinnung, so schätzte<br />
Kraepelin unzufrie<strong>de</strong>n ein. Wohl resigniert, zog er sich wie<strong>de</strong>r zurück in die Wissenschaft,<br />
in <strong>de</strong>r Überzeugung, so einen besseren Dienst am Volke leisten zu können.<br />
Über nahezu 30 Jahre seit Mitte <strong>de</strong>r 1890er Jahre bis zu seinem To<strong>de</strong> beeinflusste<br />
Kraepelin die Meinungsbildung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Psychiatrie wie es vor ihm wohl nur<br />
Wilhelm Griesinger (1817-1868) und nach ihm nieman<strong>de</strong>m mehr gelang. Er hatte die unbestrittene<br />
Führungsposition inne und sein Konzept verkörperte <strong>de</strong>n maßgeblichen Reibungspunkt<br />
für an<strong>de</strong>re Meinungen.<br />
Bis zuletzt mutete er sich als 70-Jähriger ein volles Arbeitspensum zu. Die letzten Vorhaben<br />
galten <strong>de</strong>r Errichtung eines Institutsneubaus für seine Forschungsanstalt, die immer<br />
noch in Räumen <strong>de</strong>r Universitätsklinik untergebracht war, was auch <strong>de</strong>n Anlass zu Reibereien<br />
mit seinem Lehrstuhl-Nachfolger Oswald Bumke (1877-1950) bot. Zur Rekrutierung<br />
dafür notwendiger Geldmittel wur<strong>de</strong> eine weitere Annäherung an die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft<br />
erreicht und an die Rockefeller-Foundation angebahnt. Kraepelin plante auch<br />
wie<strong>de</strong>r längere Reisen in die USA, nach Indien und Ceylon zur Durchführung ethnopsychiatrischer<br />
Forschungen. Auch die Konzipierung und Nie<strong>de</strong>rschrift einer neunten Auflage<br />
seines Lehrbuches for<strong>de</strong>rte beson<strong>de</strong>re Anstrengungen. Am 4. Oktober 1926 konnte er<br />
Band 2 abschließen, drei Tage später erlag er einer Grippe-Pneumonie.<br />
Anschrift <strong>de</strong>s Verfassers:<br />
Priv.-Doz. Dr. Holger Steinberg, Universitätsklinikum Leipzig, Archiv für Leipziger<br />
Psychiatriegeschichte an <strong>de</strong>r Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Johannisallee 20,<br />
04317 Leipzig<br />
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