Gedenktafel - carocktikum.de
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<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Geisteskrankheiten nur dann verstan<strong>de</strong>n und unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />
könne, wenn man davon abkäme, eine Einteilung auf <strong>de</strong>r Grundlage irgendwann sich bei<br />
<strong>de</strong>n Patienten zeigen<strong>de</strong>r Symptome vorzunehmen. Vielmehr sei die Beobachtung <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Kranken während ihres gesamten, nicht selten lebenslangen Krankheitsverlaufs notwendig,<br />
um so immer gleiche Muster zu erkennen, die jeweils verschie<strong>de</strong>ne Erkrankungsbil<strong>de</strong>r<br />
repräsentierten. Womöglich entschei<strong>de</strong>nd durch ein persönliches Gespräch mit <strong>de</strong>m<br />
Görlitzer Anstaltsdirektor Kahlbaum während seiner schlesischen Monate in Leubus verlegt<br />
sich Kraepelin immer mehr auf diesen Forschungsansatz. Experimentalpsychologie<br />
und pathologische Hirnanatomie <strong>de</strong>nkt er sich als weitere notwendige Hilfswissenschaften,<br />
die durch Forschung auf ihrem Gebiet zu <strong>de</strong>n gleichen Krankheitseinheiten führen müssten.<br />
Es konstituiert sich Kraepelins theoretisches Konzept seiner pluridimensionalen klinisch-empirischen<br />
Psychiatrie heraus.<br />
Zunehmend <strong>de</strong>primieren ihn jedoch die Isolation vom Deutschen und <strong>de</strong>m wissenschaftlichen<br />
Verkehr, was durch die in zunehmen<strong>de</strong>m Maße restriktive Russifizierung <strong>de</strong>s<br />
gesamten Dorpater Universitätslebens noch verstärkt wird. So kann er ohne Hilfe von<br />
Dolmetschern auch keine eingehen<strong>de</strong>n Gespräche mit seinen Patienten führen. Längere<br />
Reisen während <strong>de</strong>r Semesterferien vor allem nach Mittel- und Sü<strong>de</strong>uropa können nicht<br />
länger ein adäquater Ersatz dafür sein. Briefwechsel, so mit Wundt, berichten von <strong>de</strong>r<br />
Hoffnung auf eine baldige Rückkehr aus <strong>de</strong>m „Exil“ in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Sprachraum.<br />
Diese erfüllt sich mit <strong>de</strong>r Berufung auf <strong>de</strong>n Lehrstuhl <strong>de</strong>r renommierten Universität<br />
Hei<strong>de</strong>lberg, <strong>de</strong>n er zum Frühjahrssemester 1891 übernimmt. Hier nun sollte Kraepelin <strong>de</strong>n<br />
Höhepunkt seines wissenschaftlichen Schaffens erreichen: „Der Kraepelin, <strong>de</strong>ssen Psychiatrie<br />
sich die Welt eroberte, ist <strong>de</strong>r Hei<strong>de</strong>lberger Kraepelin.“ Die vornehmlich hier verfassten<br />
Editionen seines ‚Lehrbuches <strong>de</strong>r Psychiatrie’ repräsentieren diesen Gipfel. Darin<br />
führt er seine klinisch-empirische Psychiatrie erstmals breit aus und entwickelt seine Klassifikation<br />
<strong>de</strong>r psychischen Krankheiten mit <strong>de</strong>r bekannten Zweiteilung <strong>de</strong>r endogenen<br />
Psychosen, <strong>de</strong>s Manisch-Depressiven Irreseins und <strong>de</strong>r Dementia praecox, die ein Vorgängerkonzept<br />
<strong>de</strong>r heutigen Gruppe <strong>de</strong>r Schizophrenien darstellt. In Hei<strong>de</strong>lberg als Direktor<br />
einer über 110 Betten verfügen<strong>de</strong>n Universitäts-Irrenklinik will er nun das in Dorpat theoretisch<br />
begrün<strong>de</strong>t Konzept praktisch umsetzen. Er lässt die Klinik umbauen und richtet<br />
Räume für wissenschaftliche Laboratorien ein, vor allem aber große Wachsäle, in <strong>de</strong>nen<br />
eine große Anzahl von Kranken rund um die Uhr wissenschaftlich beobachtet wer<strong>de</strong>n<br />
kann. Es entstehen umfangreiche Krankenakten. Für je<strong>de</strong>n Patienten legt er außer<strong>de</strong>m<br />
eine Zählkarte an, auf <strong>de</strong>r er die wichtigsten Hinweise über <strong>de</strong>n Verlauf <strong>de</strong>r Erkrankung<br />
vermerkt. Im Laufe <strong>de</strong>r Jahre entsteht so eine Sammlung mehrerer Tausend Zählkarten,<br />
die <strong>de</strong>r Forscher nun nach gleichartigen Verläufen ordnet und so tatsächlich auf unterscheidbare<br />
psychische Erkrankungen schließt, vor allem für das große, bis dahin unklare<br />
Gebiet <strong>de</strong>r endogenen Psychosen. Seine eigene Klinik baut Kraepelin um zu einer diagnostischen<br />
Durchgangsstation, die es erlaubt, Patienten schon im Frühstadium ihrer Erkrankung<br />
aufzunehmen und forscherisch bekannte Fälle schnell in an<strong>de</strong>re badische Anstalten<br />
weiter zu verlegen. Deren Spätphase o<strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>r Erkrankung beobachtet und vermerkt<br />
er auf seinen Zählkarten während jährlicher Besuche in <strong>de</strong>n betreffen<strong>de</strong>n Einrichtungen.<br />
Allerdings muss Kraepelin die Basis seiner wissenschaftlichen Forschungen zunehmend<br />
gefähr<strong>de</strong>t sehen, <strong>de</strong>nn er ist immer weniger in <strong>de</strong>r Lage, chronische, forscherisch weniger<br />
interessante Fälle unbürokratisch an Folgeeinrichtungen abzugeben. Die badischen<br />
Anstaltsdirektoren wehren sich erfolgreich dagegen, Erfüllungsgehilfen <strong>de</strong>s Hei<strong>de</strong>lberger<br />
Professors zu sein und ihre Kliniken zu Verwahranstalten wer<strong>de</strong>n zu lassen. Dies führt zur<br />
Überfüllung <strong>de</strong>r Kraepelinschen Universitätsklinik und zur Unmöglichkeit neue Patienten<br />
aufzunehmen. Kraepelin kann die Sammlung seiner Zählkarten nicht vervollständigen, seine<br />
Krankheitsklassifikation nicht auf eine noch breite Datengrundlage stellen und ihm<br />
sich klar offenbaren<strong>de</strong> Fehlschlüsse berichtigen.<br />
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