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Lebenswege - Hagia Chora Journal

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<strong>Lebenswege</strong>Geomantie auf dem Anwesender Gemeinschaft Tollense LebensparkSabine MayerGemeinsam mit Bewohnerinnen und Bewohnern erkundete Sabine Mayer das verwilderteAnwesen der Gemeinschaft „Tollense Lebenspark“ in Alt Rehse am Tollensesee in Mecklenburg.Es enstand ein „Lebensweg“, der die Themen der bewegten Ortsgeschichte aufgreift.Eine holprige Pflasterstraße ist derRest des Wegs nach Alt Rehse. Derkleine Ort liegt in Mecklenburg-Vorpommernan einem wunderbaren See, demTollensesee, mit seinem geheimnisvollen,tiefen, klaren Wasser und kaum besiedeltenUfern, eingebettet in die sanften Hügeleiner Endmoränen-Landschaft. Hier wohntdie Stille. Hier begegnet man einem alten,starken Land, hier regen sich uralte Geschichtenund Mythen.Martin Bürkle, der seit zwei Jahrenin Alt Rehse lebt, berichtete mir von derGeschichte des Orts: „Nachdem die letzteEiszeit Landschaft und See geformt hat,lebten hier schon bald Menschen in deneinst ausgedehnten Eichenwäldern amfischreichen Wasser. Schließlich waren esüber Jahrhunderte germanische, genauer,burgundische Stämme. Sie machten sichschon hundert Jahre vor der eigentlichenVölkerwanderung auf den Weg nach Südwesten,und noch lange erzählten sie in ihrerneuen Heimat Burgund von jenem sagenhaften‚Nifelheim‘, dem Nebelland imNorden: die ‚Nibelungen‘. Sie hatten hierihre Wurzeln und hinterließen hier ihreEnergie: männlich, kraftvoll, unruhig.In das nach ihrem Auszug fast menschenleereGebiet wanderten im 2. Jahrhundertslawische Stämme ein. Ihr kultischesund politisches Zentrum, dassagenhafte ‚Rethra‘, wird von den meistenForschern im See genau gegenüber von AltRehse vermutet: Zwischen Fischerinsel undLieps, geschützt durch Wasser und Sümpfe,lag die ganz aus Holz gebaute „Stadt“,deren verschiedene Zentren durch Brückenverbunden waren und deren Herz der Tempeldes doppelköpfigen Gottes Swarozicwar. Ein weißes Pferd diente als Orakeltier.Noch Jahrhunderte nachdem ganz Eu-ropa längst christianisiert war, hielten hierdie wendischen Slawen unbeugsam an ihrerKultur fest und wussten sich (zuweilenauch grausam) zu wehren. Wenig weißder Historiker über sie. Wo keine Schriftenund keine Steine Zeugnis geben, gibt esder Geschichtsschreibung der Sieger wenigentgegenzusetzen. Und die leisteten im12. Jahrhundert ganze Arbeit: Stadt undHeiligtum wurden zerstört, der Abflussder Tollense wurde angestaut, so dass diezerstörten Reste Rethras buchstäblich untergingenund schon wenige Jahrzehntespäter niemand mehr wusste, wo Rethraeigentlich gelegen hatte. Aber seine Kraftlebt hier noch und umfängt dich, wenndu auf den See hinausblickst: schwermütige,dunkle, erdige Kraft mit überraschendstarken weiblichen Anteilen …Nun kultivierten ‚deutsche‘ Siedler daswieder fast entvölkerte Gebiet. Jetzt wird34 <strong>Hagia</strong> <strong>Chora</strong> 29 | 2008


p r a x i sBei meinem ersten Besuch im Juni 2006stand ich nun vor diesem nicht gerade ästhetischenEisentor. Mich beeindruckte vorallem die imposante Lindenallee, die vomTor zu den Häusern führt. Überall stehenhier Linden, hundertjährige Linden, nochvon Baron Hauff gepflanzt. Hat er sie gepflanzt,um nicht gelebte Liebe auszugleisa b i n e m a y e rgerodet und urbar gemacht – jetzt etabliertsich immer mehr (wie in ganz Mecklenburg)das System ausgedehnter Rittergüter,auf denen die Menschen weitgehendin Leibeigenschaft unter den kirchlichenund adeligen Feudalherren lebten. Undauch das wohnt hier: die Opferhaltung derStummen, Geduckten, Mittellosen.Der letzte in der Reihe der Feudalherrenvon Alt Rehse, Ludwig von Hauff,baute Ende des 19. Jahrhunderts am Hangzum See ein Schloss und legte einen herrlichen,ungewöhnlich großen Landschaftsparkan. Lange konnte sich seine Familiedaran nicht erfreuen: 1934 enteignetendie neuen Machthaber das Gelände undmachten das Dörfchen dem Erdbodengleich, um es als Musterdorf mit reetgedecktenFachwerkhäusern wieder aufzubauen.In den Park setzten sie im gleichenStil Unterkunfts- und Schulungshäuserfür die ‚Führerschule der deutschen Ärzteschaft‘,in der von 1935 bis 1942 in Intensivkursenrund 12 000 Ärzte, Hebammen,Schwestern und Apotheker geschult wurden.Geschult im Erkennen und Aussortierenvon Menschen, die als Schädlinge undSchmarotzer im ‚Volkskörper‘ galten. Hierwurde Euthanasie zwar nicht praktiziert,aber gelehrt und tausendfach in die Arztpraxenhinein vermittelt. Auch das lebtweiter: die Energie der Selektion, des Herrenmenschen… Wie so oft hatten sich dieNazis für einen wichtigen Platz einen ausgesprochenenKraftort ausgesucht. Zwarscheinen die ‚darunterliegenden‘ Energienungleich mächtiger als das, was sie ‚draufgesattelt‘haben – aber ihr Feld ist dennochimmer noch spürbar. Zumal nach derZeit, als ein SS-Wachposten am Tor zumPark stand, über Jahrzehnte das Geländeweiterhin von uniformierten Männerbündenbesetzt war – nur die Uniformendes Wachpostens wechselten: erst die Russen,dann die NVA, dann die Bundeswehr.Dann hatte die Natur (gnädigerweise) achtJahre lang den Park wieder für sich – undan manchen Stellen kann man studieren,wie schnell ein Urwald entsteht.Erst seit zwei Jahren ist das Tor offen,seit eine Gemeinschaft auf der Suche nacheinem Platz für ein neues Miteinander denOrt entdeckte und ihn als ‚Lebenspark‘ allmählich‚instandbewohnt‘.“<strong>Hagia</strong> <strong>Chora</strong> 29 | 2008 35


chen? Sind sie da, um genau das zu zeigen,was hier gelebt werden will? Die se Fragenbeschäftigen auch als gelebte Alltagsfragendie dort ansässigen Menschen der Lebensgemeinschaft.Mit der Zeit lernte ichsie kennen. Einige waren neugierig aufgeo mantische Arbeit, andere eher skeptisch.Ich war ursprünglich von langjährigenFreunden, die inzwischen im TollenseLebenspark lebten, „einfach so“ (wennauch nicht ganz ohne Hintergedanken)eingeladen worden. Am Ende wurde ausdem Besuch geomantische Arbeit.Während meines zweiten Besuchs imSpätsommer 2007 wurde gerade der Umgangmit dem stark verwilderten Park undden Baumbeständen heiß diskutiert: Dieeinen bangten um den Zauber des Unberührten,die andern sahen, wie der wucherndeWald den alten Landschaftsparkallmählich erstickte. Es war spannend,mitzuerleben, wie das anfängliche Unverständnisbeider Parteien allmählich zueinem gegenseitigen Verstehen und einemkonstruktiven Dialog wurde – viel mehrdurch gelebte, liebevolle Nähe als durchArgumente. Heute ist es nur noch gutmütigerFlachs, wenn man sich gegenseitigaufzieht als Angehörige der „Chlorophyll-Mafia“ oder der „Kettensägen-Fraktion“.Ich durfte in dieser Anfangsphase dabeisein und an einem achtsamen Umgangmiteinander und mit der lebendigen Landschaftim Park mitwirken. Ich erlebte, wiedas Eis gebrochen wurde und eine Entwicklungbegann, die lebendige MutterErde, Gaia, die umgebende Natur, mit anderenAugen zu sehen.Begegnung mit den SchattenIn Alt Rehse kommt man unweigerlich inKontakt mit einer Geschichte, die geradeuns Deutschen immer wieder begegnet:die Niederschlagung von Andersdenkenden,von anders fühlenden und anders lebendenMenschen. Sei es die gewaltsameNiederschlagung des Reichs des Slawenoder die Ausarbeitung von Massenvernichtungsmethodendurch medizinischeVersuche – das Vergangene ist hier immernoch wahrnehmbar. Martin Bürkleschreibt dazu:„Feinfühlige Männer beschreiben es alsfatale Anziehungskraft für Gewalt- undMissbrauchsphantasien. Aber auch alsFaszination vom wildem, ungebändigtenLeben in der eigenen Tiefe. Frauen mit Gespürwerden von fast lähmenden AngstundOhnmachtsgefühlen heimgesuchtoder von dem Sehnen nach tief gefühlterweiblicher Urkraft. Uns sucht ja nur heim,was eine Resonanz in uns hat, was als Unintegriertesin uns lebt. Der Platz zwingtzur Auseinandersetzung mit dem eigenenSchatten, dem nicht Integrierten, dem ungelebtenLeben, dem Abgespaltenen, Verleugneten.Wer an diesem Platz lebt – daserleben wir hier teils schmerzhaft – dermuss sich entweder seinen Themen stellen– oder der Platz vertreibt ihn.“Diese erlebte Geschichte kann auch einenOrt sprachlos machen. Es gibt im Parkeinen Platz, der dies zum Ausdruck bringt.Ich nannte ihn den „Platz der verstummtenSprache“. Es fällt mir nicht leicht, ihn zubeschreiben: Dort herrscht eine stummeund stille Trauer. Eine mahnende Trauer,die keine Worte hat. Ein Bild erscheintvon Gestalten in weißen Kleidern. Sie stehenstumm hinter ihren Körpern, die ausgeblutetund angepflockt vor ihnen aufgestelltsind.Es sind die Seelen der stummen Frauen,die geopfert wurden für einen Gott, derkeiner ist. Was habt ihr getan? Wozu? DieSprachlosigkeit bleibt. Zwei Birken mahnenund deuten die Frauen in Weiß mitihren verstummten Mündern an. Es gibtkeinen Sinn für das, was geschehen ist.„Kehre um, und liebe alles was ist.“ – Dashörte ich als Botschaft dieses Orts. Alleindie alles durchdringende Liebe, diealles erschaffenden Güte der Erdenseele,kann diesen Platz erneuern und wiederbeleben.Ich spürte, wie mich die Themen diesesOrts persönlich berührten. So geht es auchden Menschen, die dort leben oder zu Besuchkommen. Nicht umsonst ist man hier.Der Platz verändert, macht wach und fordertzu Ehrlichkeit auf. Für mich ist hiereine hochentwickelte Schicht der Erdseelewahrnehmbar, die zu Eigenarbeit auffordert,ja fast schon dazu zwingt.Aus der Stille das Neue findenIm Herbst 2007 machte ich mich nochmalsmit einem Freund zusammen auf denWeg nach Alt Rehse. Inzwischen war unserAuftrag dort konkreter. Es sollten Bäumemarkiert werden, die gefällt werdenkonnten. Der sogenannte schwarze Weg,ein Fußweg, der in der NVA-Zeit teilweisedurch Bunkerbauten zerstört worden war,sollte im letzten Teilstück eine neue Trasseerhalten, und eine Sichtschneise durchden Park zum See sollte geomantisch geortetwerden.Mein erster Impuls nach der Ankunftwar, zum „Platz der Wahrheit“ zu gehen.Dort zeigte sich ein inneres Bild unserer„Arbeitsutensilien“ – ein bisschen mystisch,romantisch fast: Kelch und Schwert.Sie deuteten auf einen Themenkomplex,der für diesen Platz wichtig ist: Liebe,Klarheit und Präsenz.Als wir von diesem Platz zurück in denSpeisesaal im Schloss kamen, hatten wirdie Wahrnehmung, in ein schwarz-weißgrauesFeld einzutauchen. Alles war ineinen grauen Schleier eingetaucht. Nurab zu brachten bunte Felder, die präsenteMenschen umgaben, Leben in den Raum.Wo war die Lebendigkeit der Kreativität?Gelebte Kreativität als ein wesentlicherFreiheitsaspekt wurde in unserer Geschichteimmer wieder zu einer staatsgefährlichenAngelegenheit erklärt. Die Auswirkungensolcher Repressalien scheinenhier an diesem Ort besonders spürbar zuwerden und sind für die Gemeinschaft eineständige Herausforderung. Zu den bereitsaufgetauchten Themen gesellte sich alsonoch die Kreativität.Präsenz bedeutet, in die Stille zu gehen.Als wir uns darauf einließen, wurdew w w . t o l l e n s e-le b e n s p a r k . d e36 <strong>Hagia</strong> <strong>Chora</strong> 29 | 2008


p r a x i s<strong>Hagia</strong> <strong>Chora</strong> 29 | 2008 00

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