125 Jahre Regionalspital Praettigau Festschrift - Flury Stiftung

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10.07.2015 Aufrufe

92und zum Essen jeweils ein, vielleicht auch mal zwei Gläser Wein und vor demSchlafengehen nochmals eines – aber das ist ja nichts!»Und zum Dank für die gelungene Operation überreichte er mir eine Flascheselbstgebrannten Obstbranntwein, der so stark war, dass ich ihn nur therapeutischfür Alkoholwickel brauchen konnte. Hatte dann eines unserer Kinder einmalHalsschmerzen oder einen verstauchten Fuss, riefen sie nach einemWickel mit dem «Silvester – Schnaps».ÜberlistetEs war an einem Sonntag im Februar, ein wolkenloser Himmel zeigte sichüber den tiefverschneiten Bergen – kurz, ein Bilderbuchwetter für alle Wintersportler.Wir fragten uns gerade, wann wohl der erste Patient eintreffen würde.Da meldete sich unsere Pforte, eine deutsche Dame sei hier mit fraglicherFraktur am Oberarm.In der Notfallstation untersuchte ich die ca. 50-jährige schlanke, sportlicheFrau, welche über Schmerzen im rechten Schulterbereich, vor allem aber auchüber dem ganzen Brustkorb, klagte. Der Arm liess sich passiv erstaunlich gutbewegen, sodass ich eine Luxation des Schultergelenkes wie auch eine starkverschobene Fraktur eher ausschloss. Ein oder mehrere Rippenbrüche warenaber immer noch möglich, weshalb ich eine Röntgenaufnahme des Schultergelenkesund der oberen Rippen anordnete. Auf Wunsch der Patientin machteunsere Röntgenassistentin aber gleich eine Aufnahme des ganzen Brustkorbes,da «schon lange keine Thoraxaufnahme mehr gemacht worden sei.»Während das Röntgenbild entwickelt wurde, erzählte mir die Patientin, ihrEhemann sei Arzt und sie selbst würde ihm in seiner Praxis helfen – daherhabe sie auch einige Kenntnisse in Medizin. Und als die Röntgenassistentinmir mitteilte, das Bild könne in der Dunkelkammer betrachtet werden, nahmich die Arztfrau selbstverständlich mit, um gemeinsam nach Frakturen zusuchen. Aber was sah ich da? Im Oberarmkopf fand sich ein walnussgrosserDefekt; im Bereich der ganzen Lunge zahlreiche kleinere und grössere kreisrundeVerschattungen – es bestand kein Zweifel, dass hier ein bösartigerTumor mit Metastasen, das heisst Krebsablegern, vorlag. Ich konnte nur hoffen,dass die Patientin doch nicht so viel von Medizin verstand, um sich selbstdie Diagnose zu stellen. Die Aufklärung der Frau wollte ich eigentlich lieberdem Ehemann überlassen, doch dieser war nicht hier. Die Patientin war alleinmit einer Freundin zum Skilaufen gekommen. Ein unauffälliger Blick auf dasGesicht meiner Patientin zeigte mir aber sofort, dass keinerlei Aufklärungmehr nötig war – sie war ganz offensichtlich völlig im Bild. Unter Tränengestand sie mir dann, dass sie gar nicht gestürzt sei, sondern mit der Angabeder Schmerzen mich überlisten wollte, um eine Röntgenaufnahme zu machen.

93Sie wusste seit einem halben Jahr, dass sie an Knochenkrebs leide – ihr Ehemannwollte ihr aber nie die ganze Wahrheit über die Ausdehnung der Krankheitsagen. Und jetzt musste sie mit eigenen Augen zur Kenntnis nehmen, dassder Tumor gewachsen war und neue Metastasen aufgetreten waren.«Wie kann ich Ihnen helfen – brauchen Sie ein Mittel gegen die Schmerzen?»«Vielen Dank – die Schmerzen sind leicht zu ertragen. Aber eine Bitte habeich: sagen Sie meinem Mann nichts davon, dass ich bei Ihnen war. Er soll nichtwissen, dass ich weiss!»Wieder gefasst und mit stolz erhobenem Haupt verliess sie unser Spital. Ichaber schwor mir, dass ich nie mehr einem Patienten ein Röntgenbild zeigenwollte, bevor ich es selbst und allein angeschaut hatte.Die Prominenten«Hupsi»Eigentlich hiess er Hubert von Meyerinck, aber alle nannten ihn nur «Hupsi».Er war einer der grossen Schauspieler in Berlin, hatte zwei Weltkriege inDeutschland überlebt, spielte unter so berühmten Regisseuren wie Max Reinhardt,trat an allen grossen deutschen Bühnen und später vor allem in über 300Filmen auf. Er trat an der Seite von Schauspielerinnen auf, deren Namen unsauch heute noch bekannt sind, so zum Beispiel Marlene Dietrich, KätheDorsch, Marika Rökk oder Olga Tschechowa. Ich selbst sah ihn in Filmen ander Seite von «unserer» Liselotte Pulver – in Erinnerung bleibt mir seinekomische Rolle als General, bei dem immer alles «hoh-ruck, zack-zack» ging.Sein Markenzeichen war ein glänzender, glatt polierter Glatzkopf.Er war bereits 74-jährig, als er in seinem Winterurlaub in Klosters einen Herzinfarkterlitt. An einem trüben Wintertag brachte ihn die Ambulanz in unserSpital, wo er von meinem internistischen Kollegen untersucht und anschliessendauch betreut wurde. Fern von allen Aufregungen und ohne prominenteBesucher erholte sich Hupsi relativ rasch und konnte auch schon bald mobilisiertwerden – zuerst im Krankenhaus, wo er bald bei allen Schwestern undPflegerinnen dank seinem angeborenen Charme bekannt und beliebt war. Unddann kam der grosse Augenblick, wo der «Grand Seigneur» erstmals alleinseine weitere Umgebung, das heisst unser Dorf, erkunden konnte. Von seinemersten Spaziergang kam er mit geschwellter Brust und mit leuchtenden Augenins Spital zurück und erzählte mir voll Stolz:«Stellen Sie sich vor, Herr Doktor – auch in ihrem kleinen Dorf kennen michso viele Leute. Selbst die jüngere Generation hat offensichtlich meine Filmegesehen, weshalb mich auf der Strasse alle sehr herzlich grüssen.»Ich liess ihn im Glauben der Berühmtheit – ich brachte es einfach nicht über’sHerz, Hupsi aufzuklären, dass man in einem kleinen Dorf eben noch alle Leu-

92und zum Essen jeweils ein, vielleicht auch mal zwei Gläser Wein und vor demSchlafengehen nochmals eines – aber das ist ja nichts!»Und zum Dank für die gelungene Operation überreichte er mir eine Flascheselbstgebrannten Obstbranntwein, der so stark war, dass ich ihn nur therapeutischfür Alkoholwickel brauchen konnte. Hatte dann eines unserer Kinder einmalHalsschmerzen oder einen verstauchten Fuss, riefen sie nach einemWickel mit dem «Silvester – Schnaps».ÜberlistetEs war an einem Sonntag im Februar, ein wolkenloser Himmel zeigte sichüber den tiefverschneiten Bergen – kurz, ein Bilderbuchwetter für alle Wintersportler.Wir fragten uns gerade, wann wohl der erste Patient eintreffen würde.Da meldete sich unsere Pforte, eine deutsche Dame sei hier mit fraglicherFraktur am Oberarm.In der Notfallstation untersuchte ich die ca. 50-jährige schlanke, sportlicheFrau, welche über Schmerzen im rechten Schulterbereich, vor allem aber auchüber dem ganzen Brustkorb, klagte. Der Arm liess sich passiv erstaunlich gutbewegen, sodass ich eine Luxation des Schultergelenkes wie auch eine starkverschobene Fraktur eher ausschloss. Ein oder mehrere Rippenbrüche warenaber immer noch möglich, weshalb ich eine Röntgenaufnahme des Schultergelenkesund der oberen Rippen anordnete. Auf Wunsch der Patientin machteunsere Röntgenassistentin aber gleich eine Aufnahme des ganzen Brustkorbes,da «schon lange keine Thoraxaufnahme mehr gemacht worden sei.»Während das Röntgenbild entwickelt wurde, erzählte mir die Patientin, ihrEhemann sei Arzt und sie selbst würde ihm in seiner Praxis helfen – daherhabe sie auch einige Kenntnisse in Medizin. Und als die Röntgenassistentinmir mitteilte, das Bild könne in der Dunkelkammer betrachtet werden, nahmich die Arztfrau selbstverständlich mit, um gemeinsam nach Frakturen zusuchen. Aber was sah ich da? Im Oberarmkopf fand sich ein walnussgrosserDefekt; im Bereich der ganzen Lunge zahlreiche kleinere und grössere kreisrundeVerschattungen – es bestand kein Zweifel, dass hier ein bösartigerTumor mit Metastasen, das heisst Krebsablegern, vorlag. Ich konnte nur hoffen,dass die Patientin doch nicht so viel von Medizin verstand, um sich selbstdie Diagnose zu stellen. Die Aufklärung der Frau wollte ich eigentlich lieberdem Ehemann überlassen, doch dieser war nicht hier. Die Patientin war alleinmit einer Freundin zum Skilaufen gekommen. Ein unauffälliger Blick auf dasGesicht meiner Patientin zeigte mir aber sofort, dass keinerlei Aufklärungmehr nötig war – sie war ganz offensichtlich völlig im Bild. Unter Tränengestand sie mir dann, dass sie gar nicht gestürzt sei, sondern mit der Angabeder Schmerzen mich überlisten wollte, um eine Röntgenaufnahme zu machen.

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