IFF-Info Nr. 27, 2004 - IFFOnzeit

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10.07.2015 Aufrufe

Kerstin Petersenpolitischen und pädagogischenPrinzip der feministischen Arbeitmit Mädchen. 1 Parteilichkeit wurdevon Mitarbeiterinnen in FrauenundMädchenprojekten als Kernstückihrer grundsätzlichen Frauenorientierungbenannt, wobei dieparteiliche Haltung der Pädagoginnicht etwa so verstanden werdensollte, dass die Pädagogin vorbehaltlosalles, was Mädchen machen, alsgut und richtig erachten muss. Siebeinhaltet vielmehr, dass sie dieMädchen als Unterdrückte und Gewordenein ihrem Ist-Zustand vorurteilsfreiannimmt (vgl. Klees/Marburger/Schumacher 1989).Zentrale Aspekte der parteilichenHaltung einer Pädagogin sind demnach:• Mädchen zum Mittelpunkt despädagogischen Handelns zu machen;• den Mädchen jegliche Unterdrückungvon Frauen und Mädchenaufzuzeigen und diese zubekämpfen;• das Empfinden, Denken, Handelnund Verhalten der Mädchenzum jetzigen Zeitpunkt als dasmaximal Mögliche zu akzeptierenund wertzuschätzen;• die Bedürfnisse, Interessen,Wünsche, Lebensvorstellungenund Zukunftspläne von Mädchenaus deren Perspektive wahrund ernst zu nehmen;• pädagogische Hilfe zum Entdekkender eigenen Bedürfnisse undInteressen der Mädchen, zum Erwerbund zur Erweiterung derFähigkeit zur Selbst-Definitionund Selbst-Organisation und zurDurchsetzung ihrer Belange anzubieten;• ganzheitliche Gegenerfahrungenzu alltäglichen Diskriminierungenzu ermöglichen, damit dasSelbstvertrauen der Mädchenwächst, um beispielsweise eigeneLebenspläne zu entwerfen,oder über vorhandene Lebenspläneeigenständig entscheidenzu können.Die parteiliche Haltung der Pädagoginbeinhaltet damit, dass sie sich inihrer Zielsetzung, ihrem Verhaltenund Handeln an die Seite der Mädchenstellt, mit der Absicht, der täglichenoffenen und subtilen Diskriminierungvon Frauen und Mädchenentgegenzuwirken (vgl. Klees/Marburger/Schuhmacher 1989).Ein wesentlicher Punkt der Parteilichkeitals pädagogischem Grundsatzist, dass Frauen und Mädchenaus der Opferrolle herausgeführtwerden und von individuellenSchuldzuschreibungen, z. B. bei Gewalterfahrungen,befreit werden(vgl. Bitzan 1993a). Parteilichkeit bedeutetin diesem Zusammenhangaber auch, dass die gesellschaftlicheZuordnung von Eigenschaften, Fertigkeitenund Fähigkeiten von Menschenin „weibliche“ und „männliche“und die sich anschließende Abwertungweiblicher Eigenschaftenund Kompetenzen, durchbrochenund überwunden werden muss. Daim feministisch-pädagogischen Ansatzdavon ausgegangen wird, dassmenschliche Eigenschaften undKompetenzen nicht an einen männlichenoder weiblichen Körper gebundensind, ist es einerseits Aufgabeeiner feministischen Mädchenarbeit,den Mädchen Handlungsspielräumezu eröffnen, in denen sie sichsogenannte männliche Eigenschaftenund Kompetenzen aneignenkönnen, da diese Kapazitäten bislangnur durch die Erziehung zurWeiblichkeit in ihrer Person unterdrücktwurden. Anderseits ist esaber auch notwendig, die sogenanntenweiblichen Fähigkeiten der Mädchenaufzuwerten, um so das Selbstvertrauen,und das Selbstwertgefühlder Mädchen zu stärken. Damit diesepädagogischen Ziele erreicht werdenkönnen, bedarf es einerseits Pädagoginnen,die sich der formuliertenParteilichkeit „verpflichtet fühlen“(vgl. Klees/Marburger/Schuhmacher1989), anderseits aber auchneue (Frei-)Räume für eine solcheparteiliche pädagogische Arbeit.Konsequenterweise avanciertedamit der Anspruch, dass feministischeMädchenarbeit in geschlechtshomogenenRäumen und Gruppenstattfinden sollte, zu einer weiterenzentralen Prämisse des eigenenSelbstverständnisses. Als Vorteil einerpädagogischen Arbeit mit Mädchenin geschlechtshomogenenGruppen und Räumen wurde angesehen,dass die Mädchen lernenkönnen, sich gegenseitig wahrzunehmenund anzuerkennen. Durchdie Abwesenheit von Jungen entfälltdie ständige Präsenz männlicherWerte, Normen, Erwartungen undAnforderungen. Dass die geschlechtshomogenenGruppen undRäume frei von Jungen sind, bedeutetzwar nicht, dass das Klima in derMädchengruppe zwangsläufig harmonischist, doch sind Mädchen ingleichgeschlechtlichen Gruppeneher bereit, sich mit ihrer persönlichenEigenart und der Art andererMädchen auseinander zu setzen.Hier können sie eigenen Bedürfnissen,Empfindungen, Interessen,Kränkungen und Verletzungen Beachtungschenken, untereinanderProbleme und Schwierigkeiten austauschenund sich darüber gegenseitiganerkennen und bestätigen. Ingeschlechtshomogenen Gruppenbesteht für die Mädchen die Möglichkeit,sich von gesellschaftlichenRollenzuweisungen zu lösen. DiesenFreiraum können sie nutzen, umneue Verhaltensweisen auszuprobieren,ihre Handlungsmöglichkeitenzu erweitern und dadurch ihrSelbstbewusstsein und ihr Selbstvertrauenin ihre eigene Kompetenz zustärken. Mädchen, die so gestärkt inden Alltag gehen, können, so die44

Feministische Mädchenarbeit gestern und heuteAnnahme, mit den sie alltäglich umgebendenunterdrückenden Strukturenanders umgehen (vgl. Klees/Marburger/Schuhmacher 1989).2. Neuere theoretische Einflüsseauf die feministische MädchenarbeitDie feministische Mädchenarbeitwird bis heute – und dabei gleichsamimmer wieder von neuem – vontheoretischen Strömungen aus derFrauen- und Geschlechterforschungbeeinflusst; eine „Beeinflussung“die die feministische Mädchenarbeitselbst immer wieder zurkritischen Reflexion ihrer theoretischenPrämissen und ihrer praktischenUmsetzung „zwingt“. SeitAnfang der 1990er Jahre haben diebeiden Theorierichtungen der Konstruktionbzw. Dekonstruktion vonGeschlecht zunehmend Eingang inund Einfluss auf die Diskurse undTheorieentwicklungen der deutschenFrauen- und Geschlechterforschunggefunden. MöglicheKonsequenzen dieser theoretischenDebatten und des damit einhergehendenPerspektivenwechsels aufdie feministische Mädchenarbeitwurden bislang noch wenig beachtetund diskutiert. In den folgendenAbschnitten 3 und 4 soll diese Diskussionaufgenommen und einigezentrale und weiterführende Gedankenreflektiert werden. Zunächstjedoch werden noch einmal dieTheorierichtungen der Konstruktionund Dekonstruktion von Geschlechtzusammenfassend skizziert.2.1. Theorieansätze zur (De-)Konstruktion von Geschlecht(De-)konstruktivistische Theorieansätzefinden ihren Ausgangspunktdarin, dass sie die in der westlichenWelt vorherrschende Alltagstheorieder kulturellen Zweigeschlechtlichkeitin Frage stellen; eine Alltagstheorie,die davon ausgeht, dass dieGeschlechtszugehörigkeit eindeutig,naturhaft und unveränderbar ist: Imtäglichen Umgang wird ohne bewusstesÜberlegen impliziert, dassjeder Mensch entweder weiblichoder männlich ist, und dass das Geschlechtim Umgang eindeutig erkennbarist (Eindeutigkeit). Im Weiterensei die Geschlechtszugehörigkeitkörperlich begründet (Naturhaftigkeit)und gelte als angeborenund könne sich nicht ändern (Unveränderbarkeit).Diesem „unreflektierten“Alltagsdenken zufolge, „haben“Menschen ihr Geschlecht alsoein Leben lang, sie sind Männerund/oder Frauen, Mädchen und/oder Jungen. Es besteht weder dieMöglichkeit, einem anderem alsdem männlichen oder weiblichenGeschlecht anzugehören, noch gibtes die Möglichkeit, gar keinem Geschlechtanzugehören oder das Geschlechtzu wechseln (vgl. Kessler/McKenna 1978).Der Theorieansatz zur Konstruktionvon Geschlecht, wie er imdeutschen feministischen Kontextverwendet wird, steht in der Theorie-und Forschungstradition derEthnomethodologie, die ihr Forschungsinteresseauf die interaktiveKonstruktion von Zweigeschlechtlichkeitrichtet. Auf derEbene von Alltagwissen und Alltagshandelnfragt sie nach den Konstruktions-und Selbstkonstruktionsprozessenvon Geschlechtszugehörigkeitbei InteraktionsteilnehmerInnen.Die ethnomethodologischeGeschlechtersoziologie fandihren Ausgangspunkt bei Garfinkel(1967) und seiner Studie über„Agnes“, einer Mann-zu-FrauTranssexuellen. Dem ethnomethodologischenSelbstverständnis folgend,die eigene Gesellschaft hinsichtlichihrer alltagsweltlichen Normalitätzum erklärungsbedürftigenGegenstand zu machen, analysierteGarfinkel mit dieser Studie das Geschlechtzum ersten Mal als sozialproduzierte Kategorie. 1978 wurdedann die erste explizit feministischausgerichtete ethnomethodologischeStudie von Susanne J. Kesslerund Wendy McKenna vorgelegt. Inihrem Buch „Gender. An EthnomethodologicalApproach“ geht es denAutorinnen um eine generelle Perspektiveauf die Konstruktion vonGeschlecht in heutigen Gesellschaften.Dabei konkretisieren die beidenAutorinnen den Begriff des „doinggender“, ein Begriff, der in den darauffolgenden Diskursen der Frauen-und Geschlechterforschung denWeg zu einem völlig neuen Verständnisvon „Geschlecht“ eröffnenund prägen sollte.Der Theorieansatz der sozialenKonstruktion von Geschlecht gehtdavon aus, dass Geschlecht nichtetwas ist, was Individuen habenoder sind, sondern etwas, was sietun. Danach wird Geschlecht in jederalltäglichen Interaktion durchden Prozess der Geschlechtsdarstellung,der Geschlechtswahrnehmungund der Geschlechtszuschreibungkonstruiert, wobei das wahrnehmendeund einordnende Gegenüberden Hauptteil der „Konstruktionsarbeit“leistet. In diesem Ansatzwerden gesellschaftliche Machtverhältnisseauf die Ebene der sozialenKontrolle von InteraktionsteilnehmerInnenverlagert und sozialstrukturelleBedingungen ausschließlichunter dem Gesichtspunktder sozialen Handlungen vonIndividuen betrachtet (vgl. Wartenpfuhl1996). Aus dieser Sichtweiseheraus ist Geschlecht nicht etwas,was wir „haben“ oder sind, sondernetwas, was wir machen (vgl. Hagemann-White1993). In der westlichenWelt bewegen und verständigenwir uns nicht nur in einem„symbolischen System der Zweigeschlechtlichkeit“(Hagemann-Info 21.Jg. Nr.27/200445

Feministische Mädchenarbeit gestern und heuteAnnahme, mit den sie alltäglich umgebendenunterdrückenden Strukturenanders umgehen (vgl. Klees/Marburger/Schuhmacher 1989).2. Neuere theoretische Einflüsseauf die feministische MädchenarbeitDie feministische Mädchenarbeitwird bis heute – und dabei gleichsamimmer wieder von neuem – vontheoretischen Strömungen aus derFrauen- und Geschlechterforschungbeeinflusst; eine „Beeinflussung“die die feministische Mädchenarbeitselbst immer wieder zurkritischen Reflexion ihrer theoretischenPrämissen und ihrer praktischenUmsetzung „zwingt“. SeitAnfang der 1990er Jahre haben diebeiden Theorierichtungen der Konstruktionbzw. Dekonstruktion vonGeschlecht zunehmend Eingang inund Einfluss auf die Diskurse undTheorieentwicklungen der deutschenFrauen- und Geschlechterforschunggefunden. MöglicheKonsequenzen dieser theoretischenDebatten und des damit einhergehendenPerspektivenwechsels aufdie feministische Mädchenarbeitwurden bislang noch wenig beachtetund diskutiert. In den folgendenAbschnitten 3 und 4 soll diese Diskussionaufgenommen und einigezentrale und weiterführende Gedankenreflektiert werden. Zunächstjedoch werden noch einmal dieTheorierichtungen der Konstruktionund Dekonstruktion von Geschlechtzusammenfassend skizziert.2.1. Theorieansätze zur (De-)Konstruktion von Geschlecht(De-)konstruktivistische Theorieansätzefinden ihren Ausgangspunktdarin, dass sie die in der westlichenWelt vorherrschende Alltagstheorieder kulturellen Zweigeschlechtlichkeitin Frage stellen; eine Alltagstheorie,die davon ausgeht, dass dieGeschlechtszugehörigkeit eindeutig,naturhaft und unveränderbar ist: Imtäglichen Umgang wird ohne bewusstesÜberlegen impliziert, dassjeder Mensch entweder weiblichoder männlich ist, und dass das Geschlechtim Umgang eindeutig erkennbarist (Eindeutigkeit). Im Weiterensei die Geschlechtszugehörigkeitkörperlich begründet (Naturhaftigkeit)und gelte als angeborenund könne sich nicht ändern (Unveränderbarkeit).Diesem „unreflektierten“Alltagsdenken zufolge, „haben“Menschen ihr Geschlecht alsoein Leben lang, sie sind Männerund/oder Frauen, Mädchen und/oder Jungen. Es besteht weder dieMöglichkeit, einem anderem alsdem männlichen oder weiblichenGeschlecht anzugehören, noch gibtes die Möglichkeit, gar keinem Geschlechtanzugehören oder das Geschlechtzu wechseln (vgl. Kessler/McKenna 1978).Der Theorieansatz zur Konstruktionvon Geschlecht, wie er imdeutschen feministischen Kontextverwendet wird, steht in der Theorie-und Forschungstradition derEthnomethodologie, die ihr Forschungsinteresseauf die interaktiveKonstruktion von Zweigeschlechtlichkeitrichtet. Auf derEbene von Alltagwissen und Alltagshandelnfragt sie nach den Konstruktions-und Selbstkonstruktionsprozessenvon Geschlechtszugehörigkeitbei InteraktionsteilnehmerInnen.Die ethnomethodologischeGeschlechtersoziologie fandihren Ausgangspunkt bei Garfinkel(1967) und seiner Studie über„Agnes“, einer Mann-zu-FrauTranssexuellen. Dem ethnomethodologischenSelbstverständnis folgend,die eigene Gesellschaft hinsichtlichihrer alltagsweltlichen Normalitätzum erklärungsbedürftigenGegenstand zu machen, analysierteGarfinkel mit dieser Studie das Geschlechtzum ersten Mal als sozialproduzierte Kategorie. 1978 wurdedann die erste explizit feministischausgerichtete ethnomethodologischeStudie von Susanne J. Kesslerund Wendy McKenna vorgelegt. Inihrem Buch „Gender. An EthnomethodologicalApproach“ geht es denAutorinnen um eine generelle Perspektiveauf die Konstruktion vonGeschlecht in heutigen Gesellschaften.Dabei konkretisieren die beidenAutorinnen den Begriff des „doinggender“, ein Begriff, der in den darauffolgenden Diskursen der Frauen-und Geschlechterforschung denWeg zu einem völlig neuen Verständnisvon „Geschlecht“ eröffnenund prägen sollte.Der Theorieansatz der sozialenKonstruktion von Geschlecht gehtdavon aus, dass Geschlecht nichtetwas ist, was Individuen habenoder sind, sondern etwas, was sietun. Danach wird Geschlecht in jederalltäglichen Interaktion durchden Prozess der Geschlechtsdarstellung,der Geschlechtswahrnehmungund der Geschlechtszuschreibungkonstruiert, wobei das wahrnehmendeund einordnende Gegenüberden Hauptteil der „Konstruktionsarbeit“leistet. In diesem Ansatzwerden gesellschaftliche Machtverhältnisseauf die Ebene der sozialenKontrolle von InteraktionsteilnehmerInnenverlagert und sozialstrukturelleBedingungen ausschließlichunter dem Gesichtspunktder sozialen Handlungen vonIndividuen betrachtet (vgl. Wartenpfuhl1996). Aus dieser Sichtweiseheraus ist Geschlecht nicht etwas,was wir „haben“ oder sind, sondernetwas, was wir machen (vgl. Hagemann-White1993). In der westlichenWelt bewegen und verständigenwir uns nicht nur in einem„symbolischen System der Zweigeschlechtlichkeit“(Hagemann-<strong>Info</strong> 21.Jg. <strong>Nr</strong>.<strong>27</strong>/<strong>2004</strong>45

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