Effi Briest nur die klassische Rolle des passiven <strong>und</strong> schwachen Opfers: Weil sie ihren natürlichenEmpf<strong>in</strong>dungen nachgibt, zerbricht Effi, von den konventionellen Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>in</strong>sUnglück getrieben, an denselben, ohne selbst <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise aktiv zu werden.Nachdem nun die <strong>Frauengestalten</strong> aus Fontanes wichtigsten Romanen mit all ihren persönlichen, mehro<strong>der</strong> weniger <strong>in</strong>dividuellen Wesenszügen – betrachtet man sich zum Beispiel Jenny Treibel als Typuse<strong>in</strong>er Bourgeoise – e<strong>in</strong>gehend dargestellt worden s<strong>in</strong>d, ist es notwendig zu wissen, dass sie alle Frauen<strong>der</strong> wilhelm<strong>in</strong>isch – konservativen Gesellschaft Preußens s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> ihnen somit e<strong>in</strong> alle Schichtenumfassendes Frauenbild zu Gr<strong>und</strong>e liegt. So schreibt die Gesellschaft <strong>der</strong> Frau im Allgeme<strong>in</strong>en dietraditionelle Rolle <strong>der</strong> treu sorgenden Ehefrau <strong>und</strong> Mutter zu. Aus <strong>der</strong> Realität, dem wahren Lebenwerden sie weitgehend heraus gehalten, da dies e<strong>in</strong>e Domäne <strong>der</strong> Männer ist. Im Gegensatz dazubeschränkt sich <strong>der</strong> Wirkungskreis <strong>der</strong> Frau ausschließlich auf das Private (15/ vgl. S.318/ Z.86). Da diesaber nur e<strong>in</strong> kurzer Umriss des allgeme<strong>in</strong>en Frauenbildes ist, drängt sich doch vor allem bezüglich <strong>der</strong>dargestellten Frauen die Frage auf, <strong>in</strong> wieweit sich die speziellen Rollenerwartungen für dieverschiedenen Schichten unterscheiden <strong>und</strong> wie Lene Nimptsch, Jenny Treibel <strong>und</strong> Effi Briest diesenAnfor<strong>der</strong>ungen gerecht werden.Auf <strong>der</strong> Ebene des Kle<strong>in</strong>bürgertums konzentrieren sich die Aufgaben <strong>der</strong> Frau hauptsächlich auf die Rolleals Ehefrau <strong>und</strong> Mutter, da Repräsentation des Status <strong>der</strong> Familie <strong>in</strong> dieser Schicht <strong>und</strong> den ehere<strong>in</strong>fachen Verhältnissen nicht <strong>und</strong> wenn nur bed<strong>in</strong>gt nötig ist. E<strong>in</strong>e junge Frau soll sich e<strong>in</strong>en passablenEhemann suchen, K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekommen <strong>und</strong> den Haushalt führen – so ist es die Regel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft.Da sich das Dase<strong>in</strong> <strong>der</strong> Frau vor allem auf kle<strong>in</strong>bürgerlicher Ebene nur durch ihren Status als Ehefrau <strong>und</strong>Mutter def<strong>in</strong>iert (nach 15/ S.318/ Z.74-76) s<strong>in</strong>d sogenannte ‚Versorgungsehen‘ an <strong>der</strong> Tagesordnung, diedie Frauen neben dem f<strong>in</strong>anziellen Aspekt oftmals eben nur e<strong>in</strong>gehen, um e<strong>in</strong>e gesellschaftlichlegitimierte Position <strong>in</strong>nezuhaben. Auch Fontanes Lene Nimptsch aus dem kle<strong>in</strong>bürgerlichen Milieu weiß,dass sie diesen Anfor<strong>der</strong>ungen gerecht werden muss <strong>und</strong> so geht sie e<strong>in</strong>e Vernunftehe mit demanständigen Gideon Frank e<strong>in</strong>. Ihre vorherige Beziehung zum adeligen Botho wird von <strong>der</strong> Gesellschaftnicht akzeptiert <strong>und</strong> so fügt sich Lene letztendlich doch den Erwartungen <strong>der</strong> Öffentlichkeit. Zwar endet<strong>der</strong> Roman mit <strong>der</strong> Hochzeit zwischen Lene <strong>und</strong> Gideon Franke, jedoch ist anzunehmen, dass sie mitihrer Rolle umzugehen lernt, <strong>und</strong> ihren Anfor<strong>der</strong>ungen höchstwahrsche<strong>in</strong>lich gerecht werden wird.Während <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>bürgerlichen Verhältnissen die Repräsentation eher nebensächlich ist, gilt es <strong>in</strong> denhöheren Schichten des Bürgertums, vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bourgeoisie, die sich stark an <strong>der</strong> Wertmaßstäbendes Adels orientiert, als eigentliche Aufgabe <strong>der</strong> Frau, Familie <strong>und</strong> sozialen Status gebührend nachAußen zu vertreten. Denn auf Gr<strong>und</strong> von f<strong>in</strong>anziellem Wohlstand muss sich die Dame des Hauses oftwe<strong>der</strong> um den Haushalt, für den die Bediensteten zuständig s<strong>in</strong>d, noch um die eigenen K<strong>in</strong><strong>der</strong> kümmern,die entwe<strong>der</strong> von Erziehern o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Schulen bzw. Internaten betreut werden. Den hohen Stellenwertdieser Repräsentationsaufgabe stellt Fontane sehr deutlich an <strong>der</strong> Hauptfigur se<strong>in</strong>es gleichnamigenRomans ‚Frau Jenny Treibel‘ dar: So wird sie unter an<strong>der</strong>em wegen ihrer äußerlichen Vorzüge geheiratet<strong>und</strong> erfüllt ihre Aufgabe nun gewissenhaft, was sich daran zeigt, dass sie auch noch <strong>in</strong> ‚Alter‘ auf ihrÄußeres achtet <strong>und</strong> versucht, durch das Ideal <strong>der</strong> sentimentalen Frau ihren Mann zu repräsentieren.Jenny Treibel hat ihre Rolle regelrecht ver<strong>in</strong>nerlicht, sie hat auch niemals etwas an<strong>der</strong>es gewollt.Durch die Hochzeit schafft sie den sozialen Aufstieg von kle<strong>in</strong>bürgerlichen Verhältnissen <strong>in</strong> die HauteBourgeoisie <strong>und</strong> erfüllt dort ihre Rolle als Ehefrau aus den höheren Schichten. Da sie sich mit dieserPosition identifiziert, verteidigt Frau Treibel sie auch gegenüber an<strong>der</strong>en: In gesellschaftlicher H<strong>in</strong>sichtgegenüber Cor<strong>in</strong>na, die das Ansehen <strong>der</strong> Familie Treibel durch ihre Mittellosigkeit zu bedrohen sche<strong>in</strong>t,<strong>und</strong> <strong>in</strong> familiärer H<strong>in</strong>sicht gegenüber ihrer Schwiegertochter Helene, die ihr das Hausregiment streitigmachen will. Bezüglich dieses Hausregiments hat sich Jenny Treibel sogar noch ‚über die Anfor<strong>der</strong>ungenihrer Rolle h<strong>in</strong>aus‘ selbst verwirklicht. So hat sie als „Matriarch<strong>in</strong>“ die Familie fest im Griff. Auf Gr<strong>und</strong>dieser Feststellungen lässt sich sagen, das Jenny Treibel für das Frauenbild <strong>der</strong> Bourgeoisie wiegeschaffen ist <strong>und</strong> sich mit ihrer gesellschaftlichen Position vollkommen identifiziert.Ganz im Gegensatz dazu steht Effi Briest, die den „traditionellen Rollenerwartungen“ ihres Standes nichtentspricht (9/ vgl. S.43). Das Frauenbild des Adels ist ähnlich dem <strong>der</strong> Bourgeoisie, doch wird hierbeson<strong>der</strong>s deutlich, dass Frauen „[w]ichtgstes <strong>und</strong> ranghöchstes Objekt dieser Repräsentation […]“ (15/S.318/ Z.72f.) darstellen. Zudem kommt, dass <strong>in</strong> adeligen Kreisen die Ehen oft von den Eltern arrangiertwerden, wie es bei Effi Briest <strong>der</strong> Fall ist. In dieser H<strong>in</strong>sicht erfüllt sie sicherlich ihre Rolle alswohlerzogene Tochter, <strong>in</strong>dem sie den von <strong>der</strong> Mutter ausgewählten Mann heiratet, den gesellschaftlichenAnfor<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>er (adeligen) Ehefrau wird sie aber nicht gerecht. Denn im Gegensatz zu an<strong>der</strong>enhöheren Töchtern ist sie ansche<strong>in</strong>end nicht auf ihre spätere Position vorbereitet worden. Zwar versuchtEffi den Erwartungen zu entsprechen, <strong>in</strong>dem sie zum Beispiel e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d bekommt, um <strong>in</strong> ihrer Positionlegitimiert zu se<strong>in</strong>, während sie an<strong>der</strong>erseits diese Stellung durch den Ehebruch leichtfertig aufs Spielsetzt. Effi kann sich we<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Rolle identifizieren, wie es Jenny Treibel tut, noch wie im Falle <strong>der</strong>Lene Nimptsch sich damit abf<strong>in</strong>den.Diese drei Frauen haben also wie aufgezeigt auch drei völlig verschiedene Auffassungen bezüglich desjeweiligen Frauenbildes ihrer Schicht. Fontane zeigt an Hand se<strong>in</strong>er Figuren auf, dass es für die Frauen<strong>der</strong> wilhelm<strong>in</strong>ischen Gesellschaft nicht immer e<strong>in</strong>fach ist – wenn man nicht wie Jenny Treibel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erRolle aufgeht – den Erwartungen <strong>und</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen gerecht zu werden: Entwe<strong>der</strong> man f<strong>in</strong>det sich damitab wie Lene Nimptsch, was oft mit <strong>der</strong> Aufgabe se<strong>in</strong>es persönlichen Glücks verb<strong>und</strong>en ist, o<strong>der</strong> manscheitert an <strong>der</strong> Erfüllung se<strong>in</strong>er Aufgabe wie Effi Briest.20
Doch nicht nur das Frauenbild <strong>der</strong> damaligen Zeit schränkt die Frauen e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n auch die allgeme<strong>in</strong>engesellschaftlichen Normen, die für jeden Bürger gelten, engen das Streben nach <strong>in</strong>dividuellerVerwirklichung e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e freie Entwicklung <strong>der</strong> Persönlichkeit ist Angesichts dieser strengen Konventionennahezu unmöglich, da jede Art von Verhalten von <strong>der</strong> Öffentlichkeit nach überzogenen <strong>und</strong> teilweiseantiquierten Wertmaßstäben be- bzw. auch verurteilt wird. Wer gegen die Normen verstößt, f<strong>in</strong>det sich imäußersten Fall am Rande <strong>der</strong> Gesellschaft wie<strong>der</strong> o<strong>der</strong> wird sogar ganz geächtet. Natürlich s<strong>in</strong>d dieseRegeln ke<strong>in</strong>e festgeschriebenen Gesetze, aber sie haben auf den e<strong>in</strong>zelnen Menschen, <strong>der</strong> als Teil <strong>der</strong>Gesellschaft leben möchte, aus diesem Gr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e große Macht <strong>und</strong> können so erheblichesDruckpotential entwickeln. Deshalb kommt es beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> wilhelm<strong>in</strong>ischen Gesellschaft desausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, die von starren, konservativen Normen maßgeblich geprägt ist,logischerweise immer wie<strong>der</strong> zu Konflikten, <strong>in</strong> denen das persönliche Individualitätsstreben des E<strong>in</strong>zelnenmit den geltenden Konventionen <strong>der</strong> Gesellschaft zusammenprallt.In Bezug auf die drei dargestellten <strong>Frauengestalten</strong> Fontanes, dem als Schriftsteller se<strong>in</strong>er Zeit dieseProblematik nicht verborgen bleibt, ist es <strong>in</strong>teressant zu vergleichen, wie sie sich mit diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>gegenüber den Regeln <strong>und</strong> Konventionen ihrer Zeit verhalten.So tritt Jenny Treibel überhaupt nicht <strong>in</strong> Konflikt mit <strong>der</strong> Gesellschaft, denn sie hat das Wertesystem ihrerSchicht vollständig ver<strong>in</strong>nerlicht. Betrachtet man diese Figur als satirische Kritik an <strong>der</strong> Bourgeoisie – wassie zweifelsfrei ist – lässt sich diese Kritik auch auf die geltenden Normen ausweiten. Denn gerade dieFrauenfigur, die nach diesen von e<strong>in</strong>er Doppelmoral zeugenden Werten <strong>der</strong> Gesellschaft lebt, sie sogarals eigene Gr<strong>und</strong>sätze übernimmt, wird im Gegensatz zu an<strong>der</strong>en Figuren, die diese Werte anzweifeln,als lügnerisch, heuchlerisch <strong>und</strong> im allgeme<strong>in</strong>en eher negativ dargestellt.Somit ist Jenny Treibel aus diesem <strong>Vergleich</strong> weitgehend herauszunehmen. Konzentriert man sichdeshalb auf Lene Nimptsch <strong>und</strong> Effi Briest, so fällt e<strong>in</strong>e gr<strong>und</strong>legende Geme<strong>in</strong>samkeit auf. Denn beidetreten mehr o<strong>der</strong> weniger <strong>in</strong> Konflikt mit <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> haben vor allem Probleme damit, ihr<strong>in</strong>dividuellen, natürliches Streben nach Glück den starren Konventionen unterzuordnen.Bei Lene Nimtpsch wird das deutlich an ihrer vernunftbed<strong>in</strong>gten Entscheidung gegen die Liebe zu Botho<strong>und</strong> für e<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Gesellschaft anerkanntes Leben. Die Beziehung zu Botho bedeutet <strong>in</strong> ihrem Fall daspersönliche Glück, da sie aber von <strong>der</strong> Öffentlichkeit nicht akzeptiert wird <strong>und</strong> Lene nicht dazu <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lageist, gegen diese gesellschaftlichen Regeln zu leben, fügt sie sich.Auch bei Effi Briest tritt das gleiche Problem zu Tage. Ordnet sie sich aber den gesellschaftlichen <strong>und</strong>moralischen Gr<strong>und</strong>sätzen ihrer Zeit unter, so kann sie ihr ganzes Leben nicht glücklich werden. DiesesStreben nach Glück jedoch ist e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> natürlichsten Bedürfnisse <strong>der</strong> Menschen <strong>und</strong> somit auch <strong>in</strong> Effisdem Natürlichem verb<strong>und</strong>enen Wesen zu f<strong>in</strong>den. Die Affäre als Ausdruck persönlicher ‚Entfaltung‘ ist e<strong>in</strong>für Effi selbst zwar unbewusstes, aber <strong>in</strong> den Augen <strong>der</strong> damaligen Öffentlichkeit um so schärfer zuverurteilendes Auflehnen gegen die Gesellschaft. Doch letztendlich ist Effi e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> vielen, die an diesemKonflikt zwischen Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft zerbricht, da sie sich nicht wie Lene Nimtpsch mit dengeltenden Regeln abf<strong>in</strong>den kann.Deshalb ist Lene auch als ‚berl<strong>in</strong>erischer‘ zu charakterisieren, def<strong>in</strong>iert man diese Eigenschaft wieFontane als die „[…]für Berl<strong>in</strong> <strong>und</strong> die Mark bezeichnende verstandesmäßige Haltung bei dem Gefühlzustehenden Entscheidungen […]“(16/ S.497). Man arrangiert sich eben so gut es geht mit denGegebenheiten, da man als E<strong>in</strong>zelperson an <strong>der</strong> Gesamtlage nichts än<strong>der</strong>n kann, <strong>und</strong> steckt eher zurück,als ganz daran zu zerbrechen.Trotzdem haben beide <strong>in</strong> Bezug auf diesen Konflikt auch e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>samkeit: So schreibt Fontane 1887<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief über die gesellschaftlichen Konventionen: „>Die Sitte gilt <strong>und</strong> muß gelten