Juni 2009 - Der Neusser

Neutags Satirischer Alltag
Schwein gehabt!
Jetzt haben wir es doch noch geschafft! Wir
haben uns aus den Klauen der Mörder-Seuche
befreit, die Schweinegrippe hatte uns im Würgegriff.
Es war wirklich knapp, die Existenz der
Zivilisation stand auf dem Spiel, aber wir sind
ruhig geblieben, besonnen so wie man es von
uns gewohnt ist. Die Zeit ist vorbei, in der man
mit leichten, autistischen Grunzgeräuschen
schnell mal ein Zugabteil für sich alleine hatte,
damals, als wir quasi mittendrin waren in Kafkas
Verwandlung update 2009. Aufgewacht
nicht als Käfer, sondern als Schwein, trugen wir
die Grippe als biblische Plage in alttestamentarischer
Dimension durch die Welt. Doch das ist
nun vorbei. Puh!
Trotzdem sollten wir uns kurz mit ein paar lästigen
Fakten beschäftigen. Weltweit gibt es
zum derzeitigen Stand knapp 10.500 Infizierte,
in Deutschland sind es nicht mal 15 (in Worten:
fünfzehn), gestorben ist in unserem Land bisher
noch niemand. Die A46 ist nach wie vor das größere
Risiko, sollte aber als Erkenntnis natürlich
zurückstehen, wenn der der gute alte Reflex
durchgreift: Vor Kenntnis der Sachlage erst einmal
eine zünftige Panik herstellen. Man sollte
im soliden Abstand einmal ein paar der skurrilsten
Angstblüten in Augenschein nehmen.
BILD-Kolumnist Franz-Josef Wagner schrieb:
„Das Schweinevirus aus Mexiko ist schneller
als eine Rakete. Jemand hustet in Mexiko und
landet in Frankfurt. Welcher Zöllner weiß, wann
das Böse ankommt. Gestern war es in Mexiko
und heute kann es bei uns sein. Das Fürchter-
Bataverstr. 78 - 41462 Neuss - Tel: 02131 / 55 060
liche ist, dass das Schweinevirus schneller als
der Schall ist.“ Möglich, aber wer solche Zeilen
schreibt, für den wäre Schweinegrippe wahrscheinlich
noch eine gesundheitliche Verbesserung.
Neuseeländische Gesundheitsbehörden
haben der Bevölkerung empfohlen, bei Verdacht
auf das Virus mit dem Auto vor das Krankenhaus
zu fahren und als Warnung dreimal zu
hupen. Selbst die Essener Berufsfeuerwehr hat
eine neunseitige Bastelanleitung für einen Doit-yourself
Mund- und Nasenschutz herausgegeben.
Dort wurde einem erklärt, wie man aus
Baumwolle und Draht ein adrettes Überlebensrequisit
zusammenstellen kann. Schade, dass
die Panik so schnell abebbte, es wäre ein prima
Muttertagsgeschenk geworden. Praktisch und
vor allem selbst gemacht.
Mit Medienhysterie ist dieses Konvolut an
Angstmache wohl kaum noch zu umschreiben.
Alle Formate, ob „Explosiv“, „Explodiert“ oder
Jens Neutag
Spieltermine Juni 2009
(eine regionale Auswahl)
Neues Soloprogramm „Streik ist geil!“
Fr., 05.06.09 Theateratelier Takelgarn;
Düsseldorf
Soloprogramm „TOTALSCHADEN!“
DFr., 12.06.09 Theater im Walzwerk;
Pulheim
Weitere Termine unter: www.jensneutag.de
„Kawumm und Kaputt – die neue Infoshow“,
also die gesamte Armada der Abendunterhaltung
für den rüstigen Hirntoten, haben mit
der Angst gespielt. Fluggäste aus Mexiko wurden
zuhauf vor laufende Kameras und aufgeklappte
Notizzettel gezerrt. Natürlich hatte
der fragende TV-Hampelmann dabei keinen
Mundschutz an. Nur ein unbedeutendes Detail?
Wohl kaum. Wäre die Krankheit also nur halb
so gefährlich gewesen wie sie gemacht wurde,
vor allem die Vor-Ort Journaille hätte sie nicht
überlebt. Unter dem Motto: „Mittendrin statt
nur dabei“ wäre das Virus in alle Redaktionen
der Welt getragen worden.
Apokalypse bei BILD und Focus,
die Zeitungen blieben leer, der Fernseher dunkel
und aus dem Nichts grunzt zynisch eine Wildsau.
Nun denn, es kam ja anders. Schwein gehabt!
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stattblatt 06.2009 | Unterhaltung 23