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Bern - IVS Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz

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Geleitwort aus dem Kanton <strong>Bern</strong>Bereits im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t hatte die <strong>Bern</strong>er Regierungerkannt, dass gut ausgebaute, bei je<strong>der</strong>Witterung zuverlässig befahrbare Strassen dieGrundlage für eine effiziente Verwaltung des grossenStaatsgebiets und für das wirtschaftliche Gedeihen imLande sind. In <strong>der</strong> Folge entstand ein Strassensystem, dasvom Genfersee bis in den Aargau reichte und weit überdie Grenzen <strong>der</strong> Eidgenossenschaft hinaus als richtungweisendgalt. Es lebt bis heute in unserem Hauptstrassennetzfort, und die Bereitstellung einer effizientenVerkehrsinfrastruktur – neben Strassen zwischenzeitlichauch Schienen umfassend – ist längst zu einer zentralenAufgabe <strong>der</strong> öffentlichen Hand geworden.Mit dem <strong>Inventar</strong> <strong>historischer</strong> <strong>Verkehrswege</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>IVS</strong>, das nunauch im Kanton <strong>Bern</strong> auf nationaler Ebene abgeschlossen ist, liegt eine umfassendeÜbersicht über das bernische Verkehrsnetz und seine Geschichtevor. Das Werk beleuchtet nicht nur die Entstehung unseres heutigen Strassensystems,son<strong>der</strong>n zeigt auch die Vielfalt <strong>der</strong> historischen Substanz auf, diesich seit dem späten Mittelalter, ja vereinzelt gar seit <strong>der</strong> Antike, auf demKantonsgebiet erhalten hat: Die grossartigen Holzbrücken im Mittelland, dieKarrgeleise im Jurakalk und die Saumpfade und Passstrassen im Oberlandsind nur einige bedeutende Beispiele davon. Das <strong>IVS</strong> ist ein Arbeitsinstrumentfür Behörden, Planer, Touristiker und Historiker und eine fast unerschöpflicheFundgrube für alle, denen <strong>der</strong> Schutz und die Erhaltung unserer reichhaltigenKulturlandschaft am Herzen liegen. Gerade die vorliegende Publikation beweist,dass dem Schutzgedanken beim Bau und Unterhalt unserer mo<strong>der</strong>nenVerkehrsinfrastruktur ein bedeuten<strong>der</strong> Platz zukommt.Der Organisation ViaStoria – Zentrum für Verkehrsgeschichte, einem Annexbetrieb<strong>der</strong> Universität <strong>Bern</strong>, gebührt ein grosser Dank für die Erarbeitungdes <strong>IVS</strong> und dem Bund dafür, dass er dieses einmalige Werk durch seineFinanzierung erst ermöglicht hat.Walter DinkelKantonsoberingenieur, Vorsteher des Tiefbauamts des Kantons <strong>Bern</strong>Kanton <strong>Bern</strong>


Inhalt5 Die <strong>Verkehrswege</strong>8 Vielfältige <strong>Bern</strong>er VerkehrsgeschichteVon den Anfängen bis zum Ausbau desHauptstrassennetzes (SB, HR)21 Römerstrassen: Funde und BefundeFrühe Zeugen <strong>der</strong> Verkehrsgeschichte (SB)25 Geheimnisvolle GeleisestrassenVorläufer des Schienenverkehrs (GS)29 Kunststrassen – Grundlage des heutigen Hauptstrassennetzes<strong>Bern</strong> als Vorbild für den mo<strong>der</strong>nen Strassenbau (GS)34 Steine am WegVon Stunden, Geboten, Grenzen und Schwüren (GS)38 Die Siechenhäuser – wenig geliebte WegbegleiterFürsorgeeinrichtungen für Aussätzige und Syphilitiker (SB)42 <strong>Bern</strong>er Brücken: Vielfalt von Materialien und Formen«Brügg us Holz, Bärnerstolz» (GS)50 Alleen und Promenaden: die grüne Seite <strong>der</strong> StrassenBäume, gepflanzt für den Krieg, die Wirtschaft und die Lust (SB)54 Das Birstal: Reiseroute und Motiv für Künstler«Eine <strong>der</strong> romantischesten Gegenden <strong>der</strong> Schweitz» (SB)57 Auf historischen Wegen in die touristische ZukunftNutzen heisst erhalten (GS)61 Das <strong>Inventar</strong>62 Eine Bestandesaufnahme mit vielfältigem NutzenDas <strong>IVS</strong>: ein weltweit einmaliges ProjektAutorenSB Sabine BolligerGS Guy Schnei<strong>der</strong>HR Hans von RütteKanton <strong>Bern</strong>


Die <strong>Verkehrswege</strong>Seit es Menschen gibt, die miteinan<strong>der</strong> kommunizieren,gibt es <strong>Verkehrswege</strong>. Sie lassen sich nichtbis in die Anfänge, aber im Kanton <strong>Bern</strong> immerhingegen 2500 Jahre zurückverfolgen.Im Wechselspiel gebauter und gewordener, nichtmit baulichen Massnahmen errichteter Strassenund Wege ist im Laufe <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te einereichhaltige Verkehrslandschaft entstanden, dieein zentrales Element unserer Kulturlandschaftbildet und die es neu zu ent decken gilt.Das vorliegende Heft wirft Streiflichter auf dieThematik und hebt vom Wegrand einige Trouvaillenauf. Es beruht weit gehend auf den Ar ­beiten an <strong>der</strong> <strong>IVS</strong> Dokumentation für den Kanton<strong>Bern</strong>, <strong>der</strong>en provisorische Fassung im Jahr 2003abgeschlossen worden ist.


Impressionen aus <strong>der</strong> Verkehrsgeschichte desKantons <strong>Bern</strong>:Linke Seite: Die Leuenhohle, ein eindrücklicherHohlweg bei Burgdorf, Teil <strong>der</strong> ehemaligenLandstrasse nach Luzern (links oben, HS);gepflasterter Alp- und Forstweg oberhalbBrienzwiler mit bis zu 3 m hohen Trockenmauern(links unten, HM); restaurierterSaumpfad am Sustenpass (rechts oben, AB);Fahrstrasse ins Gasterntal, Baujahr 1912(rechts unten, HM).Rechte Seite: Die Neubrügg bei Bremgarten von1534/35, <strong>Bern</strong>s älteste Holzbrücke (oben, GS);«Zybachs Platten» am Weg zur Glecksteinhütte,in den Fels gehauene Stufen als Alp- undBergweg (unten links, GS); kunstvoll gepflasterteFurt am Fahrweg auf die Gemmi (untenrechts, HM).Kanton <strong>Bern</strong>


Von den Anfängen bis zum Ausbau des HauptstrassennetzesVielfältige <strong>Bern</strong>erVerkehrsgeschichteMehr als zweitausend Jahre Verkehr haben im Kanton <strong>Bern</strong> Spuren hinterlassen – und<strong>der</strong> vielfältigen topografischen Ausprägung des Kantons gemäss, weisen diese Spurenverschiedenste Formen auf. Einige Einblicke in die <strong>Bern</strong>er Verkehrsgeschichte ergänzendie Befunde im Gelände – im Mittelland, in den Alpen und im Jura.<strong>Bern</strong> berührt fast die halbe <strong>Schweiz</strong>; das Kantonsgebiethat eine gemeinsame Grenze mit 11 Nachbarkantonen.Zum flächenmässig zweitgrösstenKanton (nach Graubünden) gehören Teile <strong>der</strong> Juraketten,des Mittellandes und <strong>der</strong> Alpen. Der <strong>Bern</strong>er Jurahatte zwar schon im Mittelalter einen engen Bezug zumbernischen Staat, gehörte aber bis 1797 zum FürstbistumBasel und wurde erst 1815 dem Kantonsgebiet zugeteilt.Im Oberland als abgeschlossenem Raum herrschten an<strong>der</strong>etopografische Voraussetzungen für den Verkehr alsim Mittelland und im Jura. Die Entwicklung <strong>der</strong> Verkehrsgeschichteund des Strassenbaus nahm deshalb in denverschiedenen Regionen einen unterschiedlichen Verlauf.Das Mittelland – Transitkorridorzwischen Jura und AlpenDie Ebenen des <strong>Bern</strong>er Mittellandes bilden einen Teil desschweizerischen Transitkorridors von Südwesten nachNordosten. Seit prä<strong>historischer</strong> Zeit wurden die Wasserwegefür den Transport benützt, wobei man damals weitweniger Ansprüche an <strong>der</strong>en Schiffbarkeit stellte alsheute. Ihre Bedeutung behielten die billigen und bequemenWasserstrassen durch alle Epochen hindurch undverloren sie erst mit dem Aufkommen des Eisenbahnbausab <strong>der</strong> Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts.Die zwei grössten und wichtigsten Schifffahrtswegeim Kanton <strong>Bern</strong> sind die Jurasüdfusslinie vom Neuenburgerseedurch die Zihl, den Bielersee und die Aareüber den Rhein bis in die Nordsee und die Linie aus demOberland mit dem Brienzer- und dem Thunersee sowiedem Aarelauf über <strong>Bern</strong>, Aarberg und Meienried nachSolothurn. Eine Än<strong>der</strong>ung ergab sich aus <strong>der</strong> erstenJuragewässerkorrektion <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts,als die Aare durch den neu gebauten Aare-Hagneck-Kanal in den Bielersee umgelenkt wurde. Seitdembesteht von Aarberg bis nach Meienried nur nochein stillgelegter Zwischenarm.In <strong>Bern</strong> war die Aare nicht durchgehend befahrbar.Die wahrscheinlich schon seit <strong>der</strong> Stadtgründung (1191)bestehende Schwelle durfte nur in Ausnahmefällen miteinem Schiff überquert werden; normalerweise wurdeumgeladen. Zusätzlich zur zweigeteilten Schiffländte inAbb. 1: Die Aare in <strong>Bern</strong> mit <strong>der</strong> zweigeteiltenSchiffländte ober- und unterhalb <strong>der</strong> Schwelle.Oberhalb <strong>der</strong> Untertorbrücke (rechts oben)bestand ein weiterer kleiner Landeplatz, dasLändtetor. Ausschnitt aus <strong>der</strong> «TopographiaHelvetiae, Rhaetiae et Valesiae» von MatthäusMerian, 1642.Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 2: Das restaurierte Ländtetor, wie es sichheute auf Kellerniveau einer Häuserreihepräsentiert (GS).<strong>der</strong> Matte (Abb. 1) bestand auch ein kleiner Landeplatzoberhalb <strong>der</strong> Untertorbrücke, das so genannte Ramseyerlocho<strong>der</strong> Ländtetor. Um 1874 wurde das Tor in einHaus eingebaut und erst in <strong>der</strong> Mitte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>tswie<strong>der</strong> entdeckt, ausgegraben und restauriert(Abb. 2). In <strong>der</strong> älteren Literatur wird meist angenommen,dies sei <strong>der</strong> Landeplatz <strong>der</strong> Fähre über die Aare, was unterdessenjedoch wi<strong>der</strong>legt ist, da das Ländtetor gemässneueren Erkenntnissen erst im 13. Jahrhun<strong>der</strong>t gebautwurde, als bereits eine Brücke über die Aare bestand.Erste Nachweise von <strong>Verkehrswege</strong>n –die Kelten und die RömerFür die Hallstattzeit (ältere Eisenzeit, etwa 800 v. Chr. bisMitte 5. Jahrhun<strong>der</strong>t v. Chr.) sind archäologisch keineStrassen festzustellen. Aufgrund von Verbreitungskartenlässt sich nur darüber spekulieren, welche Wege die Gütergenommen haben könnten. Von grösster Bedeutungmüssen auch in dieser Zeit die befahrbaren Wasserwegegewesen sein; so gelangten zum Beispiel von Massilia(Marseille) aus die schweren Amphoren rhoneaufwärtsan den Genfersee. Griechische und etruskische Warenhingegen wurden wohl auf Säumerwegen über die Alpentransportiert. Am wahrscheinlichsten ist aufgrund <strong>der</strong>Verbreitung von Kleinfunden eine Route über das Oberwallisund das <strong>Bern</strong>er Oberland ins zentrale Mittellandund in die Westschweiz.Die ersten erhaltenen Überreste von <strong>Verkehrswege</strong>nstammen aus keltischer Zeit. Keltische Oppida befandensich auf <strong>der</strong> Engehalbinsel in <strong>Bern</strong>, auf dem Jäissbergsowie auf dem Mont Vully im Kanton Freiburg. Spurenzweier keltischer Brücken über die Broye wurden nördlichdes Mont Vully gefunden, Überreste dreier weitererBrücken über die Zihl bei Cornaux, Gampelen und LaTène. Die Fundstelle bei La Tène mit ihren etwa 2500Objekten ist so bedeutend, dass sie einer ganzen Epoche,<strong>der</strong> jüngeren Eisenzeit, den Namen gegeben hat. Eineinziger Strassenrest könnte aus keltischer Zeit stammen:Unter <strong>der</strong> römischen Strasse bei Kallnach (vgl. S. 21)wurden Schichten einer noch älteren Strasse gefunden.Ein keltisches Strassennetz lässt sich nicht rekonstruieren,man darf aber vermuten, dass die Römer darauf aufbauten.Wichtige römische Zentren sind <strong>der</strong> vicus, also einStrassendorf, auf <strong>der</strong> Engehalbinsel in <strong>Bern</strong>, <strong>der</strong> vicusPetinesca am Jäissberg bei Studen sowie, ausserhalb <strong>der</strong>heutigen Kantonsgrenzen, die Kolonie Aventicum (Avenches)und <strong>der</strong> vicus Salodurum (Solothurn). Eine römischeStrasse führte von Aventicum über Salodurumnach Vindonissa (Windisch) und über den Oberen Hauensteinnach Augusta Rauracorum (Augst). Von Petinescazweigte eine Verbindung über die Pierre Pertuis nachBasel und Frankreich ab. Wie schon in keltischer Zeitführten Brücken über die Broye und über die Zihl.Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit –Städtegründungen und erste KartenDie heutigen Zentren gehen mehrheitlich auf das Mittelalterzurück. Die Zähringer gründeten im 12. Jahrhun<strong>der</strong>t<strong>Bern</strong>, Freiburg, Burgdorf, Thun und Murten, dieKanton <strong>Bern</strong>


Abb. 3: Ausschnitt aus <strong>der</strong> Karte von ThomasSchöpf, 1577: die Stadt <strong>Bern</strong> mit Bümpliz. Eslassen sich vier ungedeckte Brücken über dieWorblen und die gedeckte Neubrügg über dieAare bei Bremgarten unterscheiden.Grafen von Neuenburg ebenfalls im 12. Jahrhun<strong>der</strong>tNidau, im 13. Jahrhun<strong>der</strong>t Aarberg. Die Städte La Neuveville,1312 gegründet, und Biel, das am Anfang des13. Jahrhun<strong>der</strong>ts das Stadtrecht bekam, waren im Besitz<strong>der</strong> Bischöfe von Basel. Solothurn war seit 1295 mit <strong>Bern</strong>verbündet.Die grösste Ausdehnung hatte <strong>der</strong> Staat <strong>Bern</strong> nach<strong>der</strong> Eroberung von Teilen des Aargaus (1415) und <strong>der</strong>Waadt in den Jahren 1536 bis 1798. Die erste eigentlicheStrassenkarte des Staatsgebietes vom <strong>Bern</strong>er ArztThomas Schöpf stammt aus jener Zeit; sie ist 1577 herausgekommen.Die Strassen sind auf <strong>der</strong> nach Südenausgerichteten Karte allerdings nicht eingetragen, son<strong>der</strong>nnur die Ortschaften und Brücken (Abb. 3). Die <strong>Verkehrswege</strong>lassen sich aber aufgrund des Kommentars,den Schöpf zur Karte verfasst hat, rekonstruieren. GemässSchöpf sind einige Strassen bedeuten<strong>der</strong> als diean<strong>der</strong>en, das sind die «Königsstrassen», die einen speziellenRechtsstatus hatten. Zu ihnen zählen die auf römischeZeit zurückgehende Mittellandtransversale unddie Strassen, die von <strong>Bern</strong> aus nach Murten, Freiburg,Thun, Langnau, Burgdorf und Langenthal sowie nachSolothurn führen – bereits das sternförmige Strassennetzalso, das im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t prioritär ausgebaut werdenwird und das wohl im Zeitalter <strong>der</strong> Städtegründungenseinen Anfang hatte.Der Zustand dieses Netzes war aber nicht beson<strong>der</strong>sgut. Aus schriftlichen Dokumenten geht hervor, dass dieWege und Strassen je nach Witterung löchrige Staubpisteno<strong>der</strong> tiefe Schlammbahnen waren. Für den Unterhaltwaren die Anstösser und die am Weg liegendenGemeinden verantwortlich. Da diese jedoch von denÜberlandstrassen keinen unmittelbaren Nutzen hatten,zeigten sie wenig Interesse an <strong>der</strong> mühsamen und zudemschlecht o<strong>der</strong> gar nicht bezahlten Arbeit.Das Memoriale von Zehen<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Ausbau desStrassennetzes ab <strong>der</strong> Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>tsIm 18. Jahrhun<strong>der</strong>t kam Bewegung in den bernischenStrassenbau. Den Anstoss dazu gab <strong>der</strong> StrasseninspektorFriedrich Gabriel Zehen<strong>der</strong> (1696–1741), <strong>der</strong> 1740 inseinem «Memoriale über die Construction, Reparation10Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 5: Ost-West-Transversalen im späten18. Jahrhun<strong>der</strong>t. Die Linienführung über Murtennach Lausanne verliess kaum bernischesStaatsgebiet und brachte so mehr Zolleinnahmen(Von Cranach 2000, 33 Abb. 4).Mirani, konnte dieser Aufstieg in den Jahren 1750–58entschärft werden (vgl. S. 31). Zur selben Zeit wurde mitdem Ausbau <strong>der</strong> Fortsetzung in Richtung Osten begonnen,und schon im November 1764 war die Neue Aargauerstrassebis Murgenthal vollendet. Sie führt im Gegensatzzur älteren Verbindung nicht mehr über Burgdorf,son<strong>der</strong>n wählt den topografisch einfacheren Verlaufüber Kirchberg.Die Route von <strong>Bern</strong> nach Genf kann als Fortsetzung<strong>der</strong> Aargauerstrasse nach Südwesten betrachtet werden;sie umfasst Varianten über Murten und über Freiburg.Da dem bernischen Staat aus finanziellen Gründen vieldaran lag, den Transitverkehr durch die Hauptstadt undmöglichst lange durch eigenes Gebiet zu lenken (Abb. 5),wurde die Linie über Murten, die das <strong>Bern</strong>er Staatsgebietauf ihrer ganzen Länge kaum verlässt, gezielt propagiert.Dies führte allerdings zu Konflikten mit Freiburg undSolothurn, da auch diese an den Zollgel<strong>der</strong>n und Weggebühreninteressiert waren.Nach Thun und ins <strong>Bern</strong>er Oberland führten Strassenrechts <strong>der</strong> Aare und links <strong>der</strong> Aare durch das Gürbetal.Für die Route rechts <strong>der</strong> Aare verliess man die Stadt zunächstim Osten über die Untertorbrücke und den KleinenMuristalden, <strong>der</strong> ab 1483 belegt ist. Er wurde1779–83 durch den Grossen Muristalden ersetzt, dasGegenstück zum Neuen Aargauerstalden. 1840 löste dieNydeggbrücke die Untertorbrücke ab, was den Aufstiegdes Muristaldens verkürzte. Mit dem Bau <strong>der</strong> Kirchenfeldbrücke1881 bis 1883 konnte dieser schliesslich ganzumgangen werden. Die englische Baugesellschaft <strong>Bern</strong>-Land-Company, die die Brücke erstellte, um das Gebietsüdlich <strong>der</strong> Stadt, das Kirchenfeld, zu erschliessen, verpflichtetesich, gleichzeitig auch die Thunstrasse als Verbindungzur Aaretalstrasse zu bauen.Ergänzungen und Ausrichtung auf den neuenKantonsteil Jura – das 19. Jahrhun<strong>der</strong>tZu Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts verfügte <strong>Bern</strong> über einausgebautes Hauptstrassennetz, das nur noch einigerErgänzungen bedurfte. Diese wurden vor allem durchdie Verän<strong>der</strong>ungen des Kantonsgebietes bestimmt, die1815 am Wiener Kongress beschlossen worden waren.Die Waadt und <strong>der</strong> Aargau erlangten ihre Selbständigkeit,dafür kam <strong>der</strong> Jura hinzu, <strong>der</strong> bisher zum FürstbistumBasel gehört hatte.Bis zur Aufhebung des Zollrechts im Jahr 1853 – eineFolge <strong>der</strong> Bundesverfassung von 1848 – beruhte das Interesseam Strassenbau vor allem auf den Zolleinnahmenund Weggel<strong>der</strong>n. Um die Staatskasse zu füllen, solltendie Fuhrleute auf das eigene Kantonsgebiet gelockt werden– entwe<strong>der</strong> durch kürzere Wegverbindungen o<strong>der</strong>durch verringerte Steigungen, die sich ohne Vorspann12Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 6: Der Ausschnitt <strong>der</strong> Zollkarte <strong>der</strong><strong>Schweiz</strong> von Johann Kaspar Zellweger undHeinrich Keller, 1825, zeigt die vier Verbindungenzwischen <strong>Bern</strong> und Luzern über Murgenthal–Zofingen,über Burgdorf–Huttwil, überWorb–Huttwil und über Langnau (Staatsarchiv<strong>Bern</strong>).befahren liessen. Mit dem bernischen Strassengesetzvon 1834 wurde die Pflicht zum Unterhalt <strong>der</strong> Hauptstrassenvon den Anwohnern an den Staat übertragen,was auch den Ausbau kritischer Strassenabschnitte undden Bau neuer Verbindungen vereinfachte.Neu gebaut wurden 1835–1838 die Strasse am Norduferdes Bielersees entlang, womit erstmals eine Landverbindungvon Biel nach Neuenburg bestand, und1835–1855 die Tiefenau- sowie die Lyss–Hindelbank-Strasse, womit die mühsamen Steigungen <strong>der</strong> Verbindungüber den Frienisberg nach Aarberg umgangenwerden konnten. Die Lyss–Hindelbank-Strasse sollte spätereine direkte Fortsetzung nach Biel erhalten. Seitdem<strong>der</strong> Jura zum Kanton gehörte, gewann die Verkehrsverbindungnach Nordwesten an Bedeutung.Die Route über Thörishaus nach Freiburg, die im18. Jahrhun<strong>der</strong>t als Konkurrenz zur «innerbernischen»Verbindung nach Freiburg über Murten das Nachsehenhatte, wurde 1852 ausgebaut, und in den 1850er- und1860er-Jahren legte man einige Abschnitte <strong>der</strong> Strasse<strong>Bern</strong>–Murten neu an, um Steigungen zu vermeiden.Die Verbindung nach Luzern bestand lange aus mehrerenVarianten, und noch am Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>tsstritt man darüber, welche <strong>der</strong> möglichen Verbindungenendlich ausgebaut werden sollte: über Murgenthalund Zofingen – also über die Neue Aargauerstrasse –,über Burgdorf und Huttwil, über Worb und Huttwil o<strong>der</strong>über Langnau. Die Zollkarte von 1825 (Abb. 6) gibt eineÜbersicht: Die seit dem 15. Jahrhun<strong>der</strong>t belegte Verbindungüber Burgdorf und Huttwil ist als Nebenroute eingetragen.Im seinem «Memoriale» empfahl Zehen<strong>der</strong>1740, diese Strasse auszubauen, doch es geschah nicht.Da die Neue Aargauerstrasse nicht mehr über Burgdorf,son<strong>der</strong>n über Kirchberg führte, verlor auch die bisherigeHauptstrasse nach Luzern an Bedeutung. Die über Worbund Lützelflüh führende Variante, ebenfalls seit dem15. Jahrhun<strong>der</strong>t bezeugt, ist auf <strong>der</strong> Karte von 1825 alsHauptstrasse vermerkt. Sie löste im späten 18. und frühen19. Jahrhun<strong>der</strong>t die Strasse über Burgdorf als Hauptverbindungnach Luzern ab. Gleichzeitig benutzte manab 1761 auch die Verbindung über die Neue Aargauerstrasseund Zofingen. Die Strasse über Langnau wurdeals letzte <strong>der</strong> vier Verbindungen in mehreren Etappen inden 30er-Jahren des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts ausgebaut. Sie istauf <strong>der</strong> Karte noch nicht durchgehend eingetragen.Das Oberland –ein abgeschlossener RaumIm <strong>Bern</strong>er Oberland war die Anlage von <strong>Verkehrswege</strong>nstets durch die Flüsse und Täler vorgegeben. Das Verhältnis<strong>der</strong> verschiedenen Talschaften untereinan<strong>der</strong> gabKanton <strong>Bern</strong> 13


Alte Beziehungen sind auch gegen Süden feststellbar.Ähnlich wie an <strong>der</strong> Gemmi, liegt auch am Sanetschdie Grenze deutlich nördlich <strong>der</strong> Wasserscheide. Einegrosse Alp, die Walliser Wispile, wurde von Süden bestossen,was den Bau eines Weges über den Pass bedingte.Abb. 9: Sonceboz-Tournedos: Rekonstruktionsversuch<strong>der</strong> Passerelle aus Holz, die möglicherweiseaus <strong>der</strong> Latène- o<strong>der</strong> Römerzeitstammt (Gerber 1997: 45 Abb. 50).Die Stadt Thun und ihre UmgebungThun als geografischer Schlüssel zum Oberland wurdevon <strong>Bern</strong> sehr bald als existenzsicherndes Hinterland erkannt.Die mächtige Nachbarstadt verhin<strong>der</strong>te dahernach Kräften eine Territorialpolitik <strong>der</strong> Stadt Thun. 1385wurde sie von <strong>Bern</strong> in Besitz genommen.In Thun liefen alle wichtigen <strong>Verkehrswege</strong> entlang<strong>der</strong> Aare, <strong>der</strong> Simme und <strong>der</strong> Kan<strong>der</strong> zusammen. Sammelpunktwar die Sust Freienhof. Hier begannen <strong>der</strong>Seeweg zum Bödeli sowie die Routen nach Kan<strong>der</strong>stegund Zweisimmen. Der einzige Weg aus dem <strong>Bern</strong>erOberland, <strong>der</strong> die Stadt nicht berührte, führte aus demSimmental über Reutigen durchs Stocken- und Gürbetalnach <strong>Bern</strong>. Dieser Saumweg war eine <strong>der</strong> wichtigstenVerbindungen, über die das Staatszentrum regelmässigmit Milchprodukten versorgt wurde. Die gemeinsambeim Freienhof beginnenden Landwege liefen bei zweiVerzweigungen auseinan<strong>der</strong>: Im Gwatt bog <strong>der</strong> Simmentalwegab, in Lattigen westlich von Spiez trennten sichdie Landstrassen nach Frutigen und Unterseen.Die Kan<strong>der</strong>, die nördlich von Thun in die Aare floss,wurde 1714 in den Thunersee geleitet. Man wollte damitdie häufig auftretenden Überschwemmungen bannen.Die Hoffnungen, <strong>der</strong> See vermöge die Wassermassenvon Kan<strong>der</strong> und Simme zu schlucken, erfülltensich jedoch nicht. Wie<strong>der</strong>holt wurde die Stadt überschwemmt,bis eine Seeregulierung mit dem Bau zweierSchleusen sowie die Öffnung des Stadtgrabens von Thunals zweitem Aarelauf die nötige Abflusskapazität schufen.Auch die Verkehrslinien mussten den neuen topografischenVerhältnissen angepasst werden.Der <strong>Bern</strong>er Jura –durch Täler und KlusenDer <strong>Bern</strong>er Jura ist erst seit 1815 Teil des Kantons. Von999 bis 1797 gehörte er zum Fürstbistum Basel undwurde dann, mit dem Einmarsch <strong>der</strong> französischen Truppen,Frankreich einverleibt. Als Ersatz für Teile des Aargausund des Kantons Waadt erhielt <strong>Bern</strong> am WienerKanton <strong>Bern</strong> 17


Kongress die meisten Gebiete des ehemaligen Fürstbistumszugesprochen.Abb. 10: Tavannes – Pierre Pertuis. Ansicht <strong>der</strong>Strasse mit <strong>der</strong> römerzeitlichen Inschrift. Stichnach Alexis Pérignon, um 1780 (ZentralbibliothekZürich, graphische Sammlung).Landschaftlich gehört dieser Kantonsteil zum Kettenjuramit seinen von Südwesten nach Nordosten verlaufendenHöhenzügen. Wichtigste Flüsse sind die Schüssim Längstal von Saint-Imier und die Birs, die, von ihrerQuelle bei Tavannes aus gegen Norden fliessend, tiefeQuertäler (Klusen) hinterlassen hat.Die Verbindung von Biel über das Tal vonDelémont nach Porrentruy und BaselAufgrund <strong>der</strong> bisherigen Fundlage muss angenommenwerden, dass <strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er Jura vor dem Frühmittelalternoch nicht besiedelt war. Schon in <strong>der</strong> Latènezeit(ca. 450–50 v. Chr.) könnte jedoch ein Verkehrswegdurch das Schüss- und Birstal geführt haben. Bei Sonceboz-Tournedosgelang es, anhand von Bearbeitungsspurenim Fels als früheste Strasse eine Art Passerelle ausHolz zu rekonstruieren. Diese bis jetzt in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>einzigartige Anlage lässt sich nicht datieren; es wäreaber durchaus möglich, dass es sich um eine latènezeitlicheKonstruktion handelt (Abb. 9). Eisenzeitliche Fundeim Tal von Delémont sprechen ebenfalls für eine vorrömischeVerbindung von Biel über den Jura.Dass zur Zeit <strong>der</strong> Römer eine Strasse über die PierrePertuis führte, die das Mittelland mit dem Gebiet vonDoubs und Rhein verband, lässt sich hingegen mit Sicherheitnachweisen. In <strong>der</strong> Gemeinde Tavannes konnte einTeilstück des Trassees ausgegraben und ins 1. Jahrhun<strong>der</strong>tn. Chr. datiert werden. Ein weiterer Beleg für dierömische Strasse ist die um 200 n. Chr. datierte Inschriftam Felsentor <strong>der</strong> Pierre Pertuis. Heute wird davon ausgegangen,dass das Felsentor natürlichen Ursprungs ist unddurch die Römer erweitert wurde. Da im 1. Jahrhun<strong>der</strong>tbereits eine Strasse bestand, muss es sich beim Anlass<strong>der</strong> Inschrift um einen Ausbau handeln (Abb. 10).Das Strassenstück bei Tavannes wurde im Frühmittelalternoch einmal repariert, war also damals noch inGebrauch. In dieser Zeit öffneten Mönche von Luxueuil,Saint Germain und Saint Randoald die Klus von Moutier– so berichtet es zumindest ihre Vita. Sie gründetengegen 640 n. Chr. die klösterliche Nie<strong>der</strong>lassung vonMoutier-Grandval mit Saint Germain als erstem Abt. DiePropstei dieses Klosters, zu <strong>der</strong> neben dem Münstertalauch das Vallon de Saint-Imier (Erguel) gehörte, wurde18Kanton <strong>Bern</strong>


im Jahr 999 von Rudolf III., dem letzten König von Burgund,dem Bischof von Basel geschenkt, und das Gebietblieb im Besitz <strong>der</strong> Fürstbischöfe bis zum Einmarsch <strong>der</strong>Franzosen 1797 (Abb. 11).Jacques-Sigismond de Reinach, Fürstbischof von Baselin den Jahren 1737–43, gab 1741 eine Serie von Erlassenheraus mit dem Ziel, die wichtigen Strassen zu verbessern.Sein Nachfolger, Joseph-Guillaume Rinck de Baldenstein,stellte die Strasse von Porrentruy über Bellelaynach Biel 1745 fertig. 1752 eröffnete Rinck de Baldensteindie neue Fahrstrasse durch die Schluchten vonCourt und Moutier. Am nördlichen Eingang verewigte ersich in einer lateinischen Inschrift, <strong>der</strong>en Übersetzunglautet: «Joseph-Guillaume Rinck de Baldenstein, Fürstbischofvon Basel, öffnete im Jahr 1752 diese Strasse, dievon alten Felsen gesäumt ist, hin<strong>der</strong>nde Bergmassenwurden gesprengt und die Birs durch Brücken überquert;ein Werk den Römern ebenbürtig.»Trotz <strong>der</strong> grossen Bewun<strong>der</strong>ung, die die Strasse desFürstbischofs nach ihrem Bau hervorgerufen hatte, genügtesie ein gutes halbes Jahrhun<strong>der</strong>t später den Anfor<strong>der</strong>ungen<strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er Regierung bereits nicht mehr. DieKritik galt vor allem den grossen Steigungen und denhohen Unterhaltskosten. In mehreren Etappen wurdedaher ab 1831 das ganze Trassee ab Bözingen ausgebautund durchgehend auf 7 Meter Breite erweitert. In<strong>der</strong> Schlucht von Court verlegte man die Strasse auf dierechte Seite – entgegen den eindringlichen Warnungen<strong>der</strong> Behörden von Moutier. Wie vorausgesagt, wurde dieStrasse in <strong>der</strong> Klus nun wie<strong>der</strong>holt von Bergstürzen zugeschüttet,was enorme Reparaturkosten nach sich zog.Doch erst nach einem Bergsturz im Jahr 1937 verlegteman die Strasse wie<strong>der</strong> auf das linke Birsufer und dasTrassee von 1752. Bei den Bauarbeiten von 1938 stürztedie Inschrift von Fürstbischof Rinck de Baldenstein in denFluss und wurde zerstört. Neben <strong>der</strong> kurz darauf angebrachtenKopie fügte man eine neue Inschrift hinzu:«Cette route a été construite en 1938/39 sur l’ancienchemin du prince évêque de Bâle Joseph-GuillaumeRinck de Baldenstein à la suite du glissement de terrainsurvenu au milieu des gorges en mars/avril 1937.»Das Vallon de Saint-ImierAusgangspunkt <strong>der</strong> Besiedlung des Vallon de Saint-Imierwar wohl die Einsiedlerzelle des heiligen Himerius (SaintImier), <strong>der</strong> gemäss <strong>der</strong> Legende im 7. o<strong>der</strong> 8. Jahrhun<strong>der</strong>tgelebt hat. Über seinem Grab ist eine Mönchszelle entstanden,die 884 von Karl dem Dicken an die Abtei Moutier-Grandvalüberging und bald zum Wallfahrtsortwurde. Mit <strong>der</strong> Propstei Moutier-Grandval gelangte dasAbb. 11: Karte <strong>der</strong> Propstei Moutier-Grandval,gezeichnet 1741. Kopie von 1767 (Staatsarchiv<strong>Bern</strong>).Kanton <strong>Bern</strong> 19


Tal im Jahr 999 in den Besitz des Fürstbischofs von Basel,gehörte aber kirchlich noch bis zur Reformation zumBistum Lausanne.Eine erste befestigte Talstrasse, die über Les Pontinsund Le Pâquier ins Val de Ruz und nach Neuchâtel führte,wurde 1793 gebaut. Gemäss einem Bericht an diebernischen Räte von 1800 erschloss sie einen wichtigenHandelsweg, über den Mehl aus <strong>der</strong> Kornkammer desPruntruter Beckens in das Gebiet von Neuenburg gebrachtwurde. Mit dem Aufschwung <strong>der</strong> Uhrenindustriegewann die Strasse durch das Vallon de Saint-Imier mitihrer Fortsetzung nach La Chaux-de-Fonds und Le Loclevor allem im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t an Bedeutung. Von <strong>der</strong>ursprünglichen Heimarbeit wurde ab 1800 auf Atelierundin <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts aufFabrikbetrieb umgestellt. Die Täler des Südjuras erlebtendie tiefgreifendste Industrialisierung im Kanton <strong>Bern</strong>, <strong>der</strong>durch die Anglie<strong>der</strong>ung des Fürstbistums Basel 1815zum grössten Uhrmacherkanton <strong>der</strong> damaligen <strong>Schweiz</strong>wurde. Fast jedes Dorf in den Tälern <strong>der</strong> Schüss und <strong>der</strong>Birs erhielt eine Fabrik.Dies hatte auch Folgen für den Strassenbau. 1820/21wurde die Strecke von Renans auf die Cibourg verlegtund begradigt, um den Steigungen auszuweichen, undab 1840 bis in die 1860er-Jahre folgten weitere Verbesserungen<strong>der</strong> Strasse. Nach einer <strong>der</strong> vielen Feuersbrünstelegte man in Saint-Imier 1843 einen neuen öffentlichenPlatz an, die Place du Marché. Der Ort wurde zum Zentrum<strong>der</strong> südjurassischen Uhrenindustrie, <strong>der</strong>en immerzahlreicher werdende Arbeitsplätze nicht nur Männerund Frauen aus <strong>der</strong> ganzen <strong>Schweiz</strong>, son<strong>der</strong>n auch ausdem benachbarten Frankreich anzogen.Die Verkehrsgeschichte geht weiter –die Zeugnisse bleibenMit dem Ausbau des Kunststrassennetzes im 19. Jahrhun<strong>der</strong>tist die Verkehrsgeschichte des Kantons <strong>Bern</strong>nicht abgeschlossen – vielmehr steht sie vor einer neuenEpoche, in <strong>der</strong> das Verkehrssystem ganz neu organisiertwird: Im Sommer 1857 dringt die erste Eisenbahn imKanton durch das Mittelland bis <strong>Bern</strong>-Wylerfeld vor, undin den nächsten Jahren folgen sich die Eröffnungen <strong>der</strong>Bahnlinien Schlag auf Schlag. Ortschaften, die bislangabseits <strong>der</strong> Verkehrsströme gelegen haben, profitierenvon neuer Standortgunst, an<strong>der</strong>e geraten dafür ins Hintertreffen.Vor dem Ersten Weltkrieg erreicht die Eisenbahndie höchsten Höhen und die abgelegenstenTäler – und schon erscheinen die ersten Autos auf denStrassen. Ihr Siegeszug wird das Verkehrsgeschehen inden nächsten Jahrzehnten bestimmen, in verstärktemMasse nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Netz vonHochleistungsstrassen entsteht, wie<strong>der</strong>um wird die Verkehrsgunstvon Tälern und Ortschaften neu definiert.Längst manifestieren sich auch die Nachteile eines überbordendenVerkehrs für Natur und Umwelt, und <strong>der</strong>sinnvolle Umgang mit einer grenzenlosen Mobilität wirdeine <strong>der</strong> grossen Herausfor<strong>der</strong>ungen für kommendeGenerationen sein.Gerne geht da vergessen, dass das Reisen und <strong>der</strong>Transport von Waren noch bis vor 200 Jahren eine mühsameAngelegenheit mit vielen Unwägbarkeiten war.Die Zeugnisse des Verkehrs von einst in unserer Landschaft– etwa die Geleisewege im Jura, die Hohlwegbündelund Brücken im Mittelland o<strong>der</strong> die gepflastertenSaumpfade <strong>der</strong> Alpen – sind daher wichtige Kulturgüter,die es zu erhalten und zu schützen gilt.LiteraturBandelier, André u. a.: Nouvelle Histoire du Jura. Porrentruy 1984.Baumann, Gotthilf: Das <strong>Bern</strong>ische Strassenwesen bis 1798. Sumiswald1924.Beer, Ellen E. u. a. (Hrsg.): <strong>Bern</strong>s Grosse Zeit. Das 15. Jahrhun<strong>der</strong>t neuentdeckt. <strong>Bern</strong> 1999.Der <strong>Bern</strong>er Jura und sein Kanton. Über ein halbes Jahrtausendgemeinsame Geschichte. <strong>Bern</strong> 1986.Bösch, Ruedi: Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t setzte <strong>Bern</strong> neue Massstäbe imStrassenbau. In: Wege und Geschichte 1, 2002, S. 19 ff.Carnal, Jean-René u. a.: Histoire du Jura bernois et de Bienne.<strong>Bern</strong> 1995.Gerber, Christophe: La route romaine transjurane de Pierre Pertuis.Recherches sur le tracé romain entre le Plateau suisse et les bassins duDoubs et du Rhin. <strong>Bern</strong> 1997.Grosjean, Georges u. a.: Kanton <strong>Bern</strong>. 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In: CartographicaHelvetica 22, 2000, S. 31 ff.20Kanton <strong>Bern</strong>


Frühe Zeugen <strong>der</strong> VerkehrsgeschichteRömerstrassen:Funde und BefundeDie Strassen, die zur Römerzeit das Mittelland und den Jura durchzogen, sind mit denPrachtstrassen Roms wie etwa <strong>der</strong> Via Appia nicht zu vergleichen. Trotzdem weisensie eine Vielzahl interessanter Bauformen auf, wie verschiedene Ausgrabungen imGebiet des Kantons <strong>Bern</strong> belegen.Für die Rekonstruktion des römischen Strassennetzeswerden in erster Linie drei wichtige Quellenbenutzt: die Tabula Peutingeriana – die mittelalterlicheKopie einer Strassenkarte aus dem 5. Jahrhun<strong>der</strong>tn. Chr. –, das Itinerarium Antonini – ein etwas früherentstandenes Routenverzeichnis – sowie die Meileno<strong>der</strong>Leugensteine – bis zu 3 Meter hohe, in regelmässigenAbständen den Strassen entlang aufgestellte, mitDistanzangaben versehene Steinsäulen.Im Gebiet des heutigen Kantons <strong>Bern</strong> bezeugen dieseQuellen eine Strasse, die vom Genferseegebiet überAvenches (Aventicum), Studen (Petinesca) und Solothurn(Salodurum) nach Augst (Augusta Rauracorum) führte.Sie konnte zusätzlich durch archäologische Ausgra­Abb. 1: Profil durch den antiken Strassenzugwestlich von Kallnach mit zwei übereinan<strong>der</strong>liegenden Strassengenerationen (Ziffern 5 und8) und <strong>der</strong> tragenden Holzkonstruktion an <strong>der</strong>Basis (Zwahlen 1990: 202 Abb. 10).bungen an verschiedenen Stellen nachgewiesen werden.Die Mittellandtransversale: unterschiedlicheStrassenkonstruktionen in Kallnach …In <strong>der</strong> Nähe von Kallnach wurde 1972 das Trassee einerzweiphasigen ehemaligen Strasse mit Bretterunterlage,Entwässerungskanal und Prügelrost ausgegraben. DasProfil (Abb. 1) zeigt den Aufbau: Auf dem Untergrundaus lehmigem Torf (1) sind verschiedene Konstruktionenaus Holz sichtbar (2, 3, 4), die im Zusammenhang miteiner ersten Strasse (5) stehen. Von dieser ist eine Steinkofferungmit Resten des Kieskörpers erhalten. Bei <strong>der</strong>einen Holzkonstruktion (2) handelt es sich um eine Art inden Torf eingetieften Kanal aus Brettern, die mit Pfostenverstrebt sind. Dieser Kanal diente wahrscheinlich <strong>der</strong>Entwässerung; ähnliche Beispiele sind aus dem römischenvicus in Oberwinterthur bekannt. Die zweite Holzkonstruktionliegt zur Ebene hin abgestuft; es ist ein leicht inden Torf eingedrückter Prügelrost (3), <strong>der</strong> in einem spit­Kanton <strong>Bern</strong> 21


zen Winkel von <strong>der</strong> Strasse wegführt. Die Hölzer sind rohbehauen o<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Oberfläche durch die Begehungabgenutzt. Verschiedene grobe Bretter (4) wurden alsUnterlage für den Strassenkoffer auf den Torf gelegt.Diese erste Strasse hat eine Breite von etwa 5 Metern.Sie lässt sich aufgrund <strong>der</strong> Holzfunde als vorrömisch o<strong>der</strong>römisch datieren und dient <strong>der</strong> jüngeren Strasse (8) alsUnterlage.Abb. 2 (oben): Studen-Vor<strong>der</strong>berg. SchematischesProfil, rekonstruierter Schnitt durch dieerste Strasse. Blick nach Osten. A: Anstehendes.B: Auffüllung. C: Strassenkoffer.D: Verbauung am hangseitigen Böschungsfuss(Zwahlen 2002: 13 Abb. 4, Profil 300).Abb. 3 (unten): Studen-Vor<strong>der</strong>berg. Rekonstruktion.Trassee <strong>der</strong> von Westen her aufsteigendenStrasse, in den Hang eingeschnitten.Der nördliche Strassenrand wird voneinem Faschinenzaun gesichert. Nördlich <strong>der</strong>Strasse wird Kies abgebaut (Zwahlen 2002:41 Abb. 28).… in Studen …In <strong>der</strong> Flur Vor<strong>der</strong>berg in Studen konnte in den Jahren1985 bis 1992 <strong>der</strong> untere Teil <strong>der</strong> Siedlung des römischenPetinesca (Anfang 1. bis 2. Hälfte 3. Jahrhun<strong>der</strong>tn. Chr.) untersucht werden. Auf <strong>der</strong> untersten Hangterrassedes Jäissberges, etwa 30 Meter über <strong>der</strong> ehemaligenAareebene, reihten sich mehrere Vicushäuseram Nordrand einer Strasse entlang, die <strong>der</strong> südlichenTerrassenkante folgte. Die Strasse entstand im Zusammenhangmit einem umfangreichen Kiesabbau, <strong>der</strong> im1. Jahrzehnt n. Chr. stattgefunden hatte, also noch bevordie ersten Gebäude aus Holz errichtet wurden. Dieserfrühe Strassenbau muss mit <strong>der</strong> Strassenführung vonAventicum über Kallnach und durch das Grosse Moosnach Petinesca in Verbindung stehen.Um die Strasse von Westen her auf die Terrasse zuführen, wurde eine Rampe in das Gelän<strong>der</strong>elief geschnitten;die Böschung am Nordrand <strong>der</strong> Strasse stabilisierteman mit Faschinen-Zäunen (Abb. 2 und 3). Die Archäologenlegten eine Reihe von insgesamt 53 Pfählen frei,die einen Durchmesser von rund 10 Zentimeter aufweisenund in Abständen von 25 bis 50 Zentimeter auf­22Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 4: Rekonstruktion <strong>der</strong> römischen Mittellandtransversalebei Arch. Blick gegen Nordosten(Jahrbuch <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erischen Gesellschaftfür Ur- und Frühgeschichte 86, 2003:225 Abb. 12).gereiht sind. Die Deutung als Flechtzaun ergibt sich ausdem Vergleich mit ähnlichen Befunden an an<strong>der</strong>en Orten.In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> sind solche Strassenbefestigungenauch aus Augst und Oberwinterthur bekannt.… und in ArchEin 35 Meter langes Teilstück <strong>der</strong> römischen Mittelland-Transversale wurde 1991 in Arch freigelegt. Die verschiedenenKiesschichten zeigen, dass <strong>der</strong> Strassenbelagachtmal erneuert wurde (Abb. 4). Auf den Fahrbahnensind als Spuren <strong>der</strong> Benutzung noch deutlich Fahrrinnenzu erkennen. Südlich <strong>der</strong> Fahrbahn verlief ein Gehweg,<strong>der</strong> wohl für Fussgänger und für Vieh angelegt wordenwar. Dazu wird die Strasse auf beiden Seiten von Spitzgräbenbegleitet, die <strong>der</strong> Entwässerung dienten.Ausserdem wurde in Arch eine Wegmarkierung inForm eines Leugensteins gefunden. Die darauf eingehaueneInschrift verrät, dass <strong>der</strong> Stein zur Regierungszeitdes Carinus, also zwischen Herbst 282 und Frühjahr285 n. Chr., aufgestellt worden war. Ob dies nur eineLoyalitätsbezeugung an den Kaiser ist o<strong>der</strong> auf eineStrassenerneuerung hindeutet, lässt sich nicht mehr feststellen.Die Distanzangabe von 20 Leugen entspricht 44Kilometern und somit <strong>der</strong> Entfernung nach Aventicum(Avenches), auf dem Weg über Lyss–Aarberg–Kallnach.Um die Erkenntnisse <strong>der</strong> Ausgrabungen in Arch öffentlichzugänglich zu machen, richtete die <strong>Bern</strong>er Kantonsarchäologieeinen Schauraum ein, <strong>der</strong> das ganzeJahr über geöffnet ist. Hier findet sich auch die nachgebauteAchse mit Rä<strong>der</strong>n eines römischen Reise- o<strong>der</strong>Transportwagens aus Eichen- und Eschenholz.Die Abzweigung von Studen über die PierrePertuis: eine Inschrift und ein StrassenprofilAufgrund <strong>der</strong> zahlreichen Gutshöfe im Mittelland lässtsich mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dassneben den Hauptrouten, die durch die Itinerarienund Meilensteine bekannt sind, ein dichtes Netz vonweiteren römerzeitlichen Strassen und Wegen unterschiedlicherBedeutung bestanden haben muss. Ein Beispieleiner römischen Strasse, die nur durch archäologischeAusgrabungen und durch eine Inschrift belegtwerden kann, ist diejenige, die beim vicus PetinescaLiteraturBacher, René; Ramseyer, Karl: Arch und Büren a. A. 1991. ZurRömerstrasse zwischen Petinesca und Salodurum. In: Archäologie imKanton <strong>Bern</strong>, Band 3B, <strong>Bern</strong> 1994: S. 375 ff.Gerber, Christophe: La route romaine transjurane de Pierre Pertuis.Recherches sur le tracé romain entre le Plateau suisse et les bassins duDoubs et du Rhin, <strong>Bern</strong> 1997.Herzig, Heinz E.: Altstrassenforschung zwischen Geschichte,Geographie und Archäologie dargestellt am Beispiel <strong>der</strong> Römerstrassendes schweizerischen Mittellandes. In: Archäologisches Korrespondenzblatt25, 1995: S. 209 ff.Herzig, Heinz E.: Arch – Römerstrasse 1991. Der Leugenstein –Geschichte und Topographie. In: Archäologie im Kanton <strong>Bern</strong>, Band 3B,<strong>Bern</strong> 1994: S. 392 ff.Suter, Peter J.; Ramseyer, Karl: Bargen – Chäseren 1990.Profilschnitt durch die römische Strasse. In: Archäologie im Kanton <strong>Bern</strong>,Band 2B, <strong>Bern</strong> 1992: S. 251 ff.Zwahlen, Rudolf: Römische Strassen im bernischen Seeland.In: Archäologie im Kanton <strong>Bern</strong>, Band 1, <strong>Bern</strong> 1990: S. 197 ff.Zwahlen, Rudolf: Vicus Petinesca – Vor<strong>der</strong>berg. Die Holzbauphasen.2 Bde. <strong>Bern</strong> 1995 (1. Teil) und 2002 (2. Teil).Kanton <strong>Bern</strong> 23


Abb. 5: Tavannes-Tavapan: erster Rekonstruktionsversuch<strong>der</strong> römischen Strasse (Gerber1997: 63 Abb. 70).(Studen) von <strong>der</strong> Mittellandtransversale abzweigte undnach Norden über die Pierre Pertuis in das Tal von Delémontführte.Am Felsentor <strong>der</strong> Pierre Pertuis ist eine um 200n. Chr. datierte römische Inschrift angebracht; sie istschon von Mönchen des 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts bemerkt worden.Der lateinische Text lautet in <strong>der</strong> Übersetzung: «Fürdie Göttlichkeit <strong>der</strong> Kaiser ist diese Strasse gebaut wordendurch Marcus Dunius Paternus, Bürgermeister <strong>der</strong>Kolonie <strong>der</strong> Helvetier.»Der erwähnte Strassenbau muss eher ein Ausbaueiner bestehenden Anlage gewesen sein, denn in denJahren 1992 bis 1994 durchgeführte Ausgrabungen habenergeben, dass eine entsprechende Strasse zur Entstehungszeit<strong>der</strong> Inschrift bereits existiert hatte. Südlichdes Dorfes Tavannes konnte ein Teilstück ihres Trasseesausgegraben und ins 1. Jahrhun<strong>der</strong>t n. Chr. datiert werden.Wie ihre verschiedenen Schichten zeigen, entstanddie Strasse in vier Etappen: Zuunterst wurden Holzbohlenin Längsrichtung <strong>der</strong> Fahrbahn hingelegt, darauffolgte eine Schicht mir quer liegenden Hölzern. Diesebedeckte man mit grobem Kies, auf dem die Fahrbahnmit feinerem Kies angelegt wurde (Abb. 5).Die im Gebiet des Kantons <strong>Bern</strong> bekannten Strassenrestezeigen somit alle Elemente, die für römische Strassennördlich <strong>der</strong> Alpen typisch sind, auch wenn sie nichtbei je<strong>der</strong> Strasse vorkommen müssen: ein Strassenbettaus mehreren Kiesschichten, bei feuchtem Boden tragendeUnterbauten aus Holz, ein parallel zur Fahrbahnverlaufen<strong>der</strong> Gehweg, Spitzgräben zur Entwässerungsowie ein Faschinenzaun als seitliche Verbauung zumSchutz des Trassees.24Kanton <strong>Bern</strong>


Vorläufer des SchienenverkehrsGeheimnisvolle GeleisestrassenZu den aussergewöhnlichsten und spektakulärsten historischen <strong>Verkehrswege</strong>ngehören die so genannten Geleisestrassen. Wegen ihrer archaischen Formen werdensie gerne in die römische Epoche datiert. Das trifft zwar in den wenigsten Fällen zu,tut aber <strong>der</strong> Faszination ihrer Relikte keinen Abbruch. Auch im Kanton <strong>Bern</strong> habensich mehrere Geleisestrassen erhalten.Geleisestrassen bestehen aus einem Rillenpaar,das in <strong>der</strong> Regel in einer anstehenden Felsoberflächeeingearbeitet ist. Ausnahmsweise kanndie Oberfläche auch aus einer Pflasterung o<strong>der</strong> einemHolzbelag gebildet sein. Ähnlich den Tramschienenhaben die Geleiserillen die Funktion, die Fahrzeuge aufeiner vorgegebenen Linie zu führen. Beson<strong>der</strong>s vor dem19. Jahrhun<strong>der</strong>t spielte diese Wegform eine wichtigeRolle, weil bis zu diesem Zeitpunkt die Fahrzeuge nur miteinfachsten Bremssystemen ausgestattet waren. Mussteein Wagen talwärts fahren, blockierte man ihm mit einerKette die Rä<strong>der</strong> und schleifte das Gefährt so bergab.Ohne Führungsrillen war es sehr wohl möglich, dass einFahrzeug auf <strong>der</strong> felsigen Oberfläche ins Rutschen kamund vom Weg abglitt.In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> kommen Geleisestrassen hauptsächlichim Jura vor, wo das Kalkgestein günstige Voraussetzungenfür <strong>der</strong>en Anlage bot. Bedeutend weniger häufigsind die Vorkommen in den Alpen und im Mittelland.Auf bernischem Boden gibt es drei spektakuläre Geleisestrassen,nämlich bei Frinvillier, in <strong>der</strong> Nähe von Tavannessowie im Aufstieg von Grandval auf den Mont Raimeux.Nicht mehr sichtbar, aber dennoch erwähnenswert istdie Geleisestrasse von Sonceboz, die anlässlich des Baus<strong>der</strong> «Transjurane» durch den archäologischen Dienst desKantons <strong>Bern</strong> untersucht und nach Abschluss <strong>der</strong> Arbeitenwie<strong>der</strong> zugeschüttet wurde. An dieser Stelle verdientauch die grösste in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> vorhandene Anlageeine Erwähnung: Das komplexe System von Geleisestrassenim Aufstieg von Vuitebœuf nach Ste-Croix liegtheute zwar im waadtlän<strong>der</strong> Jura – ein grosser Teil <strong>der</strong>Anlage geht aber auf die Zeit zurück, als das Waadtlandin bernischem Besitz war (Abb. 1).Sowohl bei den Laien als auch bei den Fachleutenbesteht eine grosse Tendenz, Geleisestrassen als Überbleibseldes römischen Strassennetzes zu betrachten. EinAbb. 1: Geleisestrasse im Aufstieg vonVuitebœuf nach Ste-Croix VD. Deutlich ist dasRillenpaar zu erkennen (GS).Kanton <strong>Bern</strong> 25


Forschungsprojekt von ViaStoria hat aber gezeigt, dassdie meisten Geleisestrassen über mehrere Jahrhun<strong>der</strong>tein Betrieb waren, aber im Laufe <strong>der</strong> Zeit – wegen starkerAbnutzung – immer wie<strong>der</strong> neue Trassees erstellt wurden.Die Geleisestrassen, die heute sichtbar sind, stammendeshalb zum grössten Teil aus nachrömischer Zeit,meist aus dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t. Häufig sind danebenaber auch noch Reste von älteren Trassees zu erkennen.Die Geleisestrassen von Frinvillierbeim «Martinsklafter»Nur fünf Wan<strong>der</strong>minuten oberhalb des Bahnhofs vonFrinvillier sind am Eingang <strong>der</strong> Klus von Reuchenette dreiStrassengenerationen auf engstem Raum vertreten. ImGegensatz zur heutigen doppelspurigen Schnellstrasse,die mit einem längeren Tunnel in die Klus hineinführt,beschreibt die alte Kantonsstrasse von 1858 einen Bogenund durchstösst den Felsriegel nur mit einem kurzenTunnel. Ganz ohne Durchstich kommt die noch ältereWeggeneration aus. Ein Teilstück davon ist in Form einerGeleisestrasse über dem Tunnel <strong>der</strong> Kantonsstrasse erhalten(Abb. 2, 3).Abb. 2 (oben): Wegsituation bei Frinvillier mitdem aufgelassenen Teilstück <strong>der</strong> Kunststrasseund, rechts über dem Tunnel, <strong>der</strong> Verflachungmit den Vorgängerstrassen und <strong>der</strong> Nische desMartinsklafters (RB).Abb. 3 (rechts): Die Situation bei Frinviller umfasstein Rillenpaar, Trittstufen, Relikte vonälteren Rillen und, im Hintergrund, das Kiespaketund einen Randstein von jüngerenWeganlagen (RB).Ein über zehn Meter langes Rillenpaar, das in <strong>der</strong>freigelegten Felsfläche eingearbeitet ist und eine Spurweitevon rund 105 Zentimetern aufweist, bestimmt dieAnlage. Trittstufen zwischen den Rillen haben den Zugtierenund den Passanten zusätzlichen Halt gegeben.Daneben weisen aber weitere Rillenrelikte darauf hin,dass hier eine Abfolge verschiedener Trassees vorliegt.Archäologische Untersuchungen haben ergeben,dass diese Geleisestrassen bis mindestens zum Ende desMittelalters, vielleicht sogar bis ins 18. Jahrhun<strong>der</strong>t inBetrieb waren. Anschliessend wurden sie von Fahrwegenmit einer Kiesoberfläche abgelöst: Im Paket aus Lockermaterial,das über den Geleisestrassen lag, konnten dieArchäologen eine Abfolge von fünf jüngeren Fahrwegenidentifizieren, die noch bis zum Bau <strong>der</strong> Kantonsstrassevon 1857 angelegt wurden. Wann die allererste Geleisestrasseeingerichtet wurde, konnte bis jetzt nicht geklärtwerden. Es gilt als fast sicher, dass die Wegpassageüber dem Tunnel <strong>der</strong> Kantonsstrasse bereits zur Römerzeitbenutzt wurde: 1918 fand man das Fragment einerrömischen Inschrift, die <strong>der</strong> Gottheit Mars gewidmetwar. Vermutlich stand diese Inschrift zusammen miteiner Statue des Mars in <strong>der</strong> Felsnische, die neben demWeg zu finden ist und als «Martinsklafter» bekannt ist.Man nimmt an, dass mit <strong>der</strong> Christianisierung die römischeGottheit Mars durch eine Statue des heiligenMartin ersetzt wurde, was den heutigen Namen erklärenwürde.Die Geleisestrassen bei TavannesDer direkteste Weg von Tavannes nach Tramelan führtdurch das Tälchen von Malvaux und über die Anhöhe26Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 4 (links): Die Geleisestrasse von Tavannesumfasst Rillen unterschiedlicher Breite von zweiWeganlagen (GS).Abb. 5 (rechts): Der «Schnegg», ein einachsigesGefährt mit Kufen, ist ein traditionelles Transportmittelim <strong>Bern</strong>er Jura. Es ist möglich, dassdie Geleisestrasse von Tavannes für solcheKonstruktionen angepasst wurde. Darstellungaus einem landwirtschaftlichen Lehrbuch von1903 (oben) und Foto eines Exemplars ausRenan (unten; Foto Christian Aebi).von La Tanne. Das Tälchen steigt im unteren Teil sanft anund wird in <strong>der</strong> Sohle landwirtschaftlich genutzt. Derobere Teil verengt sich zu einem Kerbtal, das vollständigbewaldet ist. Dieses Kerbtal wird heute von einerälteren, gepflasterten Forststrasse erschlossen, die demsüdlichen Rand <strong>der</strong> Talsohle folgt. Ihr gegenüber, amnördlichen Rand, verläuft eine noch ältere Weganlage,die sich in <strong>der</strong> unteren Partie meist als überwucherterHohlweg manifestiert. In <strong>der</strong> oberen Partie ist die Anlagean drei Stellen aufgeschlossen: Hier können insgesamt60 Meter einer eindrücklichen Geleisestrassebesichtigt werden (Abb. 4).In <strong>der</strong> Felsoberfläche finden sich Rillen von zweiWeggenerationen, die stellenweise eng miteinan<strong>der</strong> verflochtensind. Auffallend sind die unterschiedlichen Formenund Dimensionen <strong>der</strong> Rillen. Während diejenigen<strong>der</strong> jüngeren Anlage eng und in <strong>der</strong> Sohle gerundet sind,weisen jene <strong>der</strong> älteren Anlage eine flache Sohle auf,und sie sind breiter.Für diese Unterschiede gibt es zwei denkbare Erklärungen:Es ist möglich, dass die ältere Geleisestrasseim Gegensatz zur jüngeren, auf <strong>der</strong> nur Gefährte mitstandardisierter Spurweite verkehren konnten, den Verkehrvon Wagen mit verschiedenen Spurweiten zuliess.O<strong>der</strong> es haben auf den beiden Anlagen zur gleichen Zeitunterschiedliche Gefährte verkehrt. Die breiten, flachenRillen könnten dem Verkehr mit Schlitten und dem«Schnegg» gedient haben – einem nie<strong>der</strong>en, einachsigenWagen mit kleinen Rä<strong>der</strong>n und Kufen am Vor<strong>der</strong>teil(Abb. 5) –, die gerundeten, schmalen Rillen hingegenwären für die konventionellen Einachswagen in den Felsgeschlagen worden.Ein weiteres Merkmal <strong>der</strong> Geleisestrassen von Tavannesist, dass ihre Gehfläche zwischen den Rillen fastüberall mit Stufen für Menschen und Tiere versehen ist.In diese sind Wannen eingetieft, die den Hufen <strong>der</strong> Zugtiereeinen zusätzlichen Halt gaben.An <strong>der</strong> bergseitigen Böschung findet sich zudemeinige Meter über den Geleisestrassen ein in den Felseingehauener Hangweg. Dieser ist das Trassee einerweiteren Geleisestrasse mit einer deutlich grösserenSpurweite (112 cm, gegenüber 105 cm <strong>der</strong> jüngstenAnlage).Bis vor wenigen Jahren sind auch die Anlagenbei Tavannes als Wegrelikte <strong>der</strong> Römer o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong>Kelten angesehen worden. Inzwischen hat eine archäologischeGrabung im Tal von Malvaux aber neueErkenntnisse gebracht: Profilschnitte in <strong>der</strong> östlichenFortsetzung <strong>der</strong> Geleisestrassen im offenen Geländezeigen eine Abfolge von zwei übereinan<strong>der</strong> liegendenWegen. Die Funde, die bei den Grabungen zum Vorscheingekommen sind, deuten darauf hin, dass beideWege im Mittelalter angelegt worden waren. Der jüngereWeg geht dabei auf das 14. o<strong>der</strong> 15. Jahrhun<strong>der</strong>tzurück und ist vermutlich bis ins 18. Jahrhun<strong>der</strong>t benutztworden. Noch 1786 ersuchte <strong>der</strong> Landvogt von Erguelim Vallon de Saint-Imier den Fürstbischof von Basel, ersolle die Sanierung des Weges von Tramelan nach Tavannesveranlassen. Ein beson<strong>der</strong>s heikles Wegstück seieine «espèce de mauvaise charrière ou coulisse qui pendantune lieue [...] ne permet le passage des chardsqu’au péril des gens et des bêtes et des voitures». Relikteaus römischer Zeit wurden bei den Grabungen keine gefunden.Kanton <strong>Bern</strong> 27


Abb. 6: Der Felseinschnitt am Mont Raimeuxöstlich von Moutier. Die Geleisestrasse weisthier eine mittlere Steigung von 25 % auf (GS).Die Geleisestrasse am Mont RaimeuxDer Mont Raimeux, eine Bergkette östlich von Moutier,ist bekannt für die ausgezeichneten Weiden auf seinenHöhen. Die teilweise ganzjährig bewohnten Höfe wurdenschon immer aus dem Tal von Grandval erschlossen.Im Laufe <strong>der</strong> Zeit sind hier Fuss- und Saumwege, späterdann Karr- und Fahrwege entstanden. Beson<strong>der</strong>s gutlässt sich diese Entwicklung beim Aufstieg von Grandvalzum Raimeux de Grandval verfolgen, wo fast auf <strong>der</strong>ganzen Länge sowohl <strong>der</strong> Saum-/Karrweg als auch <strong>der</strong>spätere Fahrweg mit ihrer traditionellen Bausubstanz erhaltensind (Abb. 6).Während <strong>der</strong> jüngere Fahrweg aus dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>tmit mässiger Steigung und ausgedehnten SchlaufenHöhe gewinnt, verläuft <strong>der</strong> Saum-/Karrweg wesentlichdirekter und damit steiler in <strong>der</strong> felsigen Steilstufe. Eineindrückliches Zeugnis dieses Karrweges kann zuoberstin <strong>der</strong> Stufe, auf 1160 Metern Höhe, besichtigt werden:Es ist ein 15 Meter langer Felseinschnitt mit einer darineingearbeiteten Geleisestrasse.Als beson<strong>der</strong>e Eigenheiten dieser Anlage sind dieüberdurchschnittlich breiten, wannenförmigen Rillen zuerwähnen sowie die zahlreichen darin eingemeisseltenKerben, die quer zur Fahrrichtung verlaufen und sich ineinem unregelmässigen Abstand folgen. WelchemZweck diese Kerben gedient haben, ist ungewiss. Solltedamit die Oberfläche griffiger gemacht werden? Sinddiese ein erster Schritt einer Sanierung? O<strong>der</strong> dienten siezur Verankerung von Pflastersteinen, die in einer späterenPhase <strong>der</strong> Verwendung des Weges in die Rillengelegt wurden, um diese einzuebnen? Ein kurzes Stückeines solchen Rillenpflasters kann jedenfalls heute nochfestgestellt werden. Kerben sind übrigens nicht nur inden Rillen des Felseinschnittes vorhanden, son<strong>der</strong>n erscheinenimmer wie<strong>der</strong> dort, wo im Weg <strong>der</strong> anstehendeFels zum Vorschein kommt.Auch im Felseinschnitt am Mont Raimeux könnenneben dem zuletzt benutzten Trassee Rillenrelikte vonälteren Weggenerationen festgestellt werden. Diese befindensich bis 40 Zentimeter über <strong>der</strong> aktuellen Oberflächeund bezeugen die Entwicklung des Weges übereine längere Zeit.Was für Gefährte sind auf diesem son<strong>der</strong>baren Wirtschaftswegzum Einsatz gekommen? Zwei wesentlicheGründe sprechen dafür, dass es sich nur um Schlitteno<strong>der</strong> schlittenähnliche Transportmittel gehandelt habenkann: Der eine Grund ist die Steilheit des Weges, aufdem eine Bergfahrt mit einem Karren äusserst mühsamund eine Talfahrt wegen fehlen<strong>der</strong> Bremsen sehr riskantgewesen wäre. Ein Schlitten hingegen konnte mit wesentlichgeringerem Aufwand hinaufgetragen werden,und die starke Reibung bremste den Transport bei <strong>der</strong>Talfahrt. Der an<strong>der</strong>e Grund ist die Ausformung <strong>der</strong> Rillen.Mit ihrer überdurchschnittlichen Breite und Wannenformsind sie ganz auf die Benutzung mit Schlitten ausgerichtet.Als <strong>der</strong> Felseinschnitt 1981 wie<strong>der</strong>entdeckt wurde,kam die Hypothese auf, es könnte sich um einen römischenWeg zur Umgehung <strong>der</strong> Klus von Moutier handeln.Viel wahrscheinlicher ist aber, dass dieser Weg demTransport <strong>der</strong> lokalen Erzeugnisse gedient hat, die aufdem Mont Raimeux seit seiner Kolonisierung im Mittelalterproduziert werden, und dass er bis zum Bau <strong>der</strong>jüngeren Fahrstrasse um die Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>tsin Betrieb blieb.LiteraturGerber, Christophe: La route romaine transjurane de Pierre Pertuis.Recherches sur le tracé romain entre le Plateau suisse et les bassins duDoubs et du Rhin. <strong>Bern</strong> 1997.Schnei<strong>der</strong>, Guy: Karrgeleise. Einige allgemeine Überlegungen und <strong>der</strong>Versuch, die Geleiselandschaft von Vuitebœuf/Ste-Croix VD zeitlicheinzuordnen. In: Bulletin <strong>IVS</strong> 95/1. <strong>Bern</strong> 1995.Schnei<strong>der</strong>, Guy: Mythos Karrgeleise. In: Wege und Geschichte 1.<strong>Bern</strong> 2002.28Kanton <strong>Bern</strong>


<strong>Bern</strong> als Vorbild für den mo<strong>der</strong>nen StrassenbauKunststrassen – Grundlage desheutigen HauptstrassennetzesIm 18. Jahrhun<strong>der</strong>t setzten Frankreichs Ingenieure neue Massstäbe im Strassenbau.Ihre bei jedem Wetter gut befahrbaren Kunststrassen waren eine wichtige Grundlagefür die Ausübung <strong>der</strong> Herrschaft im zentralistischen Königreich. Der Staat <strong>Bern</strong> folgtedem französischen Vorbild schon bald und erbaute zunächst im Mittelland, späterauch in den Alpen, ein Strassennetz, das weitherum als vorbildlich galt.Nach <strong>der</strong> Eroberung des Aargaus (1415) und <strong>der</strong>Waadt (1536) erstreckte sich das bernischeTerritorium von <strong>der</strong> Reuss bis an den Genfersee.Schon damals war das Hauptstrassennetz bemerkenswertsystematisch. Von <strong>der</strong> Hauptstadt aus liefenmehrere Königsstrassen (Regiae viae) spinnenförmig indas <strong>Bern</strong>er Staatsgebiet. Die Ausrichtung auf <strong>Bern</strong> weistdarauf hin, dass diese Strassen erst nach <strong>der</strong> Gründung<strong>der</strong> Stadt, möglicherweise aber noch unter dem Einfluss<strong>der</strong> Zähringer, gebaut wurden.Der Zustand <strong>der</strong> Landstrassen war allerdings im Spätmittelalterund bis in die Neuzeit immer wie<strong>der</strong> ein grossesÄrgernis für die Reisenden. Aus schriftlichen Quellengeht hervor, dass die Wege und Strassen löcherigeStaubpisten o<strong>der</strong> tiefe Schlammbahnen waren. KeinWun<strong>der</strong>, zu dieser Zeit war <strong>der</strong> Unterhalt Sache <strong>der</strong> Anrainerund <strong>der</strong> am Weg liegenden Gemeinden. Einestaatliche Einrichtung, vergleichbar mit dem heutigenTiefbauamt, gab es damals nicht.Diese für den Verkehr ungünstige Situation än<strong>der</strong>tesich erst, nachdem 1740 <strong>der</strong> obrigkeitliche WegmeisterFriedrich Gabriel Zehen<strong>der</strong> sein «Memoriale über dieConstruction, Reparation und Conservation <strong>der</strong> hohenLand-Strassen» abgefasst und die «Gnädigen Herren»Zehen<strong>der</strong>s Vorschläge im «Decret, wie die Landstrassenzu reparieren» verankert hatten (vgl. S. 10). Diese Verpflichtungzum mo<strong>der</strong>nen Strassenbau war <strong>der</strong> Anfangeines systematischen Ausbaus des Wegnetzes mit sogenannten Kunststrassen, die fortan den Verkehr vonPersonen und Gütern wesentlich erleichtern und zurStütze <strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er Staatsmacht werden sollten.Der Begriff «Kunststrasse» bezeichnet <strong>Verkehrswege</strong>,die nach ingenieurtechnischen Kriterien geplant undgebaut sind. Sie weisen eine solide Kofferung, einenkünstlichen Oberbau, normierte Breiten, gleichmässigeSteigung durch Niveauausgleich, eine effiziente Entwässerungund standardisierte Kurvenradien auf. Vorbil<strong>der</strong>für die bernischen Kunststrassen fanden sich etwa in denNie<strong>der</strong>landen, in Deutschland und in Frankreich, wo <strong>der</strong>Kunststrassenbau seit dem Ende des 17. Jahrhun<strong>der</strong>tsgeför<strong>der</strong>t wurde. Diese Län<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um orientiertensich am Ideal des römischen Strassennetzes, das als eine<strong>der</strong> wichtigsten Voraussetzungen für das Entstehen desgewaltigen Imperiums betrachtet wurde.Abb. 1: Ein «Prospect <strong>der</strong> Reparierten Strassüber den Lötschenberg im Ampt Frutigen» von1698 veranschaulicht die kunstvoll gebautenKehren am linken Gletscherrand (Faksimilenach dem Original im Staatsarchiv <strong>Bern</strong>).Kanton <strong>Bern</strong> 29


Abb. 2: Ein aufgelassener Abschnitt <strong>der</strong> NeuenAargauerstrasse bei Schönbühl vermittelt einenEindruck von <strong>der</strong> Breite und Beschaffenheit <strong>der</strong>Chaussée aus dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t (HS).Die Kunststrassen, die im 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>tgebaut wurden, sind heute noch das Rückgrat des kantonalenStrassennetzes. Wohl sind die meisten dieserStrassen an die Bedürfnisse des mo<strong>der</strong>nen Verkehrs angepasstworden, aber trotzdem ist an etlichen Stellennoch die alte Bausubstanz sichtbar, die an die Zeiten erinnert,als <strong>Bern</strong> in <strong>der</strong> Eidgenossenschaft die Vorreiterrolleim mo<strong>der</strong>nen Strassenbau innehatte.die Bauarbeiten abgebrochen. Die topografische Situationund die Wegführung des erbauten Abschnitts werdenauf präzise und aufschlussreiche Weise in einemanonymen «Prospect <strong>der</strong> Reparierten Strass über denLötschenberg im Ampt Frutigen» von 1698 wie<strong>der</strong>gegeben(Abb. 1). Im Rahmen <strong>der</strong> 700-Jahr-Feiern <strong>der</strong>Eidgenossenschaft wurde er 1991–1994 durch WK-Truppen saniert.Ein Vorläufer: <strong>der</strong> Saumpfad am LötschenpassFast fünfzig Jahre bevor Friedrich Gabriel Zehen<strong>der</strong> sein«Memoriale» verfasste, war am Lötschenpass ein Weggebaut worden, <strong>der</strong> noch heute unseren vollen Respektverdient. Obschon für den Säumertransport vorgesehen,erinnert er bereits stark an eine Kunststrasse. Beson<strong>der</strong>sdie Partie in den Lagen zwischen 2300 und 2400 mü. M., in einem topografisch und geologisch äusserstschwierigen Gelände, weist mit ihren ausgeprägtenStützmauern und Pflasterungen eine grosse Dichte angebauter Substanz auf.Initiiert wurde diese Weganlage von zwei <strong>Bern</strong>erUnternehmern, die eine neue Handelsroute von <strong>Bern</strong> inden Süden eröffnen beziehungsweise den bestehendenAlpenübergang mo<strong>der</strong>nisieren wollten. Der neue Wegüber den Lötschenpass hätte den direktesten Anschlussan die Simplonroute gebracht, die ihrerseits nach demSturz des Walliser Handelsherrn Jodok Stockalper im Jahr1678 ihre höchste Blüte allerdings bereits hinter sichhatte. Das Unternehmen scheiterte schliesslich an denkonfessionellen Spannungen zwischen <strong>Bern</strong> und Wallisund wohl auch an den handelspolitischen Realitäten,indem das Bedürfnis nach einer weiteren Alpentransitroutezu wenig gegeben war: Im Herbst 1697 wurdenDas Paradestück: die Neue AargauerstrasseDer Bau <strong>der</strong> Neuen Aargauerstrasse wurde 1753 inAngriff genommen. Die Verbindung von <strong>Bern</strong> RichtungZürich sollte das Paradestück des <strong>Bern</strong>er Strassenbauprogrammswerden. Erklärtes Ziel war es, eine 30 Fuss(8,7 m) breite und so dauerhaft wie möglich gebauteAnlage zu errichten. Das Projekt unterlag einer rollendenPlanung. Mehrere Male stand die mit dem Bau beauftragteZollkammer vor <strong>der</strong> schwierigen Entscheidung,wohin <strong>der</strong> weitere Verlauf führen solle. Schwierig deshalb,weil die vom Strassenbau betroffenen Gemeindenmit aller Kraft versuchten, die Linienführung zu ihrenGunsten zu beeinflussen, ging es doch um handfestewirtschaftliche Interessen: Eine neue Landstrasse versprachArbeit und Verdienst für Schmiede, Sattler, Gastwirteund weiteres lokales Gewerbe.Einen Eindruck, wie die Neue Aargauerstrasse ursprünglichausgesehen hat, erhält man in einem Waldstücksüdlich von Schönbühl, wo auf einer Länge von600 Metern eine Steinsetzung aus vorwiegend kristallinenSteinbrocken zu Tage tritt (Abb. 2). Wahrscheinlichhandelt es sich dabei um das Fundament, auf dem eineKiesschicht als Fahrbahn aufgetragen war. Die Strasse istbis zu acht Meter breit und wird beidseitig von einem30Kanton <strong>Bern</strong>


parallelen, heute teils überwachsenen Entwässerungsgrabenbegleitet. Beeindruckend ist auch <strong>der</strong> Einschnitt,<strong>der</strong> einen Gelän<strong>der</strong>ücken mehrere Meter tief durchbricht,um das Längsprofil <strong>der</strong> Strasse möglichst ausgeglichenzu halten. Das Strassenstück bei Schönbühl istAbb. 3: «Prospect <strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong> von <strong>der</strong> MorgenSeite» von Adrian Zingg, 1758. Ausschnittmit <strong>der</strong> Untertorbrücke und dem NeuenAargauerstalden (Heinrich Türler: <strong>Bern</strong>. Bil<strong>der</strong>aus Vergangenheit und Gegenwart. <strong>Bern</strong> 1896).ein seltenes Beispiel einer noch weit gehend intaktenChaussée aus dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t.Das Prunkstück <strong>der</strong> Neuen Aargauerstrasse ist aberzweifellos <strong>der</strong> Neue Aargauerstalden in <strong>Bern</strong>. Ausgehendvon <strong>der</strong> Untertorbrücke, führt er als Kombination vonFahrweg und begleiten<strong>der</strong> Promenade auf die Höhe desBeundenfelds (Abb. 3). Für die Bauarbeiten, die unteran<strong>der</strong>em einschneidende Geländeanpassungen erfor<strong>der</strong>ten,wurden acht Jahre benötigt (vgl. S. 11). Oberhalbdes Bärengrabens findet sich ein Teilstück, das bisheute kaum Verän<strong>der</strong>ungen erfahren hat. Die breite Fahrstrassewird hier noch immer von einer repräsentativenPromenade mit Hausteinpflaster und einer Lindenalleegesäumt, die als weitere Attraktion eine unvergleichlicheSicht auf die <strong>Bern</strong>er Altstadt bietet. Fast zuoberst amStalden steht ein Gedenkstein, <strong>der</strong> in Anlehnung an römischeVorbil<strong>der</strong> in Lateinisch die Leistung <strong>der</strong> Bauarbeitenwürdigt. Die Übersetzung <strong>der</strong> Inschrift lautet: «FürBürger und Fremde wurde dieses des Dankes werte Werkgebaut. Indem die alte Strasse verlassen wurde, ist einneuer Weg angelegt und befestigt worden, durch einenSteilhang, obschon es die Natur nicht zu gestattenschien. Begonnen1750. Vollendet 1758.»Auf <strong>der</strong> Höhe angelangt, geht <strong>der</strong> Neue Aargauerstaldenin eine breite, schnurgerade Strasse über, die voneiner Allee gesäumt wird. Dem repräsentativen Charakterdieser Fortsetzung wurde früher mit dem Namen«Grosse Landstrasse» und «Aargauerstrasse» Rechnunggetragen. Ihr heutiger Name, «Papiermühlestrasse»,verdeutlicht den Bedeutungsverlust, den das einstigeParadestück des bernischen Strassenbauprogramms seitdem Bau <strong>der</strong> Tiefenaustrasse und <strong>der</strong> Tiefenaubrückezwischen 1844 und 1855 und <strong>der</strong> Autobahn in den1960er-Jahren erlitten hat.Die Spektakuläre: durch die TaubenlochschluchtWer von Biel ins Vallon de Saint-Imier reisen wollte,musste bis um die Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts den Umwegüber Bözingen in Kauf nehmen, um die Taubenlochschluchtan ihrer Ostflanke zu umgehen. Diese Situationän<strong>der</strong>te sich erst, als <strong>der</strong> Kanton <strong>Bern</strong> in den Jahren1850–1858 von Biel aus eine neue Strasse durch dieTaubenlochschlucht anlegte (Abb. 4). Dazu waren diverseKunstbauten erfor<strong>der</strong>lich wie zum Beispiel die spektaku­Kanton <strong>Bern</strong> 31


Abb. 4: Die 1850–1858 angelegte Strassedurch die Taubenlochschlucht hat die Zügeeiner alpinen Passstrasse. Ihr Bau war mit vielSprengarbeit verbunden (RB).läre Steinbogenbrücke, die die Schlucht auf halber Distanzüberquert (vgl. S. 45). Weiter waren viele Sprengungensowie zwei kurze Tunnels nötig.Der zunehmende Motorfahrzeugverkehr machte in<strong>der</strong> zweiten Hälfte des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts einen erneutenAusbau nötig; das Trassee wurde zur Autostrasseerweitert und teilweise neu angelegt. Dies hatte eineStilllegung einzelner Teilstücke <strong>der</strong> 1858er-Strasse zurFolge, die heute ein kaum verfälschtes Bild <strong>der</strong> Situationim 19. Jahrhun<strong>der</strong>t vermitteln.Bereits im Aufstieg zur Taubenlochschlucht auf <strong>der</strong>Reuchenettestrasse fallen wegbegrenzende Elementewie Felsanschnitte, Stütz- und Brüstungsmauern, mitEisenstangen verbundene Kolonnensteine sowie die füreine Hauptstrasse geringe Strassenbreite auf. Noch ausgeprägterwird <strong>der</strong> Eindruck bei den drei stillgelegtenStrassenabschnitten: bei <strong>der</strong> Brücke, in <strong>der</strong> Taubenlochschluchtsowie zwischen Frinvillier und Rondchâtel. Diekurvige Anlage, mehrere Meter hohe Felsböschungen,rohe, ausgebrochene Tunnels und Brüstungs- und Stützmauernzeugen von den aufwändigen Bauarbeiten un<strong>der</strong>innern an eine Passstrasse in den Alpen. Eine Inschriftmit einem Kreuz und den Jahrzahlen 1645, 1824 und1854 im dritten Strassenabschnitt vor Rondchâtel weistwohl darauf hin, dass die Kunststrasse auf dem Trasseevon zwei älteren Anlagen verläuft.Die Aussergewöhnlichen: zwei Kunststrassenam SustenGleich zwei Kunststrassen von <strong>historischer</strong> und bautechnischerBedeutung führen über den Sustenpass: die«Communicationsstrasse» von 1811 und die heutigeAutomobilstrasse, die zwischen 1938 und 1946 erbautwurde. Beide sind eines beson<strong>der</strong>en Schutzes würdig.Der Bau <strong>der</strong> «Communicationsstrasse» geht auf einpolitisches Ereignis im Jahre 1810 zurück. Damals glie<strong>der</strong>teNapoleon aus wirtschaftlichen und strategischenGründen das Wallis als «Département du Simplon» demKaiserreich an. Der Staat <strong>Bern</strong>, <strong>der</strong> einen intensiven Handelmit dem Piemont und <strong>der</strong> Lombardei führte, sah sichin <strong>der</strong> Folge von diesen Absatzgebieten abgeschnitten.Sämtliche Pässe von <strong>der</strong> Grimsel bis zum Sanetsch warenmit französischen Zöllen belegt. Eine Ausweichmöglichkeitbot <strong>der</strong> Sustenpass, <strong>der</strong> einen Anschluss an diewichtige Nord-Süd-Achse über den Gotthard herstellte.Die Arbeiten an <strong>der</strong> «Communicationsstrasse» wurden1811 aufgenommen – nach <strong>der</strong> 1805 eröffnetenSimplonstrasse war sie damit erst die zweite alpenquerendeKunststrasse. Zwanzig Jahre wurde gebaut –fertig gestellt wurde die Strasse aber nie. Im Jahre 1870konnte sie nach weiteren Ergänzungen immerhin vonMeiringen bis ins urnerische Feden mit leichten Wagenbefahren werden, <strong>der</strong> letzte Abschnitt bis Wassen entstandaber erst gegen 1920, als die Strassen den Anfor<strong>der</strong>ungendes motorisierten Verkehrs längst nicht mehrgenügte. Ihr Schicksal erklärt sich mit dem Zusammenbruchdes französischen Kaiserreiches: Der direkte Wegvon <strong>Bern</strong> nach Italien war nach <strong>der</strong> Schlacht von Leipzigim Jahre 1813 wie<strong>der</strong> frei, und <strong>der</strong> Sustenpass verlorseine Bedeutung für den Transitverkehr.Die Strasse von 1811 ist heute noch zu grossen Teilenund – trotz des rauen Gebirgsklimas – in erstaunlichgutem Zustand erhalten. Beson<strong>der</strong>s schöne Abschnittefinden sich zwischen Färnigen und <strong>der</strong> Passhöhe auf <strong>der</strong>Urner Seite sowie zwischen Gadmen und dem HotelSteingletscher auf <strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er Seite. Hier erkennt man dietypischen Merkmale <strong>der</strong> Strasse: eine durchgehendeBreite von 3–3,5 Metern, eine geschotterte Oberfläche32Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 5 (links): Der kunstvoll gebaute Damm <strong>der</strong>«Communicationsstrasse» unterhalb des Hotels«Steingletscher» weist ein Alter von fast 200Jahren auf und diente dem (bescheidenen)Verkehr über den Sustenpass bis 1946 (GS).(die heute zu einem grossen Teil mit Gras bewachsenist), trocken erstellte Stützmauern aus lagig geschichtetenBruchsteinen mit roh behauenen, in die Mauerkronenintegrierten Randsteinen von 20–40 ZentimeternHöhe, bergseitig parallel zum Weg angelegte Entwässerungsgräbenund Querabschläge sowie Wasserdurchlässeim Wegkörper (Abb. 5).Trotz ihres verhältnismässig geringen Alters vonknapp 60 Jahren darf auch die heutige Passstrasse alshistorisches Bauwerk bezeichnet werden. Ihr Bau wurdedurch das Zusammentreffen von drei Interessenlagenmöglich, die in den 1930er-Jahren die schweizerischeInnenpolitik bestimmten: erstens <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung desFremdenverkehrs, beson<strong>der</strong>s des alpinen Automobiltourismus,zweitens einer staatlichen Politik <strong>der</strong> Wirtschaftsför<strong>der</strong>ungim Berggebiet und drittens strategischmilitärischenÜberlegungen.Die Bauarbeiten fanden 1938–1946 unter äusserstharten klimatischen Bedingungen statt; zeitweise standenüber 2000 Mann im Einsatz, darunter zahlreiche interniertePolen. Dem Projekt lag ein ästhetisches Konzeptzu Grunde, das die Strasse in und mit <strong>der</strong> Landschaft alsein Gesamtkunstwerk zu inszenieren trachtete. JedesDetail folgte diesem Konzept, von <strong>der</strong> Verwendung <strong>der</strong>Baumaterialien über die Lage <strong>der</strong> Ausstellplätze an at­Abb. 6 (rechts): Blick vom Himmelrank insGadmental. Zu den baulichen Charakteristiken<strong>der</strong> Touristenstrasse gehören auch Tunnels, diezur Steigerung des Erlebniswertes selbst dortangelegt wurden, wo mit wenig mehr Sprengaufwandein Felseinschnitt hätte gemachtwerden können (AB).traktiven Aussichtspunkten, die Gestaltung <strong>der</strong> Stützmauern,Tunnels und Wasserdurchlässe bis zum grösstmöglichenEinsatz <strong>der</strong> menschlichen Arbeitskraft beziehungsweisedem kleinstmöglichen Einsatz von Maschinen,wodurch dem Strassenbau ein kunsthandwerklicherCharakter verliehen werden sollte (Abb. 6). Nach siebenJahren Bauzeit wurde die neue Sustenstrasse am Sonntag,dem 7. September 1946, dem Verkehr übergeben.15000 Fahrzeuge überquerten an diesem Tag den Pass,das sind etwa 12 Prozent <strong>der</strong> damals in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>immatrikulierten Fahrzeuge. Die <strong>Schweiz</strong>er sind gekommen,ihr Nationalwerk zu bestaunen und zu feiern.LiteraturBetschart, Andres: Der Sustenpass – eine verkehrsgeschichtlicheErlebnislandschaft. In: Wege und Geschichte 1. <strong>Bern</strong> 2002.Bösch, Ruedi: Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t setzte <strong>Bern</strong> neue Massstäbe imStrassenbau. In: Wege und Geschichte 1. <strong>Bern</strong> 2002.Zschokke, Walter: Die Strasse in <strong>der</strong> vergessenen Landschaft. DerSustenpass. Zürich 1997.Kanton <strong>Bern</strong> 33


Von Stunden, Geboten, Grenzen und SchwürenSteine am WegStrassentafeln und Gebotsschil<strong>der</strong>, unsere heutigen alltäglichen Wegbegleiter, habeneine lange Tradition. Allerdings waren ihre Vorgänger noch bis weit ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>tin Stein gemeisselt. Manche von ihnen sind so noch heute erhalten. Sie ermöglicheninteressante Einblicke in das Verkehrs- und Rechtswesen früherer Zeiten.Für Anbieter und Benutzer von wichtigen Verkehrsachsenist nicht nur <strong>der</strong> Zustand des Weges vonBedeutung, son<strong>der</strong>n auch die Art und Dichte <strong>der</strong>wegbegleitenden Einrichtungen wie Gasthäuser, Susten(Warendepots) und Zollstellen, aber auch <strong>der</strong> Einrichtungen,die Informationen zum Weg und zur Streckevermitteln. Solche Einrichtungen können zum BeispielAuskunft geben über bereits zurückgelegte o<strong>der</strong> nochzu überwindende Distanzen, über die Existenz einerGrenze o<strong>der</strong> über ein gefor<strong>der</strong>tes Verhalten <strong>der</strong> Verkehrsteilnehmer.Heute werden als Träger solcher AngabenVerkehrsschil<strong>der</strong> benutzt, früher dienten dafürSteine. Noch heute kann entlang <strong>der</strong> bernischen Hauptstrasseneine beachtliche Zahl von historischen Informationenentdeckt werden, die in Stein gemeisselt sind.StundensteineZu den häufigsten historischen Informationsträgern gehörendie Stundensteine, mit denen die bernischenKunststrassen im 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>t systematischausgestattet worden sind. An<strong>der</strong>s, als ihr Name vermutenlässt, vermitteln sie nicht in erster Linie eine Zeitinformation,son<strong>der</strong>n eine Distanzangabe, wie sie in <strong>der</strong>französischen Bezeichnung borne de lieue (lieue = Meile)besser zum Ausdruck kommt: Eine Wegstunde war eingenau definiertes Längenmass. Bis 1837 betrug <strong>der</strong> Abstandzwischen den Stundensteinen 18000 <strong>Bern</strong>erSchuh (5279 m). Nach einer Revision <strong>der</strong> Masse undGewichte im Jahre 1838 wurde die «Stunde» neu definiert;sie entsprach fortan 16 000 <strong>Schweiz</strong>er Fuss(4800 m). Ausgangspunkt <strong>der</strong> Stundenzählung, alsogleichsam die «Stunde null», war <strong>der</strong> Zeitglockenturm in<strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er Altstadt (Abb. 1).Von den Stundensteinen aus dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>tsind drei verschiedene Typen bekannt, aber von diesenist nur noch ein Originalstein erhalten: ein Granit in zylindrischerForm, <strong>der</strong> im historischen Museum <strong>Bern</strong> aufbewahrtwird. Im Jahre 1825 definierte man einen neuenTyp, und in <strong>der</strong> Folge wurden alle alten Stundensteinedurch das «Modell 1825» ersetzt (Abb. 2, 3).Abb. 1: Im Durchgang des Zeitglockenturmsim Zentrum von <strong>Bern</strong> sind die historischenLängenmasse ausgestellt, darunter <strong>der</strong> Umrechnungsstabvon <strong>Bern</strong>er Schuh in <strong>Schweiz</strong>erFuss (GS).34Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 2: Der Stundenstein bei Worb. Das«Modell 1825» besteht in <strong>der</strong> Regel auseinem aufrecht stehenden Qua<strong>der</strong> mit einemKopf, <strong>der</strong> einem Walmdach ähnelt. Die Inschriftin Grossbuchstaben ist vierzeilig, die Zahl wirdals römische Ziffer geschrieben. Die Tafel, auf<strong>der</strong> die Inschrift angebracht ist, kann gegenüber<strong>der</strong> Steinfassade ein wenig hervorsteheno<strong>der</strong> eingemeisselt sein. Sie besteht aus einemRechteck, dessen Ecken abgerundet sind. Diemeisten Steine weisen einen drei- o<strong>der</strong> vierseitigvorspringenden Sockel auf (GS).Die Stundensteine säumten nicht nur alle wichtigenVerkehrsachsen im bernischen Territorium (inklusive <strong>der</strong>eroberten Gebiete im Waadtland und im Aargau), son<strong>der</strong>nauch die Hauptstrassen, die nach Genf, Zürich undZurzach führten. Gemäss einer Kantonskarte aus demJahre 1850 haben allein im heutigen Kantonsgebiet über120 Stundensteine gestanden; rund drei Viertel vonihnen sind immer noch erhalten. Zwar sind einige beschädigt,versetzt o<strong>der</strong> in Mauern einzementiert worden– aber die Tatsache, dass nach <strong>der</strong> Einführung des metrischenSystems (1875) die Mehrheit dieser «ausgedienten»Stundensteine nicht einfach weggeräumt wurdeund zum Teil abhanden gekommene Exemplare gardurch neue ersetzt werden, zeigt, dass sie als wertvollesKulturgut anerkannt sind und noch immer nostalgischeErinnerungen an die Zeit <strong>der</strong> Postkutschen wachrufen.Unter den Distanzsteinen verdienen zwei Exemplareeine beson<strong>der</strong>e Erwähnung, weil sie neben den ordentlichenStundensteinen eine Kuriosität darstellen. Dereine, im Zentrum von Grosshöchstetten, ähnelt zwar von<strong>der</strong> Form her einem Stundenstein, trägt aber eine abwei­Abb. 3 (links): Wie bei allen Stundensteinenim Vallon de Saint-Imier findet man auch beimExemplar von La Cibourg die ältere deutscheInschrift auf <strong>der</strong> Rückseite (GS).Abb. 4 (Mitte): Der «Halbenweg-Stein» vonGrosshöchstetten gehört zur Infrastruktur <strong>der</strong>Strecke Burgdorf–Thun (GS).Abb. 5 (rechts): Der seltene Distanzstein beiSonceboz gibt die Entfernungen in «perches»(Ruten) an (GS).Kanton <strong>Bern</strong> 35


Abb. 6 (links): Der Spanngebotstein über <strong>der</strong>Taubenlochschlucht erinnerte die Fuhrleutedaran, dass die Talfahrt mit blockierten Rä<strong>der</strong>nnur dann gestattet war, wenn gleichzeitigRadschuhe unterlegt wurden (RB).Abb. 7 (rechts): Spanngebotstein aus demKanton Waadt; er ist zusätzlich zum Text miteiner Abbildung versehen (Foto Nathalie Bretz).Abb. 8 (unten): Eiserner Radschuh aus demKanton <strong>Bern</strong>, <strong>der</strong> noch bis Mitte 20. Jahrhun<strong>der</strong>tverwendet worden ist (SammlungViaStoria, AB).chende Inschrift: «HIER HALBENWEG VON BURGDORFAUF THUN / IIII STUND» (Abb. 4). Der an<strong>der</strong>e, südlich vonSonceboz beim Tournedos, informiert die Reisendenüber die Distanz nach Corgémont und Courtelary:«CORGEMONT 369 PERCHES / COURTELARI 105 PER­CHES» (Abb. 5). Da sich das Längemass <strong>der</strong> perche(Rute) heute nicht mehr genau bestimmen lässt, bleibtunklar, ob <strong>der</strong> Stein noch an seiner ursprünglichen Positionsteht o<strong>der</strong> versetzt wurde.SpanngebotsteineBis ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>t waren Bremsen, die den Radlaufkontrolliert verzögerten, weit gehend unbekannt. Umeine Bremswirkung zu erzielen, wurden die Rä<strong>der</strong> blockiertund die Wagen ähnlich einem Schlitten zu Talegeschleift. Diese Bremstechnik nannte man «Spannen»,weil zum Blockieren Ketten zwischen die Rä<strong>der</strong> gespanntwurden. Da dieses Vorgehen grosse Schäden an denStrassenoberflächen verursachte, war die Obrigkeit seit<strong>der</strong> zweiten Hälfte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bemüht, dasSpannen nur noch dann zu gestatten, wenn gleichzeitigRadschuhe benutzt wurden. Diese vergrösserten die Auflagefläche<strong>der</strong> Rä<strong>der</strong> und vermin<strong>der</strong>ten so die Reibungsschäden(Abb. 8).Gemäss den Angaben des Historikers Berchtold Weberwar <strong>der</strong> Spannverbotsstud, <strong>der</strong> auf schwarz-rot geringeltem,achteckigem Pfahl eine kleine, weisse, rechteckigeTafel ohne Text trug, die übliche Markierung. Vondiesen vergänglichen Signalisationen ist nichts mehr überliefert,hingegen sind im Kanton <strong>Bern</strong> zwei Spanngeboteerhalten, die in Stein gemeisselt sind. Der eine Spanngebotsteinsteht hoch über <strong>der</strong> Taubenlochschlucht, amKulminationspunkt <strong>der</strong> alten Strasse, die Bözingen mitFrinvillier verbindet. Er weist die Form eines überlangenStundensteins auf und trägt folgende Inschriften: «VER­BOTEN OHNE RADSCHUH ZU SPANNEN BEY 2 FR BUSSE»und «DEFENSE D’ENRAYER SANS SABOT» (Abb. 6).Der an<strong>der</strong>e Stein findet sich bei Les Pontins an <strong>der</strong>Strasse, die von St-Imier ins Val de Ruz führt. DessenInschrift weicht von <strong>der</strong>jenigen des ersten Steins nur in<strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Busse ab: statt zwei Franken wie an <strong>der</strong>Taubenlochstrasse musste hier für das Übertreten desGebots das Doppelte bezahlt werden. Spanngebotsteinenach <strong>Bern</strong>er Muster sind auch aus dem Waadtland bekannt.Dort sind sie allerdings zusätzlich mit <strong>der</strong> Abbildungeines Radschuhs versehen (Abb. 7).Burgernziel- o<strong>der</strong> SchwursteineZu den Orten im Kanton <strong>Bern</strong>, die mit einem mittelalterlichenStadtrecht ausgestattet waren, gehörten unteran<strong>der</strong>em <strong>Bern</strong>, Thun, Burgdorf und Aarberg. Das unterköniglichem Schutz stehende Stadtrecht wurde auch36Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 9 (links): Der Burgernzielstein beim Lory-Spital trägt auf <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>seite die Inschrift«1783» und auf <strong>der</strong> linken Seite eine «Schwurhand»(GS).Abb.10 (Mitte), 11 (rechts): Zwei Beispiele vonGrenzsteinen: Beide stehen am Brückenübergangüber den ehemaligen Lauf <strong>der</strong> Zihl. Derelegante Grenzstein im linken Bild stammt von1776, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Grenzstein im klassizistischenStil wurde vermutlich 1820 erstellt und mit <strong>der</strong>retrospektiven Jahrzahl «1757» versehen(Fotos Heinrich Hafner).Stadtziele, später Burgernziele genannt. Um dieses Stadtrechtnach aussen zu dokumentieren, wurde <strong>der</strong> Stadtbezirkan den wichtigen Ausfallachsen mit Grenzzeichenmarkiert. In <strong>Bern</strong> waren dies anfänglich Holzkreuze, ab1405 Grenzsteine. Diese so genannten Burgernzielsteinewiesen in <strong>der</strong> Regel das Standeswappen und die Darstellungeines Handschuhs auf, <strong>der</strong> das mittelalterlicheRecht symbolisierte: Der König o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Landesherr übteseine Macht mit dem Schwert o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>, also mit<strong>der</strong> Hand, aus. Später wurde <strong>der</strong> Handschuh als Schwurhandinterpretiert. Es soll üblich gewesen sein, dass alleaus <strong>der</strong> Stadt ausgewiesenen Delinquenten an diesenSteinen schwören mussten, den Stadtbezirk nie mehr zubetreten. Ein Übertreten dieses Gebotes soll mit demTode bestraft worden sein (Abb. 9).Von den insgesamt achtzehn «Schwursteinen» <strong>der</strong>Stadt <strong>Bern</strong> sind noch <strong>der</strong>en sechs erhalten, zwei von ihnenan ihren ursprünglichen Standorten: <strong>der</strong> eine, einestehende Granitplatte mit gerundetem Oberteil, am Bierhübeliweg,<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, ein aufrechter Kalkqua<strong>der</strong> mitaufgesetztem Deckel von 1783, an <strong>der</strong> Freiburgstrassegegenüber dem Eingang zum Lory-Spital (Abb. 9). Auchin Burgdorf können noch zwei Burgernzielsteine an historischenWegen entdeckt werden: am Weg, <strong>der</strong> zurKapelle beim Siechenhaus führt und neben einer Lindean <strong>der</strong> <strong>Bern</strong>strasse. Im Vergleich mit den Burgernzielsteinenin <strong>Bern</strong> sind diejenigen von Burgdorf deutlichkleiner und weniger gut erhalten.Grenzsteine und -markierungenZu den vielfältigsten Wegbegleitern entlang von Wegenund Strassen gehören die Grenzsteine (Abb. 10, 11). Siekennzeichnen Territorien verschiedenster Art; die spektakulärstenvon ihnen allen sind die Markierungen <strong>der</strong>Kantonsgrenze, die eine grosse Vielfalt an Formen undGrössen aufweisen. Das Vermessungsamt des Kantonsverfügt über ein umfassendes <strong>Inventar</strong> <strong>der</strong> Steine sowohl<strong>der</strong> aktuellen Kantonsgrenze als auch <strong>der</strong> historischenGrenzen wie etwa jener zum Fürstbistum Basel. Manchevon ihnen stehen heute fernab von bernischem Kantonsgebietund zeigen so, dass auch die massivsten Grenzmarkierungennicht für die Ewigkeit gültig sind.LiteraturGasser, S. A.: Burgerzielsteine in Thun. In: Der Hochwächter. <strong>Bern</strong> 1946.Hofer, Paul: Die Kunstdenkmäler des Kantons <strong>Bern</strong>. Band 1: Die Stadt<strong>Bern</strong>. Basel 1952.Weber, Berchtold: Die Stundensteine im Kanton <strong>Bern</strong>. Geschichtlichesund heutiger Stand. In: Strasse und Verkehr 2, 10. Feb. 1961.Weber, Berchtold: Stundensteine im Kanton <strong>Bern</strong>. In: <strong>Bern</strong>er Zeitschriftfür Geschichte und Heimatkunde 38, 1976.Kanton <strong>Bern</strong> 37


Fürsorgeeinrichtungen für Aussätzige und SyphilitikerDie Siechenhäuser –wenig geliebte WegbegleiterDie Lepra, <strong>der</strong> «Aussatz», war eine <strong>der</strong> gefürchtetsten Krankheiten des Mittelaltersund <strong>der</strong> frühen Neuzeit. Wegen <strong>der</strong> Ansteckungsgefahr isolierte man die Kranken,indem man sie in Siechenhäuser ausserhalb <strong>der</strong> Siedlungen verbannte und ihr Verhaltenstreng reglementierte. Beson<strong>der</strong>e Anstalten schuf man später auch für Syphilitiker.Da die Kranken Anrecht auf ein Einkommen aus Almosen und Brückenzöllen hatten,war für den Standort <strong>der</strong> Siechenhäuser die unmittelbare Nähe einer gut frequentiertenVerkehrsachse und wenn möglich eines Flussübergangs entscheidend. Im Kanton<strong>Bern</strong> sind eindrückliche Zeugen dieser einstigen Fürsorgeeinrichtungen erhalten.Im Mittelalter war die Lepra so weit verbreitet, dassjede Stadt und wohl auch die meisten Dörfer in <strong>der</strong>Landschaft ihre Siechenhäuser besassen. Es war somitganz normal, dass man, bevor man an einen besiedeltenOrt kam, zuerst den Siechen begegnete.Lepra und Syphilis, zwei Geisseln <strong>der</strong> MenschheitDie Lepra o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Aussatz ist eine Haut und Nervenbefallende Infektionskrankheit. Sie erregte vor allem imSpätstadium Angst vor Ansteckung, da sie Gesicht undGliedmassen verstümmelt. Verbreitet wurde sie während<strong>der</strong> Antike von Arabien und Palästina aus; schon im7. Jahrhun<strong>der</strong>t sind in Mitteleuropa Siechenhäuser nachgewiesen.Grossflächig über ganz Europa breitete sichdie Krankheit vor allem während <strong>der</strong> Kreuzzüge im11. Jahrhun<strong>der</strong>t aus, entsprechend nahm die Anzahl <strong>der</strong>Siechenhäuser in dieser Zeit sprunghaft zu.Über den Umgang mit Aussätzigen gab es strengeVorschriften. Das 3. Laterankonzil (1179) bestimmte,dass die Kranken von <strong>der</strong> gesunden Bevölkerung abgeson<strong>der</strong>twerden mussten. Aussatzschauer untersuchtendie Verdächtigen und bestimmten, wer ins Siechenhauseinzutreten hatte (Abb. 1). Der Übertritt war streng ritualisiert.Es wurde die Totenmesse gelesen, denn vonnun an galten die Kranken bei lebendigem Leib als tot.Gegen Ende des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts ging die Zahl <strong>der</strong> Leprosenin Europa zurück, und 1924 starb in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>Abb. 1: Ein Aussatzschauer untersucht einen<strong>der</strong> Krankheit Verdächtigen, ein weitererArzt beschaut den Harn. Holzschnitt aus dem«Feldtbuch <strong>der</strong> Wundt-Arztney» des Hans vonGerssdorf, Strassburg 1517.38Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 2: Das spätmittelalterliche Ensemble desSiechenhauses (hinten) und <strong>der</strong> Siechenkapellein Burgdorf an <strong>der</strong> Landstrasse Richtung Zürichund Luzern ist in <strong>der</strong> ganzen <strong>Schweiz</strong> einmalig(GS).<strong>der</strong> letzte registrierte Leprakranke. Die Krankheit, die inAfrika immer noch verbreitet ist, kann heute medikamentösbehandelt werden.Gerade zu <strong>der</strong> Zeit, als die Leprafälle in Europa abnahmen,erreichte aus Amerika eine neue Seuche denalten Kontinent: die Blattern o<strong>der</strong> Syphilis. Sie wurde1493 von den Mannschaften des Kolumbus aus <strong>der</strong> Karibiknach Barcelona gebracht. 1494/95 erkrankte inNeapel das französische Heer, zu dem auch <strong>Schweiz</strong>erSöldner gehörten, und trug wesentlich zur Verbreitungdes Leidens bei. Deshalb wurde die Syphilis auch «Franzosen»,«Französische Blattern» o<strong>der</strong> «mal de Naples»genannt. Man versuchte wie beim Aussatz, die Krankenabzuson<strong>der</strong>n; die schon bald erfolgte Einsicht, dass essich um eine sexuell übertragbare Krankheit handelt,setzte sich nur zögernd durch. Neben dem Einreiben vonSalben wurden bei den Patienten so genannte Salivationskurendurchgeführt: Mit Schwitzkuren sowie mitquecksilberhaltigen Arzneien, die den Speichelfluss anregten,sollten die krank machenden Stoffe ausgeschiedenwerden. Bei <strong>der</strong> Holzkur wurden Aufgüsse aus demaus Süd- und Mittelamerika stammenden Guajak-Holzverwendet.Siechenhaus und Kapelle in Burgdorf –eine einmalige AnlageDas Siechenhaus in Burgdorf ist das einzige Gebäudedieser Art in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, das in seinen Grundformennoch unverän<strong>der</strong>t ist. Es war ursprünglich auf die Landstrassenach Zürich und Luzern ausgerichtet, die zwischendem Gebäude und <strong>der</strong> benachbarten Siechenkapelleverlief (Abb. 2). Dank <strong>der</strong> Lage an <strong>der</strong> Verkehrsachsekonnten die Aussätzigen ihrem Bettelrecht nachkommen,ohne die Siedlungen zu besuchen. Die nahe Wynigenbrückebrachte zusätzliche Einnahmen, da die Leprosenvermutlich über die Brückenzölle verfügen konnten,wenn sie für den Unterhalt <strong>der</strong> Brücke sorgten.In Burgdorf muss schon 1316 ein Siechenhaus existierthaben; 1446 ist die Kapelle erstmals nachweisbar.Am Portal des heutigen Siechenhauses ist die Jahreszahl1471 zu sehen; <strong>der</strong> Bau ist aber erst zwischen 1506 und1508 entstanden. Neben <strong>der</strong> Kapelle liegt ein Friedhof,<strong>der</strong> bisher noch nicht erforscht worden ist.Die letzten Insassen verliessen das Siechenhaus1798. Dann diente <strong>der</strong> Bau als Remise und Lagerraumfür Gewerbebetriebe; wohl aus Angst vor Ansteckungwurde er fast vollständig ausgekernt. 1925 kaufte ihndie Burgergemeinde von Burgdorf und stellte ihn zusammenmit <strong>der</strong> Kapelle unter Denkmalschutz. Die systematischeUntersuchung durch den ArchäologischenDienst des Kantons <strong>Bern</strong> im Rahmen einer umfassendenSanierung in den Jahren 1989–91 ergab, dass in demqualitätvollen Aussenbau nur ein einfacher Innenausbaubestanden hat. Wahrscheinlich wurde das Innere vonden Aussätzigen selbst gestaltet und fertig gestellt;dafür spricht auch die Abrechnung von 1508, gemäss<strong>der</strong> den «Sun<strong>der</strong> Siechen Lüte» Geld für ihren Bau geliehenwurde (Abb. 3).Kanton <strong>Bern</strong> 39


Abb. 3: Der Innenausbau des Siechenhauses inBurgdorf war einfach, möglicherweise habenihn die Insassen selbst erstellt. Rekonstruktionszeichnungvon Salome Buschor nachAngaben von Regula Glatz und Daniel Gutscher(Glatz, Gutscher 1995, 23 Abb. 14).In den Siechenhausrechnungen sind eine Bade- undeine gewölbte Schwitzstube, eine Küche, eine Fleischkammer,Keller, Schopf, Stall und Speicher erwähnt. AnWohnräumen werden verschiedene Stuben, ein Gemeinschaftsraum,ein Saal sowie eine Conventstubeaufgeführt. Die bei den Ausgrabungen gemachten Fundeund die Angaben aus den <strong>Inventar</strong>listen, die im BurgerarchivBurgdorf noch erhalten sind, zeigen, dass dieKranken materiell gut versorgt waren. Gläserne Kelche,eine Flasche mit Siegel, Schüsseln, Siebe, Tassen, Teller,Krüge sowie Schröpfköpfe, Tropfenzählfläschchen, Salbtöpfchenund Leinenbezüge für die Betten gehörten zurAusstattung. Die Conventstube konnte mit einem Ofengeheizt werden.Bei den Sanierungen zu Beginn <strong>der</strong> 1990er-Jahre erneuerteman die wenigen Einbauten des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts,ansonsten liess man den gesamten Raum als archäologischesDenkmal offen. Die ursprüngliche Raumaufteilungist am Boden und an den Wänden mit rotenMarkierungen angezeigt, damit <strong>der</strong> Ort für Besucherinnenund Besucher nachvollziehbar bleibt. In Kombinationmit <strong>der</strong> gut lesbaren historischen VerkehrsanlageLiteraturCaviezel-Rüegg, Zita u. a., Die Waldau bei <strong>Bern</strong> (<strong>Schweiz</strong>erischeKunstführer GSK 639/640). <strong>Bern</strong> 1998.Glatz, Regula; Gutscher, Daniel: Burgdorf. Ehemaliges Siechenhaus.Ergebnisse <strong>der</strong> archäologischen Grabungen und Bauforschungen 1989–1991. <strong>Bern</strong> 1995.Hofer, Paul: Die Kunstdenkmäler des Kantons <strong>Bern</strong> I. Die Stadt <strong>Bern</strong>.Basel 1952, S. 419 ff.Müller-Landgraf, Ingrid: Die Spitäler. In: <strong>Bern</strong>s Grosse Zeit. Das15. Jahrhun<strong>der</strong>t neu entdeckt. <strong>Bern</strong> 1999, S. 504.Nüscheler, Arnold: Die Siechenhäuser in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. In: Archiv für<strong>Schweiz</strong>erische Geschichte 15, 1866, S. 182 ff.<strong>Schweiz</strong>er, Jürg: Die Kunstdenkmäler des Kantons <strong>Bern</strong>. Landband I.Die Stadt Burgdorf. Basel 1985, S. 447 ff.Ulrich-Bochsler, Susi: Krankheit und Tod – im Spiegel des Siechenfriedhofsam Klösterlistutz. In: Ellen J. Beer u. a. (Hrsg.): <strong>Bern</strong>s Grosse Zeit. Das15. Jahrhun<strong>der</strong>t neu entdeckt. <strong>Bern</strong> 1999, S. 102 ff.Zu Burgdorf siehe auch: http://www.erz.be.ch/archaeologie/fundstellen/siechenhaus.php (November 2003).und <strong>der</strong> Siechenkapelle stellt das Siechenhaus von Burgdorfein in <strong>der</strong> ganzen <strong>Schweiz</strong> einmaliges kulturhistorischesDenkmal dar.Das Siechenhaus <strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong> wird zurpsychiatrischen Klinik WaldauIn <strong>Bern</strong> wird die Lepra im 13. Jahrhun<strong>der</strong>t historisch fassbar.1284 sind erstmals die Leprosen bei <strong>der</strong> unterenBrücke genannt, und eine Vergabung <strong>der</strong> Frau Adelheidvon Seedorf ermöglichte es 1369, einen beson<strong>der</strong>enPriester für die Siechenkapelle anzustellen. 1491 wurdedas Siechenhaus auf das Breitfeld hinaus ins Areal <strong>der</strong>heutigen Waldau verlegt. Hier waren die wichtigstenStandortbedingungen erfüllt: Die Kranken weilten ausserhalb<strong>der</strong> Stadt, und die Nähe zur Bolligenstrasse, dieüber Burgdorf in den Aargau führte und damals eine <strong>der</strong>wichtigsten Ausfallstrassen <strong>Bern</strong>s war, sicherte ein genügendesEinkommen an Almosen. Die Kapelle in <strong>der</strong>Waldau geht auf das späte 15. Jahrhun<strong>der</strong>t zurück, undBausubstanz des ersten Siechenhauses könnte auchnoch im heutigen «Kurhaus» vorhanden sein. Gut hun<strong>der</strong>tJahre später wurde das «Siechenschlössli» als herrschaftlichesWohnhaus für den Siechenmeister, seineFamilie und die Dienstleute gebaut. Später diente es alsWohnhaus für den Pfarrer und Ärzte. Es ist <strong>der</strong> ältesteBau <strong>der</strong> Gruppe, dessen ursprüngliches Erscheinungsbildim Wesentlichen noch erhalten ist (Abb. 4, 5).40Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 4 (oben): Die Siechenhausgruppe in <strong>der</strong>Waldau um 1750, Blick von Süden: Rechts dasSiechenschlössli und die Kapelle, links danebendas Kornhaus und dahinter das Blatternhaus,im Hintergrund das Tollhaus, ganz links dieScheune (<strong>Schweiz</strong>erische Landesbibliothek,<strong>Bern</strong>, Sammlung R. und A. Gugelmann)Abb. 5 (unten): Das Siechenschlössli und dieKapelle sind heute Teil <strong>der</strong> psychiatrischenKlinik <strong>der</strong> Universität <strong>Bern</strong> (GS).Auf dem Breitfeld hatten die Aussätzigen grosse Bewegungsfreiheit.Jeweils am Freitag durften sie «<strong>der</strong> Almosenhalber» in die Stadt kommen, mussten sich aberdurch spezielle Kleidung und Lärminstrumente kenntlichmachen. Obwohl die Waldau seit 1765 offiziell als Ausserkrankenhausbezeichnet wurde, blieb <strong>der</strong> Name «Siechenhausstrasse»für die Bolligenstrasse noch bis in die1860er-Jahre in Gebrauch.Für Syphilitiker gab es ab 1498 im Blatternhaus imAltenberg Schmierkuren mit Salben. 1601 wurde auchdiese Institution auf das Breitfeld verlegt. Und 1749 kamdas Tollhaus dazu, <strong>der</strong> Vorläufer <strong>der</strong> späteren Waldau-Klinik. So entstand auf dem Breitfeld ein Komplex vonPflegeanlagen für Kranke, die man nicht in <strong>der</strong> Stadt sehenwollte. 1765 wurden alle drei Anlagen zum Ausserkrankenhauszusammengeschlossen und dem Inselspitalunterstellt. Aufgrund <strong>der</strong> praktizierten Kuren erhielt dasalte Blatternhaus die Bezeichnung «Kurhaus»; es entwickeltesich zu einem Krankenhaus für Haut- und Geschlechtskranke.Nach dessen Umzug in die Dermatologieauf dem Inselareal übernahm die Heil- und PflegeanstaltWaldau 1891 die alten Gebäude im Breitfeld. Im20. Jahrhun<strong>der</strong>t folgten zahlreiche Erweiterungen biszur heutigen psychiatrischen Klinik. Die neuen Bautenbilden ein streng rechtwinkliges Raster und sind nichtmehr wie die organisch gewachsene Siechenhausgruppeauf die Bolligenstrasse ausgerichtet.Aber nicht nur die Anlage in <strong>der</strong> Waldau hat sichverän<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n auch ganz allgemein <strong>der</strong> Umgangmit chronisch Kranken – und die Finanzierung ihrer Betreuung.Was heute Invalidenrenten und Krankenkassenabdecken, musste sich damals in den Opferstöcken nebenden Siechenhäusern ansammeln. Und diese bliebenwohl heute, im Zeitalter des Automobils, meist leer, auchwenn <strong>der</strong> Verkehr auf den Ausfallstrassen ein Mehrhun<strong>der</strong>tfachesvon damals beträgt.Kanton <strong>Bern</strong> 41


«Brügg us Holz, Bärnerstolz»<strong>Bern</strong>er Brücken: Vielfalt vonMaterialien und Formen<strong>Bern</strong> ist einer jener Kantone, die auf ihre historischen Brücken stolz sind. Dies zeigtsich an <strong>der</strong> Vielzahl von älteren Brücken, die ihre Funktion im Verkehrsnetz immernoch erfüllen. Beson<strong>der</strong>s stolz dürfen die <strong>Bern</strong>er auf ihre alten Holzbrücken sein, denn<strong>der</strong> Bestand dieser historischen Flussübergänge kann als einzigartig in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>bezeichnet werden. Aber auch was die Steinbogen-, Stahl- und Betonbrücken betrifft,sind etliche bedeutende Exemplare erhalten geblieben.In <strong>der</strong> Entwicklungsgeschichte des Brückenbaus folgensich verschiedene Materialien und Konstruktionen.Bis weit ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>t hinein dominiertenHolz und Stein, die mit <strong>der</strong> Industrialisierung zuerstdurch Eisen (meist Stahl), später durch Beton (meist mitEisenarmierungen) abgelöst wurden. Die älteste Konstruktionsformist die einfache Balkenbrücke, ihr folgtenBogen- und Hängebrücken, die in vielen Variationenweiterentwickelt wurden.HolzbrückenZu den Gebieten, wo Holzbrücken in grösserer Dichteo<strong>der</strong> mit aussergewöhnlichen Bauten in Erscheinungtreten, gehören das Mittelland – vorab entlang <strong>der</strong> AareAbb. 1: Die Holzbrücke von Gümmenen wurde1555/56 erbaut und 1732 weit gehen<strong>der</strong>neuert. Die Balkenbrücke ruht auf mächtigenSteinpfeilern (GS).42Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 2 (oben): Die Neubrügg bei Bremgartenwurde 1534/35 erbaut und ist damit die ältesteerhaltene Holzbrücke in Kanton <strong>Bern</strong> (GS).Abb. 3 (Mitte), 4 (unten): Die Holzbrücke vonAarberg von 1567/68 zeugt von <strong>der</strong> Handwerkskunst<strong>der</strong> Maurer, Steinmetze und Zimmerleute,die sie errichtet haben (GS).und <strong>der</strong> Emme – sowie das westliche Oberland, hierhauptsächlich entlang <strong>der</strong> Simme. Gar keine Holzbrückensind hingegen im Jura zu verzeichnen, obschonauch dort ausgedehnte Wäl<strong>der</strong> vorkommen. Dem überallverfügbaren und gut bearbeitbaren Kalkstein wurdehier schon immer <strong>der</strong> Vorzug gegeben.Zu den wertvollsten Holzbrücken nicht nur des Kantons<strong>Bern</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> gesamten <strong>Schweiz</strong> gehören diehistorischen Aareübergänge bei Bremgarten, Aarberg(Abb. 3, 4) und Wangen an <strong>der</strong> Aare sowie die Gümmenenbrückeüber die Saane (Abb. 1). Es handelt sich dabeium gedeckte Balkenbrücken, <strong>der</strong>en Hauptträger ausmächtigen Holzbalken bestehen, die auf mehreren Pfahljocheno<strong>der</strong> Steinpfeilern ruhen. Alle vier Brücken gehenauf das 16. Jahrhun<strong>der</strong>t zurück, wurden im Laufe <strong>der</strong>Zeit aber verschiedentlich verstärkt und saniert. Den vierBrücken ist auch eigen, dass sie an ihren Standortennicht Erstlingswerke sind, son<strong>der</strong>n ältere Brücken ersetzthaben.Die älteste Holzbrücke im Kanton <strong>Bern</strong> ist die Neubrüggvon 1534/35, die bei Bremgarten die Aare überspannt(Abb. 2). Sie ist eine gedeckte Holzbrücke auf vierSteinpfeilern, die aus einer Kombination von Tuff, Nagelfluhund Sandstein aufgebaut sind. Die Holzkonstruktionbesteht hauptsächlich aus Tannenholz, für wichtige tragendeElemente wurde auch Eichenholz verwendet. Anunruhige Zeiten erinnert <strong>der</strong> stadtwärts gerichtete Eingang,<strong>der</strong> von einem Sandsteinportal mit seitlichen Wehrmauerngeschützt wird. Bis 1838 war die Brücke einebedeutende Zollstelle mit einem separaten Zollgebäudebeim südlichen Brückenkopf. Heute bilden die Brückeund das Gasthaus «Neubrück» ein gefälliges Ensemble.Dass <strong>der</strong> tragende Bogen auch im Holzbrückenbauerfolgreich eingesetzt werden kann, beweist die Winterseybrückebei Hasle bei Burgdorf, die 1839 über dieEmme geschlagen wurde (Abb. 5). Die tragenden Elementebestehen in diesem Fall aus zwei Bogen von jeacht verzahnten Balken. Für die Konstruktion <strong>der</strong> BrückeKanton <strong>Bern</strong> 43


sollen 400 an Schattseiten gewachsene Tannen benötigtworden sein. Mit ihrer Spannweite von 58 Metern undeiner Gesamtlänge von 69 Metern ist die Winterseybrückedie längste hölzerne Bogenbrücke <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, nacheinigen Quellen sogar Europas. 1955 musste sie einemmo<strong>der</strong>nen Betonbau weichen, konnte aber dank Beiträgenvom Kanton und von Privatpersonen gerettet und800 Meter flussabwärts neu aufgerichtet werden.Der dritte Typ von Holzbrücken, <strong>der</strong> hier vorgestelltwerden soll, stammt aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> industriellen Fabrikation.Als Beispiel dient die so genannte Sodbachbrückean <strong>der</strong> Sense bei Schwarzenburg, die 1867 erbaut wurde(Abb. 6). Entwickelt hat diese Normbrücke <strong>der</strong> AmerikanerWilliam Howe. Die typischen Merkmale des Tragsystemsnach Howe sind das engmaschige Gitterwerkund die Eisenstäbe, die den Ober- und Untergurt steifmiteinan<strong>der</strong> verbinden. Mit diesem System wurde es möglich,auch Hin<strong>der</strong>nisse von mehr als 40 Metern Breite zuüberbrücken. Die Sodbachbrücke war eine <strong>der</strong> erstenHowe-Brücken in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>; heute gibt es im ganzenLand noch rund ein Dutzend Exemplare davon. 1979wurde neben <strong>der</strong> Sodbachbrücke eine mo<strong>der</strong>ne Betonbrückeerstellt, weil die Holzbrücke dem zunehmendenVerkehr nicht mehr gewachsen war. Seither dient sieausschliesslich dem Langsamverkehr.Eine <strong>der</strong> jüngsten Holzbrücken an Hauptverkehrsa<strong>der</strong>nist die Zulgbrücke in Steffisburg, die aus dem Jahre1937 stammt. Ihr Bau ist ein gutes Beispiel für den damaligenMachtkampf zwischen den Verfechtern des traditionellenHolzbaus und jenen des mo<strong>der</strong>nen Brückenbausmit Stahl o<strong>der</strong> Beton. Im Vorfeld des Brückenbaus kames zu hitzigen Diskussionen über die Wahl des Materials.Zum Schluss waren es die Traditionalisten, die sich nocheinmal durchsetzen konnten und folgende Inschriftenanbringen liessen: «Nume keis G’chär / Aber geng ‹Holzhär›» und «Brügg us Holz / Bärnerstolz / 1937».Abb. 5 (links): Die Winterseybrücke bei Haslebei Burgdorf, Baujahr 1839, ist mit einerSpannweite von 58 m die längste Holzbogenbrücke<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> (Foto Hans Schüpbach).Abb. 6 (rechts): Die Sodbachbrücke vonSchwarzenburg von 1867 besitzt als typischeHolzbrücke <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>tsein Tragsystem nach dem Prinzip desAmerikaners William Howe (GS).Im Oberland stammen die ältesten Holzbrücken aus<strong>der</strong> ersten Hälfte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, sie können aberan einer Hand abgezählt werden – Beispiele sind etwadie Brücken in Gsteigwiler und bei Wiler im Simmental.Dass die meisten Brücken im Oberland nicht älter als 150Jahre sind, ist <strong>der</strong> Urgewalt des Wassers zuzuschreiben,das dann und wann einen Übergang gänzlich mit sichfortriss und einen Neubau erfor<strong>der</strong>lich machte.Etliche <strong>der</strong> alten Holzbrücken wie jene in Gümmenen,Burgdorf und Sodbach sind heute in ihrer Funktionzurückgestuft und dienen allein dem Langsamverkehr.Sie stehen damit stellvertretend für verschiedene historische(Holz-)Brücken, die zwar den mo<strong>der</strong>nen Anfor<strong>der</strong>ungennicht mehr genügen, aber mit freiwilliger Unterstützungals Sinnbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit trotzdem erhaltenwerden.SteinbogenbrückenDie Mehrzahl <strong>der</strong> Steinbogenbrücken findet man im Juraund in den Alpen. Der Bestand im Mittelland fällt zahlenmässigbescheidener aus, dafür sind darunter einigeBeispiele von herausragen<strong>der</strong> Qualität. Eine grössereAnzahl von Steinbogenbrücken ist im Zuge des bernischenKunststrassenbaus des 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>tsentstanden.Die ältesten Steinbogenbrücken im <strong>Bern</strong>er Jura stammenaus dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t. Dazu zählen beispiels­44Kanton <strong>Bern</strong>


weise die dreibogige Brücke von La Heutte (1770), dieMühlenbrücke bei Le Torrent (1775) in <strong>der</strong> GemeindeCormoret und die Dorfbrücke bei Sorvilier, <strong>der</strong>enSchlussstein die Jahrzahl 1773 unter dem Bischofsstabdes Fürstbistums Basel trägt.Die meisten Steinbogenbrücken im <strong>Bern</strong>er Jura sindaber erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entstanden. Es sind meistkleinere Bauten, da we<strong>der</strong> die Schüss noch die Birs, diebeiden bedeutendsten Gewässer <strong>der</strong> Region, sehr grosssind o<strong>der</strong> tiefe Schluchten hinterlassen haben. Die einzigeAusnahme bildet die Taubenlochschlucht mit <strong>der</strong>imposanten Hochbrücke <strong>der</strong> Kunststrasse von 1858(Abb. 7). Diese Brücke mit einer Bogenspannweite von26 Metern erweckte nicht nur zu ihrer Bauzeit Bewun<strong>der</strong>ung,son<strong>der</strong>n ist heute noch ein eindrückliches Bauwerk.Damit dieses und die Szenerie <strong>der</strong> Schlucht gebührendbewun<strong>der</strong>t werden konnten, legte man beimnördlichen Zugang <strong>der</strong> Brücke einen Rastplatz an. Lei<strong>der</strong>ist die Brücke durch den Autobahnbau in den 1960er-Jahren funktionslos geworden.Die grösseren Steinbogenbrücken im <strong>Bern</strong>er Mittellandfinden sich hauptsächlich in <strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong> undin ihrer weiteren Umgebung: die Untertorbrücke unddie Nydeggbrücke in <strong>Bern</strong>, die Tiefenaubrücke in Worblaufensowie die Schwarzwasserbrücke <strong>der</strong> Strassenach Schwarzenburg und die bei Thörishaus über dieSense setzende «Steinerne Brücke». Aus <strong>historischer</strong>,bautechnischer und denkmalpflegerischer Sicht habenvor allem die beiden Stadtbrücken einen beson<strong>der</strong>enWert (Abb. 8).Der Brückenstandort am Untertor war <strong>der</strong> erste Aareübergang<strong>der</strong> Stadtberner; er ist seit dem 13. Jahrhun<strong>der</strong>tbelegt. Die noch heute bestehende Untertorbrückeaus dem 15. Jahrhun<strong>der</strong>t ist das zweite Bauwerkan dieser Stelle; sie war bis ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Ausgangspunktfür alle wichtigen VerkehrsverbindungenRichtung Ostschweiz und Oberland. Die Brücke setztdirekt über dem Flussniveau mit drei flachen Bogen überdie Aare. Trotz verschiedener baulicher Verän<strong>der</strong>ungenund Sanierungen im Laufe <strong>der</strong> Zeit entspricht <strong>der</strong> heutigeBestand noch weit gehend <strong>der</strong> ursprünglichenKonstruktion. Nicht mehr vorhanden sind allerdingsalle Aufbauten, die ehemals <strong>der</strong> Verteidigung gedienthaben. Die Untertorbrücke ist eine <strong>der</strong> ältesten spätmittelalterlichenNiveauflussbrücken <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> überhaupt.Ihre überregionale Bedeutung verlor die Untertorbrückean die monumentale Nydeggbrücke, die 1840–1844 in unmittelbarer Nähe errichtet wurde. Ihr Baustellte einen massiven städtebaulichen Eingriff dar: ImNydeggquartier mussten zahlreiche Häuser abgebrochenund beidseits <strong>der</strong> Aare gewaltige Dämme aufgeschüttetwerden. Mit <strong>der</strong> neuen Hochbrücke konnten die steilenZufahrten <strong>der</strong> Untertorbrücke umgangen werden. Bautechnischgesehen, besteht <strong>der</strong> Übergang aus drei Bauelementen:<strong>der</strong> eigentlichen Brücke mit dem Hauptbogensowie den beidseits anschliessenden Wi<strong>der</strong>lagernund Dämmen. Diese Dreiteilung lässt sich an den unterschiedlichenBreiten dieser Elemente ablesen. Mit einerSpannweite des Flussbogens von über 46 Metern warAbb. 7: Die Hochbrücke in <strong>der</strong> Taubenlochschluchtvon 1858 beeindruckt noch heute.Der Bau, Teil <strong>der</strong> direkten Strassenverbindungvon Bözingen nach Sonceboz, ist mit <strong>der</strong>Eröffnung <strong>der</strong> Autobahn in den 1960er-Jahrenfunktionslos geworden (RB).Kanton <strong>Bern</strong> 45


Abb. 8 (oben): Die Untertorbrücke aus dem15. Jahrhun<strong>der</strong>t war bis zum Bau <strong>der</strong> Nydegg-Hochbrücke 1840–44 <strong>der</strong> einzige Aareübergang<strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong>. Die beiden Brücken bildenzusammen ein bedeutendes Ensemble. Aufnahmevon 1911 (EAD).Abb. 9 (Mitte): Die Bodenbrücke ist eine vonfünf ähnlichen Brücken, die nach 1890 amGrimselpass erbaut wurden (HM).Abb. 10 (unten): Das archaische KleineBögelisbrüggli, Teil des Grimsel-Saumpfads, istschon in Quellen des frühen 18. Jahrhun<strong>der</strong>tsbelegt (HM).die Nydeggbrücke bis Ende 19. Jahrhun<strong>der</strong>t die Steinbogenbrückemit <strong>der</strong> zweitgrössten Spannweite Europas.Vom Bestand <strong>der</strong> Oberlän<strong>der</strong> Steinbogenbrückenstammen die meisten grösseren Bauwerke aus dem19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Exemplarisch seien die fünf Brücken erwähnt,die mit dem Bau <strong>der</strong> Grimselpassstrasse in den frühen1890er-Jahren entstanden sind und – bis auf eine –noch heute von <strong>der</strong> Passstrasse aus bewun<strong>der</strong>t werdenkönnen. Es handelt sich dabei um die Brücken beiBoden, Tschingel, Schwarzbrünnen und Hälmad sowieum jene, die 1924 im neu geschaffenen Grimselsee versank.Die Initialen «JF» an den Aussenseiten <strong>der</strong> Brüstungendieser Brücken weisen als Baumeister JohannFrutiger aus Oberhofen aus (Abb. 9). Als weiteres Beispielvom Grimselpass – diesmal stellvertretend für zahlreichean<strong>der</strong>e Brücken, die auf die Zeit vor dem Kunststrassenbauzurückgehen – sei das Kleine Bögelisbrügglierwähnt. Diese kunstvolle Steinbogenbrücke ist Bestandteildes Saumweges und wird bereits im 1710 entstandenenMarchenbuch von Samuel Bodmer mit «<strong>der</strong> kleineBogen» verzeichnet (Abb. 10).46Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 11 (oben): Die 1881–1883 erstellteKirchenfeldbrücke in <strong>Bern</strong> ist ein eindrücklichesBeispiel einer Stahlbogenbrücke. Sie wurde inerster Linie zur Erschliessung des Kirchenfeldquartiersim Süden <strong>der</strong> Altstadt erbaut, dienteaber auch dem Verkehr in Richtung <strong>Bern</strong>erOberland. Aufnahme um 1915 (EAD, SammlungWehrli).Abb. 12 (unten): Nicht min<strong>der</strong> prägt diesiebenbogige Kornhausbrücke von 1898 dasStadtbild. Sie kombiniert Stahlbogen mitWi<strong>der</strong>lagern und Pfeilern aus Jurakalk (EAD,Sammlung Wehrli).Brücken aus Eisen und StahlIm Vergleich zum Bestand <strong>der</strong> Holz- und Steinbrücken istjener <strong>der</strong> eisernen Brücken viel geringer. Dafür sind in<strong>der</strong> relativ kurzen Zeit um die Wende zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t,in <strong>der</strong> eiserne Brücken für Strassen erstellt wurden,auch monumentale Werke entstanden, die noch heutedie Landschaft nachhaltig prägen, ganz beson<strong>der</strong>s dasStadtbild von <strong>Bern</strong>.Die erste eiserne Hochbrücke, die hier über die Aaregespannt wurde, ist die in den Jahren 1881–1883 mitHilfe von englischen Kapitalbesitzern erstellte Kirchenfeldbrücke(Abb. 11). Ihre Stahlkonstruktion weist zweiBogen von 86 Metern Spannweite auf. Wegen des nach<strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>twende stark aufkommenden Tramverkehrs,<strong>der</strong> die Brücke zunehmend in Schwingungen versetzte,wurden die ursprünglichen Gitterwerke <strong>der</strong> Hauptpfeilerim Jahre 1913 einbetoniert.Noch monumentaler als die Kirchenfeldbrücke präsentiertsich die Kornhausbrücke, die 1898 dem Verkehrübergeben wurde (Abb. 12). Das Tragwerk zählt siebenBogen, <strong>der</strong>en grösster eine Länge von 115 Metern aufweist.Was das Baumaterial angeht, ist die Brücke einKompromiss zwischen Stahl und Stein: Die Bogen sindwohl aus Stahl, die Wi<strong>der</strong>lager und Pfeiler hingegen ausJurakalk gefertigt.Monumental ist nicht nur die Brücke, son<strong>der</strong>n auch<strong>der</strong>en Fortsetzung stadtauswärts zum Viktoriaplatz. Fürdie Anlage <strong>der</strong> Kornhausstrasse ist ein eindrücklicherGeländeeinschnitt mit begleitenden baulichen Accessoiresangelegt worden. Zu diesen zählt auch eine kleinereStahlbogenbrücke, die den Geländeeinschnitt überspanntund von <strong>der</strong> aus die räumliche Wirkung dieserVerkehrslandschaft bewun<strong>der</strong>t werden kann.Zu den imposanten Stahlbogenbrücken des Kantonsgehört weiter die Hochbrücke über das Schwarzwasser(Abb. 13). Sie wurde bereits ein Jahr vor <strong>der</strong> Kirchenfeldbrückein <strong>Bern</strong> eingeweiht und weist eine Bogenspannweitevon 114 Metern auf. Als Ersatz für diealte Tuffsteinbrücke in <strong>der</strong> Talsohle mit ihren steilen Zugängenverhalf sie zu einer wintersicheren Verbindungzwischen <strong>Bern</strong> und Schwarzenburg. Die kühne und gefälligeKonstruktion, die das wilde Schwarzwassertobel70 Meter über dem Flussniveau überspannt, blieb nochlange Zeit nach ihrem Bau ein viel bestauntes Wun<strong>der</strong>werk<strong>der</strong> Technik.Kanton <strong>Bern</strong> 47


Abb. 13 (oben): Die 1882 eingeweihte Hochbrückeüber das Schwarzwasser überspanntden Fluss in 70 m Höhe mit einer Spannweitevon 114 m (GS).Abb. 14 (unten): Der Altenbergsteg in <strong>Bern</strong> von1857 ist eine <strong>der</strong> ältesten Hängebrücken <strong>der</strong><strong>Schweiz</strong> und die einzige noch erhalteneKettenbrücke. Die Kettenglie<strong>der</strong> sind geschmiedet,die Gitterträger gegossen (GS).Vom Bestand <strong>der</strong> kleineren Eisenbrücken muss vorallem <strong>der</strong> im Jahre 1857 erstellte Altenbergsteg in <strong>Bern</strong>erwähnt werden. Er ist eine <strong>der</strong> ältesten Hängebrücken<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> und gleichzeitig die einzige noch erhalteneKettenbrücke (Abb. 14). Die Festigkeit und Tragkraft erhältdieser Steg durch feingliedrige Gitterträger, diegleichzeitig als Gelän<strong>der</strong> dienen, sowie durch Flachketten,an denen die Gitterträger aufgehängt sind. DieKombination von Gusseisen für die Gitterträger undSchmiedeeisen für die Flachketten zeugt von <strong>der</strong> Suchenach den geeigneten Baumaterialien in <strong>der</strong> Frühzeit desEisenbrückenbaus.Als weitere Beispiele von kleineren historischen Metallbrückenkönnen für das Strassennetz die Brücke vonGündlischwand und für das Eisenbahnnetz die Brücke<strong>der</strong> Drahtseilbahn vom Hotel Giessbach am Brienzersee(gebaut 1879) erwähnt werden. Letztere ist die ältestenoch erhaltene Eisenbahn-Fachwerkbrücke im Kanton.Brücken aus BetonNach dem Bau <strong>der</strong> ersten nicht armierten Betonbrücke in<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im Jahre 1840 in Erlinsbach und <strong>der</strong> erstenEisenbetonbrücke 1890 in Wildegg erfuhr diese neue Artdes Brückenbaus eine rasante Entwicklung. Einige <strong>der</strong>frühen Betonbauten sind so bedeutend, dass sie auchim <strong>IVS</strong> berücksichtigt werden, obschon Beton kein traditionellesMaterial von historischen <strong>Verkehrswege</strong>n ist.Zu den bedeutendsten dieser Frühwerke gehören dieBrücken des <strong>Bern</strong>er Ingenieurs Robert Maillart (1872–1940). Mit seinen Bauwerken, die sich durch ein Minimuman Material und Kosten auszeichnen, aber dennochdie nötige Sicherheit garantieren und hohenästhetischen Ansprüchen genügen, erlangte MaillartWeltruhm. Neunzehn Bauwerke hat er im Kanton <strong>Bern</strong>Literatur<strong>Bern</strong>er Brückengeschichten. Hrsg. <strong>IVS</strong>. Chapelle-sur-Moudon 1997.Robert Maillart – Brückenschläge. Hrsg. Höhere Schule fürGestaltung Zürich. Zürich 1990.Furrer, <strong>Bern</strong>hard: Übergänge. <strong>Bern</strong>er Aarebrücken – Geschichte undGegenwart. Mit Beiträgen von Jürg Bey, Paul Nizon, Georg Lukàcs.<strong>Bern</strong> 1984.Kessler, Andreas: Vom Holzsteg zum Weltmonument. Die Geschichte<strong>der</strong> Salginatobelbrücke. Schiers 1996.Stadelmann, Werner: Holzbrücken <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> – ein <strong>Inventar</strong>.Chur 1990.48Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 15 (oben): Die Halenbrücke bei <strong>Bern</strong>ist mit ihrem Eröffnungsjahr 1913 ein frühesEisenbeton-Bauwerk. Auch für heutige Betrachterwirkt sie noch sehr elegant (GS).Abb. 16 (unten): Die Schwandbachbrücke von1933 ist eine von mehreren Brücken von RobertMaillart im Kanton <strong>Bern</strong> (GS).realisieren können, wovon die zu Beginn <strong>der</strong> 1930er-Jahre gebaute Rossgrabenbrücke über das Schwarzwasserund die nahe von dieser gelegene Brücke über denSchwandbach zu seinen Meisterwerken gehören. DieRossgrabenbrücke repräsentiert den zur Perfektion entwickeltenDreigelenkbogen, die Schwandbachbrückeden ausgereiften Stabbogen (Abb. 16).Aber schon vor Maillart haben Ingenieure Brückenaus Eisenbeton errichtet, die für Aufsehen gesorgt haben:<strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er Peter Pulver, auf den etwa die Brückenbei Horrenbach im Zulgtal (gebaut 1908) und bei Kan<strong>der</strong>brückin <strong>der</strong> Nähe von Frutigen (1909) zurückgehen,sowie Max Schny<strong>der</strong> mit seiner Waldeggbrücke beiBurgdorf (1913). Eines <strong>der</strong> ältesten und elegantestenBetonbauwerke <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ist aber ohne Zweifel dieHalenbrücke des Ingenieurs Jakob Bolliger, die in denJahren 1911–1913 erbaut wurde (Abb. 15). Diese Hochbrückeverbindet <strong>Bern</strong> mit den nördlich <strong>der</strong> Aare gelegenenVorortsgemeinden und besteht aus einem parabelförmigenHauptbogen von 87 Metern Spannweitesowie den beidseitigen Anschlusswerken aus vier kleinerenBogen und fünf Randfel<strong>der</strong>n als einfache Balkenkonstruktionen.Zu ihrer Bauzeit war die Halenbrücke dieweitest gespannte Betonbrücke <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Im <strong>Inventar</strong><strong>der</strong> schützenswerten Ortsbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, ISOS, wirdsie gar als «gesamtschweizerisch die wichtigste Betonkonstruktionin <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts»bezeichnet.Nicht alle historischen <strong>Bern</strong>er Brücken können mitsolchen Superlativen aufwarten. Aber allen gilt es Sorgezu tragen, denn sie sind wertvolle Elemente unserer Kulturlandschaftund wichtige Zeugen <strong>der</strong> einstigen BauundHandwerkskunst!Kanton <strong>Bern</strong> 49


Bäume, gepflanzt für den Krieg, die Wirtschaft und die LustAlleen und Promenaden:die grüne Seite <strong>der</strong> StrassenDie grossartigen Alleen an den Ausfallstrassen, die grünen Promenaden und Plätzesind heute bedeutende Siedlungselemente <strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong> und tragen viel zur Lebensqualitätim städtischen Raum bei. Dass sie nicht immer nur zur Lust und zur Freude,son<strong>der</strong>n oft auch mit handfesten wirtschaftlichen und militärischen Absichten angelegtwurden, ist heute kaum mehr bekannt.Bei ihrem Ausbau seit <strong>der</strong> Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>tswurden die <strong>Bern</strong>er Strassen systematischmit Alleen versehen. Die Bepflanzung verstärktedie Prägung <strong>der</strong> Landschaft durch die neuen, strahlenförmigvon <strong>der</strong> Stadt ins Land hinauslaufenden Ausfallstrassen.Deutlich zeigt dies ein um 1800 entstandenesAquarell mit <strong>der</strong> «Aussicht vom Bantigerhubel gegen<strong>Bern</strong>» (Abb. 1): Im Zentrum des Bildes liegt die Stadt <strong>Bern</strong>,die hier noch nicht über ihre mittelalterlichen Mauernhinausgewachsen ist. Nach links führt die Strasse in RichtungThun, von <strong>der</strong> beim Egghölzli die Strasse nachWorb–Luzern abzweigt. Es folgt daneben die Ostermundigenallee;sie zieht zwischen dem Schosshaldenholzund dem vor gut hun<strong>der</strong>t Jahren gerodeten Burgdorfholzund am Steinbruch zwischen Ostermundige- undHätteberg vorbei. Rechts davon ist <strong>der</strong> Landsitz Rörswilmit einer kurzen Zufahrtsallee zu sehen. Als nächsteführt die Bolligenallee am Ausserkrankenhaus, <strong>der</strong> heutigenWaldau, vorbei zum Rothus und zur Wegmühle, dieauf dem Bild vom Hüenerbüel verdeckt wird. Rechts vomSchärmenwald verläuft die Papiermühleallee. Es folgendie Ausfallstrassen «obenaus», die Neubrückstrasse unddie Länggasse (ohne Allee), die zum Bremgartenwaldführen, sowie die Murten- und die Freiburgstrasse. AuchJohann Rudolf Müller rückt in seinem Plan <strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong>von 1797/98 die Alleen ins beste Licht (Abb. 2).Frankreich und die Gärten von VersaillesDas Wort «Allee» stammt vom französischen Verb aller,gehen, ab. Im 13. und 14. Jahrhun<strong>der</strong>t in die Schriftspracheübergegangen, bildete sich allmählich das Wort«Allée» heraus. Damit wurde in Frankreich ein Weg o<strong>der</strong>ein Durchgang zwischen zwei engen Mauern bezeichnet.Es konnte sich dabei auch um grüne Mauern, alsoHecken, Bäume und Sträucher, handeln. So wie die Bezeichnungist auch die Idee, Strassen beidseitig mit Baum­Abb. 1: Auf <strong>der</strong> aquarellierten «Aussicht vomBantigerhubel gegen <strong>Bern</strong>», um 1800 (Ausschnitt),ist das sternförmige Netz <strong>der</strong> mitBaumreihen bepflanzten Ausfallstrassen <strong>der</strong>Stadt <strong>Bern</strong> zu erkennen (Staatsarchiv <strong>Bern</strong>).50Kanton <strong>Bern</strong>


eihen zu bepflanzen, auf Einflüsse aus Frankreich zurückzuführen:Im Jahr 1522 verpflichtete <strong>der</strong> König François I.die Landbevölkerung durch ein Reglement, an allengrossen Strassen Ulmen zu pflanzen, um Holz für Geschützlafettenzu produzieren. In den nächsten Jahrhun<strong>der</strong>tenfolgten weitere ähnliche Or<strong>der</strong>. Allmählich erweitertesich <strong>der</strong> Verwendungszweck <strong>der</strong> Bepflanzungen,und die Baumsorten wurden vielfältiger. Im SüdenFrankreichs ersetzte man die Ulmen durch Maulbeerbäume,um Laub für die Seidenraupenzucht zu gewinnen.Je nach Gegend kamen Nuss-, Apfel-, Birnen- undMirabellenbäume hinzu. Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t empfahl <strong>der</strong>Agronom Jean-François Rozier auch Kirschen-, BirnenundApfelbäume mit guten Winteräpfeln zu pflanzen,«comme dans plusieurs cantons de la Suisse».Nun ging es nicht mehr nur um die Nutzung <strong>der</strong>Bäume, son<strong>der</strong>n auch um Strassen- und Landschaftsgestaltung,um die Abgrenzung des öffentlichen Raumes<strong>der</strong> Strasse von den privaten Fel<strong>der</strong>n und um <strong>der</strong>enSchutz vor Schäden durch den Verkehr. Als Pflanzungsformbildete die Allee ein wesentliches Element dessymmetrischen Gartenstils, <strong>der</strong> von André Le Nôtre in<strong>der</strong> zweiten Hälfte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts eingeführt undvor allem unter Louis XIV. in Versailles entwickelt wurde.Abb. 2: Auf Johann Rudolf Müllers prächtigemPlan <strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong> von 1797/98 sind dieAlleen östlich <strong>der</strong> Stadt liebevoll mit demSchattenwurf <strong>der</strong> einzelnen Bäume eingezeichnet(reproduziert mit Bewilligung des Vermessungsamts<strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong>, 2001).Bei <strong>der</strong> Pflanzung von Bäumen und <strong>der</strong> Anlage von Alleenrückten künstlerische Absichten in den Vor<strong>der</strong>grund.<strong>Schweiz</strong>er Offiziere, die in Frankreich im Solddienststanden, liessen sich von den französischen Alleen undGärten beeinflussen und benutzten sie als Vorbil<strong>der</strong> fürihre eigenen barocken Landsitze in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Ein Beispielist die erwähnte Allee zum Landsitz Rörswil, dieheute nicht mehr existiert. Die Schlossallee in Schlosswilhingegen ist noch vorhanden. Sie hat keine Funktion alsZufahrt, son<strong>der</strong>n ist eine reine Promenadenallee; seit imJahr 2002 eine Lücke in den Baumreihen geschlossenworden ist, weist sie wie<strong>der</strong> die stolze Länge von 500Metern auf.«das münster zer predigt und sinen hof zuomlust» – Lustgärten und PromenadenIn <strong>der</strong> Stadt <strong>Bern</strong> entstand die erste Promenade um 1530auf <strong>der</strong> Münsterplattform. Plätze waren in <strong>der</strong> ursprüng­Kanton <strong>Bern</strong> 51


Abb. 3: Die Allee <strong>der</strong> Papiermühlestrasse in<strong>Bern</strong> ist bis zum Wankdorf vorwiegend ausPlatanen und vereinzelten Eschen gebildet; imweiteren Verlauf, nach <strong>der</strong> Überführung überdie Bahnlinie und die Autobahn, kommen alsBaumarten Linden und Ahorn hinzu (GS).Abb. 4: Die Allee <strong>der</strong> Muristrasse beimEgelmösli besteht hauptsächlich ausLinden- und Ahornbäumen und einigenEschen (GS).lichen Planung <strong>der</strong> mittelalterlichen Stadt nicht vorgesehen.Das Wort «Platz» stammt über das lateinische«platea» vom griechischen «πλατεια» ab, was ganz einfach«Strasse» bedeutet; <strong>der</strong> Markt fand als Gassenmarktin <strong>der</strong> mittleren Hauptgasse statt. Nach dem Brand von1405 wurde <strong>der</strong> Graben vor dem Zytglogge mit Brandschuttaufgefüllt, womit – wohl als eher zufälliges Resultat<strong>der</strong> Entsorgung – <strong>der</strong> erste Platz in <strong>Bern</strong> entstand. Erhiess auch einfach «<strong>der</strong> Platz», bis er mit <strong>der</strong> Errichtungdes Kornhauses 1711–1718 den heutigen Namen erhielt.Der erste bewusst gestaltete Platz entstand 1503–1530. In diesen Jahren wurde <strong>der</strong> Friedhof beim Münsteraufgehoben und die Plattform in <strong>der</strong> heutigen Form undHöhe gebaut: <strong>Bern</strong> sollte einen Lustgarten erhalten wieZürich (Lindenhof), Basel (Pfalz) und Lausanne (place dela Cathédrale). Die Vollendung fasste <strong>der</strong> Chronist Anselmtreffend zusammen: «das münster zer predigt undsinen hof zuom lust». Bereits <strong>der</strong> Begräbnisplatz war mitLinden bepflanzt gewesen, die man 1633 ersetzte. 1715und 1731 wurde die Münsterplattform mit Rosskastanienneu gestaltet. Der reisende Lebemann GiacomoCasanova berichtet 1760 begeistert von den prächtigenKastanienalleen, in <strong>der</strong>en Schatten Damen in Krinolinenund Herren in weissen Strümpfen promenierten.Im Jahr 1740 erhielt <strong>der</strong> Werkmeister Samuel Lutzden Auftrag, am Nordwestende des Kornhausplatzes diezweite Promenade <strong>der</strong> Stadt zu errichten. Die Einteilungin Lindenalleen und Rasenflächen gab ihr den Namen«Lindenhofpromenade». Die beliebteste Promenade desalten <strong>Bern</strong> lag jedoch, mangels grosser Plätze, ausserhalb<strong>der</strong> Stadt: Die Engeallee wurde 1738 bis 1740 und 1753als Doppelweg für Kutschen und Spaziergänger mit einerUlmenallee, Laubwänden, Rasenparterres und Ruhebänkenausgestaltet. Dank <strong>der</strong> damals noch unverdorbenenAussicht auf Alpen und Stadt wurde sie zur Attraktion,die nicht nur die Einheimischen anlockte.Die Kleine Schanze, die schon 1722 mit Linden bepflanztworden war und längst als Spazierweg diente,52Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 5: Die Bolligenstrasse ist im Bereich <strong>der</strong>Waldau mit von Art und Alter her gemischten,typischen Alleebäumen gesäumt. Der Abschnittwird von einer neueren Fahrstrasse entlastetund hat daher den traditionellen Charakterbewahrt (GS).erhielt in den Jahren 1817/18 vom GartenarchitektenSamuel Rudolf Karl von Luternau eine Umgestaltung zuröffentlichen Promenade. 1723 verschönerte man dasFalkenplätzli ebenfalls mit Linden.Die AusfallstrassenAls <strong>Bern</strong> nach 1740 mit <strong>der</strong> Umsetzung seines grossenStrassenbauprogramms begann, waren Baumreihen somitkein neues Gestaltungselement. Wie in Frankreich im16. Jahrhun<strong>der</strong>t beeinflussten nun auch militärischeÜberlegungen die Ausstattung <strong>der</strong> Strassen. Die Anlagevon Alleen wurde durch ein 1757 erlassenes Kriegsratsdekret<strong>der</strong> Republik <strong>Bern</strong> geför<strong>der</strong>t, das vorschrieb, alleAusfallstrassen seien beidseitig mit Ulmen, Eschen o<strong>der</strong>Rosskastanien zu bepflanzen. Deren Holz war für die Erstellungvon Kriegsfuhrwerken beson<strong>der</strong>s geeignet.Aber auch wirtschaftliche Überlegungen spielten eineRolle. Am Aargauerstalden pflanzte man 1758 zur För<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Seidenfabrikation eine Maulbeerbaumallee;diese war von 1799 an <strong>der</strong> Aufsicht <strong>der</strong> ÖkonomischenGesellschaft unterstellt. Am Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>tsregte man sich über ungenutztes Land auf und verlangtefür die Alleen nützliche und nutzbare Obstbäume. 1895,anlässlich <strong>der</strong> schweizerischen landwirtschaftlichen Ausstellungin <strong>Bern</strong>, erwähnte die Direktion <strong>der</strong> öffentlichenBauten <strong>Bern</strong>s in ihrem «Bericht über die Obstbaumpflanzungenlängs <strong>der</strong> Staatsstrassen» stolz die Pflanzung von27044 Baumsetzlingen an 101 Orten im Kanton. EineZusammenstellung von 1926 verzeichnet Ulmen, Linden,Eschen, Ahorn, Platanen und Rosskastanien als die häufigstenHochbäume an Strassen im Gemeindebezirk <strong>Bern</strong>.Die heutige Ausstattung <strong>der</strong> Ausfallstrassen ist hinsichtlichdes Alters wie <strong>der</strong> Arten <strong>der</strong> Bäume gemischt.Der Neue Aargauerstalden ist mit Linden bepflanzt; diedaran anschliessende Papiermühleallee (Abb. 3) bestehtbis zum Wankdorf aus Platanen und einigen Eschen, imweiteren Verlauf aus einer Mischung von Eschen, Linden,Ahorn und Platanen. Der Grosse Muristalden ist mit hochgewachsenen Platanen bepflanzt, während bei <strong>der</strong> Fortsetzung,<strong>der</strong> Muristrasse auf <strong>der</strong> Ebene, die Allee vorallem aus Linden- und Ahornbäumen besteht (Abb. 4).Ahorn, Esche, Nuss, Buchen und Platanen säumen dieBolligenstrasse (Abb. 5). Es werden aber auch neue Alleenmit weniger traditionellen Baumsorten angelegt. Sohat die Stadt bei einem Teilstück <strong>der</strong> stark mo<strong>der</strong>nisiertenHauptstrasse nach Belp zur Aufwertung des Strassenbildeseine Birkenallee angelegt. Die Platane wirdwie<strong>der</strong> mehr gepflanzt, weil sie gegen die Umweltverschmutzungbeson<strong>der</strong>s wi<strong>der</strong>standsfähig ist – damitwäre auch das jüngste Kriterium genannt, das beim Anlegeno<strong>der</strong> Erneuern von Alleen eine Rolle spielt.LiteraturGutscher, Daniel: «solich hus zu slissen sy dem kilchhof zuo gut». <strong>Bern</strong>entdeckt seine Freiräume. In: Ellen J. Beer u. a. (Hrsg.): <strong>Bern</strong>s grosse Zeit.Das 15. Jahrhun<strong>der</strong>t neu entdeckt. <strong>Bern</strong> 1999, S. 82 ff.Heyer, Hans-Rudolf: Historische Gärten <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Die Entwicklungvom Mittelalter bis zur Gegenwart. <strong>Bern</strong> 1980.Hofer, Paul: Die Kunstdenkmäler des Kantons <strong>Bern</strong>, Band I. Die Stadt<strong>Bern</strong>. Basel 1952, S. 178 ff.Mumenthaler, Ernst: Die Baumalleen um <strong>Bern</strong>. Son<strong>der</strong>abzug aus dem«Praktischen Forstwirt <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>». Aarau 1926.Rogger, Franziska: «Schön – aber ein Skandal». <strong>Bern</strong>ische Strassenpolitikim 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. In: Klaus Aerni und Heinz E. Herzig (Hrsg.):Historische und aktuelle Verkehrsgeographie in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> (Geographica<strong>Bern</strong>ensia G 18). <strong>Bern</strong> 1986, S. 121 ff.Weber, Berchtold: Strassen und ihre Namen am Beispiel <strong>der</strong> Stadt<strong>Bern</strong>. <strong>Bern</strong> 1990.Kanton <strong>Bern</strong> 53


«Eine <strong>der</strong> romantischesten Gegenden <strong>der</strong> Schweitz»Das Birstal: Reiseroute undMotiv für KünstlerDas Birstal konnte bieten, was die Touristen zur Zeit <strong>der</strong> Romantik suchten: unverdorbeneLandschaften, schauerliche Schluchten und Klamme – und doch die Gewissheiteiner guten Strasse, die die Reisenden sicher ans Ziel führen wird. Zahlreich sind dennauch die Künstlerinnen und Künstler, die sich von <strong>der</strong> Naturlandschaft im Jura habeninspirieren lassen. Drei von ihnen, die zwischen 1750 und 1810 aus ganz unterschiedlichenGründen das Birstal bereist haben, werden hier vorgestellt.In <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts begannendie gehobenen Schichten immer mehr zu reisen. Dabeiübte auch die <strong>Schweiz</strong> mit dem Jura und den Alpeneine grosse Anziehungskraft aus. Man entdeckte dieunverdorbene, raue Natur. Einer <strong>der</strong> Wegbereiter dieserEntwicklung war <strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er Albrecht von Haller (1708–1777) mit seinem Gedicht «Die Alpen». Aus <strong>der</strong> Perspektive<strong>der</strong> Literaturgeschichte gesehen, lösten die Reisebeschreibungendie erfundenen Abenteuergeschichtenab. Im Zeitalter <strong>der</strong> Aufklärung wollte man reale Reisenmitverfolgen. So tauchten am Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>tsdie ersten Reiseanleitungen auf, und gleichzeitig entstandenillustrierte Landeskunden. Allmählich verlor <strong>der</strong> Textan Bedeutung, und die Illustrationen wurden wichtiger.Die Reisenden wollten Bil<strong>der</strong> nach Hause bringen.Zu den beson<strong>der</strong>s beliebten Reiserouten gehörte dasBirstal. Es bot dramatische Szenerien und ungebändigteNatur, besass aber seit <strong>der</strong> Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>tseine recht gut ausgebaute Strasse. Johann WolfgangGoethe bereiste die Strecke Basel–Biel auf seiner zweiten<strong>Schweiz</strong>erreise 1779; Philippe-Sirice Bridel (1757–1845),Pfarrer an <strong>der</strong> französischen Kirche in Basel und um1800 einer <strong>der</strong> bekanntesten Autoren schweizerischerReiseberichte, veröffentlichte 1789 seine «Reise durcheine <strong>der</strong> romantischesten Gegenden <strong>der</strong> Schweitz», dieauf französisch, deutsch und sogar holländisch erschien.Zahlreiche weitere Künstler und Schriftstellerinnen liessensich vom wildromantischen Tal begeistern, das alsSehnsuchtslandschaft jener Zeit etwa mit Rom und demGenfersee konkurrenzierte; drei werden hier vorgestellt.Abb. 1: Emanuel Büchel: Das Felsentor <strong>der</strong>Pierre Pertuis mit <strong>der</strong> römischen Inschrift.Lavierte Fe<strong>der</strong>zeichnung, 1755 (Müller 1955).54Kanton <strong>Bern</strong>


Abb. 2: Peter Birmann: Die Gorges de Court mit<strong>der</strong> Inschrift von 1752. Kolorierter Kupferstich,1802 (Bandelier 1984).Emanuel Büchel (1705–1775), Bäckermeister,Torschliesser, Grossrat und ZeichnerEmanuel Büchel kam 1705 in Basel in einfachen Verhältnissenzur Welt. Nach <strong>der</strong> Lehre in einer Bäckerei ging er,wie das damals üblich war, drei Jahre auf Wan<strong>der</strong>schaft.Ab 1726 arbeitete er in seinem gelernten Beruf und übernahmzwei Jahre später auch die Stelle als Torschliesseram Steinentor. Im Jahr 1743 wurde er Sechser <strong>der</strong> Brotbäckerzunftund somit Grossrat. Sein autodidaktischeskünstlerisches Studium begann er mit dem Kolorierenvon Kupferstichen an<strong>der</strong>er Künstler. Ab dem Jahr 1736erstellte er für verschiedene Auftraggeber naturwissenschaftlicheAquarelle und Zeichnungen: Pilze, Vogeleier,Pflanzen, Blasensteine von Tieren und Menschen, aberauch Münzen, Wappenbil<strong>der</strong> und Versteinerungen, dierömischen Ruinen und Kleinfunde von Augst sowie zahlreichetopografische Ansichten von Pratteln und Basel.Im Sommer 1755 lud <strong>der</strong> Pfarrer und AltertumsforscherAugust Johannes Buxtorf den Maler auf eine Reisezur Pierre Pertuis ein. Buxtorf wollte in erster Linie dierömische Inschrift über dem Felsentor studieren unddazu einen guten Zeichner bei sich haben, <strong>der</strong> den Steinund seine Umgebung bildlich festhalten konnte. Büchelnutzte die Reise, um längere Zeit durch den Jura zu wan<strong>der</strong>n.Dabei entstanden viele Darstellungen aus demBirstal (Abb. 1).Dank seiner Landschaftsbil<strong>der</strong> und Zeichnungen gelangteBüchel im Lauf seines Lebens zu einigem Ansehen.Seinem angestammten Beruf scheint er aber immernoch verbunden gewesen zu sein. Zwei Tage nachseinem Tod am 24. September 1775 ist jedenfalls imProtokollbuch <strong>der</strong> Basler Brotbeckenzunft nachzulesen:«Da es dem lieben Gott gefallen, den H. Emanuel Büchelsel. zu sich in die Ewigkeit zu nehmen, so ist seine gehabteSechser Stelle anheut wi<strong>der</strong> besetzt worden.»Peter Birmann (1758–1844) und die «Voyagepittoresque de Basle à Bienne»Der aus einer Basler Handwerker- und Ratsherrenfamiliestammende Peter Birmann begann seine Karriere miteiner Lehre als Porträtist. Nach einem Aufenthalt am Hofdes Fürstbischofs in Porrentruy wechselte er das Fachund wurde in <strong>Bern</strong> zum Landschaftsmaler. Er arbeitetehier beim Verleger Abraham Wagner, dem Auftraggeberdes Alpenmalers Caspar Wolf, und 1777 bis 1780 imAtelier des Landschafts- und Porträtmalers Johann LudwigAberli. 1781 ging Birmann nach Rom, wo er zehnJahre blieb. Hier zeichnete er vor allem Ruinen und Landschaften.Die relativ rasch und meist mehrfach hergestelltenBlätter wurden von den Bildungsreisenden inRom gerne gekauft. Zurück in Basel, eröffnete er einAtelier, stieg ins Verlagswesen ein, wurde Kunsthändlerund begann zu unterrichten.LiteraturBandelier, André u. a.: Nouvelle Histoire du Jura. Porrentruy 1984.Müller, Christian Adolf: Das Buch vom <strong>Bern</strong>er Jura. Derendingen1953, S. 349 ff.Peter und Samuel Birmann. Künstler, Sammler, Händler, Stifter.Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Basel. 27. September 1997 bis11. Januar 1998. Basel 1997, S. 45 ff.Trachsler, Beat: Das vielseitige Werk des Basler Zeichners EmanuelBüchel (1705–1775). Basel 1973.Transports et communications. In: Intervalles. Revue culturelle duJura bernois et de Bienne 38, Février 1994, S. 5 ff.Kanton <strong>Bern</strong> 55


Abb. 3: Elisabeth Vigée-Lebrun: Pierre Pertuis.Lavierte Fe<strong>der</strong>zeichnung, Anfang 19. Jahrhun<strong>der</strong>t(Intervalles 28, 1994).Die wichtigste Publikation Birmanns ist die 1802–1807 in mehreren Lieferungen erschienene «Voyagepittoresque de Basle à Bienne» mit Texten von Philippe-Sirice Bridel. Die etappenweise in Text und Bil<strong>der</strong>n dargestellte«malerische» Reise durch die Juraschluchten <strong>der</strong>Birs enthält Ortsansichten und beson<strong>der</strong>s «pittoreske»Wegstrecken, aber immer wie<strong>der</strong> auch namenlose Winkelam Bach in den tiefen Schluchten: die überhöhteNatur als geschützter Ort für romantische Träumer. Bisins hohe Alter dienten Peter Birmann die Birstal-Motiveimmer wie<strong>der</strong> als Kopiervorlage (Abb. 2).Elisabeth Vigée-Lebrun (1755–1842), Porträtistinvon Marie-AntoinetteElisabeth Vigée-Lebrun war eine berühmte und erfolgreichefranzösische Porträtmalerin. Ihre Lebensgeschichteist aus den Memoiren bekannt, die sie in den Jahren1835–1837 veröffentlichte. 1755 in Paris geboren, wurdesie zuerst von ihrem Vater, dem Maler Louis Vigée, ausgebildet,erhielt aber auch von an<strong>der</strong>en Künstlern Unterricht.Der Vater starb, als sie 13 Jahre alt war.Bereits mit 15 Jahren war Elisabeth Vigée professionellePorträtmalerin; mit ihren Einnahmen finanzierte sieden Unterhalt für sich und ihre Mutter. 1776 heiratetesie den Kunsthändler Lebrun und nannte sich von nun anVigée-Lebrun. Mittlerweile zählte sie schon zahlreicheAngehörige des Adels zu ihren Kundinnen und Kunden.Als bevorzugte Porträtistin von Marie-Antoinette verkehrtesie in den höchsten Gesellschaftskreisen; sie wurdeMitglied <strong>der</strong> Académie française und konnte ihre Werkemit grossem Erfolg im Salon du Louvre ausstellen.Als Folge <strong>der</strong> Revolution musste sie Frankreich 1789verlassen. Während ihres Exils, das fast 20 Jahre dauerte,reiste sie durch verschiedene Län<strong>der</strong> Europas und warauf Fürstenhöfen und in Adelskreisen ein gern gesehenerGast. Sie besuchte unter an<strong>der</strong>em Italien, die <strong>Schweiz</strong>,Österreich, Polen und Russland. Die Reise durch das Birstal(1808) wurde ihr in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> beson<strong>der</strong>s empfohlen– und das mit Recht, wie sie bestätigt, denn dieseRoute sei «ohne Wi<strong>der</strong>spruch die malerischste, vielseitigsteund grossartigste» (s. Textkasten). Nachdem ihrerlaubt wurde zurückzukehren, blieb Elisabeth Vigée-Lebrun bis zu ihrem Lebensende in Frankreich und genosshohes Ansehen. Sie starb 1842 im Alter von 87Jahren und hinterliess neben den zahlreichen Porträtsauch 200 Landschaftsdarstellungen (Abb. 3).Elisabeth Vigée-Lebrun über das Birstal«Je pris [de Bâle] le chemin de l’évêché de Bâle pour aller à Bienne; c’estM. Ethinger [ein Basler Kaufmann] qui me conseilla de suivre cette route. Ilavait grandement raison, car cette route est sans contredit la plus pittoresque,la plus variée, la plus grandiose. On y voit des scènes de paysagequi surpassent en beauté tout ce qu’on peut voir dans l’intérieur de laSuisse; j’étais sans cesse en admiration. Sur ce chemin se trouve Pierre-Pertuis, arcade de rocher formée par la nature elle-même, qui présente àelle seule un paysage et qui encadre une vue délicieuse.» (Souvenirs deMadame Louise-Elisabeth Vigée-Lebrun, Paris 1837, Bd. 3, 232 f.).56Kanton <strong>Bern</strong>


Nutzen heisst erhaltenAuf historischen Wegen in dietouristische ZukunftDas <strong>IVS</strong> hat viel dazu beigetragen, dass heute neben den Werken des Hochbaus auchWege und Strassen als bedeutende Kulturgüter wahrgenommen werden. Dazugehören nicht nur die aufwändig gebauten Kunststrassen des 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts,son<strong>der</strong>n auch die älteren Fahr-, Saum- und Fusswege mit ihren vielfältigenErscheinungsweisen und ihrer Geschichte, die oft Jahrhun<strong>der</strong>te zurückreicht. Siebergen ein Potenzial für den sanften Tourismus, das es noch auszuschöpfen gilt.Dass sich sowohl die Kunststrassen als auch dieälteren Wege für eine Nutzung im sanften Tourismusbestens eignen, kann an vielen Beispielengezeigt werden. Mit Erfolg wird etwa seit mehrerenJahren das Ecomuseum Simplon betrieben, dessen Rückgrat<strong>der</strong> Stockalperweg von Brig nach Gondo darstellt.Entlang dieses Saumpfades aus dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>tlässt sich die Entwicklung <strong>der</strong> Kultur- und Verkehrslandschaftam Simplon nachvollziehen und erleben. Das EcomuseumSimplon ist ein Modellprojekt für die Nutzungeines historischen Verkehrswegs für den qualitativen,kultur- und naturbewussten Tourismus. Weitere Beispielesind die Jakobs-Pilgerwege, die sich in unserer von Hektikgeprägten Zeit als Wege <strong>der</strong> Besinnung einer grossenBeliebtheit erfreuen, sowie die unzähligen Kilometer <strong>historischer</strong>Wege, die in das Wan<strong>der</strong>wegnetz eingebundensind und <strong>der</strong> Erholung und Fitness dienen. Sie alle stellenbereits heute anerkannte Attraktionen des schweizerischenTourismus mit starker Ausstrahlung dar.Gemäss Tourismusumfragen gehört eine intakte undattraktive Umwelt zu den Hauptkriterien bei <strong>der</strong> Wahl<strong>der</strong> Tourismusdestinationen, und das Wan<strong>der</strong>n zählt mitdem zunehmend aufkommenden Biken zu den wichtigstensportlichen Freizeitaktivitäten. Und genau hier kanndas <strong>IVS</strong> zentrale Planungsgrundlagen liefern. Die Tourismusplanererhalten mit dem <strong>IVS</strong> ein Instrument, dasAbb. 1: Erlebnislandschaft Susten – Grimsel:In <strong>der</strong> landschaftlich und verkehrsgeschichtlichspektakulären Passage bei <strong>der</strong> Sprengfluh an<strong>der</strong> Grimsel haben sich <strong>Verkehrswege</strong> ausverschiedenen Epochen erhalten, so dieKunststrasse von 1894 (links), die heute ineinem Tunnel umfahren wird, und <strong>der</strong> inden Fels gehauene Saumweg von 1774(rechts; HM).Kanton <strong>Bern</strong> 57


ihnen ermöglicht, die Landschaft, ihr ökonomisches Kapital,besser zu erhalten. Mit den vielen attraktiven Wegenund den Informationen über die Verkehrsgeschichtebirgt das <strong>IVS</strong> ein grosses Potenzial für die Erweiterungdes touristischen Angebotes – und dieses gilt es jetzt zunutzen. Bereits vor einigen Jahren hat die schweizerischeTourismuswerbung auf die beson<strong>der</strong>e Bedeutung <strong>der</strong>historischen Wege im touristischen Angebot hingewiesen.Der Tourismusbericht des Bundesrates von 1996hat die Thematik aufgegriffen und dabei speziell den innovativenAspekt <strong>der</strong> historischen <strong>Verkehrswege</strong> betont(vgl. Kasten rechts). Exemplarisch werden im Folgendenvier Regionen im Kanton <strong>Bern</strong> vorgestellt, in denen sichhistorische Wege als Grundlage für eine Tourismusför<strong>der</strong>unganbieten.Erlebnislandschaft Susten – GrimselStalden, Himmelrank, Sprengfluh, Säumerstein, Spittelnollen– all das sind geschichtsträchtige Flurnamen amSusten- o<strong>der</strong> am Grimselpass, die auf den historischenVerkehr zurückgehen. Die Route über den Grimselpassist jahrhun<strong>der</strong>tealt und vor allem geprägt durch denTransithandel <strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er und Innerschweizer mit Oberitalien:Auf den Saumwegen über den Grimsel- und Griespasswurden hauptsächlich Vieh und Käse exportiert. Ein2003 vom «Verein Säumerweg Brünig-, Grimsel-, Griespass»initiierter Kulturweg, <strong>der</strong> «Sbrinzweg», folgt dieseralten Handelsroute. Der Sustenpass hingegen rückterst im frühen 19. Jahrhun<strong>der</strong>t vorübergehend ins Blickfeldüberregionaler Interessen (vgl. S. 32).Beide Pässe bieten hervorragenden Anschauungsunterrichtzur Entwicklung des Weg- und Strassenbausim alpinen Raum. Am Sustenpass kann diese Entwicklunggleich anhand von drei Weggenerationen nachvollzogenwerden: <strong>der</strong> heutigen Passstrasse, <strong>der</strong> «Communicationsstrasse»von 1811 und dem noch älteren Saumweg,die alle mit spektakulären Passagen und einemVerlauf in sehr abwechslungsreicher Landschaft eindrücklicheErlebnisse bieten.Ähnlich verhält es sich mit dem Grimselpass. SeineSaumwegpassagen an <strong>der</strong> Sprengfluh sowie zwischenAuszug aus dem Bericht über die Tourismuspolitik des Bundesvom 29. Mai 1996«Die Erhaltung und die nachhaltige Nutzung <strong>der</strong> traditionellen Kulturlandschaftist für den schweizerischen Tourismus von beson<strong>der</strong>er Bedeutung.Die Bundesinventare <strong>der</strong> Landschaften und Naturdenkmäler von nationalerBedeutung (BLN), <strong>der</strong> schützenswerten Ortsbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> (ISOS) undinsbeson<strong>der</strong>e das <strong>Inventar</strong> <strong>historischer</strong> <strong>Verkehrswege</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> (<strong>IVS</strong>)sind weiter voranzutreiben und umzusetzen.»Handegg und dem Hospiz erschliessen nicht nur eineunvergleichbare Landschaft, son<strong>der</strong>n vermitteln aucheinen hervorragenden Einblick in den damaligen Wegbau.Dasselbe gilt auch für die Kunststrasse, die trotzspäterer Mo<strong>der</strong>nisierungen noch verschiedene fast ursprünglicherhaltene und äusserst attraktive Teilstückeund Brücken aufweist, die von neueren Linienführungenumgangen werden. Zur Zeit ist nur eine davon touristischgenutzt, nämlich die in den Fels gehauene Passageam Stock unterhalb Chüenzentennlen, die von einigenPostautokursen befahren wird.Die Gemeinden Guttannen und Innertkirchen sowiedas Tiefbauamt des Kantons <strong>Bern</strong> gehen beispielhaftdaran, dieses Potenzial auszuschöpfen. In einem erstenSchritt soll die verkehrsgeschichtlich einmalige Situationbei <strong>der</strong> Sprengfluh an <strong>der</strong> Grimselstrasse aufgewertetwerden. Hier, an einer <strong>der</strong> engsten Stellen des Tales, sindim Laufe <strong>der</strong> Zeit beidseits <strong>der</strong> Aare drei unterschiedlicheAbb. 2: Die Oberland-Tour: Passage des Saumpfadesvon Meiringen in die Rosenlaui oberhalb<strong>der</strong> Reichenbachfälle. Der gepflasterte Wegdiente sowohl den vielen Touristen <strong>der</strong> BelleEpoque als auch <strong>der</strong> Versorgung des Rosenlauibads(AB).58Kanton <strong>Bern</strong>


Weganlagen entstanden (Abb. 1). Die seit dem Bau desneusten Tunnels verwaiste Kunststrasse entlang <strong>der</strong> Fluhsoll für den Langsamverkehr wie<strong>der</strong> geöffnet und späterdas ganze Engnis mit einem didaktischen Rundkurs erschlossenwerden.Die Oberland-TourAusgehend von Lauterbrunnen, führt die Oberland-Tourüber die Kleine Scheidegg nach Grindelwald und weiterüber die Grosse Scheidegg durchs Rosenlauital nach Meiringen(Abb. 2). In <strong>der</strong> Tourismusgeschichte <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>stellt die Oberland-Tour die klassische Rundreise dar, dieseit den 1880er-Jahren die Touristen mitten in die Alpenlandschaftbrachte. Die zahllosen Reiseführer, die im Übergangvom 18. zum 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entstanden, machtendie Oberland-Tour rasch zu einem <strong>der</strong> Höhepunkte <strong>der</strong>europäischen Reisekultur. Nirgendwo sonst fanden dieFremden eine ähnliche Dichte von Naturwun<strong>der</strong>n undeine solche Eindrücklichkeit <strong>der</strong> Landschaftsszenerie, nirgendwosonst glich das Bild <strong>der</strong> Leute in den Bergdörfernmehr den gängigen zivilisationskritischen Vorstellungen<strong>der</strong> idealen Gesellschaft freier Hirten als hier, am Rande<strong>der</strong> Gletscher, am Fusse <strong>der</strong> Schneegipfel.Gingen die ersten Gäste noch zu Fuss und mietetenunter Umständen ein Saumtier samt Führer, so benutztendie Fremden <strong>der</strong> Belle Epoque mit Vorliebe ein Pferdfür ihre Reise, o<strong>der</strong> sie liessen sich mit einer Sänfte überdie Pässe tragen. Warum nicht diese Oberland-Tour wie<strong>der</strong>aufleben lassen mit den Transportmitteln <strong>der</strong> Vergangenheit?Als Vorbild könnte die Gemmi dienen, wodas ehrwürdige Gemmiwägeli – eine einachsige, einspännigeKleinkutsche – seit kurzem eine Renaissanceerlebt und wie vor hun<strong>der</strong>t Jahren müde Menschen zwischendem Gemmipass und Sunnbüel transportiert.Abb. 3 und 4: Höhenwege im Mittelland: AmHumberg bei Bollodingen hat sich eines <strong>der</strong>grössten Hohlwegbündel <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> erhalten.Der Aufstieg umfasst mehr als 30 Trasseesvon bis zu 8 m Tiefe. Er ist Teil des Emmentalwegsvon Herzogenbuchsee nach Langnau i. E.Vogelperspektive (links; Zeichnung WernerVogel) und Ausschnitt (rechts; HS).Warum nicht die Fremden an <strong>der</strong> Alpwirtschaft teilhabenlassen? Bereits die Wan<strong>der</strong>touristen des späten 18. Jahrhun<strong>der</strong>tserlebten den Übergang über die Scheidegg alsalpwirtschaftlichen Lehrpfad. Die Reise bot den Fremdenneben den Naturerlebnissen – dem oberen Grindelwaldgletscher,dem Rosenlauibad und dem Reichenbachfall– eine Besichtigungstour zu den Produktionsstätten desKäses. Kaum einer unterliess es, in <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>enHütte einzukehren, sich die Gerätschaften undEinrichtungen vorführen zu lassen und den Käse und diefrische «Nidel» ausgiebig zu kosten.Höhenwege im MittellandDas bernische Mittelland zeichnet sich durch ein dichtesNetz von historischen Wegen und Strassen aus. Es ist dasLand <strong>der</strong> herrschaftlichen Chausséen, <strong>der</strong> mittelalterlichenHöhenwege, <strong>der</strong> spektakulären Hohlwegsystemeund <strong>der</strong> grossen Flussübergänge. Mit gutem Erfolg hatsich in dieser Gegend <strong>der</strong> Jakobs-Pilgerweg als Fernwan<strong>der</strong>ungetabliert. Er tritt am Brünig ins <strong>Bern</strong>biet ein, führtüber die Beatushöhlen bei Sundlauenen, Amsoldingenund Rüeggisberg nach Schwarzenburg und geht an <strong>der</strong>Sense ins Freiburgerland über. Die Wan<strong>der</strong>ung durch dievielfältige Kulturlandschaft des <strong>Bern</strong>er Mittellandesöffnet den pilgernden Menschen das Tor zu einer spirituellenReise ins Innere.Kanton <strong>Bern</strong> 59


Abb. 5: Südlich von Bellelay hat <strong>der</strong> archäologischeDienst des Kantons <strong>Bern</strong> zu Schauzweckeneinen Abschnitt einer Geleisestrassefreigelegt. Eine Informationstafel gibt möglicheAntworten auf die Fragen nach Herkunft undFunktion dieses Wegstücks (GS).Eine profanere Funktion haben die Höhenwege, diemehrheitlich bereits im Mittelalter geschaffen wurden,um die damals noch vielfach versumpften Nie<strong>der</strong>ungen<strong>der</strong> Talsohlen zu umgehen. Eine beson<strong>der</strong>e Attraktiondieser Wege sind die markanten Hohlwege, die sich überdie Jahrhun<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Benutzung beson<strong>der</strong>s in den Anstiegenauf die Höhen entwickelt haben. Eines <strong>der</strong> grössten,ja wenn nicht gar das grösste Hohlwegbündel <strong>der</strong><strong>Schweiz</strong> findet sich am so genannten Emmentalweg, <strong>der</strong>von Herzogenbuchsee über Affoltern nach Trachselwaldund weiter nach Langnau führte: Im Anstieg von Bollodingenauf den Humberg sind mehr als dreissig Trasseesbis zu acht Meter in die Molasse eingetieft (Abb. 3, 4).Und nicht min<strong>der</strong> imposant sind die Hohlwegbündel an<strong>der</strong> Wägessen zwischen Boll und Schafhausen im Bigenthalund zwischen Burgdorf und Dürrenroth über denKaltacker. Beide führten zu Höhenwegen, die als Varianten<strong>der</strong> Verbindung zwischen <strong>Bern</strong> und Luzern dienten.Die «römische Transjurane»Der Strecke von Biel über Sonceboz nach Tavannes haftetseit je die Aura des Römerzeitlichen an. Einer <strong>der</strong>Hauptgründe für die Annahme einer «römischen Transjurane»ist die Inschrift am Felsentor <strong>der</strong> Pierre Pertuis.Diese nachweislich römische Inschrift gehörte vermutlichzu einer überregionalen Verbindung, die von Petinesca(Studen) nach Tavannes führte und ihre Fortsetzung möglicherweiseentlang <strong>der</strong> Birs Richtung Augusta Rauracorum(Augst) und über Bellelay Richtung Pruntrut fand(vgl. S. 23). Unterstützt wurde die Hypothese einer römerzeitlichenVerbindung durch das Auftreten mehrererGeleisestrassen entlang <strong>der</strong> Strecke, die als Relikte einerrömischen Strasse angesehen wurden. Inzwischen weissman, dass Geleisestrassen bis ins 18. Jahrhun<strong>der</strong>t ange­legt wurden und dass die meisten heute sichtbaren Spurenaus <strong>der</strong> Neuzeit stammen. Aber es ist möglich, dassdie Anlagen aus ehemals römischen Strassenzügen hervorgegangensind. Einen Beweis für die Existenz einerrömischen Strasse im <strong>Bern</strong>er Jura lieferten die archäologischenUntersuchungen, die während des Baus <strong>der</strong>mo<strong>der</strong>nen «Transjurane», <strong>der</strong> Autobahn A 16, gemachtwurden: 1994 entdeckte man westlich von Tavannes, amFusse <strong>der</strong> Pierre Pertuis, ein Teilstück einer römischenSchotterstrasse.Die Strecke von Petinesca über Bözingen und diePierre Pertuis mit den beiden Fortsetzungen RichtungBellelay und Moutier bilden einen idealen Parcours, umdie Fragen <strong>der</strong> Römerstrasse und <strong>der</strong> Geleisestrassen zuthematisieren. Einen ersten Schritt dazu hat bereits <strong>der</strong>archäologische Dienst des Kantons <strong>Bern</strong> mit dem Schauobjektsüdlich von Bellelay gemacht: Hier wurde dasTeilstück einer Geleisestrasse freigelegt und mit einerInformationstafel in einen didaktischen Parcours zu verschiedenenThemen eingebunden (Abb. 5). Eine beson<strong>der</strong>eAttraktion eines solchen Parcours, die weit über dieRegion ausstrahlen würde, wären auch die Geleisestrassenvon Tavannes, falls es möglich wäre, diese inihrem ganzen Umfang freizulegen.LiteraturBetschart, Andres: Der Sustenpass – eine verkehrsgeschichtlicheErlebnislandschaft. In: Wege und Geschichte 1, <strong>Bern</strong> 2002, S. 29–33.Bösch, Ruedi: Burgdorf–Huttwil. In: Wan<strong>der</strong>ungen auf historischenWegen. 17 Ausflüge zu Denkmälern <strong>der</strong> Kultur- und Verkehrsgeschichte.Hrsg. <strong>IVS</strong>. Thun 1990, S. 168–179.Mösching, Hansruedi; von Rütte, Hans: Die Bedeutung <strong>der</strong>Tourismuswege als historische <strong>Verkehrswege</strong>. In: Bulletin <strong>IVS</strong> 91/2, <strong>Bern</strong>1991, S. 20–25.60Kanton <strong>Bern</strong>


Das <strong>Inventar</strong>Seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts istunsere Kulturlandschaft rasanten Verän<strong>der</strong>ungenunterworfen. Private und gewerbliche Bautätigkeitsowie die Infrastruktur für die Befriedigung <strong>der</strong>Mobilitätsbedürfnisse unserer Gesellschaft habenEingriffe bewirkt, von denen beson<strong>der</strong>s die Kleinformen<strong>der</strong> Landschaft betroffen sind. In diesemZusammenhang sind auch zahlreiche historischeWege zerstört worden.Vor diesem Hintergrund gab <strong>der</strong> Bund 1984 denAuftrag zur Erarbeitung des <strong>Inventar</strong>s <strong>historischer</strong><strong>Verkehrswege</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>IVS</strong>. Die Aufgabenund Ziele des <strong>IVS</strong> gehen allerdings weit überden Bereich <strong>der</strong> Raumplanung im engeren Sinnehinaus.


Das <strong>IVS</strong>: ein weltweit einmaliges ProjektEine Bestandesaufnahme mitvielfältigem NutzenDas <strong>Inventar</strong> <strong>historischer</strong> <strong>Verkehrswege</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>IVS</strong> ist eine Bestandesaufnahmevon schützenswerten historischen <strong>Verkehrswege</strong>n und wegbegleitenden Elementen in<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Als Bundesinventar nach Art. 5 des Bundesgesetzes über den Natur- undHeimatschutz (NHG) steht es in einer Reihe mit dem <strong>Inventar</strong> schützenswerter Ortsbil<strong>der</strong><strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> (ISOS) und dem Bundesinventar <strong>der</strong> Landschaften und Naturdenkmälervon nationaler Bedeutung (BLN). Das <strong>IVS</strong> ist in dieser Form weltweit einmalig.Das <strong>IVS</strong> ist im Auftrag des Bundes erarbeitet worden.Die Erstinventarisation hat Ende 2003nach zwanzig Jahren Arbeit ihren Abschlussgefunden. Die Aufgaben und Ziele des <strong>Inventar</strong>s sindvielfältig: Es stellt für die Bundesbehörden ein verbindlichesPlanungsinstrument dar und steht den Kantonenund Gemeinden als Entscheidungshilfe bei Planungsfragenzur Verfügung. Es bietet wertvolle Grundlagen für die För<strong>der</strong>ungeines nachhaltigen Tourismus. Beson<strong>der</strong>e Funktionenkommen den historischen Wegen auch innerhalb desWan<strong>der</strong>wegnetzes zu. Es bildet das Fundament einer umfassenden wissenschaftlichenForschungstätigkeit im Gebiet <strong>der</strong> Verkehrsgeschichteund Mobilitätsforschung.Die Methode und das ProduktDas Bundesgesetz über Natur- und Heimatschutz (NHG)gibt bei <strong>Inventar</strong>en nach Art. 5 NHG die Einteilung in dieBedeutungskategorien national, regional und lokal vor.Diese Einteilung richtet sich einerseits nach <strong>der</strong> historischenKommunikationsbedeutung einer Strecke, an<strong>der</strong>erseitsnach <strong>der</strong> morphologischen Substanz, also nachden im Gelände noch zu erkennenden Spuren <strong>der</strong> historischen<strong>Verkehrswege</strong>. Nur die <strong>Verkehrswege</strong> von nationalerBedeutung finden gemäss NHG in das BundesinventarEingang. In <strong>der</strong> Regel bildet <strong>der</strong> «TopographischeAtlas <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>», die so genannte Siegfriedkartevom Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, zur Gegenwart hin diezeitliche Abgrenzung <strong>der</strong> Bearbeitung. Das in diesemund in früheren Kartenwerken verzeichnete historischeWegnetz wird nach einer selektiven Analyse – unabhängigvon einer späteren NHG-Einstufung – im Geländebegangen, und die vorhandene Substanz wird festgehalten.Diese Aufnahme bildet die Grundlage für die Geländekarte,die einen Teil <strong>der</strong> <strong>IVS</strong> Dokumentation darstellt.Mit Hilfe <strong>der</strong> historischen Literatur, alter Karten und vonBilddokumenten wird vorgängig o<strong>der</strong> parallel dazu diehistorische Kommunikationsbedeutung <strong>der</strong> Wegstreckenbeurteilt. Die geschichtliche Recherche und <strong>der</strong> Geländebefundsind im beschreibenden Teil <strong>der</strong> <strong>IVS</strong> Dokumentationzusammengefasst. Sie bilden gemeinsam die Grundlagefür die Einstufung <strong>der</strong> einzelnen <strong>Verkehrswege</strong> nachNHG, die in <strong>der</strong> <strong>Inventar</strong>karte kartografisch festgehaltenist. Ausschnitte <strong>der</strong> <strong>Inventar</strong>- und <strong>der</strong> Geländekarte sindauf <strong>der</strong> Umschlagklappe hinten in dieser Publikationwie<strong>der</strong>gegeben.Das <strong>IVS</strong> im Kanton <strong>Bern</strong>Die Arbeit an <strong>der</strong> <strong>IVS</strong> Dokumentation zum Kanton <strong>Bern</strong>wurde im Jahr 2003 in Bezug auf das <strong>Inventar</strong> <strong>der</strong> Wegevon nationaler Bedeutung abgeschlossen. Das <strong>Inventar</strong>des <strong>Bern</strong>er Oberlands erstellten 1984–1995 HansruediMösching (Gelände) und Hans von Rütte (Geschichte).Im Mittelland und im Jura arbeiteten von 1995 bis 2003Sabine Bolliger (Geschichte), Guy Schnei<strong>der</strong> (Gelände),Martino Froelicher und Ruedi Bösch (beide Geschichteund Gelände) für das <strong>IVS</strong>. An den Geländearbeiten imMittelland und im Jura wirkten ausserdem Peter Mosimannund Christian Aebi mit.62Kanton <strong>Bern</strong>

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