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die vergessenen kinder - Stiftung Bündner Suchthilfe

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S u c h t r e p o r tThema: <strong>die</strong> <strong>vergessenen</strong> <strong>kinder</strong>Jahresbericht 20111<strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong>


InhaltSuchtreport 2011: Thema «Die <strong>vergessenen</strong> Kinder»Vorwort des Regierungsrates Hansjörg Trachsel 5Vorwort des <strong>Stiftung</strong>sratspräsidenten 7Suchtkrankheit der Eltern 8Kinder als Co-Abhängige 11Überlebensstrategien mit Folgen 13Interview mit Brigitte* (29), Tochter alkoholabhängiger Eltern 16Interview mit Philip* (14), Sohn eines Alkoholikers 19Hilfe zur Selbsthilfe 21Interview mit Dr. Jörg Leeners, Chefarzt und Leiter 23der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) GraubündenJahresbericht des <strong>Stiftung</strong>sratspräsidenten 27Jahresabschluss per 31. Dezember 2010 28Revisorenbericht über das Geschäftsjahr 2010 29Schlusswort des <strong>Stiftung</strong>sratspräsidenten 303


Vorwort des Regierungsrateshansjörg TrachselAn <strong>die</strong> Kinder denkenDie Familie ist nach wie vor <strong>die</strong> Keimzelle unserer Gesellschaft. DieseLebensgemeinschaft von Eltern und Kindern war in den letzten Jahrenaber grossen Veränderungen unterworfen. Dabei ist <strong>die</strong> Stabilität <strong>die</strong>serEinrichtung durch <strong>die</strong> Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft arg insWanken gekommen. Heute geht statistisch gesehen jede zweite Ehe in<strong>die</strong> Brüche. Das hat einerseits zur Folge, dass immer mehr Kinder in sogenannten Ein-Eltern-Haushalten aufwachsen. Anderseits hat aber auch<strong>die</strong> Zahl der Patchwork-Familien zugenommen.Wenn Eltern ihre persönlichen oder ihre Beziehungsprobleme nicht in denGriff bekommen, wenn <strong>die</strong> geeignete Arbeitsstelle fehlt und wirtschftlicheNot besteht, ist der Griff zu Suchtmitteln oft nicht fern. Wenn sich darausein problematisches Suchtverhalten entwickelt, hat <strong>die</strong>s fatale Folgen für<strong>die</strong> Heranwachsenden. Kinder sind zwar nicht in der Lage, <strong>die</strong> Gründe fürdas Suchtverhalten eines Elternteils zu erkennen, aber sie sind äusserstsensibel für das Suchtverhalten selbst. Sie können sich ihre Eltern nichtaussuchen und passen sich sehr gut den bestehenden Verhältnissen an. Sokönnen sie viel seelisches Leid oder körperliche Gewalt aushalten. Dabeikönnen sie selbst ein Rollenverhalten entwickeln, welches sie auch imErwachsenenalter nicht mehr ablegen können. Ein Rollenverhalten, dasauch zu einer deutlich erhöhten Suchtproblematik führen kann.Dieser Suchtreport setzt sich mit den so genannten «<strong>vergessenen</strong> Kindern»auseinander und versucht aufzuzeigen, in welcher Not sich Kindersuchtmittelabhängiger Eltern befinden können. Ich freue mich, dass esder <strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong> einmal mehr gelungen ist, ein gesellschaftlichrelevantes Thema aufzugreifen und <strong>die</strong> Grundlagen für einesachliche Auseinandersetzung zu schaffen.Chur, April 2011Hansjörg TrachselVorsteher des Departementsfür Volkswirtschaft und Soziales5


Vorwort des <strong>Stiftung</strong>sratspräsidentenKindern eine Stimme geben«Die Kinder merken doch nichts» – längst ist wissenschaftlich bewiesen,dass <strong>die</strong>se Aussage so nicht stimmt. Besonders Klein<strong>kinder</strong> sind hochsensibelim mitmenschlichen Umgang. Ihre Sensorik ist hoch entwickelt,auch wenn sie in vielen Fällen noch nicht wissen können, wie und wosie das Erlebte einordnen sollen. Wenn Kinder in einer suchtbelastetenFamilie aufwachsen, lernen sie sehr früh, sich auch <strong>die</strong>ser Situation anzupassen.Erst in den letzten Jahren hat sich <strong>die</strong> Suchtforschung <strong>die</strong>ser«<strong>vergessenen</strong> Kinder» angenommen. Auch in der Suchtberatung wird derFokus nicht nur mehr auf <strong>die</strong> Süchtigen selbst gerichtet, sondern auchdas Umfeld mit einbezogen.Auch Me<strong>die</strong>n sind wichtige Träger der Prävention. Die Reportage «Papa,Maman, la bouteille et moi» (Papa, Mama, <strong>die</strong> Flasche und ich) gewannam 5. Dezember 2010 den Journalistenpreis der französischsprachigenöffentlichen Radios 2010. Er ging an <strong>die</strong> Autorin Magali Philip von RTS,der Westschweizer Radio- und Fernsehgesellschaft, weil sie ebenso behutsamwie schonungslos ein gesellschaftliches Tabuthema aufgegriffenhat. Sie verlieh gleichzeitig den Kindern aus alkoholbelasteten Familieneine Stimme.Mit <strong>die</strong>sem Suchtreport wollen auch wir allen Kindern, <strong>die</strong> in einer suchtbelastetenFamilie aufwachsen, eine Stimme geben. Stellvertretend für <strong>die</strong>rund 100’000 Betroffenen in der Schweiz kommen hier eine 28-jährigeFrau und ein 14-jähriger Junge zu Wort. Sie reden über ihr Erlebtes, ihreÄngste, ihre Sorgen und über ihren Alltag heute. Aber auch Fachleutekommen zu Wort, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Problematik sprechen und über <strong>die</strong>Schwierigkeit, Hilfe bieten zu können.Chur, April 2011Andrea Mauro FerroniPräsident <strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong>7


Suchtkrankheit der Eltern –wie wird sie vom Kind erlebt?In der Schweiz leben nach Schätzungen der Schweizerischen Fachstellefür Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) rund 100‘000 Kinderund Jugendliche in Familien mit einem suchtmittelabhängigen Elternteil(2007).Kinder aus suchtbelasteten Familien sind meist schwierigen familiärenBedingungen ausgesetzt, <strong>die</strong> ihren Lebensalltag prägen und sich meistnegativ auf ihre physische und psychische Entwicklung auswirken. Zurgespannten Familienatmosphäre kommen oft emotionale Vernachlässigungund mangelnde Förderung durch <strong>die</strong> Eltern hinzu. Oft erleben <strong>die</strong>Kinder Trennungen und Scheidungen, <strong>die</strong> verbunden sind mit Orts- undSchulwechseln. Sozioökonomische Probleme wie Arbeitslosigkeit, finanzielleProbleme und ein niedriges Bildungsniveau wirken sich oft negativauf <strong>die</strong> Familie aus.Kinder von suchtmittelabhängigen Eltern haben zudem im Vergleich zuKindern aus Familien ohne Suchtbelastung ein bis zu sechsfach höheres Risiko,selber eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln. Damit gelten sieals grösste Risikogruppe hinsichtlich der Entwicklung einer Suchtstörung.Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Ergebnisse vieler Stu<strong>die</strong>n (vor allemZwillingsstu<strong>die</strong>n und Adoptionsstu<strong>die</strong>n bezüglich Alkoholabhängigkeit)lassen <strong>die</strong> Mitwirkung eines Erbfaktors vermuten. Es muss aber auch voneiner Übertragung beobachteter Verhaltensmuster im Sinne des Modelllernensausgegangen werden: Kinder in Suchtfamilien beobachten undlernen dabei, wie ihre Eltern mit Suchtmitteln umgehen, vor allem, beiwelchen Gelegenheiten und zu welchen Zwecken sie <strong>die</strong>se einsetzen: etwabei Konflikten, zur Versöhnung, bei unangenehmen Gefühlszuständen,zur Beruhigung, bei fröhlichen Anlässen, zur Steigerung der Heiterkeit,und vieles andere mehr.Tabuthema SuchtGemäss Statistiken entwickeln etwa 30 Prozent der Kinder von suchtmittelabhängigenEltern später selber eine Abhängigkeitserkrankung. Trotzdemwird den Kindern aus suchtbelasteten Familien auf gesellschaftlicherEbene noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Suchtprobleme stellennoch immer ein Tabu dar. Wenn es in der Familie ein Suchtproblem gibt,haben <strong>die</strong> Kinder daher kaum eine Chance, sich darüber auszusprechen,8


weder innerhalb noch ausserhalb der Familie. Häufig schämen sie sich,wagen es daher kaum, Gleichaltrige mit nach Hause zu bringen undgeraten so in eine Isolation. Dazu kommt, dass sich auch <strong>die</strong> Fachweltlange um das Thema «Kinder in suchtbelasteten Familien» gedrückt hat.Im deutschsprachigen Raum beschäftigt sich <strong>die</strong> Forschung erst seit den1990er-Jahren eingehender mit <strong>die</strong>sem Thema. Frühere Stu<strong>die</strong>n und Ergebnissestammen aus den USA, wo bereits seit Ende der 1960er-Jahreentsprechende Forschung betrieben wird. Margaret R. Cork* beschrieb imJahr 1969 in «The forgotten children» («Die <strong>vergessenen</strong> Kinder») verschiedeneauffällige Symptome, <strong>die</strong> bei Kindern aus Suchtfamilien auftreten.Diese Publikation hat offensichtlich einige Fachleute aufgeschreckt unddazu veranlasst, sich <strong>die</strong>ser Thematik anzunehmen.Dauerstress für KinderIn Familien mit suchtmittelabhängigen Eltern wird <strong>die</strong> Sucht zum dominantenThema im Familienalltag. Alles andere, inklusive <strong>die</strong> Bedürfnisse,Sorgen und Ängste der Kinder, wird in den Hintergrund gedrängt. Derabhängige Elternteil wird zum Mittelpunkt. Die ganze Familie richtet sichnach seinem Suchtverhalten, <strong>die</strong> familiäre Atmosphäre ist abhängig vonder jeweiligen Verfassung, von den häufigen Stimmungsschwankungendes Abhängigen. Die Kinder erleben <strong>die</strong>se Situation als chronischstresshaft. Sie fühlen sich verunsichert, verängstigt, leiden unter der denFamilienalltag prägenden Instabilität und Unberechenbarkeit.*Cork, Margaret R. (1969). The forgotten children.A study of children with alcoholic parents. Toronto : PaperJacks.9


Je nachdem, ob sich z. B. der alkoholkranke Elternteil in einer «trockenen»oder «nassen» Phase befindet, erlebt das Kind einen gänzlich anderenVater oder eine andere Mutter. Es wird mit zwei verschiedenen Persönlichkeitenund oft gegensätzlichen Verhaltensweisen konfrontiert. Esweiss nie, welche Konsequenzen sein Handeln haben wird, ob es bestraftoder getröstet wird. Diese Ungewissheit drängt das Kind dauernd in eineBeobachterrolle. Es muss stets auf der Hut sein, in welcher Verfassungsich der suchtkranke Elternteil gerade befindet, um jeweils angemessenreagieren zu können.Das Leiden im StillenKindliche Bedürfnisse nach Verlässlichkeit und Geborgenheit bleibenmeist unbefriedigt. Die Eltern-Kind-Bindung ist gestört. Das Kind erlebthäufig mangelndes Interesse oder Ablehnung von Seiten des abhängigenElternteils. Oft werden Kinder auch Zeugen von heftigen innerfamiliärenAuseinandersetzungen, von körperlicher und sexueller Gewalt. Bisweilenwerden sie selbst zu Opfern. Sie haben oft entsetzliche Angst und fühlensich dabei allein, im Stich gelassen. Das Leiden der Kinder suchtkrankerEltern wird aber häufig nicht wahrgenommen. So leiden sie «im Stillen»und gehen in ihrer seelischen Not schlicht «vergessen».Angst vor dem ZusammenbruchKinder suchtkranker Eltern erhalten in der Regel nicht oder nicht in ausreichendemMass, was sie für ihr psychisches Wohlergehen, für ihre seelischeund soziale Entwicklung brauchen: Liebe, Geborgenheit, Zuwendung,Einfühlsamkeit, Sicherheit, Verlässlichkeit, Vertrauen, bedingungslosesAngenommensein, Wertschätzung. Besonders gross ist bei allem <strong>die</strong>Angst, das Familiensystem könnte auseinander brechen, der «sichereRahmen», auf den sie angewiesen sind, könnte verloren gehen.Kinder geraten auch oft in Zweifel über sich selbst («Bin ich schuld, dassVater/Mutter trinkt?») und in emotionale Verstrickungen. Sie werden hinund her gerissen zwischen gegenläufigen Gefühlen dem suchtkrankenElternteil gegenüber: Liebe und Hass, Wut und Mitleid, Verachtung undVergebung, Anklage und Verständnis. Im schwierigen Umgang mit <strong>die</strong>senwidersprüchlichen Gefühlen werden sie meist allein gelassen.Quelle: Therapeutisches Angebot für Kinder aus Familien mit Alkohol und anderen Suchtproblemender Winterthurer Fachstelle für Alkoholprobleme, «Evaluationsergebnisse einesPilotprojektes (2005 – 2007)», Hermann Fahrenkrug, Georg Kling, Gerhard Gmel10


Kinder als Co-AbhängigeAlle, <strong>die</strong> einen Suchtkranken in irgendeiner Weise aus falsch verstandenerHilfsbereitschaft in seinem Suchtverhalten unterstützen, sind Co-Abhängige.Co-abhängiges Verhalten zeigt jemand, der den Suchtkranken vorUnannehmlichkeiten schützt, der versucht, <strong>die</strong> negativen Folgen seinesSuchtverhaltens zu beheben, der den Abhängigen deckt und schont, ihmVerantwortung abnimmt etc. Co-Abhängige tragen so dazu bei, dassder Betroffene seinen Zustand und <strong>die</strong> Folgen seines Suchtverhaltensnicht realistisch einschätzen kann und somit keine Notwendigkeit zueiner Änderung sieht.Kinder werden oft sehr früh in <strong>die</strong> Rolle einer Co-Abhängigkeit gedrängt.Sie werden z. B. angehalten, nichts nach aussen dringen zu lassen, dasProblem zu verschweigen oder zu leugnen, gegen aussen eine heile Weltvorzutäuschen. Sie geraten so unter enormen Druck, in innere Widersprüche,Spannungszustände, Loyalitätskonflikte, sie wissen oft nicht mehr,ob sie ihren eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen noch trauen können,werden von Selbstzweifeln gequält. «Das Kind merkt doch nichts!» DieseAuslegung vieler Eltern und Erziehungsberechtigter ist ein fataler Irrglaube!Kinder bekommen sehr viel mehr mit, als Erwachsene denken. Nursind sie nicht in der Lage, oder es wird ihnen sogar untersagt, ihre Ängsteund Nöte auch zum Ausdruck zu bringen. Auch selbst erlebte körperlicheoder sexuelle Gewalt steckt das Kind meist weg, es wagt nicht, dagegenzu rebellieren, sähe auch kaum eine Chance, sich Gehör zu verschaffen.Allen erfahrenen Widrigkeiten zum Trotz versuchen <strong>die</strong> Kinder, ihre Eltern,besonders den trinkenden Elternteil, in Schutz zu nehmen.Man kann also sagen: Kinder in suchtbelasteten Familien• übernehmen nicht kindgerechte Rollen, um das Familienleben im labilenGleichgewicht zu halten• üben Loyalität, tragen Sorge, dass nichts nach aussen dringt, schweigenoder verstricken sich in ein Lügensystem• richten ihre Kindheit auf das familienbeherrschende Thema «Sucht»aus – ihr Leben gerät in eine Abhängigkeit vom Abhängigen11


• helfen mit, <strong>die</strong> Folgen des Suchtverhaltens zu beheben• tragen so aber de facto dazu bei, dass der Abhängige vom Suchtmittelabhängig bleibt• bewahren den Abhängigen vor einer Konfrontation mit den Konsequenzenseines Suchtverhaltens, nehmen ihm dadurch <strong>die</strong> Motivation,sein Verhalten zu ändern. Der Abhängige kann sich stattdessen getrostzurücklehnen und sagen: «Warum soll ich etwas ändern, das Systemfunktioniert ja».«Co-abhängig» werden heisst also zweierlei: «vom Abhängigen abhängigwerden» (= Mitbetroffenheit durch <strong>die</strong> Suchtkrankheit, Einengung deseigenen Lebensspielraums) und «den Abhängigen in seiner Abhängigkeitunterstützen» (= Verstrickung in <strong>die</strong> Abhängigkeitsentwicklung).Wohlgemeinte «Hilfe» bewirkt paradoxerweise das Gegenteil von dem,was beabsichtigt wird. Statt das Suchtproblem zu beseitigen trägt siezu dessen Fortbestehen bei.Quelle: «Die alkoholkranke Familie und ihre Kinder», Dissertation vonWerner Reiners-Kröncke, Universität Siegen, Siegen 200512


Überlebensstrategien mit FolgenKinder können aus ihrem Familiensystem nicht fliehen. Sie sind aufihre Eltern angewiesen. Sie versuchen sich daher irgendwie mit derjeweiligen Familiensituation zu arrangieren: sie passen sich an undentwickeln – meist unbewusst – Strategien um psychisch zu überlebenund zu dem zu kommen, was sie brauchen.Wird Kindern das, was sie als «emotionales Startkapital» fürs Lebenbrauchen nicht geschenkt – vor allem Liebe, Zuwendung, bedingungsloseAnnahme und Wertschätzung, – suchen sie es gleichsam zu «erkaufen».Verschiedene Rollen bieten sich dazu an. Welche davon sie übernehmenhängt zum Teil von ihrer Position in der Geschwisterreihe ab. Für <strong>die</strong>Jüngeren sind eben gewisse Rollen schon besetzt. Was für ÜberlebensstrategienKinder aus Familien mit Suchtproblemen aber auch immerentwickeln: Sie verlieren etwas ganz Entscheidendes, nämlich ihre eigeneKindheit. Denn <strong>die</strong> Rollen, <strong>die</strong> sie übernehmen, um das Familienlebenwieder in <strong>die</strong> Balance zu bringen, sind meist alles andere als <strong>kinder</strong>gerecht.Sie eignen sich früh Verhaltensmuster an, <strong>die</strong> sich festigen undunter Umständen ihr ganzes Leben bestimmen.Sie nehmen <strong>die</strong>se Muster also meist mit ins Erwachsenenleben, obwohlsie sich in der neuen Situation häufig als nicht mehr angemessen erweisen.Aber auch <strong>die</strong> mit <strong>die</strong>sen Rollen in der Kindheit verbundenenschmerzlichen Gefühle tragen <strong>die</strong> Betroffenen als Erwachsene noch immerin sich. Denn sie haben nie gelernt oder es sich nie erlaubt, darüberzu sprechen. Häufig wählen sie auch Partnerinnen und Partner, <strong>die</strong> esihnen möglich machen, ihre früh gelernten Muster weiter anzuwenden.Nicht selten sind es Menschen mit Suchtproblemen, für <strong>die</strong> sie – wie siees als Kindern dem suchtkranken Elternteil gegenüber getan haben – biszur Selbstaufgabe sorgen müssen. Dabei wiederholen sich meist auch<strong>die</strong>selben schmerzlichen Gefühlserfahrungen, <strong>die</strong> sie aus der Kindheitkennen. Sie suchen z. B. Nähe und finden sie nicht, da sie einen Partnergewählt haben, der – wie damals der suchtkranke Elternteil – unerreichbar,unverlässlich, nicht bindungsfähig ist. Sie erleben daher immer wieder<strong>die</strong>selben Enttäuschungen, <strong>die</strong> schon ihre Kindheit geprägt haben. Undsie fühlen sich wie damals allein gelassen und überfordert.13


Sharon Wegscheider* (1988) hat folgende typischen «Rollen» beschrieben,<strong>die</strong> von Kindern in suchtbelasteten, aber auch in anderen dysfunktionalenFamilien, übernommen werden:Das «Heldenkind»Das «Heldenkind» übernimmt Aufgaben der Erwachsenen (z. B. Haushaltsarbeiten),um das aus dem Gleichgewicht geratene Familiensystemzu «retten». Es ist leistungsorientiert, überverantwortlich, sieht sichaber auch in besonderem Masse auf Zustimmung und Anerkennung vonanderen angewiesen, <strong>die</strong> es über Leistung – und oft nur über Leistung– erhält.Mögliche Folgen im Erwachsenenleben: Workaholic, kann Fehler oderMisserfolg nicht ertragen, zwanghaftes Verhalten, kann nicht «nein»sagen, «wählt» später einen suchtmittelabhängigen Partner, um <strong>die</strong> vertrauteRolle weiter «spielen» zu können. Übertriebene Verantwortlichkeit,auch wenn <strong>die</strong>se nicht gefragt bzw. nicht angebracht ist.*Wegscheider, Sharon (1988). Es gibt doch eine Chance.Hoffnung und Heilung für <strong>die</strong> Alkoholiker-Familie. Wildberg : Bögner-Kaufmann.14


Der «Sündenbock»Der «Sündenbock» fällt negativ auf, beispielsweise durch schlechte Schulleistungen,Aufsässigkeit oder sogar Straftaten. Dieses Kind lenkt <strong>die</strong>Familie von den eigentlichen Problemen ab. Letztlich ist sein Fehlverhaltenaber nichts anderes als ein Hilfeschrei, ein Ruf nach Aufmerksamkeit fürseine innere Notlage.Mögliche Folgen im Erwachsenenleben: Suchtkrankheit, Straffälligkeit,Teenager-Schwangerschaft, eingeschränkte Lebenstüchtigkeit, Entwicklunguntauglicher Strategien zur Problembewältigung, verantwortungslosesVerhalten.Das «verlorene Kind»Das «verlorene Kind» hat früh gelernt, dass es am besten fährt, wennes unscheinbar bleibt, sich stets ganz ruhig verhält, niemanden stört,nicht auffällt, sich möglichst pflegeleicht gibt, keine Probleme macht.Es wird zum Einzelgänger, fühlt sich minderwertig, ist angepasst undgehorsam.Mögliche Folgen im Erwachsenenleben: Keine Lebensfreude, niedrigerSelbstwert, kann sich nicht wehren oder «nein» sagen, häufig Beziehungsstörungen,Mühe mit Veränderungen, oft gnadenlose Selbstverurteilung.Der «Clown»Der «Clown» überspielt <strong>die</strong> Spannungen in der Familie durch fröhlichesHerumkaspern. Dieses Kind tut alles, um Lachen oder Aufmerksamkeithervorzurufen, vielfach auch nur, um von den eigentlichen Problemenabzulenken. Wirkliche Gefühle kann es nicht zeigen, <strong>die</strong>se werden ebenüberspielt und dadurch unterdrückt.Mögliche Folgen im Erwachsenenleben: Kann Stress nicht ertragen, lebteng an der Grenze zum Hysterischen. Sucht sich als Partner «Beschützerpersönlichkeiten».Sind infolge eines geringen Selbstwertes undniedriger Selbstsicherheit ständig auf der Suche nach Anerkennung undBestätigung, brauchen «Applaus».Quelle: Mediscope vom 6. 12. 2004, erschienen auf www.sprechzimmer.ch15


«Ich lebte in der permanenten Angst,alles zu verlieren»Brigitte (29)* arbeitet seit sieben Jahren als Verkäuferin bei einemGrossverteiler. Nach zwei abgebrochenen Lehren ist <strong>die</strong> jungeFrau heute nach internen Weiterbildungen verantwortlich für eineAbteilung. Brigitte ist seit drei Jahren verheiratet. Erst durch denKinderwunsch ihres Mannes konnte sie über ihre schwierige Kindheitund Jugend reden und besucht heute eine therapiegestützteSelbsthilfegruppe. Nur ganz zaghaft wagt Brigitte an eigene Kinderzu denken.Brigitte, Sie sind das Kind alkoholabhängiger Eltern. Wie erleben Sie ausheutiger Sicht Ihre Kindheit und Jugend?Nicht nur ich habe bis heute unter der Alkoholkrankheit meiner Eltern zuleiden, sondern auch meine drei Geschwister. Ich war <strong>die</strong> Älteste und habeschon sehr früh damit begonnen, mich um «meine» Familie zu kümmern,denn auf meine zwei kleinen Brüder und meine jüngere Schwester konnteich mich damals ebenso wenig verlassen, wie auf meine Mutter.Ab wann haben Sie denn <strong>die</strong> Verantwortung übernommen?Diese Frage kann ich nicht mit einem genauen Datum beantworten. Seitich denken kann, habe ich immer «funktioniert». Es gab allerdings einenMoment, den ich nicht vergessen werde: Als sich meine Eltern scheidenliessen, war <strong>die</strong>s ein schwerer Schlag für uns alle. Ich weiss, dass meinVater Alkoholiker war und meine Mutter ihn nach der Geburt unsererZwillinge aus dem Haus geworfen hat. Aber <strong>die</strong>sen Verlust hat meineMutter lange nicht verkraftet. Sie selbst hat in der Folge angefangenzu trinken, was sie über lange Zeit aber heimlich und sehr kontrolliertgetan hat.Wie alt waren Sie da?Ich war sieben Jahre, als sich meine Eltern scheiden liessen, <strong>die</strong> Zwillingeca. jährig und meine Schwester fünf. Weil wir nicht umziehen mussten,hatte sich nach aussen hin nicht viel verändert. Unsere Grosseltern lebtenin Zürich, weshalb sie nicht so häufig zu Besuch kommen konnten. Der16


Prozess, der dann einsetzte, war eher schleichend. Es waren Kleinigkeiten,<strong>die</strong> mir gezeigt hatten, dass meine Mutter immer mehr Alkoholgetrunken hat. Eigentlich funktionierte alles ganz normal, nur an denWochenenden häuften sich <strong>die</strong> Abstürze unserer Mutter. Sie ging einezeitlang häufig in den Ausgang und kam erst morgens nach hause. Dannverbrachte sie den ganzen Tag im Bett. So kam ich als Grosse zum Einsatzund sorgte für alle. Ich fühlte mich noch stolz dabei, wichtige Aufgabenübernehmen zu dürfen.Wie haben Sie <strong>die</strong> Alkoholsucht Ihrer Mutter erlebt?Als <strong>die</strong> Zwillinge in <strong>die</strong> Schule kamen, wollte meine Mutter wieder alsCoiffeuse arbeiten. Sie wechselte häufig <strong>die</strong> Stellen und kam immerwieder frustriert von der Arbeit. Dann hat sie versucht sich selbständigzu machen, was sie ca. ein Jahr lang durchgehalten hat. Als aber <strong>die</strong>Kundinnen wegblieben, wurde sie sehr wütend und traurig über sich und<strong>die</strong> Welt. Sie fing an regelmässig und offener zu trinken. Ich habe immerdafür gesorgt, dass keine Flaschen und Gläser in der Wohnung herumlagen. Sie wurde vergesslich, konnte an manchen Tagen nicht das Hausgeschweige ihr Zimmer verlassen und suchte immer häufiger Streit. DieZwillinge haben <strong>die</strong> Wochenenden öfter bei den Grosseltern verbracht,meine Schwester und ich blieben aber meistens da.Gab es Hilfe von aussen?Unseren Vater haben wir nur noch ganz selten gesehen und als ich meineerste Lehre anfing, hat nur noch eine gute Freundin zu meiner Muttergehalten und eine Nachbarin hat regelmässig bei uns vorbeigeschaut.Weil ich es nicht weit bis zum Lehrbetrieb hatte, konnte ich auch meistensam Mittag da sein. Nur hatten wir immer mehr Angst davor, dasssich <strong>die</strong> Fürsorge einschalten und unsere Familie auseinander reissenkönnte. Als ich Schwierigkeiten in der Lehre hatte, wurde mir ein neuerLehrbetrieb ausserhalb der Stadt angeboten. Das musste ich ablehnen,weil sonst zuhause alles zusammengebrochen wäre. So habe ich nacheinem halben Jahr eine neue Lehre als Arztgehilfin angefangen, hieltes aber nicht lange aus, weil <strong>die</strong> Arbeitszeiten viel länger wurden undzuhause <strong>die</strong> Probleme grösser wurden.17


Worauf mussten Sie verzichten?Bis <strong>die</strong> Zwillinge aus der Schule waren, habe ich mich nur um den Haushaltgekümmert. Freunde hatte ich zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt keine, ich hatteja keine Zeit für den Ausgang oder für sonstige Treffen. Meine Welt warunser Zuhause, das ich nach Möglichkeit in Ordnung hielt. Meine Mutterhat sich immer weiter zurückgezogen und hat mich mehr oder wenigerschalten und walten lassen. Zum Glück hatten wir keine Geldsorgen,weil uns <strong>die</strong> Grosseltern und auch <strong>die</strong> Familie unseres Vaters immerunterstützten. Bei ihrer letzten Entziehungskur hat meine Mutter ihrenjetzigen Freund kennen gelernt, mit dem sie seit drei Jahren trocken ist.Sie leben jetzt zusammen in unserer alten Wohnung. Die letzten Weihnachtenhaben wir erstmals alle miteinander gefeiert.Wie leben Sie heute?Mit 21 Jahren habe ich lernen müssen, mich um mich selbst zu kümmernund meine Bedürfnisse zu erkennen. Irgendwie hatte ich das Gefühl,bisher nicht mein eigenes Leben gelebt zu haben. Hinzu kam <strong>die</strong>sepermanente Angst, dass etwas passieren könnte und wir als Familieauseinander brechen würden. Ich wusste nur, dass es Zeit war, dasElternhaus zu verlassen, was mir aber sehr schwer gefallen ist. Es hatlange gedauert, bis ich in der Lage war, mich mit anderen Menschen zutreffen. Bis heute habe ich keinen Tropfen Alkohol angerührt, weil ichgrosse Angst davor habe. Selbst wenn mein Mann heute ein Bier trinkt,muss ich mich stark beherrschen, dass ich nicht das Schlimmste denke.Dank meiner Selbsthilfegruppe habe ich viel über meine damalige Zeitgelernt und im Gegensatz zu früher bin ich heute einerseits stolz drauf,meinen «Mann» gestanden zu haben, anderseits aber auch traurig darüber,dass ich nicht das kleine unbekümmerte Mädchen sein durfte, dasich ja eigentlich war.Wie sieht Ihre berufliche Zukunft aus?Als Ungelernte habe ich mir einen festen Job gesucht, weil mein Kopffür eine Ausbildung nicht frei war. Weil ich einen guten Chef habe,konnte ich sogar eine Hauskarriere machen und bin heute immerhinAbteilungsleiterin. Aber eigentlich hätte ich damals viel lieber meineLehre abgeschlossen, um eine bessere Berufsperspektive zu haben. Denndumm war und bin ich ja nicht.*Name geändert · Interview: Sebastian Kirsch18


«Wir mussten uns mit seinerkrankheit arrangieren»Philip* (14) besucht <strong>die</strong> 2. Sekundarklasse in einer Bündner Gemeinde.Der gross gewachsene Schüler ist das Nesthäkchen einersuchtbelasteten Familie; sein Vater ist alkoholabhängig, seine Mutterdeckt <strong>die</strong> Situation, der 19-jährige Bruder hat seine zweite Lehregeschmissen und befindet sich in psychiatrischer Behandlung. Philipscheint zu wissen, was er will und hat sich mit der Situation arrangiert:«Es blieb uns auch gar nichts anderes übrig».Philip, wann hast du mitbekommen, dass dein Vater Alkoholiker ist?Seit ich zurückdenken kann, habe ich erlebt, dass mein Vater regelmässigin grossen Mengen Bier getrunken hat. Dann war er ziemlich schrägdrauf, hat komisches Zeugs geredet, hat uns aber eigentlich immer inRuhe gelassen. Meistens sitzt er in der Küche und merkt selber, wenn esnicht mehr geht und verschwindet dann in seinem Zimmer.Wie reagiert ihr auf <strong>die</strong> Situation?Nun, wir mussten uns mit seiner Krankheit arrangieren, es blieb unsauch gar nichts anderes übrig. Wenn wir ihn manchmal auf das Trinkenangesprochen haben, hat er versucht, vom Thema abzulenken oder isteinfach davongelaufen. Deshalb lassen wir ihn mit seinem Bier linksliegen und machen etwas für uns gemeinsam. Meine Mutter steht eigentlichimmer auf unserer Seite, auch wenn sie es ist, <strong>die</strong> für meinenVater das Bier beschafft und das Leergut entsorgt. Da habe ich michletzthin total darüber aufgeregt: als wir in der Stadt einkaufen warenund meine Mutter dann meinte, so jetzt müssen wir noch Bier holen,habe ich sie laut angeschrieen. Aber was sollen wir machen? Eigentlichsind wir chancenlos. Seit ihm sein Chef verboten hat, in der Öffentlichkeitzu trinken, lässt sich mein Vater immer zu Hause voll laufen. Das ist dasEinzige, woran er sich hält.Dann ist <strong>die</strong> Situation also stabil?Im Grunde schon, nur hat sein Alkoholkonsum in den letzten drei, vierJahren weiter zugenommen. Das führt dazu, dass er öfter am nächstenMorgen nicht arbeiten gehen kann. Das passiert so alle 14 Tage einmal.Solange sein Chef nichts dagegen unternimmt, wird wohl auch nichts19


passieren, aber irgendwie haben wir etwas Angst davor, dass <strong>die</strong> Situationdoch noch eskaliert.Dein Bruder hat zwei Lehren abgebrochen und befindet sich nun inpsychiatrischer Behandlung. Was ist mit deinem Bruder?Ich habe schon früh gemerkt, dass mein Bruder nicht normal ist. Er hatimmer <strong>die</strong> Konfrontation gesucht, hat sich mit allen Leuten angelegt, sichgeprügelt und krumme Sachen gemacht. Er hat Fahrzeuge gestohlen undReifen angezündet – deshalb ist er jetzt auch in Behandlung.Warum bist du anders?Ich konnte von meinem Bruder lernen, wie man es nicht macht. Auchmein Vater ist mir kein Vorbild. So musste ich schnell lernen, mir andereKollegen zu suchen, <strong>die</strong> sich vorbildlich verhalten. Ich habe viele Kollegen,mit denen ich <strong>die</strong> Zeit verbringe und <strong>die</strong> ich auch nachhause bringenkann. Wir sind aber meistens draussen unterwegs, fahren Velo, gehenSkifahren oder spielen Fussball.Worauf musstest du verzichten, weil dein Vater Alkoholiker ist?Früher hat mich mein Vater ab und zu mit auf seine Arbeit mitgenommenund ich konnte stolz auf ihn sein. Jetzt macht er nichts mehr mituns. Er kommt nachhause, setzt sich an den Küchentisch und lässt sichvoll laufen – das sind bis zu acht (!) Liter Bier am Abend. Da kann mannichts mehr mit ihm anfangen und er interessiert sich auch nicht für uns.Eigentlich ist er ein Naturmensch, der mir früher viel gezeigt hat. Aberheute kann er nicht mal einen Vogelkäfig mit mir bauen. Er hat keineEnergie, das ist schade.Habt ihr bis heute professionelle Hilfe bekommen?Nein, nur mein Vater hat mal eine Entziehungskur gemacht, da war erfür ein paar Wochen in einer Klinik. Aber das ist schon länger her undgenützt hat es auch nichts. Aber ich hätte nichts dagegen, auch malmit Fachleuten darüber zu reden. Meine Mutter meinte kürzlich, dasswir wohl wegen meines Bruders in eine Familientherapie gehen werden,aber sie hat nichts Konkretes gesagt.*Name geändert · Interview: Sebastian Kirsch20


Hilfe zur SelbsthilfeEs ist ganz deutlich: Kinder, <strong>die</strong> in suchtbelasteten Familien aufwachsen,zahlen für <strong>die</strong> Herausforderungen, denen sie früh im Leben ausgesetztsind, oft einen sehr hohen Preis: Sie kommen zu kurz, werden emotionalvernachlässigt, verpassen ihre Kindheit, werden isoliert, ausgegrenzt,schämen sich, verleugnen, geraten unter Druck («hoffentlich merktniemand etwas»), leben in einem unsicheren, unberechenbaren Beziehungsfeld,können so kein Vertrauen aufbauen, weder zu anderen nochzu sich selbst, es fehlt ihnen eine sichere emotionale Basis für spätereBeziehungen, sie geraten in ein Gefühlschaos und in Loyalitätskonflikteund werden ihren eigenen Bedürfnissen und Gefühlen gegenüber entfremdet.Resilienz- bzw. SchutzfaktorenEs gibt aber auch Kinder, <strong>die</strong> sich trotz ungünstiger Startbedingungengut entwickeln, <strong>die</strong> aus der Not heraus wachsen und reifen, oft sogarbesondere Kompetenzen entwickeln:• Sie erkennen ihre Fähigkeiten und Ressourcen und sind in der Lage siezu nutzen.• Sie erkennen <strong>die</strong> Grenzen des Erträglichen und ihrer Belastbarkeit.• Sie lassen ihr eigenes Leben nicht ausser Acht, sorgen für Ausgleich undErholung, nehmen sich Zeit für Freunde und Hobbies, reagieren, wennsie sich schlecht fühlen, wenn ihre Schulleistungen abfallen, suchen dasGespräch.Was kann <strong>die</strong>se Schutzfaktoren stärken?• Der Aufbau stabiler Beziehungen ausserhalb der Familie• Menschen, <strong>die</strong> zuhören und sich verlässlich zeigen• Bestätigung in der eigenen Wahrnehmung der Verhältnisse• Aufbau einer Distanz zu <strong>die</strong>sen Verhältnissen• Aufklärung über Mechanismen der Sucht und Co-Abhängigkeit• Unterstützung von Eigeninitiative, Ermutigung, Zutrauen• Zugang zur eigenen Befindlichkeit, Humor…Kindergruppe «Zwärgriisa»Das Blaue Kreuz Graubünden baut in <strong>die</strong>sem Jahr <strong>die</strong> Selbsthilfegruppe«Zwärgriese» auf, <strong>die</strong> sich an Kinder aus suchtbelasteten Familien richtet.In <strong>die</strong>ser geleiteten Selbsthilfegruppe für Kinder können Kinder in Not21


«Spätfolgen sind nur zum Teil absehbar»Eine Suchterkrankung ist noch immer eine stigmatisierte Krankheitund wird als Schwäche, Versagen oder Schande angesehen. So wirdes für alle Beteiligten schwer, ein Suchtproblem einzugestehen.Die Bemühungen aller Familienmitglieder zielen lange Zeit daraufab, nach aussen den Eindruck einer heilen Welt zu vermitteln.Wenn Kinder in <strong>die</strong>se Rolle hineinwachsen, hat das für sie auch imspäteren Erwachsenenalter meist Folgen. Dies sagt der Chefarztund Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie Graubünden (KJP),Dr. Jörg Leeners.Herr Dr. Leeners, welche Folgen hat es für Kinder, wenn sie in einersuchtbelasteten Familie aufwachsen?Die Folgen für Kinder von suchtkranken Eltern sind individuell sehr unterschiedlich.Ein Hauptproblem <strong>die</strong>ser Kinder ist <strong>die</strong> Verunsicherung. Siewissen nicht, wann ihre Eltern «normal» und wann sie «im Rausch» sind.Kleine Kinder können nicht verstehen, warum <strong>die</strong> Eltern sich einmal sound einmal anders verhalten. Oft übernehmen <strong>die</strong> Kinder Verantwortungund versuchen, das unausgesprochene Schweigegebot über <strong>die</strong>Erkrankung eines Elternteils aufrecht zu erhalten. Sie scheuen sich häufig23


darüber zu reden und können deshalb auch für sich wenig Hilfe holen.Ihnen ist das Verhalten ihrer Eltern peinlich. Als Folge daraus resultiert,dass <strong>die</strong> Kinder ihre Bedürfnisse nicht äussern, sich keine Hilfe holenkönnen und versuchen, <strong>die</strong>se enorme Belastung alleine zu tragen, oftauf Kosten der eigenen Entwicklung. Sie erleben ausserdem, dass <strong>die</strong>Problembewältigung eines Elternteils der Gebrauch von Suchtstoffen ist.Suchterkrankungen in einer Familie sind ein hoher Risikofaktor für einespätere Suchterkrankung der Kinder.Wie kann man <strong>die</strong>sen Kindern helfen?Die Verantwortung für <strong>die</strong>se Hilfe haben alle Erwachsenen um sie herum.Sie sollten auf <strong>die</strong> Kinder zugehen, fragen wie es ihnen geht und offensiv<strong>die</strong> Eltern ansprechen, wenn sie den Verdacht auf eine vorliegendeSuchterkrankung haben. Dies erfordert Zivilcourage. Häufig haben Angehörige,Nachbarn, Vorgesetzte, Kollegen oder Lehrer Angst, dass sie<strong>die</strong> Situation verschlimmern, wenn sie nach dem Vorliegen einer Suchtfragen. Es ist jedoch längerfristig viel negativer für <strong>die</strong> Familie, wenn <strong>die</strong>snicht offen angesprochen wird. Viele Anstösse zu einer Therapie kommenvon aussen, wenn <strong>die</strong> Betroffenen sehen, dass sich <strong>die</strong> Suchterkrankungnicht länger verheimlichen lässt.Hat man <strong>die</strong> Kinder in der Beratung bisher einfach vergessen?In vielen suchtspezifischen Beratungsstellen stehen <strong>die</strong> Erwachsenen imVordergrund. Die Kinder verhalten sich häufig angepasst und scheinennach aussen hin keine Probleme zu haben. Häufig kommen <strong>die</strong> Kinder erstin den Fokus, wenn sie psychische oder Verhaltensprobleme aufweisen.Dies ist dann allerdings oft sehr spät. Zu wünschen wäre, dass bei allenErkrankungen der Eltern, seien es körperliche Erkrankungen, psychischeErkrankungen oder Suchterkrankungen, eine Beratung der ganzen Familieangestrebt wird.24


Was kann man gegen <strong>die</strong>ses Vergessen tun?Die Beratung und Behandlung von Erwachsenen sollte sich nicht nur auf<strong>die</strong> Klienten beschränken. Anzustreben wäre eine ganzheitliche Sichtweiseund Einbezug der ganzen Familie. Es wäre sowohl für <strong>die</strong> Angehörigenwie auch für <strong>die</strong> Betroffenen hilfreich, wenn sie wahrnehmen, was ihrePartner und Kinder zu sagen haben.Was für Angebote gibt es für <strong>die</strong>se Kinder in Graubünden?Es gibt verschiedene Angebote. So bietet das Blaue Kreuz Graubündeneine spezielle Gruppe für Kinder von suchtkranken Eltern an. Die Kinder-und Jugendpsychiatrie Graubünden hat ein spezielles Angebot fürKinder von psychisch kranken Eltern und arbeitet eng mit dem SchulpsychologischenDienst (SPD) zusammen, um möglichst präventiv tätigzu werden. Wenn <strong>die</strong> Kinder eine Beratung oder therapeutische Unterstützungbenötigen, übernimmt <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Kinder- und JugendpsychiatrieGraubünden gerne.Interview: Sebastian Kirsch25


Jahresbericht des PräsidentenPrävention und Behandlung unterstützenSucht hat viele Formen und Gesichter. Die bisher vorliegenden Suchtreporteder <strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong> zeigen einige Aspekte davon. Nichtnur Alkohol, Medikamente oder Betäubungsmittel zählen dazu, auchdas Internet und Glücksspiele können Menschen süchtig machen. Suchtentsteht langsam und schleichend. Suchtmittel sind heimtückisch, wie sieauch genussvoll sind. Sie hinterlassen aber auch radikale Schäden – nichtnur körperlich beim direkt Betroffenen. Auch wirtschaftlich und sozial beiKindern und Angehörigen, <strong>die</strong> sich kaum wehren können. Oft wird <strong>die</strong>Suchtdiskussion auf <strong>die</strong> Süchtigen selbst und ihre Krankheit fokussiert,<strong>die</strong> betroffenen Familienmitglieder gehen oftmals vergessen. Es ist zuwünschen, dass hier ein Umdenken stattfindet, um <strong>die</strong> Angehörigen inihrer Persönlichkeit zu stärken.Um Suchtproblemen zu begegnen, braucht es viel: Erkenntnis, Präventionund Behandlung sind Kernstrategien. Informieren, Erfahrungen,Erlebnisse und Wissen weitergeben, zur Vorsicht mahnen – all das sindMassnahmen der Prävention. Sie haben zum Ziel, rechtzeitig Missbrauchund Schäden zu verhindern. Auch <strong>die</strong> <strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong> fördertpräventive Massnahmen und Aktionen. Einerseits vermittelt sie Wissendurch ihre Suchtreporte, anderseits geht sie Partnerschaften mit anderenOrganisationen wie jugend.gr ein.Die <strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong> ist mit ihren finanziellen Beiträgen an denVerein Überlebenshilfe Graubünden nicht nur in der Prävention, sondernauch an der Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen beteiligt –sie wird das auch in Zukunft tun. Ich danke meinen Kolleginnen undKollegen in den <strong>Stiftung</strong>sgremien für <strong>die</strong> erspriessliche Zusammenarbeitund für ihren grossen Einsatz.Chur, April 2011Andrea Mauro FerroniPräsident <strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong>27


Jahresabschluss per 31. Dezember 2010Bilanz in % 31. 12. 2010 31. 12. 20091000 A K T I V E N – Umlaufvermögen1010 GKB Chur, CK 302.942.500 CK Kto.Krt. 1.0% 12‘406.86 33‘167.111013 GKB Chur, CA 302.942.501 CA Capito 0.0% 367.25 10‘306.851015 GKB Chur, CA 302.942.501 CA Sparpyramide 2.2% 26‘744.30 26‘535.101021 UBS Chur, Q0-816.757.1 SK 0.6% 6‘956.93 118‘688.071070 Debitoren: Eidg. Verrechn-Steuer 0.3% 3‘169.00 4‘515.001090 Transitorische Aktiven 0.3% 3‘692.90 3‘058.451100 A K T I V E N – Anlagevermögen1101 Darlehen an Verein für Überlebenshilfe UHG 38.3% 462‘500.00 467‘500.001100 Wertpapiere bei der Graubündner Kantonalbank 28.3% 341‘928.00 300‘488.001500 Wertpapiere bei der UBS AG, Chur 28.9% 348‘981.45 274‘006.20Total Aktiven 100.0% 1‘206‘746.69 1‘238‘264.782000 P A S S I V E N2080 Kreditoren: AHV-Beiträge 0.0% 0.00 0.002090 Transitorische Passiven 0.0% 0.00 0.002800 Legat Trägerverein Suchtprävention Graubünden 9.3% 111‘841.94 144‘286.342901 Stand Vorjahr 12.0% 144‘286.34 166‘339.542902 Veränderung laufendes Jahr -2.7% -32‘444.40 -22‘053.202900 Eigenkapital 90.7% 1‘094‘904.75 1‘093‘978.442901 Eigenkapital Vorjahr 90.7% 1‘093‘978.44 1‘047‘360.462902 Jahresergebnis laufendes Jahr 0.1% 926.31 46‘617.98Total Passiven 100.0% 1‘206‘746.69 1‘238‘264.78Erfolgsrechnung Budget 2010 31. 12. 2010 31. 12. 20094000 A U F W A N D4010 Sitzungen, Revisionen, Allg. Kosten 20‘100.00 18‘460.15 17‘206.404011 Drucksachen: Papier, Kopien, Porti etc. 500.00 25.00 78.104012 Drucksachen: Suchtreport 12‘000.00 11‘385.75 11‘357.054015 Bank- und Postspesen, Wertschriftenkomm. 800.00 1‘900.99 729.224810 Suchtpräv. und Gesundheitsförderung 49‘000.00 33‘164.40 22‘883.204990 Übrige Aufwendungen 0.00 0.00 0.00Total Aufwand 82‘400.00 64‘936.29 52‘253.979890 Veränderung Legat Trägerverein Suchtpr. GR -48‘280.00 -32‘444.40 -22‘053.209990 Jahresergebnis <strong>Stiftung</strong> 19‘080.00 926.31 46‘617.98Gesamt-Total 53‘200.00 33‘418.20 76‘818.756000 E R T R A G6010 Spenden und Sponsorenbeiträge 3‘000.00 3‘380.25 3‘406.406020 Zweckbestimmte gemeinnützige Beiträge 20‘000.00 0.00 40‘000.006030 Zinsertrag <strong>Stiftung</strong> 29‘480.00 29‘317.95 32‘582.356830 Zinsertrag Legat Trägerverein Suchtpr. GR 720.00 720.00 830.00Total Ertrag 53‘200.00 33‘418.20 76‘818.7528


Revisorenbericht über das Geschäftsjahr 201029


Schlusswort: Wo ansetzen bei der Prävention?Es gibt noch viel zu tun …Wir scheinen heute sehr viel über Süchte, Suchtmittel und den Umgangdamit zu wissen. Doch führt uns <strong>die</strong>ser Suchtreport klar vor Augen, dasseine Suchtmittelabhängigkeit auch Folgen für das Umfeld der Betroffenenhat. Die «<strong>vergessenen</strong> Kinder» sind Opfer in mehrfacher Hinsicht, denn sietragen neben ihrer verlorenen Kindheit auch das sechsmal so hohe Risiko,selbst in eine Abhängigkeit abzugleiten. Es gibt also noch viel zu tun.Wissen allein genügt nicht. Die Prävention sucht Wege, problematischesVerhalten und Missbrauch von Suchtmitteln zu verhindern.Die <strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong> tut <strong>die</strong>s mit eigenen Geldmitteln und inKooperation mit Organisationen, <strong>die</strong> auf gleiche Ziele hinarbeiten. Sieist aber auch immer auf Spenden angewiesen. Spenden von Menschen,<strong>die</strong> gewillt sind, <strong>die</strong> <strong>Stiftung</strong> zu unterstützen und <strong>die</strong> es sinnvoll undnotwendig finden, das Bewusstsein um <strong>die</strong> Gefahren von Suchtmittelnwach zu halten.Chur, April 2011Für den <strong>Stiftung</strong>sratAndrea Mauro Ferroni, PräsidentSpendenkonto der <strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong>:Graubündner Kantonalbank Chur(Postkonto Nr. 70-216-5 oder Bankenclearing Nr. 774)Kontonummer CH14 0077 4110 3029 4250 030


Mitglieder des <strong>Stiftung</strong>sratesAndrea Mauro Ferroni*, PräsidentElisabeth von Salis Vogt*Hanspeter Joos*Hans JossMarlies LötscherDr. Hans Ulrich NänniDr. Reto Parpan*Hans Senti-Pfister*, FinanzenStephan Weber*Dr. Urs WülserAlle mit einem * = Arbeitsausschuss31


www.suchthilfe.gr.ch<strong>Stiftung</strong> Bündner <strong>Suchthilfe</strong>32 Föhrenweg 39 · 7000 ChurTelefon 081 253 94 58www.suchthilfe.gr.ch

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