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18 Anselm Reyle, links: „Life enigma“, 2008 rechts: „ohne Titel“, 2008, Foto: Noshe Die überlebensgroße Schmerztablette von John Bock mag eher an all die Kopfschmerzen und Schwierigkeiten erinnern, die mit dem Umbau des Bunkers verbunden waren, weniger an Befi ndlichkeiten des Besuchers. Anselm Reyle transformiert banale Gegenstände mit Farbe und Licht zu Kunstwerken (z.B. Wagenrad, Heuwagen, Strohballen) und wirft so die Frage auf, was denn Kunst sei. Ist Kunst, was im Museum steht? Ist Kunst das, worüber Medien schreiben? Ist Kunst, was auf dem Kunstmarkt gehandelt wird? Aus der Beantwortung dieser Fragen ergäbe sich, wer den Kunstbegriff prägt. Für seine schräg liegenden, schwarzen Stelen hat Santiago Sierra nicht den Zutritt untersagt für: „unordentliche und stinkende Menschen, Raucher, Alkoholiker, Drogensüchtige, Witzbolde und Zyniker” (wie 2007 in London). Nein, alle sollten sich hier ansehen, unter welchen Mühen sein Kunstwerk entstand. Mit Diamantschneidern wurde die Betonmauer aufgesägt, die ausgesägten Mauerteile auf dem Boden sind als Spuren der Mühen sichtbar geblieben. Der vom Künstler beanspruchte sozialkritische Bezug seiner Arbeiten wird deutlicher durch Schwarzweißfotografi en älterer Aktionen, die jedenfalls zu Diskussionen über die Funktion der Kunst, ihren Mißbrauch und über Geschmack anregen. Das Fahrrad von Robert Kusmirowski ist als reine Kunst nur anzusehen, ein Trugbild, hergestellt aus Pappmaché, Gips und Garn und nicht zu gebrauchen. In einer Vitrine daneben sieht man „alte“ Schwarzweiß-Fotos eines historischen Radfahrers auf seiner Tour zwischen Paris und Leipzig. Auch hier Täuschung, denn es handelt sich um den Künstler selbst.

Santiago Sierra, „Konstruktion und Installation von teerbeschichteten Formen“, 2002, 75 x 75 x 800 cm, angeordnet in 2 Räumen, Foto: Noshe Der Patient im Krankenhausbett, die täuschend echt erscheinende Wachsfi gur in weißer Krankenhausbettwäsche unter kaltem Neonlicht (Temporarily Placed von Elmgreen und Dragset), schaute früher aus dem Hamburger Bahnhof auf die Charité und wurde jetzt hier abgestellt. Anfangs sorgte er ehemals für Aufregung, als Gäste des gegenüberliegenden Hotels beim Blick durch das Fenster auf den im Bunker vergessenen armen Kranken Polizei und Notarztwagen gerufen hatten. Kunst des 21. Jahrhunderts in einem Riesenbunker aus dem 2. Weltkrieg, in den kein Geräusch der Großstadt hineindringt und aus dem kein Blick heraus möglich ist, dessen Pforten mit Findlingen verschlossen nicht passierbar scheinen, Architektur, die auch nach dem Umbau den Größenwahn der Nazidiktatur wi- derspiegelt, Kunst, die nur nach Voranmeldung angesehen werden kann: Ist das die aktuelle Situation der zeitgenössischen Kunst? Kann sie im Bunker gerettet werden? Kann sie nur dort überleben? Nein, solche Fragen sind falsch gestellt. Hier wird durch das Engagement und die Leidenschaft des Sammler-Ehepaares Boros ein historisches Gebäude, welches an sich einen wenig erfreulichen Aspekt der Berliner Stadtgeschichte widerspiegelt, in wunderbarer Weise für die zeitgenössische Kunst genutzt. Die historischen Hinweise auf den Bunkerwänden dienten ursprünglich zur Orientierung der durch Luftangriffe gefährdeten Berliner Bevölkerung. Zur Orientierung des Kunstfreundes in der zeitgenössischen Berliner Kunstszene erschien bei Hatje/Cantz 2009 als Begleitbuch ein opulenter Band, in welchem die Geschichte des Bunkers, seines Umbaus sowie die Sammlung Boros umfassend dargestellt werden. In informativen und authentischen Beiträgen äußern sich der Architekt Jens Caspers zu seinem Projekt und Annette Schryen zur Sammlung Boros. Mit den Fotos von Noshe und Andreas Gehrke werden Bunker und Sammlung kühl und sachlich dokumentiert. Texte in Deutsch und Englisch. Die Ausstellung soll übrigens im Laufe des Jahres 2010 wechseln. Boros Collection/Bunker Berlin - Herausgegeben von/Edited by Boros Fondation gemeinnützige GmbH © 2009Hatje/Cantz Verlag Ostfi ldern, 218 S., ISBN 978-3-7757-2478-4 19

Santiago Sierra, „Konstruktion und Installation von teerbeschichteten Formen“, 2002, 75 x 75 x 800 cm, angeordnet in 2 Räumen, Foto: Noshe<br />

Der Patient im Krankenhausbett, die<br />

täuschend echt erscheinende Wachsfi gur<br />

in weißer Krankenhausbettwäsche unter<br />

kaltem Neonlicht (Temporarily Placed<br />

von Elmgreen und Dragset), schaute früher<br />

aus dem Hamburger Bahnhof auf die<br />

Charité und wurde jetzt hier abgestellt.<br />

Anfangs sorgte er ehemals für Aufregung,<br />

als Gäste des gegenüberliegenden Hotels<br />

beim Blick durch das Fenster auf den im<br />

Bunker vergessenen armen Kranken Polizei<br />

und Notarztwagen gerufen hatten.<br />

Kunst des 21. Jahrhunderts in einem Riesenbunker<br />

aus dem 2. Weltkrieg, in den<br />

kein Geräusch der Großstadt hineindringt<br />

und aus dem kein Blick heraus möglich<br />

ist, dessen Pforten mit Findlingen<br />

verschlossen nicht passierbar scheinen,<br />

Architektur, die auch nach dem Umbau<br />

den Größenwahn der Nazidiktatur wi-<br />

derspiegelt, Kunst, die nur nach Voranmeldung<br />

angesehen werden kann: Ist das<br />

die aktuelle Situation der zeitgenössischen<br />

Kunst? Kann sie im Bunker gerettet<br />

werden? Kann sie nur dort überleben?<br />

Nein, solche Fragen sind falsch gestellt.<br />

Hier wird durch das Engagement und die<br />

Leidenschaft des Sammler-Ehepaares Boros<br />

ein historisches Gebäude, welches an<br />

sich einen wenig erfreulichen Aspekt der<br />

Berliner Stadtgeschichte widerspiegelt, in<br />

wunderbarer Weise für die zeitgenössische<br />

Kunst genutzt. <strong>Die</strong> historischen Hinweise<br />

auf den Bunkerwänden dienten ursprünglich<br />

zur Orientierung der durch Luftangriffe<br />

gefährdeten Berliner Bevölkerung.<br />

Zur Orientierung des Kunstfreundes in<br />

der zeitgenössischen Berliner Kunstszene<br />

erschien bei Hatje/Cantz 2009 als Begleitbuch<br />

ein opulenter Band, in welchem die<br />

Geschichte des Bunkers, seines Umbaus<br />

sowie die Sammlung Boros umfassend<br />

dargestellt werden. In informativen und<br />

authentischen Beiträgen äußern sich der<br />

Architekt Jens Caspers zu seinem Projekt<br />

und Annette Schryen zur Sammlung<br />

Boros. Mit den Fotos von Noshe und<br />

Andreas Gehrke werden Bunker und<br />

Sammlung kühl und sachlich dokumentiert.<br />

Texte in Deutsch und Englisch.<br />

<strong>Die</strong> Ausstellung soll übrigens im Laufe<br />

des Jahres 2010 wechseln.<br />

Boros Collection/Bunker Berlin -<br />

Herausgegeben von/Edited by<br />

Boros Fondation gemeinnützige GmbH<br />

© 2009Hatje/Cantz Verlag Ostfi ldern,<br />

218 S., ISBN 978-3-7757-2478-4<br />

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