August 2009 - Der Neusser
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Wir sind Familie<br />
Patsch, da hat er eine sitzen. Jungs raufen halt<br />
gern. Rums, da wird einer umgemäht. Was nicht<br />
verletzt, härtet ab. Irgendwie muss man sich<br />
durchs Leben kämpfen. „Hey Alter, mach Platz.“<br />
Unter Seinesgleichen ist man nicht zimperlich.<br />
„Haste Probleme oder was glotzte?“ Da mögen<br />
Mädchen nicht unbedingt dazwischen stehen.<br />
Und fällt ein Knabe doch versehentlich vom<br />
Klettergerüst, vom Trampolin oder der Skater-<br />
Halfpipe, heißt es, abwarten, ob er sich berappelt<br />
oder tatsächlich Hilfe braucht. Schließlich sind<br />
Jungen wild, dominant und deftig im Nehmen.<br />
Auch im Austeilen. Lange diskutieren ist nicht ihr<br />
Ding. Mit Worten haben sie es nicht so, eher mit<br />
Taten. Sind halt bei weitem angriffslustiger als<br />
Mädchen. Müssen sie aber auch, schließlich kommen<br />
sie später mit Mitleid nicht weit. Da sollten<br />
sie früh lernen, ihren Mann zu stehen, kühl und<br />
zielstrebig sein und sich nicht von Gefühlsduseleien<br />
beirren lassen. Durchboxen statt jammern,<br />
oder? Wie muss ein Junge bitte sein, damit er vorwärts<br />
kommt? Andererseits, hat man überhaupt<br />
eine Chance, was herumzulenken? Vielleicht hat<br />
die Natur schon alle Weichen gestellt?<br />
Biologische Vorgabe oder soziale Prägung, hier<br />
wird seit jeher debattiert, was zum kleinen<br />
Unterschied zwischen Bub und Mädel führt.<br />
Hirnforschungen belegen, dass rein physisch<br />
abweichende Anlagen vorhanden sind und die<br />
Hirnhälften je Geschlecht unterschiedlich beansprucht<br />
werden. Erforscht ist, dass Jungen<br />
bei der Geburt weniger reif sind und anfälliger<br />
auf Krankheiten und Entwicklungsstörungen<br />
Menschen | StattBlatt 08.<strong>2009</strong><br />
reagieren. Sie gelten tendenziell als aktiver,<br />
auch nervöser und aggressiver. Aber entscheidend<br />
ist der Entwicklungsverlauf. Zwar zeigen<br />
Kinder schon von klein auf geschlechtsspezifische<br />
Eigenschaften und entwickeln sich<br />
in diesen unterschiedlich fort, aber mit zunehmendem<br />
Alter gleichen sich die Level an.<br />
Eine amerikanische Studie belegte kürzlich,<br />
dass Mädchen frühkindlich bereits Fürsorge<br />
und Einfühlungsvermögen zeigen, Jungen<br />
mehr durch Freiheitsdrang und Abenteuerlust<br />
auffallen. Feinmotorische und künstlerische<br />
Neigungen sind bei Mädchen deutlich früher<br />
ausgebildet, bei Jungen sind es die sportlichen<br />
und naturwissenschaftlichen Aktivitäten. Mit<br />
rund 19 Jahren befinden sich die Geschlechter<br />
allerdings auf ähnlichem Niveau.<br />
Gefühle sind für Schwächlinge,<br />
Fragen für Idioten?<br />
Also biologische Ausstattung ist vorhanden,<br />
aber begleitet uns nicht zwangsläufig lebenslang.<br />
Und dennoch handeln Mann und Frau so<br />
verschieden, Mädchen und Junge auch. Denn die<br />
Einflüsse, unter denen sie ihr Rollenverständnis<br />
entwickeln, sind mannigfaltig: Vorbild der Eltern,<br />
Konzept der Erziehung, Gruppenverhalten<br />
und nicht zuletzt die Medien – allesamt formen<br />
ein geschlechtsspezifisches Bild, das jedes Kind<br />
erfährt, nachahmt und schließlich verinnerlicht.<br />
Sorgt die Mutter sich um die Tochter, wird diese<br />
ängstlicher. Erwartet sie, dass der Sohn sich im<br />
Sandkasten durchsetzt, lernt er schnell, für seine<br />
Rechte einzutreten. Na und, wo ist das Problem?<br />
Ganz einfach: Jungen und Mädchen werden nach<br />
gesellschaftlich vorgeformten Vorstellungen in<br />
Rollen gepresst, so Entwicklungspsychologen,<br />
die nicht die Vielfalt ihres Wesens widerspiegeln.<br />
Im Gegenteil, beachtliche Charakterzüge werden<br />
unterdrückt, gar als anormal negiert, was zu seelischen<br />
Störungen führt. „Was weinst du, bist ’ne<br />
Memme?“ Aber Jungen sind nicht von<br />
Geburt an stark. „Spring<br />
schon ins Wass<br />
e r ,<br />
was bist<br />
du für ein Feigling?“<br />
Gefühle sind was für Schwächlinge,<br />
Fragen was für Idioten und Hilfe sucht<br />
nur der, der ein Angsthase ist. Die Liste der Anforderungen<br />
an einen tauglichen Knaben ist lang –<br />
und in ihrer korsettartigen Einfältigkeit nicht aus<br />
den Köpfen verbannt. Schnell erfahren Jungen<br />
einen Erwartungsdruck und sehen sich einem<br />
geschlechtlichen Selbstbild gegenüber, das ihrem<br />
Wesen nicht entspricht. Alarmierend dazu<br />
Ergebnisse wie: 95 Prozent verhaltensgestörter<br />
Kinder sind männlich. Von 100 Schulabgängern<br />
ohne Hauptschulabschluss sind 72 Prozent Jungen.<br />
Jungen sind eher in kriminellen Handlungen<br />
verstrickt und häufiger krank.<br />
Also ist „Männlichkeit“ nicht nur ein Privileg.<br />
„Jungen, die ständig hart und selbstbewusst zu<br />
sein haben, können sich Fehler nicht eingestehen,<br />
geschweige denn sie korrigieren“, so der Soziologe<br />
und Familientherapeut Paul Suer. Verzicht<br />
auf emotionale Nähe, Körperbewusstsein und<br />
Solidarität können eine große Last sein. Wer stets<br />
funktionieren muss und Unsicherheit als Schwäche<br />
definiert, rangiert sich schnell ins Aus. „Wenn<br />
ein Junge sich weich zeigt, so ist das ein gutes<br />
Zeichen dafür, dass er mit sich im Einklang steht.“<br />
Cool oder uncool, männlich, androgyn oder rollenkonform?<br />
Das sind nicht die Fragen. Die Anforderungen<br />
an die Geschlechter sind nicht mehr<br />
so deutlich wie zu Uropas Zeiten. Antiquierte<br />
Rollenbilder verursachen ambivalente Persönlichkeiten.<br />
Wann ist ein Mann ein Mann? Was ein<br />
echter Kerl? – Ein Mensch, ein agierendes, reflektierendes<br />
und fühlendes Individuum. Stärke ist,<br />
zu Schwächen stehen. Schwach, wer mit Muskeln<br />
protzt, um Unzulänglichkeit zu kaschieren.<br />
Denken wir mal drüber nach…<br />
Litt le Rambo in der Puppenecke<br />
Echter Kerl oder hilf os? Wie wird ein Knabe ein Mann?<br />
Marion Stuckstätte