10.08.2012 Aufrufe

30 Jahre Rotpunktverlag.

30 Jahre Rotpunktverlag.

30 Jahre Rotpunktverlag.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

26<br />

erscheinen, die uns helfen, das selbstständige Denken zu behaupten und<br />

über den beschränkten Horizont des politischen Nachrichtenalltags hinauszusehen.<br />

Diese Bücher unterrichten uns im Detail über die Funktionsmechanismen<br />

der Weltwirtschaft, über Macht und Interessenpolitik, über die<br />

Hintergründe von kalten und heißen Kriegen, sie verschaffen den oppositionellen<br />

sozialen und politischen Bewegungen ein Forum, kurz: sie decken<br />

auf, indem sie Zusammenhänge herstellen.<br />

Wer verstehen will, warum der Nahostkonflikt bis heute nicht gelöst<br />

werden konnte, wer begreifen will, warum in Lateinamerika Politiker wie Evo<br />

Morales oder Hugo Chavez gewählt werden, wer verstehen will, was hinter<br />

der Einschränkung der demokratischen Rechte in den sogenannten westlichen<br />

Demokratien steckt oder wer nicht vor dem ideologischen Dauerfeuer<br />

des Neoliberalismus geistig kapitulieren will, muss mehr als nur Zeitungen<br />

lesen. In der politischen Literatur sind – anders als in den Massenmedien –<br />

noch immer die Stimmen derer präsent, die gegen den Strom schwimmen,<br />

die dem Druck zum Mitmachen widerstehen.<br />

Literatursendungen müssen in diese Nischen sehen, in denen geistige<br />

Produktivität und Kritikfähigkeit zu Hause sind. Sie sollen keine Reklame<br />

machen, sie sollen zum Denken anregen, aufklären, verstören, Widerspruch<br />

heraufbeschwören, manchmal auch intelligent unterhalten, aber sie dürfen<br />

keine Propaganda betreiben, einen Markt bedienen oder gar dem Publikum,<br />

der herrschenden Meinung oder irgendwelchen Moden nach dem Munde<br />

reden.<br />

Die Lektüre ist in diesen Zeiten der Kommerzialisierung von allem und<br />

jedem vielleicht das letzte Refugium des selbstbewussten Individuums.<br />

In Abwandlung eines Adorno-Gedankens ließe sich sagen, dass Politische<br />

Literatur, die diesen Namen verdient, dem Weltlauf zu widerstehen<br />

habe, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt. Wenn ein<br />

Verlag und seine Autoren den Atem für <strong>30</strong> <strong>Jahre</strong> Schwimmen gegen den<br />

Strom des Weltlaufs aufbringen können, ist die Zeit für Resignation jedenfalls<br />

noch längst nicht gekommen.<br />

Von notwendiger und<br />

wahrscheinlicher Literatur<br />

Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, studierte Germanistik und<br />

Hispanistik in Salzburg und Málaga. Ab 1977 Lektor und Lehrer in<br />

Madrid und Wien, seit 1983 freier Schriftsteller und Übersetzer<br />

sowie Herausgeber von Werken unbekannter oder an den Rand<br />

gedrängter Autoren. Seinen Erzählungen liegen authentische Fälle<br />

zugrunde.<br />

Für die spanische Schriftstellerin Belén Gopegui, die sich nicht für ihre Überzeugung<br />

geniert, dass eine sozialistische Revolution nottut, gibt es zwei<br />

Arten von Literatur: die notwendige und die wahrscheinliche. Erstere<br />

weigert sich, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse anzuerkennen.<br />

Ihre Autoren, Autorinnen können sich bessere vorstellen, gerechtere,<br />

herrschaftsfreie, und diese Vorstellung prägt ihre Stoffe und deren Gestalt.<br />

Sie suchen, schreibend, nach Gefährten, Zeitgenossen auch unter denen,<br />

die ihnen vielleicht vorausgegangen sind. Sie wollen die würgende Einsamkeit<br />

loswerden, die weihevolle Beschwichtigung, die Sage von der Vergeblichkeit<br />

allen Tuns. Sie sind respektvoll, weil sie ihre Protagonisten aus<br />

den Kategorien von Scheitern und Erfolg entlassen. Sie verteidigen deren<br />

Würde, die von Unterlegenen, und zeigen die Niederlage nicht als natürliche<br />

Folge vermessener Hoffnungen, sondern als vorläufiges Ende einer Geschichte,<br />

deren Ausgang noch unentschieden ist. Jedes neue Projekt steigert<br />

ihre Erschöpfung, ihre Verzweiflung, ihre Selbstzweifel. Sie laufen<br />

Gefahr zu verstummen. Auch deshalb ist ihre Literatur notwendig.<br />

Die wahrscheinliche Literatur (die bevorzugt im Gewand des Romans<br />

auftritt) versteht sich auf das Erzählen erfundener Geschichten, die<br />

sich um einen wahren Kern drehen. Aber ihre Plausibilität gewinnen sie<br />

nicht durch das, was an ihnen real ist. Vielmehr halten sie sich an die Bauernregel,<br />

derzufolge es in erster Linie darum geht, das Erzählte zum<br />

Funktionieren zu bringen. Durch das Zutun des Autors, der die Fakten mit-<br />

27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!