Kunst/Design?

0001

edition weissenhof

Kunst /
Design ?
Transdisziplinäre
Studien
Art /
Design ?
Transdisciplinary
Studies
Annett Zinsmeister

Inhalt
Content
008
Annett Zinsmeister:
Kunst und/oder Design? Lehre zwischen den Disziplinen
Art and/or Design? Teaching between disciplines
028
030
044
062
070
Komposition / Composition
Punkt / Dot
Linie / Line
Fläche / Plane
Faltung / Fold
080
082
094
Visualisierung / Visualization
Collage Studies
Motion Studies
110
112
138
Wahrnehmung / Perception
Urban Studies
Mind Expander
148
162
Materialisierung / Materialization
Light Studies
192
Realisierungen / Realizations
216
218
219
Die Autorin / The author
Bildverzeichnis / Index
Projektliste / List of projects

Annett Zinsmeister
Art and/or Design? Teaching between disciplines
What differences exist between fine and applied art? Where
exactly is the boundary between art and design? In an age when
artists are poaching audaciously from other disciplines, and
the markets for fine and applied art are converging, the question
is raised: what is the current position regarding disciplinary
distinctions and dividing lines? What does this development
mean for the design of our living environment, for attitudes
towards creativity, and finally for the conception of teaching
models and content in the fields of art and design? Is it desirable
or even necessary to draw boundaries, as the disciplinary
canon at most colleges of art and design would lead us to
suppose, or are transdisciplinary teaching concepts perhaps
a vital prerequisite to passing on creative knowledge in a
future-oriented way?
New technologies, global markets, and virtual networks
are altering and accelerating our perception and everyday lives
to an unprecedented degree: they are changing our needs and
patterns of behavior, influencing our relationships to real people,
real places, and distances, and also our perceptions of
space. The production, teaching, and acquisition of knowledge
cannot remain untouched by this. Consequently, our educational
systems are being increasingly put to the test and educators
face the immense challenge of responding to such far-reaching
changes, reconsidering traditional teaching structures, models
and methods, and developing new approaches and content.
After all, the content of today’s instruction is the foundation of to
tomorrow’s know-how and specialist competence.
Structural considerations are an important criterion when
facilitating changes. However, the fact that they do not necessarily
lead to the good or indeed the better is a current bitter
insight on the German educational scene: the restructuring of
diploma and magister study courses into bachelor and master
courses, in the wake of the so-called Bologna process, poses a
great challenge to the universities and their teachers. Change
is emerging only through much debate and accompanying criticism.
Indeed, this structural transformation is seen rather as
the demolition and betrayal of an academic educational culture,
although many universities and colleges have succeeded
008

Annett Zinsmeister
Kunst und/oder Design? Lehre zwischen den Disziplinen
Worin unterscheiden sich freie von angewandten Künsten?
Wo verläuft die Grenze zwischen Kunst und Design? In einer
Zeit, in der sich Künstler als Wilderer in fremden Disziplinen
behaupten und sich die Märkte für freie und angewandte
Künste angleichen stellt sich die Frage, wie es aktuell um fachspezifische
Differenzierungen und Grenzziehungen bestellt ist.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Gestaltung unserer
Lebenswelt, für den Umgang mit Kreativität und schließlich
für die Konzeption von Lehrmodellen und -inhalten in den
Fachgebieten Kunst und Design? Sind Grenzziehungen
wünschenswert und sogar notwendig, wie es der Fächerkanon
der meisten Kunst- und Gestaltungshochschulen vermuten
lässt oder sind womöglich transdisziplinäre Lehrkonzepte
eine wichtige Voraussetzung für eine zukunftsorientierte
Vermittlung von kreativem Wissen?
Neue Technologien, globale Märkte und virtuelle Netzwerke
verändern und beschleunigen unser Alltagsleben in nie dagewesenem
Ausmaß: Sie verändern unsere Bedürfnisse und
Verhaltensweisen, nehmen Einfluss auf unser Verhältnis zu
realen Personen, zu realen Orten und auf unsere Wahrnehmung
von Raum. Auch die Produktion, die Vermittlung und Aneignung
von Wissen bleibt davon nicht unberührt. Folglich stehen
unsere Bildungssysteme zunehmend auf dem Prüfstand und
Lehrende sind in besonderem Maße gefordert auf derlei tiefgreifende
Veränderungen zu reagieren, tradierte Lehrstrukturen,
Modelle und Methoden zu überdenken und neue Ansätze
und Inhalte zu entwickeln. Schließlich sind die Lehrinhalte von
heute die Grundlage für das Wissen und die Fachkompetenz
von morgen.
Strukturelle Überlegungen sind ein wichtiges Kriterium,
um Veränderungen möglich zu machen. Dass diese aber nicht
zwangsläufig zum Guten oder gar Besseren führen ist in der
deutschen Bildungslandschaft eine aktuelle und bittere
Erkenntnis: Die im Zuge des sogenannten Bologna-Prozesses
laufenden Umstrukturierungen von Magister – und Diplomstudiengängen
in Bachelor- und Masterstudiengänge stellen die
Hochschulen und die Lehrenden vor eine große Herausforderung,
009

during this process in improving their profiles and in readjusting
and accentuating their curricula. However, these successes
offer no consolation in the face of blanket restructuring that
lacks solidly based, meaningful debate in many cases. But this
academic content is a vital criterion, toward which structures
and models should be directed — and not the other way
around. Especially because, in an increasingly complex world,
the necessary range of competence is being steadily extended
in all fields of life and work. Contemporary and above all
future-oriented teaching models and structures need to react
to this kind of change in a flexible way so that they can offer
and pass on a dynamic spectrum of learning content.
Interdisciplinarity, or transdisciplinarity, describes the
interweave joint application of the methods, content, or intellectual
approaches of different disciplines. This may occur in
direct cooperation between different specialists, or else in one
and the same person or departmental subject, insofar as an
extensive, well-informed range of knowledge is available. However,
it demands corresponding training of the teaching staff in
different departments, for only those with deep knowledge of
methods and content in diverse disciplines can also teach
them across several subjects.
Despite many similarities and overlaps between art and
design, there are differences specific to each discipline, which
are initially noticeable in specialist knowledge and competence.
Thus, the drawing of boundaries in creative training is
a basic prerequisite to delineating specialist knowledge
and defining teaching content. This explains the division into
disciplinary departments, which are split in turn into individual
directions and subjects of study, so that in teamwork we can
convey the necessary spectrum of creative competence for the
relevant discipline. This is true of fine as well as applied arts:
the comparatively “young” discipline of design 2 has expanded
over the course of the twentieth century into the study subjects
product / industrial design, communication / graphic
design, fashion, textiles, etc., which all call for different competencies
in individual techniques. Things are similar in the
case of architecture, although it is the most complex of all
design disciplines and thus calls for a very broad, most clearly
defined spectrum of competencies.
010

die mit Auseinandersetzungen und von viel Kritik begleitet
von statten geht. Diese strukturelle Umwandlung wird als
Kahlschlag und Verrat an einer akademischen Bildungskultur
empfunden, auch wenn es vielen Hochschulen gelungen ist,
sich in diesem Prozess neu zu profilieren und ihre Curricula
neu zu justieren und zu akzentuieren. Diese Erfolge trösten
allerdings nicht über den Umstand hinweg, dass die flächendeckende
Umstrukturierung in vielen Fällen fundierte inhaltliche
Auseinandersetzungen vermissen lässt. Doch gerade die
Inhalte sind ein wichtiges Kriterium, an denen sich Strukturen
und Modelle ausrichten sollten – und nicht umgekehrt. Zumal
sich in einer zunehmend komplexen Welt das erforderliche
Kompetenzspektrum in allen Lebens- und Arbeitsbereichen
stetig erweitert. Zeitgenössische und vor allem zukunftsträchtige
Lehrmodelle und Lehrstrukturen müssen auf derlei
Veränderungen flexibel reagieren, um ein dynamisches Spektrum
an Lehrinhalten anbieten und vermitteln zu können.
011
Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität beschreibt
den Gebrauch und die Verflechtung von Methoden, Inhalten
und Denkansätzen unterschiedlicher Fachdisziplinen. Dies
kann in direkter Kooperation unterschiedlicher Fachleute
geschehen, oder aber in Personalunion bzw. innerhalb eines
Faches, sofern ein umfassendes und fundiertes Wissensspektrum
vorhanden ist. Dies erfordert jedoch eine entsprechende
Ausbildung der Lehrpersonen in verschiedenen Fachgebieten,
denn nur wer über Methoden und Inhalte in unterschiedlichen
Disziplinen fundierte Kenntnisse besitzt kann diese auch
fächerübergreifend vermitteln.
Trotz vieler Annäherungen und Überschneidungen zwischen
Kunst und Design gibt es fachspezifische Unterschiede, die
sich zuallererst in Fachwissen und Kompetenz bemerkbar
machen. Grenzziehungen sind daher in der kreativen Ausbildung
zunächst einmal grundlegend, um Fachwissen einzugrenzen
und Lehrinhalte zu definieren. Dies erklärt die Unterteilung
in Fachgebiete, die sich wiederum in einzelne Studienrichtungen
und Studienfächer auf splitten, um im Zusammenspiel
das notwendige Spektrum an Gestaltungskompetenz für die
jeweilige Fachdisziplin vermitteln zu können. Das gilt für die
freien Künste ebenso wie für die angewandten: Das vergleichsweise
„junge“ Fachgebiet Design 2 hat sich im Laufe des 20.
Jahrhunderts in die Studienrichtungen Produkt- / Industrie- ,

KUNST UND / ODER DESIGN
ART AND / OR DESIGN
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027

KOMPOSITION
COMPOSITION
028

Komposition nun ist jene Methode in der Malerei, durch die Teile in ein Werk
der Malerei zusammengesetzt werden. Alberti
Kompositionsstudien sind seit der Antike bekannt und wurden zum Fundament in der
künstlerischen Ausbildung. Mit den ersten Schriften zur Proportionslehre, wie zum
Beispiel dem Kanon des Polyklet und den Zehn Büchern zur Architektur von Vitruv,
fand die künstlerische Tätigkeit in der Antike erstmals gesellschaftliche Anerkennung:
Kompositionsregeln basieren folglich auf einem vermittelbaren Wissen, das
über das Handwerk hinaus geht: Auf Theorien, Zahlenverhältnissen und Methoden wie
dem goldenen Schnitt, den Perspektivkonstruktionen, der Farbenlehre, usw. Wassily
Kandinsky hatte 1926 im neunten Band der Bauhausbücher seine Überlegungen zu
malerischen Elementen veröffentlicht: Punkt und Linie zu Fläche. Dies gab Anlass,
den Umgang mit elementaren Bildelemente aus heutiger Sicht einer Prüfung zu unterziehen
und damit experimentieren zu lassen.
Komponieren bedeutet Ordnungen zu schaffen, Elemente in Bild und Raum zu arrangieren,
um Harmonien oder Spannungen zu erzeugen. Dieser Prozess kann auf
rationale, aber auch auf intuitive Weise geschehen. Kompositionsstudien können,
aber müssen nicht als repetitive Verfahren vermittelt werden, sie können auch als
spielerische Experimente angeleitet werden, die Aufschluss geben über unbewusste
individuelle Prägungen und Sehgewohnheiten.
Composition is that rule of painting by which the parts of the things seen fit
together in the painting. Alberti
Studies in composition have been known since antiquity, becoming one of the
foundations of artistic training. It was through the first treatises on the theory of
proportion — for example, the canon of Polyclitus and De architectura libri decem by
Vitruvius — that artistic activity first gained social recognition in antiquity: composition
is thus based on teachable knowledge that goes much further than manual
skills; on theories and numerical relations like the Golden Section; constructions of
perspective; and color theory, etc. In 1926, Wassily Kandinsky published his ideas on
painterly elements in the ninth volume of the Bauhaus books: Point and Line to Plane.
I took this as a basis on which to examine the elementary pictorial elements from
today’s standpoint, initiating experiments.
Composition means creating order, and arranging elements within the image or within
space to create harmonies or tensions. This process may occur in a rational but also in
an intuitive way. Studies in composition can, but do not have to be taught as repetitive
processes; they can also be encouraged as playful experiments that provide us with
information about subconscious individual imprinting and viewing habits.
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Die bildnerische Form beginnt beim Punkt, der sich in Bewegung setzt.
Paul Klee
Die Linie ist mathematisch betrachtet eindimensional: Sie hat nur eine
Länge. Als Gestaltungselement hat sie verschiedene Breiten und wird
zweidimensional. Die Linie hat im Gegensatz zum Punkt einen Anfang und
ein Ende sowie eine Richtung. In der gegenständlichen Zeichnung ist die
Linie Kontur und Grenze oder Verbindungselement, beispielsweise als
Darstellung einer Objekt- oder Raumkante. Die Entwurfsgrafik basiert auf
linearen Bezugssystemen wie Achsen, Konstruktionslinien, Raster etc.,
auch wenn diese nicht in Erscheinung treten. Linien haben eine Wirkung
auf den Betrachter: Sie gliedern und unterteilen die Bildfläche, lenken
den Blick und erzeugen Eindrücke wie Statik oder Dynamik, Spannung
oder Ausgeglichenheit, Harmonie oder Disharmonie. Die Linie kann zudem
Bewegung abbilden.
LINIE
LINE
A line is a dot that went for a walk. Paul Klee
Mathematically speaking, the line is one-dimensional: it has only length.
As an element of design, it has different widths and so becomes twodimensional.
In contrast to the dot, the line has a beginning and an end
as well as a direction. In representational drawing the line is a contour and
a boundary or a connecting element — for example, as the depiction of
an object or the margin of a space. The graphic concept is based on linear
referential systems like axes, construction lines, grids, etc., even when
these do not actually appear. Lines have an effect on the viewer: they
divide and portion out the picture surface, direct the gaze, and create
impressions such as static or dynamic, tension or balance, harmony or
disharmony. In addition, the line can depict movement.
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Der französische Philosoph Gilles Deleuze beschreibt in seinem 1988
erschienenen Buch Die Falte. Leibniz und der Barock die Zeit des Barock
als eine Entwicklung der Kunst von der Struktur (Renaissance) zur Kunst
der Textur. Er wertet die „eroberte Autonomie“ der „die Oberfläche überschwemmenden
Falten der Kleidung“ als einen Bruch mit dem Raum
der Renaissance.
Die Falte organisiert die Fläche im Raum: Sie beschreibt den Übergang
von einer zweidimensionalen Fläche in ein dreidimensionales Gebilde.
Die Faltung ist ein Modell der Transformation, das mit seinen gekrümmten
und beweglichen Grenzflächen ein Oben und Unten, ein
Innen und Außen in nur temporär zu entscheidendem Zustand hält.
Die Falte besticht auf den ersten Blick durch Einfachheit, doch bei
exakter bzw. wissenschaftlicher Betrachtung offenbart sie eine nahezu
erschreckende Komplexität.
Die Studien zeigen Verformungen unterschiedlichster Stoffe zu Faltungen
und Knicken, die spezifische Kenntnisse über Materialeigenschaften
und komplexe Formen vermitteln.
FALTUNG
FOLD
In The Fold: Leibniz and the Baroque, French philosopher Gilles Deleuze
describes the period of the Baroque as a development from the art of
structure (Renaissance) to the art of texture. He evaluates the “autonomy
conquered” by the “folds of clothing that invade the entire surface” as a
break with Renaissance space.
The fold organizes the plane inside space: it designates the transition
from a two-dimensional plane to a three-dimensional form. Folding is
a model of transformation, which — with its bent and mobile interfaces
— maintains an above and a below, an inside and an outside in a
state that is only temporarily defined. At first glance, the fold is striking
for its simplicity, but upon more exact or scientific examination, it
reveals an almost terrifying complexity.
The studies show deformation of a wide range of materials into folds
and kinks, thus revealing specific insights into material qualities and
complex forms.
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VISUALISIERUNG
VISUALIZATION

Am Anfang jedes Gestaltungsprozesses steht eine Idee. Durch die
Visualisierung und Materialisierung lässt sich diese Vorstellung
konkretisieren und kommunizieren, erst dann beginnt der kreative
Prozess. Dieser Prozess der Konzept-, Form-, bzw. Raumfindung ist
eine sukzessive Übersetzungsleistung, die unterschiedliche Methoden
und Techniken erfordert: von der Skizze, dem Plan, dem Modell, der
Simulation bis hin zur Realisierung. Die Visualisierung unserer Beobachtungen
und Vorstellungen ist der erste Schritt im künstlerischen
Prozess, denn nur durch die Darstellung gelingt es, Konzepte zu entwickeln
und zu präzisieren. Die Fähigkeit zur Abstraktion und Komposition
ist hierbei grundlegend, um komplexe Sachverhalte zu veranschaulichen
und Inhalte fokussiert darzustellen.
Medien, das heißt Darstellungsgeräte jeglicher Art vom Schreibzeug,
Zeichenstiften, Malutensilien bis hin zum Computer und spezifischer
Software bestimmen die Art und Weise der Übertragung unserer Gedanken
auf eine zwei- und dreidimensionale Repräsentationsebene.
Die Visualisierung setzt eine Vielzahl an technischen Kenntnissen
voraus, denn mit der Digitalisierung der Darstellungswerkzeuge hat
sich das Spektrum an erforderlichen Kenntnissen zu Darstellungstechniken
vervielfacht.
At the start of every design process, there is an idea. This idea can
be concretized and communicated through visualization and materialization;
only then does the creative process begin. This process of
determining a concept, form, or space is a successive work of translation
demanding different methods and techniques: from the sketch,
the plan, the model, the simulation, through to the realization. The
visualization of our observations and ideas is the first step in the
artistic process, for we can only succeed via such representation in
developing, closely defining, and communicating ideas. A capacity for
abstraction and composition is fundamental in this context; it enables
a focused visualization of complicated facts and a clear representation
of content.
Media — i.e., illustrative devices of any kind ranging from writing
utensils, crayons, painting equipment, to the computer and specific
software — define the way in which our thoughts are transposed onto
two- or three-dimensional representational levels. Prerequisite to
visualization are a number of technical skills, because the digitalization
of visual tools has led to a huge increase in the spectrum of
skills necessary for pictorial techniques.

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Ein höchst verworrenes Quartier, ein Straßennetz, das jahrelang von mir
gemieden wurde, ward mir mit einem Schlage übersichtlich, als eines
Tages ein geliebter Mensch dort einzog. Es war, als sei in seinem Fenster
ein Scheinwerfer aufgestellt und zerlege die Gegend mit Lichtbüscheln.
Walter Benjamin
Die Stadt ist ein gesellschaftliches Beziehungssystem – sie konstituiert
sich aus Relationen zwischen Orten und Ereignissen. Unser individuelles
Bild der Stadt wird geprägt von unseren alltäglichen Wegen,
die für jeden von uns ein individuelles Raumgefüge konstituieren.
Persönliche Beziehungsgefüge werden zur Grundlage individueller
Orientierungsmodi und Netzwerke. Vertrautheit und Fremdheit prägen
unser Bild der Stadt. Zur Orientierung dient meist das Auge – unser
Sehsinn ist mobiler Ermittler und Ortungsinstanz.
Diese Ereignisse und Relationen werden innerhalb des Workshops in
Konzentration auf die individuelle Wahrnehmung erschlossen. Ziel ist
die bewusste Entdeckung und das subjektive Erfassen urbaner Räume.
URBAN STUDIES
A highly embroiled quarter, a network of streets that I had avoided for
years, was disentangled at a single stroke when one day a person dear
to me moved there. It was as if a searchlight set up at this person’s
window dissected the area with pencils of light. Walter Benjamin
The city is a system of social references — it is constituted from the relations
between places and occurrences. Our individual images of the
city are shaped by our everyday routes, which constitute an individual
spatial constellation for each one of us. Personal constellations of
relationships become the basis for individual modes of orientation
and networks. Familiarity and strangeness shape our image of the city.
Generally, our eyes are what serve orientation — our sense of sight is a
mobile agent and locating instance.
These occurrences and relations are studied within the workshop through
concentration on individual perception. The aim is a conscious
discovery, and subjective registration of urban spaces.
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Bereits Johann Wolfgang von Goethe experimentierte mit der Wahrnehmung
seiner Umwelt, indem er sich bei der Naturbetrachtung farbige
Gläser vors Auge hielt und Räume in Versuchsanordnungen zur Selbstbeobachtung
verwandelte. Eines der ersten Objekte, mit denen die
Wiener Gruppe Haus-Rucker-Co 1967 in die Öffentlichkeit trat, war ein
sogenannter Mind Expander. Als Referenz an diese Experimente, die im
transdisziplinären Kontext von Kunst und Architektur entstanden, bietet
der gleichnamige Workshop eine Anleitung für experimentelle Untersuchungen
unserer individuellen Wahrnehmung. Wahrnehmungsmaschinen
sind Hilfsmittel bzw. Apparaturen zur Beobachtung und Erweiterung
von Sinneseindrücken. Die vielgestaltigen sinnlichen Erfahrungen und
Erkenntnisse über biologische und neurologische funktionale Abläufe
sind die Grundlage für die Entwicklung von Wahrnehmungsapparaturen,
die unsere Sinne spielerisch transformieren und manipulieren.
MIND EXPANDER
Even Johann Wolfgang von Goethe had experimented with the perception
of his environment by holding colored pieces of glass to his eyes
when observing nature, and by transforming rooms into experimental
setups for self-study. One of the first objects made public by the Vienna
group Haus-Rucker-Co 1967 was a so-called Mind Expander. As a reference
to such experiments that came about in the transdisciplinary
context of art and architecture, the workshop of the same name
provides guidance regarding an experimental investigation of our individual
perception. Perceptual devices are aids or apparatuses with which
to observe and expand upon sensual impressions. Diverse sensual experiences
and insights regarding biological and neurological functional
processes are the basis for the development of perceptual devices that
change and manipulate our senses in a playful manner.
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MATERIALISIERUNG
MATERIALIZATION
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Friedrich Nietzsches medientheoretische Einsicht, dass das Schreibzeug
an unseren Gedanken mitarbeitet, ist eine grundlegende These
für meine kreative Praxis und die Wissensvermittlung. Die Kompositionsstudien,
aber auch die Visualisierungen haben gezeigt, welchen
Einfluss Materialien, Untergründe, Texturen und die Medien der
Darstellung haben: Sie prägen den künstlerischen Prozess, als eine
Materialisierung von Idee. Materialisierung bedeutet die Konkretisierung
einer gedanklichen Konstruktion mit dem Ziel, diese in eine reale
Konstruktion zu überführen. Es sind die Materialien und die Wahl der
künstlerischen Techniken, die nicht nur den Prozess, sondern auch
die Form und bisweilen auch die Inhalte der Werke mitbestimmen.
Grundlegendes und experimentelles Wissen zu Materialien und Techniken
ist demnach die Basis jeder künstlerischen Tätigkeit.
Eine zukunftsorientierte kreative Praxis kann sich im Umgang mit
Materialien und Techniken der Frage nach Nachhaltigkeit kaum
verschließen. Reuse und Recycling von Materialien sind experimentelle
Strategien im Rahmen meines Lehrprogrammes, die nicht nur für die
angewandten Künste Relevanz besitzen.
Friedrich Nietzsche’s media theory insight that our writing instruments
contribute to our thoughts is a basic thesis behind my creative practice
and teaching. The composition studies as well as the visualizations
have shown the influence of materials, backgrounds, textures and
representational media. They shape the artistic process, as the materialization
of an idea. Materialization means making an intellectual
construct concrete with the purpose of translating it into a real construction.
It is the materials and the choice of artistic techniques
that codetermine not only the process, but also the form and
sometimes also the content of the works. Fundamental and experimental
knowledge of materials and techniques, therefore, is the basis
to any artistic activity.
A creative practice oriented on the future definitely needs to remain
open to the issue of sustainability in its handling of materials and
techniques. Reuse and recycling of materials, therefore, are experimental
strategies in the context of my teaching program, which have
relevance not only to the applied arts.
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Die Kunst ist nichts anderes als das Licht der Natur. Goethe
Licht und Farbe sind wichtige Gestaltungselemente, die ein technisches
Grundwissen erfordern, um ein weites Spektrum an Themenfeldern und
experimentellen Untersuchungen anbieten zu können.
In verschiedenen Workshops werden Experimente zu Materialieneigenschaften
hinsichtlich Transparenz, Transluzenz, Luminanz, Reflexion
usw., aber auch zu den Eigenschaften von natürlichem und artifiziellem
Licht, zu Leuchtmitteln, Lichtfarbe, Wärmeentwicklung etc. durchgeführt,
sowie zum Umgang mit Flächen und Struktur, mit Farbe und Form
und zur Wirkung von Farbkombinationen und -kompositionen. Die kreativen
Möglichkeiten, die sich aus diesen Material- und Lichteigenschaften
ableiten lassen, sind für freie und angewandte Projekte gleichermaßen
spannend, von Leuchtobjekten bis hin zu Lichtinstallationen.
LIGHT STUDIES
Art is nothing but the light of nature. Goethe
Light and color are important elements of design, calling for basic
technical knowledge to enable access to a wide spectrum of thematic
fields and experimental investigations.
In various workshops we undertake experiments on the nature of
materials, paying heed to transparency, translucency, luminosity, reflection,
etc., but also to the qualities of natural and artificial light,
luminous materials, colors of light, development of warmth, etc. In
addition, we consider how to deal with planes and structures, colors
and forms, and the effect of color combinations and compositions.
The creative possibilities to be derived from these material and light
qualities are equally exciting for free and applied projects ranging from
luminous objects to light installations.
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REALISIERUNGEN
REALIZATIONS
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Die Materialisierung ist der Anfang jeder Realisierung. Die Realisierung
ist der letzte Schritt im kreativen Prozess, ein Werk zu vollenden. Dieser
Schritt erfordert das größte Spektrum an Wissen und bleibt im Rahmen
der transdisziplinären Studien dennoch ein Experiment. Die Realisierung
bildet den Abschluss jedes künstlerischen Prozesses und somit
auch den Abschluss der Auswahl an transdisziplinären Studien. Hier
wird das angeeignete Wissen geprüft und findet vertieft Anwendung.
Das Spektrum der Projekte ist vielfältig: Es reicht von raumgreifenden
Objekten über Installationen und Rauminszenierungen in Gebäuden
bis hin zu urbanen Interventionen und baulichen Transformationen.
Sie alle eint, dass sie sich einer eindeutigen Kategorisierung entziehen.
Sie erfüllen Funktionen, oftmals vielfältige, sind aber dennoch
keine Gebrauchsobjekte. Es sind transdisziplinäre Arbeiten, die auf der
Grundlage einer fächerübergreifenden Wissensvermittlung entstanden
sind und in vielseitiger Hinsicht einen Mehrwert erzeugen; demnach ist
es für die Arbeiten selbst irrelevant, in welche Kategorie sie einsortiert
werden. Für den Betrachter jedoch bleibt die Frage spannend: Ist es
Kunst? Ist es Design? Ist es Architektur?
Materialization is the beginning of any realization, which is the last step
in a creative process leading to the completion of a work. Realization
calls for the widest range of knowledge, and nevertheless in the context
of transdisciplinary studies, it remains an experiment. Realization forms
the conclusion to every artistic process and thus to the selection of
transdiciplinary studies. Here, the knowledge acquired is tested and
brought to application. The range of the projects is highly diversified:
from space-consuming objects to installations and the staging of space
in buildings, as well as urban interventions and architectural-constructional
transformations. One common factor is that they evade clear
categorization. They fulfill functions — often diverse ones — but are still
not functional objects. These are transdisciplinary works that have been
produced on the basis of a teaching spanning a number of subjects: the
works create added value in many respects, and so the category to which
they may be attributed is irrelevant to them. But the question does
remain exciting for the viewer: Is it art? Is it design? Is it architecture?
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The author
Annett Zinsmeister studied art, architecture, culture and media studies, and graduated
at the University of Arts and Design in Berlin. Professional experiences as an artist,
architect, designer and author. Since 2000, she has been teaching at universities and
art schools and is developing her transdisciplinary program. Since 2002 she has been
Professor at the School for Arts + Design Berlin Weissensee, University Wuppertal, and
at the State Academy of Arts + Design Stuttgart, where she has been director of the
Weißenhof Institute 2009-2013. The transdisciplinary studies were developed during
this time, some of them with support by lecturers, who had been engaged by her
for specific topics: Hans Kotter (Light), Nicole Nickel (Collage), Christian Laukemper
(Photography), Christoph Kappler (Drawing), and by colleagues from different disciplines
like: Karl Höing (Textile Design).
In her work and teaching Annett Zinsmeister focuses on the intersection of art, architecture,
design, and media studies. Recurring fundamentals are the analysis, use, and
creation of space categories and structures; the search for identity and utopian ideas,
social interaction, communication, and the transformation of urban space. Since the
beginning of the nineteen-nineties, she has been driven by the belief in interdisciplinary
communication and interaction, aiming to bring people together and involve them
into a vivid dialogue.
Interdisciplinary events (include): Art and/or Design? (2012), Ethics in Aesthetics?
(2011), Figure of Motion (2010), Update! 90 years of Bauhaus — what now? (2009),
Jour Fixe (ABK Stuttgart 2007-12), Transformation, world[city]space (KH Berlin
2003-05), Dialoges, Constructing Utopia (Karl Ernst Osthaus Museum 2002), Positions of
the Avantgarde (TU Berlin 1994-97), Artist talks — Art and Architecture (UDK Berlin
1992-95)
Exhibitions (include): Lumino City Galeria Impakto, Lima / Peru 2013, Tracing the Grid
Kunstmuseum Stuttgart 2012, (in)visible cities Kunstverein Wilhelmshöhe Ettlingen
2011, No place. Nowhere? Gallery 14-1 2011, Annett Zinsmeister + Hans Kotter Gallery
Blumberg Recklinghausen 2010, Searching for Identity Kunstverein Nürtingen 2010,
Zeigen Temporäre Kunsthalle Berlin 2009, Urban hacking paraflows Vienna 2009, New
works Neuer Berliner Kunstverein 2008, Digital Spaces Galerie DAM Berlin 2008,
System Architecture Academy of Science + Konzerthaus at Gendarmenmarkt Berlin
2007, Brandherde Kammerspiel Munich 2007, Searching for an ideal urbanity, Schloss
Solitude Stuttgart 2007, Talking Cities, Zollverein Essen 2006, outside_in Artspace
Oberwelt + Schloss Solitude Stuttgart 2005, urban drift Café Moskau Berlin 2002,
Museutopia Karl Ernst Osthaus Museum Hagen 2002
Publications (include): Art and/or Design? (Ed. 2013), Annett Zinsmeister – Searching
for Identity (2012), Ethics in Aesthetics? (Ed. 2012), Figure of motion (Ed. 2011), Jour
Fixe — zeitgenössische Positionen (Ed. 2010), Update! 90 years of Bauhaus — what now?
(Ed. 2010), City + war. A trip to Sarajevo (Ed. 2008), world[city]space. Medial productions
(Ed. 2007), Constructing Utopia (Ed. 2005), Plattenbau and art to maintain utopia in a
model kit (Ed. 2002)
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Die Autorin
Annett Zinsmeister studierte Kunst, Architektur und Kultur- und Medienwissenschaften,
Diplom an der Universität der Künste Berlin. Berufspraktische Erfahrungen als
Künstlerin, Architektin, Designerin und Autorin. Seit 2000 ist sie in der Lehre tätig und
entwickelt seither ein interdisziplinäres Lehrprogramm. Seit 2002 ist sie Professorin
und lehrte u.a. an der Kunsthochschule Berlin Weißensee, der Bergischen Universität
Wuppertal, der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, wo sie von 2009
-2013 auch das Weißenhof-Institut leitete. Die vorliegenden transdisziplinären Studien
sind in dieser Zeit entstanden, einzelne mit Unterstützung von Lehrbeauftragten,
die für spezifische Themenfelder engagiert wurden: Hans Kotter (Licht), Nicole Nickel
(Collage), Christian Laukemper (Fotografie), Christoph Kappler (Zeichnen) und mit
Kollegen aus anderen Fachgebieten wie Karl Höing (Textildesign).
Die kulturelle Prägung, Konstitution und Gestaltung von Lebenswelt sind zentrale
Themen, die Annett Zinsmeister in ihren Arbeiten und in ihrer Lehrkonzeption neu
verhandelt: die Auseinandersetzung mit räumlichen Kategorien und Strukturen, mit
dem Identitätsgehalt von Architektur, Raum und Alltagsgegenständen sowie die Untersuchung
von Wahrnehmungsprozessen, sozialer Interaktion, Kommunikation und der
Transformation urbaner Raumsituationen. Seit Beginn der 1990er Jahre engagiert
sie sich für eine interdisziplinäre Kommunikation und Interaktion, und führt seitdem
in zahlreichen Veranstaltungskonzeptionen Vertreter unterschiedlichster Disziplinen
in einen zukunftsweisenden Dialog.
Interdisziplinäre Veranstaltungen (Auswahl): Kunst und/oder Design? (2012), Gestalt
der Bewegung (2010), Update! 90 Jahre Bauhaus - und nun? (2009), Ethics in Aesthetics?
(2011), Dialoge, Jour Fixe (ABK Stuttgart 2007-12), Transformation, welt[stadt]raum (KH
Berlin 2003-05), constructing utopia (Karl Ernst Osthaus Museum 2002), Positionen der
Avantgarde (TU Berlin 1994-97), Künstlergespräche – Kunst und Architektur im Spannungsfeld
(UDK Berlin 1992-95)
Ausstellungen (Auswahl): Lumino City Galeria Impakto, Lima / Peru 2013, Rasterfahndung
Kunstmuseum Stuttgart 2012, (in)visible cities Kunstverein Wilhelmshöhe
Ettlingen 2011, Kein Ort. Nirgends? Galerie 14-1 2011, Annett Zinsmeister + Hans Kotter
Galerie Blumberg Recklinghausen 2010, Searching for Identity Kunstverein Nürtingen
2010, Zeigen Kunsthalle Berlin 2009, urban hacking paraflows Wien 2009, Neuerwerbungen
Neuer Berliner Kunstverein 2008, Digital Spaces Galerie DAM Berlin 2008,
System Architektur Akademie der Wissenschaften zu Berlin + Konzerthaus am
Gendarmenmarkt Berlin 2007, Brandherde Kammerspiel München 2007, Searching for
an ideal urbanity, Schloss Solitude Stuttgart 2007, Talking Cities, Zollverein Essen 2006,
outside_in Kunstraum Oberwelt + Schloss Solitude Stuttgart 2005, urban drift Café
Moskau Berlin 2002, Museutopia Karl Ernst Osthaus Museum Hagen 2002
Publikationen (Auswahl): Kunst und/oder Design? (Hg. 2013), Annett Zinsmeister –
Searching for Identity (2012), Ethics in Aesthetics (Hg. 2012), Gestalt der Bewegung (Hg.
2011), Jour Fixe – zeitgenössische Positionen (2010), Update! 90 Bauhaus – was nun?
(2010), City + war. A trip to Sarajevo (2008), welt[stadt]raum. Mediale Inszenierungen
(Hg. 2007), constructing utopia (Hg. 2005), Plattenbau oder die Kunst Utopie im Baukasten
zu warten (Hg. 2002)
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