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Das alte Kind

Mutter kam aus dem Bad. Mit glänzendem Gesicht kam sie auf mich zu, umarmte und küsste mich. „Das ist er. Jetzt ist er da. Ist das nicht wundervoll?“ sagte sie und zeigte dabei auf Sam. „Mutter, du bist ein Kind.“ erklärte ich. „Das denke ich auch manchmal.“ bestätigte Sam, „nein, nicht ein Kind, wie eine junge Frau ist sie, offen, unbeschwert, lebhaft und lustig. Wundervoll, Victoria.“ „Das ist das normale Leben einer Frau, das sie nicht leben kann, weil sie die Ordnungshüter des Geschlechts daran hindern. Sie schreiben vor, wie eine Frau zu sein hat. Das Drängen nach ihrem wirklichen Leben steckt aber in jeder Frau, auch wenn man noch so massiv versucht hat, ihr die Erinnerung an die Kindheit auszutreiben. Die Frau will sich selbst leben und die Kraft der Liebe verleiht ihr die Macht dazu.“ interpretierte es Mutter. „Die Liebe befähigt dich, das zu leben, was immer in dir war, aber wegen der Ordnungen für die Frauen in deinem Unbewussten verborgen bleiben musste? Dazu gehört auch die Erinnerung an das vergessene Mädchen Victoria?“ fragte ich nach. „Ja, es gibt vieles, was bei einer Frau im Unbewussten verborgen bleiben muss, was eingefroren ist und nicht zum Vorschein kommen darf, und die Liebe ist etwas Extraordinäres. Sie nimmt dich auf den Arm und lässt dich Ungeglaubtes leben.“ bestätigte Mutter. „Hast du keine Angst davor, dass es sich nicht immer zu deinem Vorteil entwickeln könnte?“ fragte ich Sam. Der lachte und meinte: „Sie wird immer die bonne sauvage bleiben, da bin ich sicher, und die erlebe ich jetzt auch schon.“ Meine Mutter, die gute Wilde? Als natürlich und echt war sie mir schon immer erschienen, aber dass sie aus sich herausgehen und ihre Gefühle offen ausleben konnte, schien mir für die arrivierte, distinguierte, ältere Anwältin unglaublich, aber ich hatte ja ihre Kindereien durch die offene Schlafzimmertür mitbekommen.

Mutter kam aus dem Bad. Mit glänzendem Gesicht kam sie auf mich zu, umarmte und küsste mich. „Das ist er. Jetzt ist er da. Ist das nicht wundervoll?“ sagte sie und zeigte dabei auf Sam. „Mutter, du bist ein Kind.“ erklärte ich. „Das denke ich auch manchmal.“ bestätigte Sam, „nein, nicht ein Kind, wie eine junge Frau ist sie, offen, unbeschwert, lebhaft und lustig. Wundervoll, Victoria.“ „Das ist das normale Leben einer Frau, das sie nicht leben kann, weil sie die Ordnungshüter des Geschlechts daran hindern. Sie schreiben vor, wie eine Frau zu sein hat. Das Drängen nach ihrem wirklichen Leben steckt aber in jeder Frau, auch wenn man noch so massiv versucht hat, ihr die Erinnerung an die Kindheit auszutreiben. Die Frau will sich selbst leben und die Kraft der Liebe verleiht ihr die Macht dazu.“ interpretierte es Mutter. „Die Liebe befähigt dich, das zu leben, was immer in dir war, aber wegen der Ordnungen für die Frauen in deinem Unbewussten verborgen bleiben musste? Dazu gehört auch die Erinnerung an das vergessene Mädchen Victoria?“ fragte ich nach. „Ja, es gibt vieles, was bei einer Frau im Unbewussten verborgen bleiben muss, was eingefroren ist und nicht zum Vorschein kommen darf, und die Liebe ist etwas Extraordinäres. Sie nimmt dich auf den Arm und lässt dich Ungeglaubtes leben.“ bestätigte Mutter. „Hast du keine Angst davor, dass es sich nicht immer zu deinem Vorteil entwickeln könnte?“ fragte ich Sam. Der lachte und meinte: „Sie wird immer die bonne sauvage bleiben, da bin ich sicher, und die erlebe ich jetzt auch schon.“ Meine Mutter, die gute Wilde? Als natürlich und echt war sie mir schon immer erschienen, aber dass sie aus sich herausgehen und ihre Gefühle offen ausleben konnte, schien mir für die arrivierte, distinguierte, ältere Anwältin unglaublich, aber ich hatte ja ihre Kindereien durch die offene Schlafzimmertür mitbekommen.

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nicht aufpassen?“ antwortete ich. Die Studentin bog sich vor Lachen. „<strong>Das</strong><br />

stimmt. Hätten sie das denn lieber gehört? Aber das ist nicht mein Stil. So<br />

spreche ich nicht, auch wenn ich keine freundliche Frau wäre.“ erklärte die<br />

Frau und weiter, „setzen wir uns zusammen. Meine Freundin Julia ist noch<br />

dabei. Sie hat auch großen Hunger.“ Wir suchten uns freie Plätze. „<strong>Das</strong> ist die<br />

besagte Julia, und ich bin Hélène, Französin.“ stellte sie sich vor. Kurze Pause<br />

und Lächeln. „Quatsch, ich bin keine Französin. Nur mein Name ist französisch<br />

mit Akzent hinten und Akzent vorne.“ sagte Hélène und lachte. „Franzose wäre<br />

ich auch gerne. Ich heiße Michael.“ erklärte ich. „Dann wärst du Michel oder<br />

Miguel, nein, das ist, glaube ich, spanisch.“ wusste Hélène. „<strong>Das</strong> wäre doch<br />

besser. Jetzt nennen sie mich alle Micha, Mica, Micki oder was ihnen gerade<br />

einfällt.“ erläuterte ich. „Mischu, würde ich dich nennen, gefiele dir das?“<br />

erkundigte sich Hélène. Julia lachte die ganze Zeit. Warum? das war nicht zu<br />

ergründen. Ich dachte nur, wie wundervoll, eine Freundin zu haben, die immer<br />

gut aufgelegt ist, die immer lacht. Aber auch Hélène und ich lachten häufig,<br />

obwohl wir uns doch überhaupt nicht kannten und nichts miteinander zu tun<br />

hatten. Vielleicht gibt es eine stillschweigende Übereinkunft unter<br />

Kulturwissenschaftlern, einen tacit consent, von dem man als Student zwar<br />

nichts weiß, aber den man spürt. Nein, es lag wahrscheinlich an der kuriosen<br />

Situation unseres Zusammenpralls und unseren Reaktionen darauf. Nach dem<br />

Essen sinnierte ich noch darüber, dass man doch im Grunde aus jeder<br />

Situation, ein Erlebnis mit Gefühlen des Wohlempfindens bereiten konnte, aber<br />

das lag wahrscheinlich auch an beiden Kommunikationsteilnehmern. Hélène<br />

hatte einen starken Eindruck auf mich gemacht, und ich musste in den<br />

folgenden Tagen öfter an sie denken. Sie wirkte so klar, offen und direkt, wie<br />

ich mir das vorstellte, wenn Mutter ihre eingefrorene <strong>Kind</strong>heit leben wollte. Ich<br />

würde sie ja noch öfter sehen. Ansprechen wollte ich sie auf jeden Fall. Aber<br />

ich begegnete ihr nicht, weder ihr noch Julia. Sie musste etwas anderes<br />

machen, denn Kulturwissenschaftler gab es ja nicht so immens viele. Ich<br />

überlegte ja auch eventuell mein Zweitfach zu wechseln. Philosophie oder<br />

Kulturgeschichte stand für mich zur Wahl. Ich hatte mich für Kulturgeschichte<br />

entschieden. Politikwissenschaft hatte ich zusätzlich gewählt, weil ich mich für<br />

aktuelle Politik sehr interessierte, aber jetzt konnte ich mich mit Theorien zur<br />

Staatenbildung und der Magna Carta beschäftigen. Belanglos war das ja<br />

keineswegs, nur traf es nicht im Geringsten mein derzeitiges Interesse. An<br />

Hélène musste ich öfter denken. Was sie wohl gestört hatte, und was sie wohl<br />

machte.<br />

Exkursion<br />

Zwei Jahre später nahm ich an einer von den Biologen organisierten Exkursion<br />

zu einem Vogelschutzreservat teil. Jeder sollte es eigentlich gesehen haben,<br />

nur jetzt war es durch den Anstieg des Wasserstands bedroht. Hier brüteten<br />

Vögel, die es sonst nur in Norwegen gab. Die Frau da vorne, das musste Hélène<br />

sein, ich konnte mich nicht irren. Ich sprach sie an. „Ich weiß nicht, wovon<br />

sie sprechen. Lassen sie mich in Ruhe.“ sagte sie abweisend. „Aber, Hélène,<br />

dass ich deinen Namen weiß, zeugt doch davon, dass wir uns kennen. Ich bin<br />

der Mica, den du Mischu nennen wolltest.“ versuchte ich es nochmal. „Mag<br />

sein, dass sie Recht haben, aber ich möchte trotzdem nicht, dass sie mich be-

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