Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Menschen<br />
Wir sind Familie<br />
Wie Kinder Abschied nehmen: trauern – aber anders!<br />
Sind Kinder dem Tod gewachsen? Wie kann man ihnen hilfreich beistehen?<br />
ch kann mich nicht mehr<br />
„Ian ihr Gesicht erinnern“, so<br />
startet die Geschichte um den<br />
Jungen Daniel in Carlos Ruiz<br />
ZafÐns Bestseller ’<strong>Der</strong> Schatten<br />
des Windes’. Seit seine Mutter an<br />
seinem vierten Geburtstag beerdigt<br />
wurde, hatte er jeden Tag<br />
vor dem Einschlafen mit ihr gesprochen,<br />
all seine Abenteuer und<br />
was er gelernt hatte, ihr täglich<br />
berichtet. An dem Tag, als sie sie<br />
auf den Friedhof brachten, hatte<br />
es den ganzen Tag und die ganze<br />
Nacht geregnet. Daniel fragte seinen<br />
Vater, ob der Himmel weine.<br />
Dem Vater versagte die Stimme. –<br />
Daniel aber war sich sicher, seine<br />
Mutter sei noch da. Er sprach mit<br />
ihr und dachte, sie könne ihn vernehmen,<br />
wo immer sie sich auch<br />
gerade befände. Sechs Jahre später<br />
schreckt er in der Nacht auf,<br />
weil er ihr Gesicht verloren hat<br />
und anfängt zu begreifen, dass sie<br />
fort ist. Eine Erkenntnis, die ihn<br />
auf eine fantasievolle, beschwerlich<br />
lange Reise - der Suche zu<br />
sich selbst - führt.<br />
Kinder erleben Verlust und<br />
Tod. Sie trauern, aber auf ihre<br />
eigene kindgerechte Weise. Viele<br />
Jahrzehnte hat man Kindern die<br />
Fähigkeit zu trauern abgeschrieben.<br />
Ihr Verhalten hat Erwachsene<br />
irritiert. Scheinbar machen<br />
sie weiter wie gehabt, lachen und<br />
toben schnell wieder wild umher.<br />
Kinder spielen und flüchten,<br />
manchmal vergraben sie sich in<br />
alltäglichen Ritualen. Auch wenn<br />
sie weinen, bringen sie vielleicht<br />
belanglose Dinge als Grund hervor:<br />
klagen über eine verkrickelte<br />
Hausaufgabe oder über die Angst<br />
vor einer Blinddarmentzündung.<br />
Sie leiden, äußern Schmerzen,<br />
aber für Erwachsene teils ohne<br />
Sinn und Zusammenhang, in<br />
schwer verständlicher Art. Da<br />
liegt es nahe, dass diese vermuten,<br />
ihr Kind langweile sich nur<br />
oder fordere mehr Aufmerksamkeit.<br />
Doch dafür fehlt ihnen die<br />
Akzeptanz. Eltern und Familienmitglieder<br />
entziehen sich der<br />
vermeintlichen ’Bagatelle’. Bei<br />
Todesfällen in der Familie kämpfen<br />
sie selbst mit ihrer Trauer,<br />
14 StattBlatt 11.<strong>2008</strong><br />
Tod sollte nicht totgeschwiegen werden. Kinder brauchen Erklärungen, denn es<br />
ist für sie schwer, die Tragweite des Todes zu begreifen<br />
so dass sie nicht mehr die volle<br />
Kraft und Geduld der Fürsorge<br />
aufbringen können. Denn für<br />
sie ist Trauerarbeit gleichwohl<br />
Schwerstarbeit.<br />
Angst, Scham und Schuld: wichtige<br />
Stationen im kindlichen<br />
Trauerprozess<br />
Oft versuchen Erwachsene<br />
auch ihren Schmerz vor Kindern<br />
zu verbergen, um diese vorm<br />
Leid zu schützen. Da Kinder sich<br />
nach außen wenig verändert geben<br />
und scheinbar spielerisch<br />
sowie sprunghaft mit der Trauer<br />
umgehen, wird die Situation verkannt.<br />
So werden die Kleinen abgeschirmt,<br />
auch ausgegrenzt und<br />
sich selbst überlassen. Aber jeder<br />
Verlust durch den Tod ist eine Tragödie<br />
für das Kind. Er rührt an der<br />
Basis seines bisherigen Lebensgefühls,<br />
zerstört Vertrauen und<br />
Sicherheit. Das Kind gerät in Gefahr,<br />
ins Bodenlose zu stürzen.<br />
Noch in der Nachkriegszeit hat<br />
man vermutet, Kinder stecken<br />
den Tod relativ leichtfertig weg.<br />
„Damals ließ man Kinder in offene<br />
Särge hineingucken, vergaß aber,<br />
mit ihnen darüber zu reden“, weiß<br />
Gertrud Ennulat in ihren Schriften<br />
über Kindertrauer zu berichten.<br />
Wichtig sei, die Sprache kindlicher<br />
Trauer zu entschlüsseln. Sie habe<br />
erlebt, wie Kinder ihr vom Tod<br />
der Oma erzählten, aber über sie<br />
hinweg sahen. Was die Pädagogin<br />
und Autorin erst als fehlendes<br />
Vertrauen einstufte, erkannte sie<br />
später als Scham, den heftigen<br />
Schmerz einzugestehen und sich<br />
verletzbar zu zeigen. Bei Kindern<br />
seien Angst, Scham und Schuld<br />
wichtige Stationen des Trauerprozesses,<br />
die sich im sozialen Verhalten<br />
ausdrückten.<br />
Während jüngere Kinder die<br />
Komplexität des Todes nicht begreifen<br />
und den Verstorbenen<br />
häufig suchen oder ihn in naher<br />
Zukunft zurückerwarten, fühlen<br />
sich ältere Kinder oft schuldig.<br />
Sie erfassen zwar die unwiderrufliche<br />
Vergänglichkeit, ringen aber<br />
nach Erklärungen. Nicht selten<br />
plagen sie vergangene Streitigkeiten.<br />
Aussprüche wie „Hau ab,<br />
ich will dich nie wieder sehen!“<br />
lasten schwer auf ihrer Seele. Zudem<br />
wächst bei allen Kindern die<br />
Angst um die lebenden Angehörigen.<br />
Stimmungsschwankungen,<br />
Schlafstörungen und Gereiztheit<br />
begleiten sie in dieser Zeit. Gerade<br />
bei Jungen kann man beobach-<br />
ten, dass sie bemüht sind,<br />
ihre Gefühle zurückzuhalten.<br />
Ihnen fehlen Möglichkeiten,<br />
sich auszudrücken.<br />
Was können Erwachsene<br />
tun? Tod sollte nicht totgeschwiegen<br />
werden. Kinder<br />
brauchen Informationen.<br />
Sie haben das Recht, umfassend<br />
aufgeklärt zu werden:<br />
Was ist passiert, wie<br />
oder warum? Wenn Kinder<br />
es wünschen, sollten sie<br />
mit einbezogen werden.<br />
Manchen ist es hilfreich,<br />
den Verstorbenen noch<br />
einmal zu sehen oder an<br />
den Vorbereitungen der<br />
Trauerfeier teilzuhaben.<br />
Immer sollte ihnen jedoch<br />
eine Rückzugsmöglichkeit<br />
eröffnet werden, da sie<br />
im Vorhinein nicht erfassen<br />
können, was auf sie<br />
zukommt. Manche wollen<br />
reden und weinen, manche<br />
schweigen. Tägliche Routinen<br />
stabilisieren; freies Spielen und<br />
Malen können – unbewertet! – ein<br />
Ventil der Trauer sein. Ein offenes<br />
Ohr, Sensibilität und Präsenz sind<br />
unabdingbar. Da sein, zuhören<br />
und umarmen, wenn Bedarf signalisiert<br />
wird, ist wichtig. Auch<br />
können Trauerbegleiter karitativer<br />
Einrichtungen, öffentliche<br />
Trauergruppen und spezifische<br />
Chatforen helfen. Oft fällt es gerade<br />
Jugendlichen leichter, sich<br />
mit unvorbelasteten Dritten oder<br />
Gleichbetroffenen auszutauschen,<br />
zu denen sie genügend<br />
Abstand haben oder sich anonym<br />
äußern können. Nicht zuletzt, weil<br />
sie erkennen, dass sie mit dem<br />
Problem nicht allein sind.<br />
Marion Stuckstätte<br />
Weitere Infos und Hilfe:<br />
Kinder- u. Jugend-Sorgentelefon:<br />
0800-1110333 (kostenlos,<br />
auch vom Handy)<br />
Links: www.allesistanders.de,<br />
www.elternlos.de, www.kummernetz.de<br />
und www.veid.de<br />
Buchtipp: „Kinder trauern anders“<br />
von Gertrud Ennulat<br />
07_<strong>November</strong>_<strong>2008</strong>.indd 14 24.10.<strong>2008</strong> 16:24:21 Uhr