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November 2008 - Der Neusser

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Menschen<br />

Wir sind Familie<br />

Wie Kinder Abschied nehmen: trauern – aber anders!<br />

Sind Kinder dem Tod gewachsen? Wie kann man ihnen hilfreich beistehen?<br />

ch kann mich nicht mehr<br />

„Ian ihr Gesicht erinnern“, so<br />

startet die Geschichte um den<br />

Jungen Daniel in Carlos Ruiz<br />

ZafÐns Bestseller ’<strong>Der</strong> Schatten<br />

des Windes’. Seit seine Mutter an<br />

seinem vierten Geburtstag beerdigt<br />

wurde, hatte er jeden Tag<br />

vor dem Einschlafen mit ihr gesprochen,<br />

all seine Abenteuer und<br />

was er gelernt hatte, ihr täglich<br />

berichtet. An dem Tag, als sie sie<br />

auf den Friedhof brachten, hatte<br />

es den ganzen Tag und die ganze<br />

Nacht geregnet. Daniel fragte seinen<br />

Vater, ob der Himmel weine.<br />

Dem Vater versagte die Stimme. –<br />

Daniel aber war sich sicher, seine<br />

Mutter sei noch da. Er sprach mit<br />

ihr und dachte, sie könne ihn vernehmen,<br />

wo immer sie sich auch<br />

gerade befände. Sechs Jahre später<br />

schreckt er in der Nacht auf,<br />

weil er ihr Gesicht verloren hat<br />

und anfängt zu begreifen, dass sie<br />

fort ist. Eine Erkenntnis, die ihn<br />

auf eine fantasievolle, beschwerlich<br />

lange Reise - der Suche zu<br />

sich selbst - führt.<br />

Kinder erleben Verlust und<br />

Tod. Sie trauern, aber auf ihre<br />

eigene kindgerechte Weise. Viele<br />

Jahrzehnte hat man Kindern die<br />

Fähigkeit zu trauern abgeschrieben.<br />

Ihr Verhalten hat Erwachsene<br />

irritiert. Scheinbar machen<br />

sie weiter wie gehabt, lachen und<br />

toben schnell wieder wild umher.<br />

Kinder spielen und flüchten,<br />

manchmal vergraben sie sich in<br />

alltäglichen Ritualen. Auch wenn<br />

sie weinen, bringen sie vielleicht<br />

belanglose Dinge als Grund hervor:<br />

klagen über eine verkrickelte<br />

Hausaufgabe oder über die Angst<br />

vor einer Blinddarmentzündung.<br />

Sie leiden, äußern Schmerzen,<br />

aber für Erwachsene teils ohne<br />

Sinn und Zusammenhang, in<br />

schwer verständlicher Art. Da<br />

liegt es nahe, dass diese vermuten,<br />

ihr Kind langweile sich nur<br />

oder fordere mehr Aufmerksamkeit.<br />

Doch dafür fehlt ihnen die<br />

Akzeptanz. Eltern und Familienmitglieder<br />

entziehen sich der<br />

vermeintlichen ’Bagatelle’. Bei<br />

Todesfällen in der Familie kämpfen<br />

sie selbst mit ihrer Trauer,<br />

14 StattBlatt 11.<strong>2008</strong><br />

Tod sollte nicht totgeschwiegen werden. Kinder brauchen Erklärungen, denn es<br />

ist für sie schwer, die Tragweite des Todes zu begreifen<br />

so dass sie nicht mehr die volle<br />

Kraft und Geduld der Fürsorge<br />

aufbringen können. Denn für<br />

sie ist Trauerarbeit gleichwohl<br />

Schwerstarbeit.<br />

Angst, Scham und Schuld: wichtige<br />

Stationen im kindlichen<br />

Trauerprozess<br />

Oft versuchen Erwachsene<br />

auch ihren Schmerz vor Kindern<br />

zu verbergen, um diese vorm<br />

Leid zu schützen. Da Kinder sich<br />

nach außen wenig verändert geben<br />

und scheinbar spielerisch<br />

sowie sprunghaft mit der Trauer<br />

umgehen, wird die Situation verkannt.<br />

So werden die Kleinen abgeschirmt,<br />

auch ausgegrenzt und<br />

sich selbst überlassen. Aber jeder<br />

Verlust durch den Tod ist eine Tragödie<br />

für das Kind. Er rührt an der<br />

Basis seines bisherigen Lebensgefühls,<br />

zerstört Vertrauen und<br />

Sicherheit. Das Kind gerät in Gefahr,<br />

ins Bodenlose zu stürzen.<br />

Noch in der Nachkriegszeit hat<br />

man vermutet, Kinder stecken<br />

den Tod relativ leichtfertig weg.<br />

„Damals ließ man Kinder in offene<br />

Särge hineingucken, vergaß aber,<br />

mit ihnen darüber zu reden“, weiß<br />

Gertrud Ennulat in ihren Schriften<br />

über Kindertrauer zu berichten.<br />

Wichtig sei, die Sprache kindlicher<br />

Trauer zu entschlüsseln. Sie habe<br />

erlebt, wie Kinder ihr vom Tod<br />

der Oma erzählten, aber über sie<br />

hinweg sahen. Was die Pädagogin<br />

und Autorin erst als fehlendes<br />

Vertrauen einstufte, erkannte sie<br />

später als Scham, den heftigen<br />

Schmerz einzugestehen und sich<br />

verletzbar zu zeigen. Bei Kindern<br />

seien Angst, Scham und Schuld<br />

wichtige Stationen des Trauerprozesses,<br />

die sich im sozialen Verhalten<br />

ausdrückten.<br />

Während jüngere Kinder die<br />

Komplexität des Todes nicht begreifen<br />

und den Verstorbenen<br />

häufig suchen oder ihn in naher<br />

Zukunft zurückerwarten, fühlen<br />

sich ältere Kinder oft schuldig.<br />

Sie erfassen zwar die unwiderrufliche<br />

Vergänglichkeit, ringen aber<br />

nach Erklärungen. Nicht selten<br />

plagen sie vergangene Streitigkeiten.<br />

Aussprüche wie „Hau ab,<br />

ich will dich nie wieder sehen!“<br />

lasten schwer auf ihrer Seele. Zudem<br />

wächst bei allen Kindern die<br />

Angst um die lebenden Angehörigen.<br />

Stimmungsschwankungen,<br />

Schlafstörungen und Gereiztheit<br />

begleiten sie in dieser Zeit. Gerade<br />

bei Jungen kann man beobach-<br />

ten, dass sie bemüht sind,<br />

ihre Gefühle zurückzuhalten.<br />

Ihnen fehlen Möglichkeiten,<br />

sich auszudrücken.<br />

Was können Erwachsene<br />

tun? Tod sollte nicht totgeschwiegen<br />

werden. Kinder<br />

brauchen Informationen.<br />

Sie haben das Recht, umfassend<br />

aufgeklärt zu werden:<br />

Was ist passiert, wie<br />

oder warum? Wenn Kinder<br />

es wünschen, sollten sie<br />

mit einbezogen werden.<br />

Manchen ist es hilfreich,<br />

den Verstorbenen noch<br />

einmal zu sehen oder an<br />

den Vorbereitungen der<br />

Trauerfeier teilzuhaben.<br />

Immer sollte ihnen jedoch<br />

eine Rückzugsmöglichkeit<br />

eröffnet werden, da sie<br />

im Vorhinein nicht erfassen<br />

können, was auf sie<br />

zukommt. Manche wollen<br />

reden und weinen, manche<br />

schweigen. Tägliche Routinen<br />

stabilisieren; freies Spielen und<br />

Malen können – unbewertet! – ein<br />

Ventil der Trauer sein. Ein offenes<br />

Ohr, Sensibilität und Präsenz sind<br />

unabdingbar. Da sein, zuhören<br />

und umarmen, wenn Bedarf signalisiert<br />

wird, ist wichtig. Auch<br />

können Trauerbegleiter karitativer<br />

Einrichtungen, öffentliche<br />

Trauergruppen und spezifische<br />

Chatforen helfen. Oft fällt es gerade<br />

Jugendlichen leichter, sich<br />

mit unvorbelasteten Dritten oder<br />

Gleichbetroffenen auszutauschen,<br />

zu denen sie genügend<br />

Abstand haben oder sich anonym<br />

äußern können. Nicht zuletzt, weil<br />

sie erkennen, dass sie mit dem<br />

Problem nicht allein sind.<br />

Marion Stuckstätte<br />

Weitere Infos und Hilfe:<br />

Kinder- u. Jugend-Sorgentelefon:<br />

0800-1110333 (kostenlos,<br />

auch vom Handy)<br />

Links: www.allesistanders.de,<br />

www.elternlos.de, www.kummernetz.de<br />

und www.veid.de<br />

Buchtipp: „Kinder trauern anders“<br />

von Gertrud Ennulat<br />

07_<strong>November</strong>_<strong>2008</strong>.indd 14 24.10.<strong>2008</strong> 16:24:21 Uhr

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