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Des Pudels Kern Kapitel 2

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<strong>Kapitel</strong> 2 des Buches „<strong>Des</strong> <strong>Pudels</strong> <strong>Kern</strong>“ von Georg Zipfel. !<br />

Weitere Informationen finden Sie auf: georgzipfel.de<br />

2. Herkunft, Kindheit und Ausbildung<br />

Zwar handelt es sich bei der Erbschaftsintrige, durch die meine Mutter<br />

mit mir und meinen beiden Schwestern einst in ein fürchterliches<br />

Schlamassel geraten war, inzwischen längst um Schnee von gestern.<br />

Aber dennoch muss ich hier zunächst ausführlich über die für diese<br />

Intrige relevanten Gegebenheiten, Ereignisse und Folgen berichten.<br />

Denn ohne Zweifel war sie von entscheidender Bedeutung für den<br />

ebenso erlebnisreichen wie erklärungsbedürftigen Verlauf meiner<br />

Vita und somit auch für meine Kritik des deutschen Regierungs-,<br />

Wirtschafts- und Propagandatheaters beziehungsweise des Humanen<br />

Kapitalismus – Made in Germany.<br />

*<br />

Meine Mutter trug den schönen Namen Rosa Karolina und entstammte<br />

einer katholischen Bauernfamilie aus der Kleinstadt Kenzingen<br />

bei Freiburg im Breisgau, deren Vorfahren schon seit vielen<br />

Generationen Stadtbauern waren. Ihre Eltern, die Eheleute Franz Xaver<br />

Engler und Karolina Engler, geborene Walzer, hatten zwei Söhne<br />

und drei Töchter. Meine Mutter wurde am 13. April 1920 geboren,<br />

ihre vier Geschwister zwischen 1906 und 1913. Da ihr wackerer Vater<br />

– der 1872 geboren war – aufgrund des Größenwahns Kaiser Wilhelms<br />

II. und dessen Gefolgschaften vier Jahre lang gegen Frankreich<br />

kämpfen musste, gehörte er zu jenen Soldaten, die sich mit geschultertem<br />

Karabiner zu Fuß auf den Weg zurück in die Heimat<br />

machten, nachdem vor allem die Amerikaner und die Engländer diesem<br />

Größenwahn eine bittere Niederlage zugefügt hatten. Wieder in<br />

Kenzingen angelangt, zertrümmerte er sein Gewehr auf den Bahnschienen<br />

am westlichen Stadtrand, schwor allem kriegerischen Heldentum<br />

ab und widmete sein Leben wieder dem Wohl seiner Familie.<br />

Dass diese trotz des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Tohuwabohus<br />

in der Weimarer Republik und im Dritten Reich nie in materielle<br />

Not geriet, war aber sicherlich auch das Verdienst meiner<br />

Großmutter. Ihr war es gelungen, nicht nur ihre vier Kinder, sondern<br />

auch die Landwirtschaft gut durch den Ersten Weltkrieg zu bringen,<br />

19


und sie war meinem Großvater fortan eine gute Haushälterin und Finanzministerin<br />

war.<br />

Im Gegensatz zu ihren Geschwistern blieb meine Mutter, die „Resli“<br />

(hochdeutsch Röslein) genannt wurde, weitgehend von der damals<br />

für Bauernkinder üblichen Feld- und Stallarbeit verschont und erlebte<br />

als Nesthäkchen der Familie eine glückliche Kindheit und Jugend.<br />

Sie liebte es sehr, uns Kindern davon zu erzählen. Wie es damals in<br />

bäuerlichen Kreisen üblich war, ging sie bis zur achten Klasse in die<br />

Volksschule und besuchte dann die örtliche Haushaltsschule. Und da<br />

ihr als Kind der Vater einst die Stelle gezeigt hatte, wo er sein Gewehr<br />

zertrümmert und dem kriegerischen Heldentum abgeschworen<br />

hatte, zeigte auch sie mir diese denkmalwürdige Stelle am Bahnübergang<br />

nach Oberhausen, als ich vielleicht sechs Jahre alt war. Zwar<br />

hatte ihr Vater bei der Abfassung seines letzten Willens eine für sie<br />

verhängnisvolle Verfügung getroffen, aber dennoch hielt meine Mutter<br />

ihn Zeit ihres Lebens in höchsten Ehren. Sie war unerschütterlich<br />

davon überzeugt, dass diese Verfügung nur aufgrund einer Intrige ihrer<br />

Schwester Elsa und deren Ehemann Josef Fehrenbach zustande<br />

gekommen war.<br />

Mehr aus Neugier denn in der Absicht mitzubieten, besuchte mein<br />

wackerer Großvater im Jahre 1928 – da war er immerhin schon 56<br />

Jahre alt – die Zwangsversteigerung eines landwirtschaftlichen Anwesens<br />

am nordwestlichen Stadtrand von Kenzingen, im Ortsteil<br />

Balger, das erst wenige Jahre zuvor gebaut worden war, und ersteigerte<br />

es. Großmutter war damals 42 Jahre alt und soll zunächst alles<br />

andere als begeistert gewesen sein, als Großvater von dieser Versteigerung<br />

nach Hause kam und sie informierte. Dies änderte sich jedoch<br />

schnell, weil schon wenige Tage später ein Käufer für das angestammte<br />

stadtbäuerliche Anwesen in der Innenstadt gefunden werden<br />

konnte und der Verkaufserlös ausreichte, um das neue, weitaus bessere<br />

Anwesen im Ortsteil Balger schuldenfrei beziehen zu können.<br />

Xaver, der älteste Bruder meiner Mutter, hatte die höhere Landwirtschaftsschule<br />

Hochburg bei Emmendingen besucht und sollte das elterliche<br />

Anwesen später eigentlich einmal übernehmen. Da er sich je-<br />

20


doch in die Tochter Anna der Familie Hermann aus der Neumühle<br />

bei Köndringen verliebte, hatte er es vorgezogen, dort einzuheiraten.<br />

Der 1913 geborener Bruder Fritz hatte das Bäckerhandwerk erlernt.<br />

Als er sich 1933, in seiner noch jugendlichen Verführbarkeit, von der<br />

SS hatte anwerben lassen und sich eines Tages zu Hause voller Stolz<br />

in ihrer schwarzen Uniform präsentierte, wurde meine Mutter als<br />

Mädchen Augenzeugin davon, wie ihr Vater von ihm verlangte, diese<br />

Uniform auf der Stelle auszuziehen und sie vor die Haustür schmiss.<br />

Anschließend soll er dafür gesorgt haben, dass Fritz aus der SS austreten<br />

konnte beziehungsweise entlassen wurde. Zugetragen hatte<br />

sich dieser Rausschmiss, als viele andere Bürger und auch der Gemeinderat<br />

von Kenzingen bereits vom NS-Virus infiziert waren. So<br />

wurde am 17. Mai 1933 einmütig beschlossen,<br />

dem Herrn Reichskanzler Adolf Hitler – dem Kämpfer für die Freiheit<br />

und die Ehre des deutschen Vaterlandes, dem Schöpfer einer<br />

neuen deutschen Nation, dem Wegbereiter eines großen, starken und<br />

glücklichen Deutschland, die Ehrenbürgerrechte der Stadt Kenzingen<br />

zu verleihen. Im Ehrenbürgerbrief vom 20. Juni 1933 heißt es<br />

weiter: Möge Gott Ihnen die Fülle der Kraft und Gesundheit geben,<br />

die Sie befähigt, noch lange des Vaterlandes und des deutschen Volkes<br />

Wohl und Stärke zu fördern und zu mehren.<br />

In Ergebenheit und Treue,<br />

der Gemeinderat der Stadtgemeinde Kenzingen<br />

Dass mein wackerer Großvater, der damals schon 61 Jahre alt war,<br />

sich nicht zu jenem Teil der Bürgerschaft rechnete, in deren Namen<br />

diese Ehrenbürgerwürde verliehen wurde, darf aufgrund seines Auftretens<br />

gegenüber seinem Sohn wegen dessen Eintritt in die SS wohl<br />

als erwiesen gelten, obwohl die NS-Büttel ihn wegen dieses Vorfalls<br />

nicht behelligten. Später heiratete Fritz die Tochter Anna der Familie<br />

Halter aus Ödsbach im Renchtal (die einmal meine Lieblingstante<br />

werden sollte) und wurde Vater von sechs Kindern. Bis zum Krieg<br />

arbeitete er zunächst als Bäcker und später als Arbeiter im Sägewerk<br />

Toussaint. Dann musste er am Frankreich- und am Russlandfeldzug<br />

teilnehmen und wurde 1943 infolge einer schweren Verletzung am<br />

21


Oberarm wehrdienstunfähig. Da er auch die Tätigkeiten eines<br />

Bäckers nicht mehr verrichten konnte, arbeitete er nach dem Krieg<br />

als Gehilfe bei der Stadt.<br />

Die Schwester Frieda machte eine Ausbildung zur Krankenschwester<br />

und heiratete den Bäckermeister Emil Mössinger aus Köndringen.<br />

Als sie 1941 die Nachricht erhielt, dass ihr geliebter Emil im Kampf<br />

ums Wohl des deutschen Vaterlandes auf dem Russlandfeldzug gefallen<br />

war, erlitt sie eine Fehlgeburt und blieb fortan kinderlos. Ihre<br />

zweite Ehe mit dem Holzhändler Georg Riebel hielt nur kurz und<br />

wurde 1950 geschieden. Danach heiratete sie nicht mehr. Ab Ende<br />

der 40er Jahre arbeitete sie etwa 25 Jahre lang als Krankenschwester<br />

im französischen Militärkrankenhaus in Freiburg.<br />

Die 1910 geborene Schwester Elsa heiratete den aus der Nachbargemeinde<br />

Riegel stammenden Bauernsohn Josef Fehrenbach. Dieser<br />

war von der Kenzinger Bauernfamilie Spies im Alter von dreizehn<br />

Jahren an Kindes Statt angenommen worden, weil ihr Sohn tödlich<br />

verunglückt war, und hatte das kleine stadtbäuerliche Anwesen mit<br />

einer Grundstücksgröße von etwa 350 Quadratmeter in der Innenstadt<br />

geerbt. Als der Krieg begann, hatten Elsa und Josef vier Kinder<br />

und lebten von ihrer kleinen Vollerwerbslandwirtschaft mit schätzungsweise<br />

fünf Hektar Äckern und Wiesen in der Umgebung der<br />

Stadt. Wie üblich wurde auch etwas Weinbau betrieben. Der Stall<br />

und die Scheune waren über die Kieselstraße zugänglich. Das Wohnhaus<br />

lag an der Brotstraße fast im Zentrum der Stadt, neben dem<br />

heutigen Kardinal-Bea-Haus. Im Stall hatten ein Pferd, zwei Kühe<br />

mit ihren Kälbern und zwei Ziegen Platz. Der Misthaufen und die<br />

Jauchegrube beanspruchten in etwa die Hälfte des kleinen Innenhofs,<br />

in dem sich außerdem noch zwei Schweineställe, ein Hühnerstall und<br />

ein Plumpsklo mit einer separaten Fäkaliengrube befanden. Der<br />

Grundriss des zweigeschossigen, nicht unterkellerten Wohnhauses<br />

betrug etwa 100 Quadratmeter. Im Erdgeschoss gab es eine Küche,<br />

eine kleine Wohnstube und einen großen Raum für Kartoffeln, Rüben,<br />

Kohlen, Weinfässer, das für Hausschlachtungen erforderliche<br />

Fleischgeschirr, die Krautstande, das Bohnenfässchen, die Wurstben-<br />

22


gel und andere Dinge. Im Obergeschoss gab es vier Schlafkammern,<br />

eine zweite Wohnstube, eine Küche und ein zweites Plumpsklo, das<br />

über einen Außengang erreichbar war. Wegen der damals noch üblichen<br />

Hausschlachtungen gab es auf dem Dachboden eine Rauchkammer,<br />

wo der Speck, der Schinken und die Würste geräuchert wurden.<br />

Außerdem wurden auf dem Dachboden die Brennholz- und Getreidevorräte<br />

gelagert.<br />

Weil der Breisgau mit einem milden Klima gesegnet ist, die Böden<br />

fruchtbar sind und damals für bäuerliche Erzeugnisse noch auskömmliche<br />

Preise erzielt wurden, galt ein solches Anwesen schon in<br />

jenen Jahren zwar nicht gerade als erstrebenswerte, jedoch immer<br />

noch auskömmliche Existenzbasis, sofern es mit Fleiß und Sachverstand<br />

bewirtschaftet wurde – und das taten die beiden, ohne jeden<br />

Zweifel. Wegen Unabkömmlichkeit war Josef Fehrenbach vom<br />

Wehrdienst freigestellt worden, sodass es Elsa – anders als ihrer Mutter<br />

im Ersten Weltkrieg – erspart blieb, die Kinder und die Landwirtschaft<br />

alleine durch den Krieg bringen zu müssen.<br />

1936, im Alter von nur 52 Jahren, wurde meine Großmutter schwer<br />

krank und musste fortan das Bett hüten. So kam es, dass meine Mutter<br />

seit ihrem 16. Lebensjahr den elterlichen Haushalt führen musste,<br />

ihre kranke Mutter versorgte, ihrem Vater in der Landwirtschaft half<br />

und so nebenher zu einer sehr hübschen, tüchtigen und lebensfrohen<br />

Bauerntochter heranwuchs. Im blühenden Alter von 20 Jahren verliebte<br />

sie sich in einen der wohlgeratenen Söhne einer angesehenen<br />

Familie, die in Kenzingen ebenfalls eine für damalige Verhältnisse<br />

große Landwirtschaft betrieb und in die meine Mutter einheiraten<br />

wollte und sollte.<br />

Wegen ihrer eigenen Altersversorgung hatten meine Großeltern zwar<br />

gehofft, dass meine Mutter sich einmal mit einen tüchtigen Bauernsohn<br />

vermählen würde, der bereit gewesen wäre, in ihre Landwirtschaft<br />

einzuheiraten. Da sie ihrem einstigen Nesthäkchen sein Glück<br />

jedoch gönnten, freuten auch sie sich sehr auf diese Hochzeit. Da<br />

weder die Brüder Xaver und Fritz noch die Schwester Frieda die elterliche<br />

Landwirtschaft übernehmen konnten oder wollten, erschloss<br />

23


sich aufgrund dieses Gangs der Dinge für die Familie Fehrenbach die<br />

zuvor nie in Erwägung gezogene Möglichkeit, Großvaters Anwesen<br />

samt Landwirtschaft zu übernehmen.<br />

1943 – Meine Großeltern mit den Fehrenbach-Kindern<br />

24


Selbstverständlich wurde auch Mutters Bräutigam zum Kriegsdienst<br />

einzogen, und so freute sich denn auch die Familie Fehrenbach sehr<br />

auf seinen Heiratsurlaub Großmutter und Großvater hatten in Anbetracht<br />

der bevorstehenden Hochzeit und des Auszugs meiner Mutter<br />

beschlossen, das Anwesen an die Fehrenbachs zu übergeben und sich<br />

auf das Altenteil zurückzuziehen.<br />

Dann traf, kurz nach Beginn des Unternehmens<br />

Barbarossa, die schlimme<br />

Nachricht ein, dass der Bräutigam meiner<br />

Mutter sein junges Leben für Führer,<br />

Volk und Vaterland in Russland<br />

hingegeben hatte. Selbstverständlich<br />

war auch in der Familie Fehrenbach die<br />

Trauer echt und die Wut auf den Führer<br />

groß, als diese Nachricht eintraf – nicht<br />

zuletzt, weil nunmehr aus dem geplanten<br />

Auszug meiner Mutter nichts wurde<br />

und meine Großeltern daraufhin beschlossen<br />

hatten, den geplanten Rück-<br />

Rosa Zipfel geb. Engler 1942<br />

zug auf das Altenteil zu verschieben, bis klar war, wie es mit meiner<br />

Mutter weitergehen würde. Ermöglicht hatte sich die Verschiebung,<br />

weil meinem Großvater ein junger polnischer Zwangsarbeiter namens<br />

Anton zugeteilt worden war, der sich als tüchtiger Landwirt erwiesen<br />

hatte, sodass die Aufrechterhaltung des landwirtschaftlichen<br />

Betriebs vorerst gesichert war.<br />

Nach der Trauerzeit verliebte meine Mutter sich im Herbst 1942 in<br />

meinen Vater Franz Zipfel, während er wegen einer Kriegsverletzung<br />

Genesungsurlaub hatte und seine Schwester Maria besuchte, die in<br />

der Nähe von Großvaters Anwesen wohnte. Zwar war mein Vater elf<br />

Jahre älter und hatte bereits eine Scheidung hinter sich, doch wurde<br />

dies von niemand als Makel empfunden. Er entstammte einer Bauernfamilie<br />

aus St. Peter im Schwarzwald und war von Beruf Küchenmeister.<br />

Er hatte als Feldwebel den Russlandfeldzug bei der Wehrmacht<br />

mitgemacht, war bis kurz vor Moskau gekommen und wollte<br />

25


nach dem Krieg ein Gasthaus übernehmen. Und da meine Mutter<br />

fraglos auch das Zeug zu einer guten Wirtin hatte, heirateten sie bei<br />

nächster Gelegenheit. Im September 1943 brachte sie ihr erstes Kind<br />

zur Welt, das auf den Namen Ilse Franziska getauft wurde. Für die<br />

Familie Fehrenbach bedeutete diese Heirat, dass sie sich abermals<br />

berechtigte Hoffnungen auf einen baldigen Auszug meiner Mutter<br />

und auf die Übernahme von Großvaters Anwesen spätestens nach<br />

dem Kriegsende machen konnte.<br />

Leider wurde mein Vater im Frühjahr<br />

1943 gegen seinen Willen von der<br />

Wehrmacht zur Waffen-SS versetzt.<br />

Wie meine Mutter stets behauptete,<br />

habe er diese Versetzung nur deshalb<br />

akzeptiert, weil er andernfalls befürchten<br />

musste, in ein Strafbataillon<br />

abkommandiert zu werden – was fast<br />

den sicheren Tod bedeutet hätte. Da<br />

auch Großvater für dieses Argument<br />

Verständnis hatte, blieb das gute Einvernehmen<br />

mit seinem Schwiegersohn<br />

von dieser Versetzung zunächst<br />

Franz Zipfel 1943<br />

unberührt – obwohl er ein entschiedener<br />

Verächter dieser kadavergehorsamen Truppe war.<br />

Als mein Vater im Februar 1945 Heimaturlaub hatte, versuchten<br />

mein Großvater und meine Mutter ihn zu überreden, sich bis zum<br />

Kriegsende zu verstecken. Da er sich leider trotz der schon längst offenkundigen<br />

Perversität des NS-Regimes noch immer an seinen Fahneneid<br />

gebunden fühlte und außerdem von seinen Kameraden nicht<br />

als Feigling angesehen werden wollte, lehnte er diesen Vorschlag jedoch<br />

rundweg ab, obwohl bereits ein sehr sicheres Versteck in den<br />

Vorbergen des Schwarzwalds eingerichtet war.<br />

Selbstverständlich fand meine Mutter es völlig unbegreiflich, dass<br />

meinem Vater der Fahneneid und die Meinung seiner Kameraden in<br />

der Waffen-SS wichtiger waren als alles andere. Und weil im Februar<br />

26


1945 der baldige Zusammenbruch des NS-Regimes definitiv absehbar<br />

war, fehlte auch meinem Großvater jegliches Verständnis für seine<br />

Rückkehr an die Ostfront. So kam es, dass dieses anfänglich so<br />

freudige Wiedersehen – dem ich meine Existenz zu verdanken habe –<br />

in einem bitteren Zerwürfnis zwischen meinen Eltern endete.<br />

Zwar hätte mein Vater aufgrund der damals geltenden Gesetze wegen<br />

Fahnenflucht standrechtlich verurteilt und gehängt werden können.<br />

Aber selbst in jenen schlimmen Zeiten hängte man keinen, es sei<br />

denn, man fing ihn zuvor. Um sein Überleben zu ermöglichen, hatte<br />

sich die Familie Fehrenbach deshalb erboten, meinen Vater in ihrem<br />

Erdbunker in den nahe gelegenen Vorbergen des Schwarzwaldes Unterschlupf<br />

zu gewähren.<br />

Für die geplante Übernahme eines Gasthauses hatte mein Vater nach<br />

Angaben meiner Mutter 65.000 Reichsmark angespart. Somit war<br />

also ziemlich sicher, dass sie nach Kriegsende aus dem elterlichen<br />

Anwesen ausziehen würde und die Familie Fehrenbach von der Brotstraße<br />

ins Balger umziehen könnte. Da es folglich auch den Interessen<br />

der Familie Fehrenbach völlig zuwider gelaufen wäre, meinen<br />

Vater zu verraten, hätte er sich in deren Erdbunker bis zum bevorstehenden<br />

Kriegsende also gewiss fast so sicher wie in Abrahams Schoß<br />

fühlen können. Doch leider bemühten sich auch die Fehrenbachs vergeblich,<br />

ihn zu dieser ehrenhaften Fahnenflucht zu bewegen.<br />

Am 19. April 1945, also nur wenige Wochen nach dem fatalen Zerwürfnis<br />

zwischen meinen Eltern, rückten die Franzosen in Kenzingen<br />

ein. Wie meine Mutter gelegentlich erzählte, wurde sie damals<br />

von Großvater angewiesen, aus Anlass dieses Ereignisses den Esstisch<br />

im Wohnzimmer üppig mit hausgemachter Wurst, Schinken,<br />

Butter, Bibilikäs und frischem Brot sowie mit Wein vom besten Fass<br />

und einer Flasche Kirschwasser zu decken. Wie erhofft, hätten sich<br />

die einquartierten Soldaten für diese schmackhafte Begrüßung damit<br />

revanchiert, dass sie fortan Haus und Hof beschützten. Wie wertvoll<br />

dieser Schutz war, lässt sich aus einem Brief des Kenzinger Bürgermeisters<br />

vom 5. Mai 1945 an den Landrat ermessen, in dem er ihn<br />

informierte, dass bei Tages- und Nachtzeit Plünderungen vorkamen<br />

27


und Frauen und Mädchen unter Androhung von Erschießung vergewaltigt<br />

wurden.<br />

Aufgrund der oben geschilderten Begebenheiten waren meine Eltern<br />

bereits bei der Rückreise meines Vaters an die Ostfront de facto geschiedene<br />

Leute. Irgendwann im März, also noch bevor er wissen<br />

konnte, dass meine Mutter mit mir schwanger ging, hatte Großvater<br />

in ihrer Abwesenheit sämtliche Fotos, Erinnerungsstücke und Unterlagen<br />

meines Vaters im Haus eingesammelt, um sie zu verbrennen.<br />

Als sie von ihren Besorgungen in der Stadt nach Hause kam, hatte er<br />

im Küchenherd bereits Feuer gemacht und war damit beschäftigt,<br />

diese Dinge nach und nach dem Feuer zu übergeben – und Mutter<br />

ließ ihn gewähren. Nur ein einziges Foto meines fraglos leider von<br />

der Propaganda des NS-Regimes und des damaligen Zeitgeistes betörten<br />

Vaters blieb von dieser Verbrennungsaktion verschont, weil<br />

Großvater es übersehen hatte.<br />

Dennoch war es ihm eine große Freude, als ich am 18. November –<br />

an einem Sonntagmorgen um 7 Uhr – zur Welt kam und mit über<br />

zehn Pfund ein wahrer Prachtkerl war, der einmal ein tüchtiger Bauer<br />

und vielleicht sogar einmal sein Nachfolger zu werden versprach. Als<br />

meine Mutter beim Melken der Kühe spürte, dass es soweit war, fuhr<br />

sie in aller Eile mit dem Fahrrad zum etwa 300 Meter entfernten<br />

Krankenhaus und schon zehn Minuten nach der Ankunft kam ich zur<br />

Welt. Weil meine Mutter Haus und Hof trotz der Schwangerschaft<br />

gut über den ersten Nachkriegssommer gebracht hatte, war in jenen<br />

Monaten Großvaters Entscheidung herangereift, ihr sein Anwesen zu<br />

vermachen.<br />

Wie bereits erwähnt, hatte sich der polnische Zwangsarbeiter Anton<br />

als tüchtiger Landwirt erwiesen. So kam es denn auch meiner Mutter<br />

und meinem Großvater sehr gelegen, dass Anton nach seiner Befreiung<br />

durch die Franzosen am 19. April 1945 noch bleiben wollte, bis<br />

das kriegsbedingte Chaos in seiner polnischen Heimat vorüber war.<br />

Zwar wusste meine Mutter noch nichts vom Tod meines Vaters, doch<br />

weil ihm sein schon längst obsoleter Fahneneid und die Meinung seiner<br />

SS-Kameraden wichtiger waren als alles andere, fehlte nur noch<br />

28


die Durchführung des Scheidungsverfahrens, um das Ende dieser<br />

kurzen Kriegsehe auf dem Rechtsweg besiegeln zu lassen – falls er<br />

nicht gefallen sein sollte. Vor diesem Hintergrund funkte es nach<br />

dem Untergang des Dritten Reiches irgendwann zwischen Mutter<br />

und Anton, der nicht nur ein tüchtiger Landwirt war, sondern auch<br />

ein gut aussehender junger Mann. Inmitten einer zutiefst zerrütteten<br />

Welt aus Trümmern, Hader, Not und Heuchelei nahm eine hoffnungsvolle<br />

Romanze ihren Lauf.<br />

Da aufgrund dieses Gangs der Dinge sowohl die Fortführung des<br />

landwirtschaftlichen Betriebs als auch die Existenzgrundlage meiner<br />

Mutter gesichert zu sein schienen und mein Großvater zwar ein guter,<br />

aber kein weltfremder Katholik war, begrüßte er denn auch<br />

prompt ihre Absicht zu heiraten, als sie ihm ihre Romanze offenbarten.<br />

So passierte es, dass meine Mutter schon bald nach meiner Geburt<br />

wieder schwanger wurde und im Oktober 1946 ein Mädchen zur<br />

Welt brachte, das den Namen Marlies erhielt. Anton kümmerte sich<br />

um die Landwirtschaft und sie um den Haushalt, ihre drei kleinen<br />

Kinder und den inzwischen schon ziemlich gebrechlichen Großvater.<br />

Das Einzige, was der jungen Familie in der damals herrschenden Not<br />

zu ihrem Glück noch fehlte, war die Legalisierung ihrer Partnerschaft<br />

durch eine Heiratsurkunde. Weil nach dem Untergang des NS-Regimes<br />

Ehen zwischen Deutschen und Polen staatlicherseits nicht mehr<br />

verboten waren, konnten sie jedoch getrost davon ausgehen, dass<br />

dieser Legalisierung nichts mehr im Wege stehen würde, sobald meine<br />

Mutter entweder geschieden oder verwitwet war.<br />

Selbstverständlich erregte diese deutsch-polnische Liaison dennoch<br />

die Gemüter der örtlichen Sittenwächter. Weil es unter den gegebenen<br />

Umständen nach Großvaters Meinung jedoch keinesfalls eine<br />

Sünde oder Schande war, dass diese beiden lebenstüchtigen jungen<br />

Leute in einer sogenannten „wilden Ehe“ zusammenlebten, missbilligte<br />

er denn auch sehr das üble Getuschel und Geschwätz im Städtchen,<br />

als Mutter wieder schwanger geworden war. Um klarzustellen,<br />

dass diese Partnerschaft seinen väterlichen Segen hatte, beließ er es<br />

folglich demonstrativ bei der Entscheidung, dass meine Mutter ein-<br />

29


mal das elterliche Anwesen erben sollte. Da sie ihm seit 1936 in der<br />

Landwirtschaft geholfen, den Haushalt geführt und acht Jahre lang<br />

ihre 1944 verstorbene Mutter versorgt hatte, waren auch die Geschwister<br />

mit dieser Entscheidung Großvaters ohne jedes Wenn und<br />

Aber einverstanden – bis auf Elsa, die ja schon seit 1941 auf den<br />

Auszug meiner Mutter wartete, um endlich ihren sehr armseligen<br />

Verhältnissen in der Brotstraße entkommen zu können.<br />

Im Frühjahr 1947, wenige Wochen bevor Großvater starb, kam es<br />

dann zu jener fatalen Intrige, in deren Folge er seinen letzten Willen<br />

zugunsten seiner Tochter Elsa änderte und meiner Mutter vorgeschlagen<br />

wurde, einen Leiterwagen mit Hausrat und Lebensmitteln<br />

zu beladen, ihn mit zwei Kühen ihrer Wahl zu bespannen und sich<br />

zusammen mit Anton und ihren drei kleinen Kindern auf den Weg<br />

nach Polen zu begeben. Weil meine Mutter es ablehnte, sich auf diesen<br />

abwegigen Vorschlag einzulassen, und Anton sich wegen dieser<br />

Intrige zutiefst beleidigt fühlte und auf Nimmerwiedersehen verschwunden<br />

war, „durfte“ sie daraufhin mit uns Kindern in das schon<br />

damals dringend sanierungsbedürftige Haus der Familie Fehrenbach<br />

in der Brotstraße einziehen, damit diese Großvaters Anwesen übernehmen<br />

konnte.<br />

Konkreter Anlass zu dieser Intrige war die instinktive Entscheidung<br />

meiner Mutter, sich zunächst um ihre drei kleinen Kinder zu kümmern,<br />

bevor sie – an einem Sonntagmorgen – dem inzwischen schon<br />

altersschwachen Großvater das Frühstück ans Bett brachte. Als die<br />

Fehrenbachs an diesem Sonntag nach dem üblichen Gang zur Frühmesse<br />

so um viertel nach 9 zu ihrem sonntäglichen Routinebesuch<br />

im Balger eintrafen, um sich nach Großvaters Befinden zu erkundigen,<br />

reklamierte dieser, noch immer kein Frühstück bekommen zu<br />

haben. Aufgrund dieser zwar bedauerlichen, aber wahrscheinlich<br />

durch uns Kinder bedingten Verspätung redeten die Fehrenbachs dem<br />

schon fast völlig erblindeten Großvater nun ein, meine Mutter und<br />

Anton hätten sich wohl zu lange im Bett vergnügt – obwohl sie ja offensichtlich<br />

alle Hände voll damit hatte, uns Kinder zu versorgen.<br />

Die dreijährige Ilse konnte ihr Breichen zwar schon selbst löffeln,<br />

30


aber Marlies und ich machten noch in die Windeln und mussten noch<br />

gefüttert beziehungsweise gestillt werden. Und als ob sie auf eine<br />

günstige Gelegenheit zum Intrigieren gelauert hätten, tadelten die<br />

Fehrenbachs den altersschwachen Mann nunmehr vehement für seine<br />

Entscheidung, das Anwesen meiner Mutter zu vermachen. Sie beklagten<br />

das angeblich berechtigte Gespött der Leute wegen der „polnischen<br />

Wirtschaft“, die inzwischen auf seinem schönen Anwesen<br />

Einzug gehalten hätte, und versprachen ihm wohl auch eine optimale<br />

Versorgung und Bedienung, falls er ein Testament zugunsten von<br />

Elsa machen würde.<br />

Trotz der offenkundig an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfe<br />

wurde meine Mutter aufgrund der resultierenden Änderung des letzten<br />

Willens meines Großvaters im Städtchen nun erst recht verunglimpft.<br />

Der katholische Stadtpfarrer verstieg sich sogar dazu, die für<br />

sie so bitteren Folgen dieser Erbschaftsintrige als gerechte Strafe<br />

Gottes für ihren vermeintlich sündigen Lebenswandel zu interpretieren<br />

– wohl vor allem, weil sie sich standhaft weigerte, die reuige<br />

Sünderin zu mimen. Ihren gesetzlichen Erbanspruch bekam meine<br />

Mutter noch in Reichsmark ausbezahlt. Dann kam die Währungsreform,<br />

sodass ihr praktisch nichts mehr blieb. Weil mein Vater in der<br />

Waffen-SS gewesen war, wurden dessen Ersparnisse bei der Einführung<br />

der D-Mark nicht zum üblichen Kurs von 1:10 umgetauscht,<br />

sondern verfielen ersatzlos. Dank des Zuspruchs ihrer übrigen drei<br />

Geschwister schaffte sie es aber trotz der extrem schwierigen Zeiten,<br />

uns Kinder heil durchzubringen.<br />

Da meine Mutter bis zur Währungsreform keine Miete zahlen musste<br />

und sich von ihrer Schwester Elsa auf allerübelste Weise ausgetrickst<br />

fühlte, weigerte sie sich, die nach der Währungsreform verlangte<br />

Miete in Höhe von 20 Mark im Monat zu zahlen. Im Oktober 1949<br />

erhielt sie dann endlich Bescheid, dass mein Vater Anfang April 1945<br />

in Schlesien gefallen und in Niedermehlteuer bei Oppeln beerdigt<br />

worden war. Auf Vermittlung ihrer Schwester Frieda und ihrer Tante<br />

Liesel, einer Cousine Großvaters, die als Hauswirtschaftslehrerin in<br />

der Nachbargemeinde Herbolzheim tätig war, lernte sie danach einen<br />

31


Mann namens Erich Mench aus der Nachbargemeinde Malterdingen<br />

kennen, der von Beruf Zimmermann war. Dieser wollte meine Mutter<br />

allerdings nur dann heiraten, falls sie das „Polenkind“ zur Adoption<br />

freigäbe.<br />

In sicherlich berechtigter Sorge um das Wohl von uns drei Kindern<br />

begaben sich die beiden Vermittlerinnen daraufhin auf die Suche<br />

nach Adoptiveltern. Als sie fündig geworden waren, redeten sie meiner<br />

Mutter gut zu, die kleine Marlies zur Adoption freizugeben, weil<br />

dem Kind dadurch mit Sicherheit ein weitaus besserer Start ins Leben<br />

beschieden sein würde als in den extrem prekären Verhältnissen,<br />

in denen wir lebten. Und weil Anton nie mehr etwas von sich hatte<br />

hören lassen, gab Mutter Marlies folglich notgedrungen und sicherlich<br />

auch schweren Herzens zur Adoption frei.<br />

Irgendwann im Sommer 1950 chauffierte Tante Erika meine Mutter,<br />

Marlies und mich in ihrem Opel P4 nach Freiburg. Es war die erste<br />

Autofahrt, an die ich mich erinnern kann. Tante Erika war eine<br />

Schulfreundin meiner Mutter. In Freiburg gingen wir zu viert in eine<br />

große Stadtvilla und wurden in ein Zimmer geführt, das mit einem<br />

Schreibtisch, einem Aktenregal, einem Sofa und einem Sideboard<br />

möbliert war, auf dem mindestens zehn Puppen und Teddybären zum<br />

Spielen einluden. Während Marlies und ich damit auf dem Sofa spielen<br />

durften, erledigten Mutter und Tante Erika die Formalitäten.<br />

Dann nahm die sehr freundliche Dame, die die Formalitäten abgewickelt<br />

hatte, die kleine Marlies an die Hand, um ihr im angrenzenden<br />

Zimmer noch mehr Spielsachen zu zeigen. Diese ging – nichts Böses<br />

ahnend – freudig mit. Da ich auch diese Spielsachen sehen wollte,<br />

musste ich von meiner Mutter zurückgehalten werden. Nachdem die<br />

freundliche Dame die Tür hinter sich zugezogen hatte, verließen wir<br />

zu dritt die große Villa. Wie mir beigebracht wurde, warum Marlies<br />

dort blieb, und ob auf der Rückfahrt Tränen flossen, weiß ich nicht<br />

mehr.<br />

Dass diese schmerzliche Begebenheit von den örtlichen Sittenwächtern<br />

mit zusätzlicher Häme quittiert wurde, versteht sich von selbst.<br />

Doch es sollte noch viel schlimmer kommen: Schon bald nach dieser<br />

32


Fahrt nach Freiburg gab es heftigen Streit zwischen Erich Mench und<br />

meiner Mutter. Ich war inzwischen bald fünf Jahre alt und bekam<br />

zwar den Krach, aber nicht dessen Ursache mit. Nachdem sie Erich<br />

aus unserer Wohnung verwiesen hatte, brach meine Mutter in meiner<br />

Gegenwart zusammen und schluchzte ohne Unterlass. Es dauerte einige<br />

Tage, bis sie sich wieder erholt hatte. Meine schon siebenjährige<br />

Schwester Ilse und ich wurden solange von Tante Anna versorgt.<br />

Dass unsere Mutter damals hochschwanger war, hatte ich gar nicht<br />

mitbekommen. Ende Oktober 1950 durften Ilse und ich in „Ferien“<br />

nach Köndringen zu Tante Frieda, und als wir nach drei, vier Wochen<br />

wieder nach Hause gebracht wurden, stand ein Stubenwagen in der<br />

Wohnstube und wir durften die kleine Elisabeth bewundern, die im<br />

Freiburger Loretto-Krankenhaus das Licht der Welt erblickt hatte.<br />

Um meiner Mutter eine Wiederholung der schlechten Erfahrungen zu<br />

ersparen, die sie bei der Geburt von Marlies auf der Entbindungsstation<br />

des kleinen Krankenhauses in Kenzingen machen musste, hatten<br />

Tante Liesel und Tante Frieda dafür gesorgt, dass sie in der Großstadt<br />

entbinden konnte.<br />

Als Erich Mench dann seine Vaterschaft bestritt, um keine Alimente<br />

zahlen zu müssen, und die Familie Fehrenbach sich obendrein noch<br />

anschickte, uns wegen der Mietschulden per Zwangsräumung ins Barackenlager<br />

von Kenzingen im „Alten Grün“ – zu den sogenannten<br />

Asozialen – abschieben zu lassen, wurde ihr alles zu viel, sodass sie<br />

sich das Leben nehmen wollte. Irgendwie ging es dann aber doch<br />

weiter. Als Bub wollte ich öfters von meiner Mutter wissen, warum<br />

sie den Erich damals rausgeschmissen hat und jedes Mal sagte sie<br />

darauf nur: „Das verstehst du noch nicht. Wenn du mal groß bist,<br />

sage ich es dir.“ Als ich groß war, hatte die Zeit die Wunden zwar einigermaßen<br />

geheilt, aber dennoch hielt ich es für besser, sie nie an<br />

dieses Versprechen zu erinnern.<br />

Einige Monate nach der Geburt von Elisabeth bahnte sich dann die<br />

Beziehung mit ihrem späteren Lebensgefährten an, dem damals 47-<br />

jährigen Karl Kaiser. Er wohnte schräg gegenüber von uns, lebte als<br />

Single, befasste sich mit Astrologie und aß fortan jeden Tag bei uns<br />

33


zu Mittag. Ilse und ich sprachen ihn, solange er lebte, mit „Herr Kaiser“<br />

an. Elisabeth glaubte als Kind, er sei ihr Vater und nannte ihn<br />

„Papa“. Da ihm der Hergang der Erbschaftsintrige bekannt war und<br />

er die Sache mit der Adoption und Elisabeths Vater aus nächster<br />

Nachbarschaft mitbekommen hatte, wusste er also sehr genau, wie<br />

meine Mutter in dieses fürchterliche Schlamassel geraten war. Seine<br />

erste Großtat war, dass er Josef Fehrenbach, den er von Jugend an<br />

kannte, zum Verzicht auf unsere Abschiebung ins „Alte Grün“ überredete<br />

und die rückständige Miete in Höhe von inzwischen 660 Mark<br />

mit einem Stückchen Wald beglich, das er von seinen Eltern geerbt<br />

hatte. Von da an ging es uns zwar etwas besser, aber nur marginal.<br />

Dank Herrn Kaisers Hilfe gewann meine Mutter nach fünf langen<br />

Jahren endlich auch den Prozess gegen Erich Mench um die Alimente<br />

für Elisabeth. Dass Marlies bei sehr guten Adoptiveltern lebte, hatte<br />

ich beiläufig mitbekommen.<br />

Die Eltern von Herrn Kaiser hatten zwar<br />

eine gutgehende Bäckerei, aber weil er ein<br />

ausgezeichneter Schüler war, beharrte seine<br />

Mutter einst darauf, dass er einen akademischen<br />

Beruf ergreifen sollte – obwohl<br />

er das einzige Kind war und lieber auch<br />

Bäcker geworden wäre. So studierte er in<br />

Freiburg, Heidelberg und Jena an diversen<br />

geistes- und naturwissenschaftlichen Fakultäten,<br />

ohne es zu einem Abschluss zu<br />

bringen. Nachdem seine Mutter gestorben<br />

Karl Kaiser 1951 war, beendete Herr Kaiser nach 22 Semestern<br />

sein Studentenleben, ging bei seinem Vater in die Lehre und legte<br />

nach einigen Gesellenjahren die Meisterprüfung im Bäckerhandwerk<br />

ab. Den Krieg hatte er als Obergefreiter bei der Wehrmacht verbracht.<br />

Im Kessel von Demjansk wurde er, als er seinen Kopf über<br />

den Rand des Schützengrabens hob, von der Kugel eines russischen<br />

Scharfschützen in die Stirn getroffen (auf dem Foto retuschiert). Da<br />

es ein glatter Durchschuss war, die Kugel etwa in der Mitte der Schä-<br />

34


deldecke wieder ausgetreten war und keine weiteren Schäden verursachte,<br />

wurde er nach einigen Wochen als geheilt aus dem Lazarett<br />

entlassen und an die Westfront verlegt. Dort überlebte er in der Normandie<br />

an vorderster Front die große Invasion. Gegen Ende des<br />

Krieges geriet er in amerikanische Gefangenschaft und wurde von<br />

Bad Kreuznach in ein Gefangenenlager in den Südstaaten der USA<br />

verlegt. Als er 1947 wieder zurück in die Heimat kam, war der väterliche<br />

Betrieb geschlossen, weil sein Vater 1946 gestorben war. Nachdem<br />

er die Bäckerei wieder aufgemacht hatte, bekam er 1948 eine<br />

schwere Mehlallergie. Aus diesem Grund verkaufte er das komplette<br />

elterliche Anwesen gegen eine kleine Leibrente in Naturalien und das<br />

Wohnrecht in drei Zimmern an seinen Cousin Kurt Kaiser, der ebenfalls<br />

Bäckermeister war. Dieser erkrankte nach einigen Jahren leider<br />

ebenfalls an einer Mehlallergie und verkaufte schließlich das Ganze<br />

an den Bäckermeister Hermann Maier.<br />

Da Herr Kaiser in Jena Astronomie studiert hatte, war er nach dem<br />

krankheitsbedingten Verkauf der Bäckerei auf die Idee gekommen,<br />

sich ernsthaft mit Astrologie zu befassen. Bis Ende der 50er Jahre<br />

hoffte er, durch die Erstellung von Horoskopen ein zusätzliches Einkommen<br />

erzielen zu können. Dies war ihm jedoch im Gegensatz zu<br />

manch anderen Astrologen und Wahrsagern leider nicht vergönnt.<br />

Und hätte meine gute Mutter ihn nach seinem schweren Schlaganfall<br />

von 1963 nicht in unserer Wohnung aufgenommen, wäre er fortan<br />

fraglos auf Sozialhilfe angewiesen gewesen. Da er an uns Kindern<br />

miterleben konnte, dass seine Hilfe sehr viel Gutes bewirkt hatte,<br />

verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens jedoch im offenkundig<br />

guten Gefühl, das Bestmögliche aus seinem Leben gemacht zu haben<br />

– obwohl es ihn sicherlich manchmal schmerzte, dass er nach dem<br />

Krieg völlig verarmte.<br />

Wie es dazu kam, dass Onkel Fritz, der Bruder meiner Mutter, mit<br />

seiner Familie ebenfalls in Fehrenbachs Haus einzog, kann ich nicht<br />

sagen. Ich weiß nur, dass auch er in unversöhnlichem Streit mit den<br />

Fehrenbachs lebte, während zwischen unseren Familien stets ein<br />

herzliches Einvernehmen herrschte. Die besten Spielkameraden mei-<br />

35


ner Kindheit waren mein 1944 geborener Cousin Walter und sein<br />

1947 geborener Bruder Günther. Im Winter gingen wir gemeinsam<br />

Schlittenfahren und im Sommer badeten wir in der Elz – einem damals<br />

noch stark verschmutzten Gewässer, das wenige Kilometer weiter<br />

in den Rhein mündet. Obwohl es sich nicht vermeiden ließ, dass<br />

wir beim Baden so manchen großen Schluck von dieser trüben Brühe<br />

verdauen mussten, schadete das unserer Gesundheit erstaunlicherweise<br />

nicht – wohl weil wir eh in ziemlich unsterilen Verhältnissen<br />

heranwuchsen.<br />

Auf ihrem Weg zum Gottesdienst besuchte uns am ersten Weihnachtstag<br />

1950, so um viertel vor zwei nachmittags, das Fräulein<br />

Elsa Rösch, eine ehemalige Klassenkameradin meiner Mutter, die als<br />

Vorsitzende der katholischen Jungfrauenkongregation von Kenzingen<br />

fungierte, um uns ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen. Ilse und<br />

ich spielten gerade Fang-den-Hut, das uns vom Christkind gebracht<br />

worden war. Nachdem sie kurz unseren Christbaum und die kleine<br />

Elisabeth im Stubenwagen bewundert hatte, erklärte Fräulein Rösch<br />

meiner Mutter, dass sie bei den Mitgliedern der Kongregation Geld<br />

gesammelt hatte, um ihr zu Weihnachten eine kleine Freude bereiten<br />

zu können. Dann öffnete sie ihr Magnifikat, entnahm ihm einen<br />

Zwanzigmarkschein und wollte ihn meiner Mutter im Auftrag der<br />

Jungfrauenkongregation als Weihnachtsgeschenk überreichen. Zwar<br />

freute sich Mutter sehr über diesen Besuch, aber zu meiner großen<br />

Verwunderung weigerte sie sich, den Geldschein anzunehmen. Als<br />

Begründung gab sie an, dass einige Mitglieder der Kongregation sehr<br />

schlecht über sie geredet hätten und dass sie sich – aller Not zum<br />

Trotz – von solchen Leuten nicht beschenken ließe. Total beschämt<br />

legte Elsa Rösch den Zwanzigmarkschein daraufhin wieder ins Magnifikat<br />

und verabschiedete sich umgehend mit einem schamroten<br />

Gesicht. Auf meine Frage, warum sie das Geld nicht trotzdem genommen<br />

hätte, sagte meine Mutter wiederum, dass ich das noch<br />

nicht verstehen könne. Erstaunlicherweise hat sie uns Kinder dennoch<br />

gut katholisch erzogen und uns auch regelmäßig zu den Gottes-<br />

36


diensten geschickt – während sie selbst nie zur Kirche ging, weil unser<br />

Stadtpfarrer sie für eine uneinsichtige Sünderin hielt.<br />

von links: Mutter, Tante Marie, Ilse, Georg, vorn: Elisabeth<br />

Die erste erzieherische Maßnahme, die mir meine Mutter einst auf<br />

unvergessliche Weise angedeihen ließ, ereignete sich, als ich noch<br />

die Kinderschule besuchte: Nachdem ich zum wiederholten Male<br />

heulend nach Hause gekommen war, weil der Beck Schorsch mich<br />

mal wieder verhauen hatte, wurde ich zu meiner bösen Überraschung<br />

37


nicht wie sonst bedauert und getröstet, sondern bekam den Hosenboden<br />

versohlt, weil ich mir dies gefallen ließ. Aufgrund der damit verbundenen<br />

Aufforderung, mich gegen diesen kleinen Raufbold, der etwas<br />

älter und kräftiger war als ich, künftig ordentlich zu wehren,<br />

stellte ich mich schon am folgenden Tag auf dem Heimweg aus der<br />

Kinderschule dem Streit mit Schorsch. Ich setzte mich dermaßen ordentlich<br />

zur Wehr, dass anschließend er heulend davon lief, während<br />

ich nach Hause rannte und meiner Mutter voller Stolz von meinem<br />

Sieg berichtete. Zum Beweis zeigte ich ihr die Haarbüschel, die ich<br />

Schorsch im Eifer des Gefechtes ausgerissen hatte und noch in meinen<br />

beiden Fäustchen hielt. Sichtlich angetan vom durchschlagenden<br />

Erfolg ihrer erzieherischen Maßnahme, strich sie mir lobend über das<br />

Haar und sagte: „Das hast du aber gut gemacht.“ Von da an kam es<br />

nie wieder zum Streit zwischen Schorsch und mir. Später wurden wir<br />

sogar ziemlich gute Kumpels.<br />

Zu Weihnachten 1951 brachte das Christkind meiner Schwester Ilse<br />

eine C-Blockflöte mit einer Spielanleitung und einem Notenbuch mit<br />

etwa dreißig Volksliedern. Da ich diese Flöte schon kurz nach der<br />

Bescherung in Beschlag genommen hatte, bekam Ilse wenige Tage<br />

später eine Altflöte, die für mich tabu war. Die ersten Lieder, die ich<br />

mit großem Eifer übte, hießen „Maikäfer, flieg!“ und „Hänschen<br />

klein zog allein in die weite Welt hinein“. Nach wenigen Wochen<br />

meisterte ich schon Stille Nacht, Kein schöner Land und Wem Gott<br />

will rechte Gunst erweisen. Und weil mir das Flötespielen sehr viel<br />

Spaß machte, konnte ich ein Jahr später praktisch alle gängigen deutschen<br />

Volks- und Weihnachtslieder auswendig.<br />

Von Tante Frieda, meiner Patin, bekam ich zu Ostern 1952 einen<br />

Trittroller aus Holz mit Hartgummibereifung geschenkt. Zwar wäre<br />

mir einer der schon damals üblichen Roller aus Stahl mit Luftbereifung<br />

lieber gewesen, aber immerhin war ich nun mobil. Und da ich<br />

den Weg nach Köndringen kannte, wollte ich Tante Frieda zusammen<br />

mit meinem knapp fünfjährigen Cousin Günther am folgenden Christi<br />

Himmelfahrtstag besuchen. Selbstverständlich mussten wir dieses<br />

Vorhaben geheim halten. Nachdem wir am frühen Nachmittag auf<br />

38


der Bundesstraße 3 bereits die ersten zwei der acht Kilometer per<br />

Trittroller geschafft hatten, setzte ein schweres Gewitter ein, sodass<br />

wir bei der Ortschaft Hecklingen unterstehen mussten. Dort wurden<br />

wir glücklicherweise von meiner anderen Tante Anna, Onkel Xavers<br />

Frau, aufgegriffen, die zufälligerweise mit drei ihrer sechs Kinder per<br />

Fahrrad auf dem Weg von der Neumühle nach Kenzingen war. Nachdem<br />

sie uns zuhause abgeliefert hatte, war die Freude über den<br />

glimpflichen Ausgang unseres Vorhabens zwar groß. Allerdings bekam<br />

ich dennoch von Mutter spontan den Hosenboden versohlt –<br />

wohl um mich von künftigen Eskapaden dieser Art abzuhalten.<br />

Onkel Fritz und Tante Anna betrieben bis Mitte der 50er Jahre eine<br />

kleine Nebenerwerbslandwirtschaft, hielten eine Kuh und zwei Ziegen,<br />

zogen jedes Jahr ein Kalb und zwei Ferkel groß. Ein paar Hühner<br />

und einen Gockel gab es auch, die mit Vorliebe auf dem Misthaufen<br />

scharrten, der in etwa fünf Meter Entfernung vor unserem Küchenfenster<br />

lag. Dazwischen war die Jauchegrube. Um im Sommer<br />

der Fliegenplage in unserer Küche Herr zu werden, mussten alle<br />

zwei, drei Tage mehrere neue „Mugge-Bändel“ aufgehängt werden.<br />

Damit die Mäuse und Ratten nicht überhand nahmen, wurden zwei<br />

Katzen gehalten. Wenn sie Junge bekamen, wurde ihnen nur eines<br />

oder zwei belassen. Die andern wurden getötet, um keine Katzenplage<br />

aufkommen zu lassen. Da es noch viele Bauern gab, die mit<br />

Kuh-, Ochsen- oder Pferdegespannen fuhren, musste ich regelmäßig<br />

die Kuhfladen und Pferdeäpfel auf den Straßen für unseren Garten<br />

am Stadtrand einsammeln und wurde dafür mit so mancher Extraportion<br />

Erdbeeren, Himbeeren oder Stachelbeeren belohnt.<br />

Im November wurde eines der beiden inzwischen zu schlachtreifen<br />

Schweinen herangewachsenen Ferkel verkauft. Dann kam Ernst<br />

Frischauf, ein Hausmetzger, betäubte das andere Schwein mit einem<br />

Bolzenschussapparat, schlachtete es, bereitete den Schwarz- und den<br />

Leberwurstteig zu, füllte sie in Därme und Dosen, legte den Speck<br />

und die Schinken in eine Salz- und Gewürzlake ein – und wir Kinder<br />

durften bei allem zuschauen und helfen. Die Würste wurden im Hof<br />

in einem holzbefeuerten Waschkessel zusammen mit einigen Stücken<br />

39


Kesselfleisch gegart, das ich noch heute als eine der besten Delikatessen<br />

meiner Kindheit in Erinnerung habe – obwohl meine Mutter<br />

eigentlich eine sehr gute Köchin war.<br />

Die Küche und Wohnstube im Erdgeschoss sowie eine Schlafkammer<br />

im Obergeschoss wurden von uns bewohnt. Onkel Fritz und die<br />

Seinen bewohnten die übrigen Räume des Obergeschosses. Fließendes<br />

Wasser gab es nur in den beiden Küchen. An Samstagnachmittagen<br />

wurde auf dem holzbefeuerten Herd in mehreren großen Töpfen<br />

heißes Wasser gemacht, ein Blechzuber in die Küche gestellt und<br />

gebadet. Insgesamt waren wir zu Anfang der 50er Jahre acht Kinder<br />

im Alter bis zu 14 Jahren, die in diesem bereits völlig maroden Haus<br />

heranwuchsen. Zwar lebten wir in sehr armseligen Verhältnissen,<br />

doch weil wir keinen Hunger leiden mussten und es viele Kinder im<br />

Städtchen gab, denen es auch nicht besser ging, hatte dennoch keines<br />

von uns das Gefühl, dass wir zu bedauern wären. Bei schönem Wetter<br />

wurde auf der Straße mit anderen Kindern gekickt, gehinkelt oder<br />

durch die Stadt gestrolcht. Abends oder wenn es regnete, verwandelten<br />

sich unsere Wohnstuben oftmals in reinste Spielhöllen. Die einen<br />

spielten Mensch-ärgere-dich-nicht, Mühle oder Dame, die anderen<br />

Monopoly, Fang-den-Hut, Mikado, Quartett, 66 oder Mau-Mau. Weil<br />

Onkel Fritz ziemlich oft ins Wirtshaus ging, um seiner Leidenschaft,<br />

dem Kartenspiel Cego, zu frönen, hielt Tante Anna ihn eines Tages<br />

dazu an, es uns Buben beizubringen, damit er daheim bleiben konnte.<br />

So wurde auch ich im Alter von elf oder zwölf Jahren ein passionierter<br />

Cego-Spieler. Herr Kaiser brachte mir das Schachspielen bei; ich<br />

brachte es meinem Cousin Walter bei, und hin und wieder ließ dieser<br />

mich sogar mit seinem Märklin-Baukasten spielen.<br />

Im Alter von etwa acht Jahren las ich das erste Buch meines Lebens.<br />

Es hieß Das hölzerne Bengele – eine Übersetzung des berühmten<br />

Kinderbuches Pinocchio. Wegen einer Blinddarmoperation lag ich<br />

damals im Krankenhaus von Kenzingen. Danach beschränkte sich<br />

mein Lesen zunächst wieder auf die Märchen der Gebrüder Grimm,<br />

Wilhelm Hauffs Märchensammlung, Die schönsten Märchen aus<br />

tausendundeiner Nacht und auf ein katholisches Kinderbuch mit den<br />

40


interessantesten Geschichten aus dem Alten und dem Neuen Testament.<br />

So mit zwölf Jahren wurde Walter zur Leseratte und ging jeden<br />

Samstag ins Pfarrhaus, wo man vom Borromäus-Verein für zehn<br />

Pfennig pro Woche ein Buch leihen konnte. Eines Tages hatte er den<br />

Roman Die Schatzinsel von Stevenson geliehen und war so begeistert<br />

davon, dass auch ich anschließend diesen Klassiker der Weltliteratur<br />

las. So fing ich mit dem Lesen von Romanen an – von Mark<br />

Twain über Erich Kästner bis zu Karl Mai, von dem ich alle 55 Bände<br />

verschlang, die in Kenzingen aufzutreiben waren. Von Herr Kaiser<br />

bekam ich zwei dicke Jahrbücher der Knaben-Zeitung Der gute Kamerad<br />

geschenkt, mit denen er 1916 und 1917 als bester Schüler seines<br />

Jahrgangs an der Kenzinger Realschule ausgezeichnet worden<br />

war. Da diese Jahrbücher der Verherrlichung der deutschen Tüchtigkeit<br />

zu Zeiten Kaiser Wilhelms dienten, wunderte ich mich natürlich<br />

sehr, warum wir den Ersten Weltkrieg trotzdem verloren hatten. Außerdem<br />

schenkte er mir noch Carl Hagenbecks Von Tieren und Menschen,<br />

Brehms Thierleben aus dem Jahr 1868, Gustav Schwabs<br />

Schönste Sagen des klassischen Altertums, Eichendorffs Aus dem Leben<br />

eines Taugenichts und seine mit Brennspiritus befeuerte Spielzeug-Dampfmaschine<br />

aus dem Jahr 1914, die noch wie neu war.<br />

Hin und wieder durfte ich Herrn Kaiser auf einer seiner ausgedehnten<br />

Wanderungen in der Region begleiten, die unter anderem zur<br />

Burgruine Lichteneck bei Hecklingen, auf den Michelsberg bei Riegel<br />

und zur Kirnburg im Bleichtal führten. Auf einer dieser Wanderungen<br />

erklärte er mir am Beispiel der jüdischen Viehhändler, wie<br />

der so verpönte jüdische Kleinkapitalismus in unserer Region einst<br />

funktionierte: Die Händler hätten den meist sehr armen und kinderreichen<br />

Kleinbauern angeboten, ihnen eine Kuh zu überlassen, die einerseits<br />

genügend Milch für die Kinder gab und andererseits als Zugtier<br />

für den Pflug und den Wagen eingesetzt werden konnte. Als Entgelt<br />

für die Kuh sollen sie lediglich ihr jährliches Kalb gefordert haben.<br />

Und wenn sie das schlachtreife Alter erreicht hatte, hätten sie<br />

die Händler zurückgenommen und durch eine junge ersetzt. Weil vie-<br />

41


le Kleinbauern sich auf dieses Geschäft eingelassen hätten, hätte ein<br />

tüchtiger Viehhändler somit jedes Jahr über 50 Kälber „ernten“ können,<br />

während die einzelnen Bauern über die Arbeitskraft und die<br />

Milch der Kuh verfügen und somit das reichlich vorhandene Grünfutter<br />

optimal verwerten konnten. Selbstverständlich hätten nur jene<br />

Bauern kostenlos eine junge Ersatzkuh bekommen, deren alte nicht<br />

vorzeitig abgewirtschaftet war, sodass die meisten schon aus eigenem<br />

Interesse sehr pfleglich mit der ihnen überlassenen Kuh umgingen.<br />

Es war also ein System, von dem letztlich alle profitierten. Dank<br />

dieses trefflichen Beispiels hielt ich den Kapitalismus folglich schon<br />

als Bub für ein optimales Wirtschaftssystem. Außerdem fehlte mir<br />

fortan jegliches Verständnis für den Hass, der sich in Deutschland<br />

gegen die Juden ausgebreitet hatte.<br />

Im Verlauf des Sommers 1955 oder 1956 war ich stolzer Eigentümer<br />

von etwa 200 Glaskugeln geworden, die ich nach und nach beim<br />

Murmelspielen gewonnen hatte und die im Spielwarengeschäft Ringwald<br />

für 3, 5 oder 10 Pfennige je Stück verkauft wurden. Dann kamen<br />

Stahlkugeln in Mode, die aus großen Kugellagern stammten und<br />

je Stück etwa 20 mal höher als Glaskugeln bewertet wurden. Natürlich<br />

wollte ich auch welche haben. So kam es, dass ich eines schönen<br />

Tages mit Kronenwirts Eugen, der etwa ein Jahr älter war als ich, um<br />

5 große Stahlkugeln spielte und diesem Umrechnungsfaktor zufolge<br />

50 große und 100 mittlere Glaskugeln einsetzen musste, weil Eugen<br />

nicht um weniger spielen wollte.<br />

Gemäß der Spielregel hatte derjenige gewonnen, der die letzte Kugel<br />

einlochte. Da normalerweise höchstens um 20 große Glaskugeln gespielt<br />

wurde, schauten uns mindestens 10 Kinder zu. Statt fand dieses<br />

außergewöhnliche Spiel auf dem Kirchplatz hinter dem Rathaus. Als<br />

vielleicht noch 10 Kugeln einzulochen waren, kam der katholische<br />

Vikar namens Schätzle vorbei und schaute ebenfalls mit großem Interesse<br />

zu.<br />

Die letzte Kugel lag ungefähr 5 Meter vom Loch entfernt, und weil<br />

keiner dem anderen die Chance zum Einlochen aus naher Distanz geben<br />

wollte, wurde diese Kugel mindestens 10 mal so gespielt, dass<br />

42


der andere normalerweise nicht einlochen konnte. Schließlich wagte<br />

ich es dennoch und lochte ein. Zu meiner bösen Überraschung sollte<br />

die Freude über mein Glück jedoch nur einen kurzen Augenblick<br />

dauern. Denn wie von Sinnen stürzte sich der Vikar nun plötzlich auf<br />

das Loch und zerstreute alle Kugeln unter die Kinder, um diese mit<br />

meinem Gewinn zu beglücken. Selbstverständlich empfand ich diese<br />

Art von Kinderbeglückung auf meine Kosten als eine schmerzliche<br />

Ungerechtigkeit. Ich selbst konnte vielleicht noch 20 Kugeln retten,<br />

darunter eine der 5 Stahlkugeln. Von da an habe ich nie wieder um<br />

Glaskugeln gespielt und diesen Vikar fortan als Blödmann verachtet.<br />

Irgendwann Mitte der 1950er Jahre handelte ich meinem Kumpel<br />

Wolfgang Schreiber, dessen Vater Schneidermeister war, nebenher<br />

einen Laden für Devotionalien führte und außerdem als Messner der<br />

katholischen Stadtkirche fungierte, ein Meerschweinchen und ein<br />

junges silbergraues Kaninchen ab, das zur Stammmutter meiner eigenen<br />

Kaninchenzucht wurde – die mir nicht nur viel Freude bereiten<br />

sollte, sondern außerdem insgesamt schätzungsweise 50 Sonntagsbraten<br />

einbrachte. Zwar war es streng verboten, dass wir in den beiden<br />

Kirchtürmen auf Entdeckungstour gingen, aber dennoch stibitzte<br />

Wolfgang hin und wieder den Turmschlüssel, weil dort Schleiereulen,<br />

Turmfalken und Tauben nisteten und wir wissen wollten, was deren<br />

Brut und Nachwuchs macht.<br />

Bis die ersten Kaninchen schlachtreif waren, gab es bei uns aus<br />

Geldmangel selbst an Sonntagen hauptsächlich fleischlose Gerichte<br />

wie beispielsweise Dampfnudeln mit Vanillesoße, Kartoffelsuppe mit<br />

gebackenen Apfelküchlein oder allenfalls Krautwickel mit etwas<br />

Hackfleischfüllung. An Wochentagen aßen wir Grießbrei oder Pfannkuchen<br />

mit eingemachtem Obst und natürlich auch Kartoffeln sowie<br />

Gemüse und Salat der unterschiedlichsten Art aus unserem ziemlich<br />

großen Garten. Zum Frühstück gab es entweder warme Milch mit<br />

eingebrockten Brotstücken oder Birchermüsli, zum Abendessen Marmeladebrot<br />

und hin und wieder etwas Fleisch- oder Frankfurter Leberwurst<br />

vom Zahner-Metzger oder eine Dose Hering in Tomatensoße<br />

für die ganze Familie .<br />

43


Obwohl die Milch mit einem Preis von 50 Pfennigen pro Liter ziemlich<br />

teuer war, fuhr ich jeden Abend mit dem Fahrrad zum etwa zwei<br />

Kilometer entfernten Bauernhof der Familie Ries an der Straße nach<br />

Weisweil und holte drei Liter. Etwa alle zwei Wochen wurde diese<br />

Milch zwei Tage lang stehen gelassen. Dann schöpfte Mutter die<br />

etwa zwei Zentimeter dicke Rahmschicht ab und machte damit die<br />

besten Karamellen, die man sich vorstellen kann.<br />

Ein Fernsehgerät hatten wir bis 1963 nicht. Dafür war ich so ab 1956<br />

ein eifriger Leser der Badischen Zeitung und der Monatszeitschrift<br />

Das Beste von Reader’s Digest, sodass ich dennoch stets recht gut<br />

über das Geschehen in der kleinen und der großen Welt informiert<br />

war. Eines Tages las ich einen Artikel über Geschirrspülmaschinen.<br />

Da unsere Mutter das tägliche Geschirrspülen an meine Schwester<br />

Ilse und mich delegiert hatte und mir diese Arbeit sehr zuwider war,<br />

nahm ich mir trotz der damals noch astronomisch hohen Preise für<br />

Güter dieser Art vor, so eine Maschine zu kaufen, sobald ich mal<br />

groß wäre.<br />

Damals wurde den katholischen Kindern im Religionsunterricht noch<br />

beigebracht, dass unsere Seelen einmal unweigerlich im Fegefeuer<br />

oder sogar in der Hölle landen würden, falls wir unsere Sünden nicht<br />

regelmäßig beichten oder unverzeihliche Todsünden begehen sollten<br />

– wobei die Versäumung der heiligen Messe an Sonntagen bereits als<br />

Todsünde galt. Also achtete ich darauf, keine Todsünden zu begehen,<br />

ging wie die meisten meiner Kumpels so ab der dritten Klasse alle<br />

vier Wochen zur Schülerbeichte und musste zur Buße meistens drei<br />

Vaterunser und drei Gegrüßet-seist-Du-Maria beten. Verstöße gegen<br />

die Keuschheitsgebote wurden mit dem Beten einiger Abschnitte des<br />

Rosenkranzes gesühnt. Zwar hegte ich hin und wieder leise Zweifel,<br />

ob dies was nützte. Allerdings ließ ich mir dennoch so bis zum vierzehnten<br />

Lebensjahr alle vier Wochen meine Sünden vergeben, sodass<br />

es keinen vernünftigen Grund gab, ein engelhaftes Leben führen zu<br />

müssen. Die Gefahr, dass meine Seele zunächst für einige Jährchen<br />

im Fegefeuer landen würde, bevor sie in den Himmel kommen könntekommt,<br />

nahm ich in meiner kindlichen Vernunft billigend in Kauf.<br />

44


Von allen acht Kindern (je vier Buben und Mädchen), die in dieser<br />

ebenso armseligen wie frommen, lehrreichen und lebensfrohen<br />

Wohn-, Spiel- und Arbeitsgemeinschaft heranwuchsen, war ich das<br />

einzige, das auf die Realschule von Kenzingen musste, die offiziell<br />

Progymnasium hieß und bis zur Untersekunda führte. Walter und<br />

Günther durften auf der Volksschule bleiben und erlernten anschließend<br />

den Beruf des Kesselschmieds in den Wehrle-Werken in Emmendingen.<br />

Nachdem ich die Aufnahmeprüfung für das Progymnasium bestanden<br />

hatte, schenkte mir Tante Frieda ein Fahrrad, das sie für 5 Mark<br />

im Fundbüro erstanden hatte. Es war zwar in einem sehr schlechten<br />

Zustand, aber nachdem ich es einigermaßen hergerichtet hatte, sollte<br />

es sich als sehr nützlich erweisen. Wann immer ich Geld brauchte,<br />

fuhr ich damit ins acht Kilometer entfernte Köndringen, wo sie das<br />

Elternhaus ihres ersten Ehemannes und einige Grundstücke mit Obstbäumen<br />

geerbt hatte, um mir fünf Mark zu verdienen – sei es für das<br />

Fegen der Straße, für Arbeiten im Garten, für das Pflücken von Kirschen<br />

oder für das Austauschen morscher Dachlatten und kaputter<br />

Dachziegeln. Hin und wieder besuchte ich damit auch meinen Patenonkel<br />

Xaver in der Neumühle, der mir das Stroh, das Heu und die<br />

Rüben für meine Kaninchen spendierte.<br />

Die Sommerferien 1959 und 1960 verbrachte ich auf einem zwar<br />

herrlichen, aber auch sehr rückständigen Bauernhof auf dem Bildstein<br />

im Mittleren Schwarzwald, zu dem insgesamt etwa 30 Hektar<br />

Wald, Wiesen, Äcker und Brachland gehörten. Bewirtschaftet wurde<br />

dieses herrliche Anwesen vom Hofbauern Andreas Kölblin, der in<br />

seiner Jugend leider an Kinderlähmung erkrankt war und deshalb nur<br />

an Krücken gehen konnte, seiner ziemlich robusten Ehefrau Elfriede,<br />

zwei schon älteren Mägden sowie drei Pflegekindern aus einem Waisenhaus<br />

im Alter von etwa 11 bis 16 Jahren.<br />

Als Zugtiere dienten ein schweres Schwarzwälder Kaltblut und ein<br />

unglaublich starker Zugochse, der angeblich über 20 Zentner wog.<br />

Die von Hand gemolkene Milch der acht Kühe wurde per Handzentrifuge<br />

entrahmt, und einmal pro Woche wurde aus dem Rahm Butter<br />

45


gemacht. Das Getreide wurde mit einem kleinen Motormäher abgemäht,<br />

mit Strohseilen zu Garben gebunden und in der großen Scheune<br />

zwischengelagert, bis alle Felder abgeerntet waren. Gedroschen<br />

wurde das Ganze dann mit einer Dreschmaschine aus der Vorkriegszeit<br />

– was eine äußerst staubige Angelegenheit war. Daneben wurden<br />

rund 20 Schweine gemästet und mehrere Muttersauen mit ihren Ferkeln<br />

gehalten. Zwei bis drei der etwa 20 freilaufenden Hühner durften<br />

ihre Eier ausbrüten, damit keine Küken gekauft werden mussten.<br />

Außerdem gehörten noch zwei Mastochsen, ein Stier, einige Ziegen,<br />

zwei Hunde, mehrere Katzen und so um die zehn Bienenvölker zu<br />

diesem ziemlich archaischen Gehöft, das an einem sonnigen Südhang<br />

auf etwa 500 Meter über Meereshöhe lag. Obwohl wir Kinder<br />

von morgens bis abends produktiv mitarbeiten mussten, artete diese<br />

Arbeit jedoch nie in Schinderei aus, sodass mir diese „Ferien auf<br />

dem Bauernhof“ stets in allerbester Erinnerung blieben. Am Tag vor<br />

der Heimfahrt bekam ich frei und durfte in die Brombeeren. Da ich<br />

beim täglichen Kühehüten nach den besten Plätzen Ausschau gehalten<br />

hatte, waren die beiden 10-Liter-Eimer, die ich in die Ferien mitgenommen<br />

hatte, nach drei bis vier Stunden voll, und Mutter verkochte<br />

sie noch am Tag meiner Heimkehr in einem Kupferkessel zu<br />

einer köstlichen Marmelade.<br />

Im Jahre 1958 verkaufte Herr Kaiser die Hälfte des Grundstücks, auf<br />

dem wir unseren Garten und eine Hütte für meine Kaninchenställe<br />

hatten – mit der Auflage, dass der Käufer die Wohnung im Obergeschoss<br />

des geplanten Zweifamilienhauses an uns vermietete. Zwei<br />

Jahre später konnten wir dann endlich aus dem inzwischen fast abbruchreifen<br />

Haus der Familie Fehrenbach ausziehen.<br />

Obwohl wir zu diesem Umzug in einer sehr schlechten Unterkunft<br />

hausten und ich als Bub von meiner tüchtigen Mutter den Hosenboden<br />

versohlt bekam, wann immer sie es in ihrer unverbildeten Fürsorglichkeit<br />

für angebracht hielt, war mir trotz des fürchterlichen<br />

Schlamassels, in das sie geraten war, eine überaus lehrreiche, abenteuerliche<br />

und sogar ziemlich glückliche Kindheit und frühe Jugend<br />

beschieden. Dank der vielen Gelegenheiten zum Erwerb von Kennt-<br />

46


nissen und Erfahrungen der unterschiedlichsten Art könnte man sogar<br />

durchaus sagen, dass mir eine Erziehung zuteil wurde, die sowohl<br />

wertkonservativen als auch freiheitlichen und erlebnispädagogischen<br />

Prinzipien gerecht wurde. Und weil ich so nebenbei auch die<br />

große Lektion begriffen hatte, dass Geld das wichtigste aller Tauschmittel<br />

ist, nutzte ich selbstverständlich schon recht früh jede Gelegenheit,<br />

mir welches zu verdienen.<br />

Taschengeld oder eine Entlohnung für Arbeiten im Haushalt und<br />

Garten gab es natürlich nicht. Aber dennoch betrugen meine monatlichen<br />

Einkünfte – vor allem dank meiner guten Tante Frieda – schon<br />

als Sextaner so um die 20 Mark im Monat, sodass es mir vergönnt<br />

war, stets über genügend eigenes Geld zur Befriedigung meiner kleinen<br />

Wünsche und großen Gelüste verfügen zu können. Eine Kugel<br />

Eiskrem kostete damals noch 10 Pfennige, ein Mickey-Mouse-, Fixund-Foxy-<br />

oder Tarzan-Heftchen zwischen 50 und 80 Pfennigen. Die<br />

sonntägliche Nachmittagsvorstellung in den Löwenlichtspielen kostete<br />

60 Pfennige. Zum Fernsehen ging ich hin und wieder ins Gasthaus<br />

„Zum Hirschen“, wo ein Fläschchen Limonade 40 Pfennige<br />

kostete. 1961 jobbte ich in den Sommerferien in den Kaiser-Radio-Werken<br />

für einen Stundenlohn von 74 Pfennigen, 1962 in<br />

der Badenia Möbelfabrik, wo ich immerhin schon volle zwei Mark<br />

pro Stunde verdiente.<br />

Selbstverständlich gab es insbesondere auf der Schule viele Begebenheiten,<br />

die es verdienten, ebenfalls erzählt zu werden. Weil ich<br />

den Lesern dieser Aufzeichnungen jedoch vor allem einen Eindruck<br />

von den prekären Verhältnissen vermitteln wollte, in denen ich aufwuchs,<br />

hoffe ich, hiermit das Nötige über meine Herkunft, Kindheit<br />

und frühe Jugend berichtet zu haben.<br />

Dass mir dennoch eine vorwiegend schöne Kindheit und ein überaus<br />

interessanter, erlebnisreicher und bisweilen sogar beneidenswerter<br />

Weg durch’s Leben beschieden war, verdanke ich also ohne jeden<br />

Zweifel vor allem der Erziehung, die meine ebenso tüchtige wie unverbildete<br />

Mutter mir einst angedeihen ließ. Meine Erziehung war in<br />

etwa an jenem zeitlos gültigen Kanon aus Werten, Regeln, Geboten<br />

47


und Tabus ausgerichtet war, den der große schottische Aufklärer<br />

Adam Smith und dessen seriöse Interpreten einst als Quelle jener<br />

Kraft propagiert haben, die quasi mit unsichtbarer Hand die Bildung<br />

von persönlichem und nationalem Wohlstand ermöglicht. So lag meiner<br />

Berufswahl selbstverständlich vor allem die ebenso optimistische<br />

wie pragmatische Erwartung zugrunde, dass ich durch meine Arbeit<br />

als Bauingenieur einmal genug Geld verdienen würde, um gut davon<br />

leben zu können.<br />

März 1963: Meine Abschlussklasse<br />

hinten v.l.: Herbert Walter, Klaus Eschbach, Jochen Riemensperger, Georg Zipfel,<br />

Roman Greschbach, Michael Zängle, Friedrich Hirsch<br />

vorn v.l.: Fritz Ehrler, Hildegard Stehlin, Renate Heppe, Doris Palm, Karin Döring,<br />

Doris Weber, Inge Kaczmarek, Karin Asprion, Karl-Wilhelm Erhardt<br />

*<br />

48


Als ich mich im März 1963 vom Progymnasium – nach einer Ehrenrunde<br />

in der Untertertia – mit der Mittleren Reife verabschiedete,<br />

hegte ich natürlich die große Hoffnung, dass Ludwig Erhards berühmte<br />

Wohlstand-für-alle-Politik eines schönen Tages auch mir zugute<br />

kommen würde und begann am 1. April 1963 mit dem zweijährigen<br />

Baupraktikum, das ich auf drei Baustellen des Baukonzerns Ed.<br />

Züblin AG im Raum Südbaden absolvierte.<br />

Verabschiedung durch die Klassenlehrerin Dr. Erika Schillinger<br />

und Studiendirektor Wetzel<br />

Im ersten Jahr war ich voll in die Arbeiterschaft integriert, wohnte<br />

von Montag bis Freitag auf Baustellen in der Nähe von Freiburg und<br />

Offenburg in den damals noch üblichen Holzbaracken und lernte fast<br />

alles, was ein ordentlicher Bauhelfer, Maurer und Betonbauer wissen<br />

und können muss.<br />

Bei Freiburg bauten wir zwei Einfamilienhäuser und bei Offenburg<br />

eine Autobahnmeisterei, bestehend aus einem 50 Meter langen Verwaltungsgebäude,<br />

einer über 100 Meter langen Fahrzeug- und Werkstatthalle<br />

aus Stahlbeton-Fertigteilen, einer Lagerhalle für ca. 2000<br />

Tonnen Streusalz, einem Magazingebäude – und einem angeblich<br />

49


atombombensicheren Bunker. Unsere Mannschaft bestand zur Hälfte<br />

aus Deutschen und Türken. Der Frischbeton wurde, wie damals noch<br />

üblich, auf der Baustelle hergestellt. Für die Produktion der Stahlbeton-Fertigteile<br />

wurde eine kleine Feldfabrik eingerichtet.<br />

In den ersten sechs Monaten meines Praktikums wurde ich als Bauhelfer<br />

entlohnt und erhielt den tariflichen Stundenlohn von 2,87<br />

Mark. Damit lagen meine monatlichen Einkünfte zwar bei mehr als<br />

dem Doppelten des tariflichen Praktikantengehalts. Dennoch wies<br />

ich den Polier eines Tages darauf hin, dass ich eigentlich unterbezahlt<br />

war, weil ich praktisch die gleiche Arbeit wie die Facharbeiter verrichtete.<br />

Da er meine Einschätzung teilte, besprach er die Angelegenheit<br />

mit unserem Bauleiter, der einmal pro Woche vorbeikam. Obwohl<br />

Herr Wüst, der Bauleiter, als sparsamer Schwabe berüchtigt<br />

war, stimmte er dem Vorschlag zu, mich künftig als Facharbeiter zu<br />

entlohnen. So kam es, dass ich ab November 1963, als ich 18 Jahre<br />

alt wurde, mit 3,64 Mark pro Stunde entlohnt wurde und mich fortan<br />

fast wie Krösus fühlte: Nach dem 18. Geburtstag durfte ich auch<br />

Überstunden machen und kam immer auf über 200 Stunden im Monat.<br />

Während der Mahlzeiten diskutierten wir Arbeiter über alles, was die<br />

Welt bewegte. Als Brotzeit-Lektüre und Diskussionsgrundlage diente<br />

uns die Bild-Zeitung. Weil es dem amerikanischen Präsidenten John<br />

F. Kennedy gelungen war, den russischen Ministerpräsidenten Nikita<br />

Chruschtschow zum Abzug der auf Kuba stationierten Atomraketen<br />

zu bewegen und somit eine entscheidende Entschärfung des Kalten<br />

Krieges eingetreten war, beurteilten wir unseren Atombunker als ein<br />

Bauwerk, das so überflüssig wie ein Kropf geworden war. Den Jahrhundert-Boxkampf<br />

zwischen Cassius Clay und Sonny Liston verfolgten<br />

wir am Radio und alle hatten erwartet, dass Sonny Liston<br />

kurzen Prozess mit diesem Großmaul machen würde. Dass aus Cassius<br />

Clay, der kurz darauf den Namen Muhammad Ali annahm, später<br />

ein beherzter Mitstreiter im Kampf für die Gleichberechtigung<br />

der Schwarzen in den USA und eine zurecht berühmte Lichtgestalt<br />

des Boxsports werden sollte, war damals noch nicht abzusehen.<br />

50


Das zweite Jahr verbrachte ich auf der Großbaustelle Rheinkraftwerk<br />

Stein-Säckingen und bekam ein eigenes Zimmer im Barackenlager<br />

der Arge Rheinvertiefung bei der Gemeinde Sisseln auf der Schweizer<br />

Rheinseite zugeteilt. Gegenüber den Verhältnissen auf den Baustellen<br />

bei Freiburg und Offenburg, wo sich noch acht Mann einen<br />

Raum mit etwa 12 Quadratmetern und doppelstöckigen Betten teilen<br />

mussten, war mir das natürlich eine sehr willkommene Verbesserung.<br />

Außerdem gab es eine ziemlich gut geführte Kantine und genügend<br />

Auslösung, um die Kosten für das Essen und die Unterbringung bestreiten<br />

zu können.<br />

Auf dieser Baustelle brachte mir der Vermessungsingenieur Karl<br />

Lemm, ein robuster Rheinländer mit preußischen Manieren, der<br />

schon kurz vor seiner Pensionierung stand, zunächst den professionellen<br />

Umgang mit dem Theodoliten, dem Nivellierinstrument und<br />

dem Bandmaß bei. Hin und wieder kam er dabei auf seine Abenteuer<br />

und Probleme bei der Einmessung der Pfeiler für die berühmte, 9 Kilometer<br />

lange Brücke über die Bucht von Maracaibo in Venezuela<br />

(die von der Firma Bilfinger & Berger gebaut wurde) und bei anderen<br />

vermessungstechnischen Höchstleistungen im Amazonasgebiet<br />

zu sprechen. Da mir vorschwebte, auch einmal in die große weite<br />

Welt hinauszuziehen, war ich selbstverständlich ein aufmerksamer<br />

Zuhörer – was dem alten Herrn Lemm, der fast zwei Köpfe kleiner<br />

war als ich, offensichtlich recht gut gefiel. Und weil ich mich als hinreichend<br />

lernwillig und gelehrig erwiesen hatte, vertraute er mir nach<br />

kurzer Anlernzeit hin und wieder die Führung eines Vermessungstrupps<br />

an. Mit dem steckte ich bei schönem Wetter Polygonzüge ab<br />

und maß sie ein, machte Geländeaufnahmen und errichtete Lattenprofile<br />

für den Bau von Dämmen und Uferbefestigungen oberhalb<br />

des Kraftwerks. Daneben zeichnete ich im Abrechnungsbüro vor allem<br />

Querprofile für die Massenermittlung.<br />

Mein bester Kollege wurde der etwa gleichaltrige Theo Kindle aus<br />

dem Fürstentum Lichtenstein, der Bauzeichner gelernt hatte und<br />

mich im Zeichnen mit Tusche und im Umgang mit den Zeichengeräten<br />

unterwies. Außerdem war ich einige Monate lang dafür zustän-<br />

51


dig, die beiden Bohrplattformen, die unterhalb des Kraftwerks zur<br />

Sprengung des Flussbetts im Einsatz waren, vom Ufer aus per Theodolit<br />

und optischer Distanzmessung auf die vorgesehenen Positionen<br />

zu dirigieren. Zweck dieser Sprengungen war die Lockerung des Gesteins,<br />

damit das Flussbett zur Erhöhung der Energieausbeute ausgebaggert<br />

und vertieft werden konnte.<br />

Den ersten Duft der großen weiten Welt schnupperte ich im Sommer<br />

1964 in Paris zusammen mit meinem Freund Manfred Rein. Weil wir<br />

beide nicht wussten, was wir im bevorstehenden Urlaub unternehmen<br />

sollten, und wir beide ein etwa 10 Jahre altes Moped hatten – er<br />

eins von Miele, ich eins von Rixe –, kamen wir eines Tages am<br />

Stammtisch im Gasthaus „Zum Hirschen“ zu Kenzingen auf die glorreiche<br />

Idee, damit nach Paris zu fahren. Also besorgten wir uns ein<br />

Zelt und machten uns etwa vier Wochen später auf den Weg.<br />

Wegen zwei zeitraubenden Pannen an meiner Rixe dauerte es drei<br />

Tage, bis wir endlich Paris erreichten. Die erste ereignete sich noch<br />

in Kenzingen, die zweite am nächsten Tag in der Nähe des Städtchens<br />

Arcis-sur-Aube, etwa auf halber Strecke. Manfred befürchtete<br />

bereits, dass wir unsere Parisfahrt dort abbrechen müssten. Glücklicherweise<br />

gelang es dem örtlichen Schmiedemeister jedoch, den<br />

Schaden soweit zu reparieren, dass wir unsere Fahrt am 3. Tag fortsetzen<br />

konnten. Weil wir bereits 2 Tage lang nichts Warmes gegessen<br />

hatten, gingen wir abends noch in ein kleines, unscheinbares Restaurant.<br />

Dort bestellten wir das billigste Menü auf der Karte: Gebratene<br />

Kalbsnierchen mit Croquetten und Speckböhnchen. Zu unserer<br />

großen Überraschung waren diese jedoch dermaßen schmackhaft zubereitet,<br />

dass wir noch Jahre später darauf zu sprechen kamen.<br />

Nach unserer Ankunft in Paris zelteten wir die erste Nacht aufgrund<br />

von Orientierungsproblemen in einem Park. Am folgenden Morgen<br />

gingen wir dann zuerst in die Eisenwarenabteilung des berühmten<br />

Pariser Kaufhauses Le Printemps, weil ich auf der letzten Etappe<br />

einen der beiden Bolzen verloren hatte, mit denen der Motor am<br />

Rahmen befestigt war. Nachdem die Gefahr, den Motor zu verlieren,<br />

beseitigt war, fuhren wir die Champs-Elysées hinauf, umrundeten<br />

52


aus Stolz, dass wir es doch noch bis nach Paris geschafft hatten,<br />

zweimal den Arc de Triomphe und fuhren dann die Champs-Elysées<br />

wieder hinunter. Wir schlugen unser Zelt schließlich auf dem Camping<br />

des Cigones in Vincennes auf. Von dort aus besuchten wir in<br />

den kommenden zehn Tagen Versailles, den Louvre, Notre Dame,<br />

den Eiffelturm und andere Sehenswürdigkeiten.<br />

Am Tag vor der geplanten Rückfahrt gab meine gute Rixe schließlich<br />

endgültig den Geist auf. Zuerst wollte ich sie noch per Bahn nach<br />

Hause schicken, und so schleppte mich Manfred mit seiner Miele an<br />

einem drei Meter langen Seil vom Campingplatz in Vincennes durch<br />

das Pariser Verkehrsgewimmel zum Gare de L’Est. Weil die Bahnfracht<br />

jedoch umgerechnet 34 Mark gekostet hätte und ich für das<br />

gute Stück nur 50 Mark bezahlt hatte, beschlossen wir, es am Bahnhof<br />

seinem Schicksal zu überlassen. Um sicher zu gehen, dass nicht<br />

irgendein ehrlicher Finder oder gar die Polizei auf die Idee käme,<br />

mich ausfindig zu machen, montierte ich das Nummernschild vorsichtshalber<br />

ab.<br />

Am nächsten Morgen bauten wir dann in aller Herrgottsfrühe unser<br />

Zelt auf dem Camping des Cigones wieder ab und beluden Manfreds<br />

Miele – eine deutsche Wertarbeit aus dem Jahre 1954 – die nun auch<br />

noch meine Satteltaschen tragen musste. In einer rekordverdächtigen<br />

Nonstopfahrt durch strömenden Regen bewältigten er und seine Miele<br />

den rund 400 Kilometer langen Heimweg. Ich fuhr per Anhalter<br />

zurück und brauchte ungefähr gleich lange.<br />

Nach diesem Urlaub kaufte ich für 300 Mark einen gebrauchten Motorroller,<br />

eine 250er Zündapp Bella mit 13 PS, die mit etwa 120 km/h<br />

Spitzengeschwindigkeit schneller war als jede 250er BMW. Glücklicherweise<br />

hatte ich die Angewohnheit, besonders vorsichtig zu fahren,<br />

wenn ich zu viel getrunken hatte. Und so zuckelte ich mit meiner<br />

Bella nach so manchem Festbesuch auf den Dörfern rund um Kenzingen<br />

mit höchstens 50 Sachen heim. Discos waren damals noch<br />

nicht in Mode. Dafür gab es jede Menge Veranstaltungen, auf denen<br />

ziemlich gute Bands fetzige Tanzmusik machten, von Foxtrott über<br />

Boogie Woogie bis zu Twist und Rock ’n’ Roll.<br />

53


Zu verdanken hatte ich meine fabelhafte Praktikantenstelle der Gattin<br />

des für Kenzinger Verhältnisse reichen Textilhändlers Oskar Striebel.<br />

Deren Sohn Roman hatte im Jahr zuvor bei Züblin sein Praktikum<br />

begonnen, mir von seinen Erlebnissen beim Bau einer Kläranlage in<br />

Todtmoos im Schwarzwald erzählt und so mein Interesse für diesen<br />

Beruf geweckt. Auf meine Frage hin, ob es Sinn machte, mich bei<br />

Züblin um eine Praktikantenstelle zu bewerben, riet er mir, einfach<br />

mal eine Bewerbung zu schreiben und dann seine Mutter zu bitten,<br />

beim Leiter der Zweigstelle Freiburg, einem Herrn Hopfmann, ein<br />

gutes Wort für mich einzulegen.<br />

Also schrieb ich meine Bewerbung, ging zu Frau Striebel und trug<br />

meine Bitte vor. Weil ihr an meiner Bewerbung einiges nicht gefiel,<br />

musste ich sie noch einmal neu schreiben. Daraufhin telefonierte sie<br />

mit Herrn Hopfmann, und schon wenige Tage später durfte ich ihm<br />

mein Bewerbungsschreiben persönlich überbringen und wurde sogar<br />

angenommen – obwohl er zunächst stutzte, als er bei Durchsicht<br />

meines Halbjahreszeugnisses feststellte, dass ich in Mathe nur eine<br />

Drei hatte. Zwar reagierte er – wohl auch wegen meiner Ehrenrunde<br />

in der Untertertia – ziemlich ungläubig, als ich ihm allen Ernstes erklärte,<br />

dass dies eindeutig auf persönliche Aversionen meiner altledigen,<br />

streng-katholischen Mathe-Lehrerin (Fräulein Dr. Hillig) zurückzuführen<br />

wäre und dass ich eigentlich eine Zwei verdient hätte.<br />

Er beließ es aber bei einem wohlwollenden: „Na ja, schauen wir<br />

mal“. Zwei Jahre später, als ich mich um einen Studienplatz bewerben<br />

musste und zum Nachweis meines Praktikums ein Zeugnis<br />

brauchte, empfahl er meine Zulassung zum Studium wärmstens.<br />

Damals mussten die meisten jungen Männer noch eine sechsmonatige<br />

Grundausbildung bei der Bundeswehr absolvieren und anschließend<br />

12 Monate lang regulären Wehrdienst leisten. Da ich der einzige<br />

Sohn eines im Krieg gefallenen Soldaten war, blieb mir dies jedoch<br />

erspart. So konnte ich schon im März 1965 im schönen Konstanz<br />

meine erste Studentenbude beziehen. Dort besuchte ich drei<br />

Jahre lang die Ingenieurschule. Trotz eines ziemlich fidelen Studentenlebens<br />

und meiner Mitgliedschaft in der damals als besonders<br />

54


trinkfest berüchtigten Aktivitas der Studentenverbindung TV Cimbria<br />

– in der ich zwei Semester lang als Fuchsmajor fungierte – bestand<br />

ich im Februar 1968 im Alter von gerade mal 22 Jahren das<br />

Staatsexamen mit der Note 2,5. Wahrscheinlich wäre auch eine 1,5<br />

drin gewesen, doch dafür hätte ich permanent büffeln und auf viele<br />

schöne Erlebnisse verzichten müssen – und dieser Preis war mir zu<br />

hoch.<br />

Meine Erklärung gegenüber Herrn Hopfmann bezüglich der Drei in<br />

Mathe erwies sich übrigens als richtig: Auf meine erste Mathe-Klausur<br />

hatte ich mich zwar besonders gewissenhaft vorbereitet, erhielt<br />

aber sogar die Note 1,3, was meinem Selbstvertrauen natürlich<br />

mächtig Auftrieb gab und mich fortan gegen Prüfungsängste immun<br />

machte – zumal von meinen etwa 35 Kommilitonen nur der Schweizer<br />

Max Knöpfli aus dem Thurgau mit einer 1,1 besser war.<br />

Die mir zustehende Halbwaisenrente in Höhe von etwa 250 Mark pro<br />

Monat hatte ich meiner Mutter überlassen, sodass ich für meinen Lebensunterhalt<br />

während des Studiums selbst aufkommen musste. Da<br />

ich als Praktikant recht gut verdient hatte und bis zum Beginn des<br />

Studiums knapp 6 000 Mark ansparen konnte, war mir dies jedoch<br />

relativ leicht gefallen. Und weil ich auch in den Semesterferien regelmäßig<br />

für Züblin arbeitete und so stets noch ordentlich hinzuverdiente,<br />

konnte ich mir – neben den obligatorischen täglichen Kneipenbesuchen<br />

– während meines Studiums relativ problemlos selbst<br />

so tolle Extras leisten wie einen 600er Fiat, zwei vierzehntägige Skiurlaube<br />

in St. Anton am Arlberg, Bergtouren im Rätikon und im Säntisgebiet,<br />

die Teilnahme an einer zweiwöchigen Ferienveranstaltung<br />

des deutsch-französischen Jugendwerkes in Les Deux Alpes bei Grenoble<br />

und eine sehr reizvolle Klettertour auf die Aiguille Dibona bei<br />

La Grave – die um ein Haar in einem <strong>Des</strong>aster geendet wäre.<br />

Weil die Besteigung der Dibona Schwindelfreiheit voraussetzte, hatten<br />

es drei Mitglieder unserer insgesamt sechsköpfigen Seilschaft<br />

vorgezogen, für die Dauer dieser Kletterei etwa 400 Meter unterhalb<br />

des Gipfels zu warten, bis unser Bergführer Jean Claude Forest,<br />

Wolfgang Drautz und ich diese Besteigung bewältigt hatten. Nach<br />

55


unserer Rückkehr setzten wir die Tour gemeinsam fort. Dabei drohte<br />

die komplette Seilschaft etwa 50 Meter tief abzustürzen, weil eines<br />

der nicht schwindelfreien Mitglieder beim Durchklettern einer ziemlich<br />

steilen, langen und fast grifflosen Felsrinne auf halber Strecke<br />

von panischer Höhenangst befallen wurde – und weil unser Seil zu<br />

kurz war, um uns ordentlich absichern zu können.<br />

Auf der Dibona – sitzend: Wolfgang Drautz, stehend: Georg Zipfel<br />

Ende Oktober 1967 kam ich mit meinem 600er Fiat auf der Rückfahrt<br />

vom Stiftungsfest einer Studentenverbindung in Furtwangen im<br />

Schwarzwald aufgrund einer Unachtsamkeit bei der Hexenlochmühle<br />

von der Straße ab und landete im etwa 4 Meter tiefer liegenden Bach<br />

auf dem Dach. Trotz des Überschlags war meiner Beifahrerin und<br />

mir glücklicherweise nichts passiert, aber das Auto war Schrott. Um<br />

zum Start in mein Leben als Ingenieur ordentlich motorisiert zu sein,<br />

überredete ich deshalb im Dezember 1967 meine gute Tante Frieda,<br />

mir 3 600 Mark zu leihen (die ich mit 100 Mark im Monat abstottern<br />

durfte), und kaufte mir dafür einen fünf Jahre alten bronzefarbenen<br />

Alfa Romeo Giulietta Sprint.<br />

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