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Leseprobe<br />
Renate Kühn (Hg.)<br />
<strong>Doppelter</strong> <strong>Durchgang</strong><br />
Zu Poesie und Poetologie Gerhard Rühms<br />
AISTHESIS VERLAG<br />
Bielefeld 2010
Abbildung auf dem Umschlag:<br />
Gerhard Rühm: JETZT mit Vorbereitung.<br />
1974, 29,5 x 40 cm.<br />
© Aisthesis Verlag Bielefeld 2010<br />
Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld<br />
Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de<br />
Druck: docupoint GmbH, Magdeburg<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
ISBN 978-3-89528-823-4<br />
www.aisthesis.de
Inhalt<br />
Vorwort ..................................................................................................... I<br />
Erster <strong>Durchgang</strong><br />
Hermann Bühlbäcker<br />
„The time is out of joint“<br />
Gerhard Rühms Bühnenstück „kalender für ertrunkene“ ............ 7<br />
Mathias Märtin<br />
Knochenkomposita<br />
Groteske Körper in Gerhard Rühms „knochenspielzeug“ ........... 27<br />
Michael Vogt<br />
‚Steckenpferd‘ : ‚Sitzorgane‘<br />
Zu drei Chansons von Gerhard Rühm,<br />
Oden ans menschliche Stammhirn .................................................... 43<br />
Renate Kühn<br />
„Litaneienfromme Weisen, / Aber wahnsinnswüste Worte“<br />
Zu Gerhard Rühms „glaubensbekenntnis“ ..................................... 69<br />
Martin Maurach<br />
Ordnung der Natur, Störung der Zeichen?<br />
Rühms wald, ein deutsches requiem nach 25 Jahren .............................. 119<br />
Friedrich W. Block<br />
Texte zur Kunst: Gerhard Rühms poetologische Schriften .......... 139
Zweiter <strong>Durchgang</strong><br />
Hermann Bühlbäcker<br />
Thusnelda Revisited oder ‚gefallen auf dem messerfeld der ehre‘<br />
Versuch über den Körper als Schlachtfeld ...................................... 163<br />
Mathias Märtin<br />
„‚Kopf ab mit ihm!‘ oder: ‚Kopf ab mit ihr!‘“<br />
Zwei Kunstmärchen Gerhard Rühms .............................................. 173<br />
Renate Kühn<br />
Von Gott- und Menschenfressern<br />
Leibspeisen bei Gerhard Rühm ......................................................... 193<br />
Michael Vogt<br />
Ein schwieriges Verhältnis: Gerhard Rühm und Felix Austria .... 207<br />
Martin Maurach<br />
Zuhören, Zeichen und die Zeit<br />
Einige Überlegungen zu Gerhard Rühms ‚kurzen Hörstücken‘ ... 231<br />
Literatur ...................................................................................................... 249<br />
Zu den Autoren ...................................................................................... 263<br />
ZUTEXTENZU<br />
Friedrich W. Block im Gespräch mit Gerhard Rühm (CD)
Vorwort<br />
Der Titel des vorliegenden Bandes ist wörtlich zu nehmen. Ursprünglich<br />
geplant war lediglich ein ‚einfacher <strong>Durchgang</strong>‘, m.a.W. ein gewissermaßen<br />
ganz normaler Sammelband, dessen Ziel darin bestand, zur Beseitigung<br />
eines Missstandes beizutragen: Wenn von Gerhard Rühm die Rede<br />
ist, dominieren die Superlative. Er wird als einer der bedeutendsten,<br />
herausragendsten, vielseitigsten Gegenwartskünstler apostrophiert 1 , ohne<br />
dass dies jedoch entsprechende Folgen in der Forschung gezeitigt hätte<br />
– der Rühm attestierten Bedeutung stehen vergleichsweise wenige wissenschaftliche<br />
Auseinandersetzungen mit seinem Werk gegenüber. Hier<br />
bestand und besteht also Bedarf.<br />
Die Veröffentlichung zog sich hin, was gerade bei Sammelbänden schon<br />
vorgekommen sein soll 2 . Statt aber das, was nicht mehr zu ändern war,<br />
zu beklagen, habe ich den Faktor ‚Zeit‘ produktiv zu machen versucht.<br />
AngeregtdurchdasvonPaulWührinseinemTagebuchDer faule Strick<br />
praktizierte Prinzip der „Jahresschlingen“ 3 , wurden die Beteiligten zu<br />
einem ‚zweiten <strong>Durchgang</strong>‘ eingeladen. Konkret hieß dies, die eigene Arbeit<br />
einschließlich der dafür getroffenen Textauswahl im Abstand von<br />
z.T. mehreren Jahren zu reflektieren und sich dem Autor, das Untersuchungsfeld<br />
vertiefend resp. erweiternd, noch einmal zu nähern – was<br />
nicht zuletzt den Vorteil bot, die Anzahl der exemplarisch behandelten<br />
Texte deutlich erhöhen zu können.<br />
Die bereits vorliegenden Beiträge wurden den Beteiligten im Januar 2009<br />
unter dem Titel Einfacher <strong>Durchgang</strong>. Zu Poesie und Poetologie Gerhard Rühms<br />
als Privatdruck zur Verfügung gestellt. Eine ähnliche ‚Zwischenpräsentation‘<br />
gab es auch für den ‚zweiten <strong>Durchgang</strong>‘, diesmal in Form eines<br />
den direkten Austausch fördernden Symposions, das am 20. und 21. November<br />
2009 an der TU Dortmund stattfand und an dem nunmehr – im<br />
Wissenschaftsbetrieb eher unüblich – auch der Autor beteiligt war, und<br />
1 Vgl. pars pro toto Michael Lentz: Gerhard Rühm zum Achtzigsten. Spiel ist<br />
Ernst, und Ernst ist Spiel. In: FAZ (12.02.2010).<br />
2 Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Rechtschreibung, bei der ich mich am<br />
Ende für das Autorenprinzip entschieden habe.<br />
3 Vgl. Paul Wühr: Der faule Strick. München: Hanser, 1987. S. 111.
II Renate Kühn<br />
zwar in gleich mehreren Rollen: als unermüdlicher, beeindruckend präsenter<br />
Diskutant, als Performer seiner Texte, der, zusammen mit Monika<br />
Lichtenfeld, für das Highlight des ersten Symposiontages sorgte und sich<br />
am Ende des zweiten im Gespräch mit Friedrich W. Block als Autor mit<br />
einem breit gefächerten wissenschaftlichen Interesse, als Chronist, Kommentator<br />
und Kritiker, gleichzeitig aber auch als ebenso amüsanter wie<br />
auf die Förderung von Erkenntnissen bedachter Anekdotenerzähler zu<br />
seinen poetologischen Texten – diese gleichsam im Zustand des Verfertigens<br />
vorführend –, zum Zusammenhang zwischen seinen Editionsprojekten<br />
und der eigenen künstlerischen Arbeit, zur Notwendigkeit von<br />
Kontextwissen (Stichwort ‚Kommentarbedürftigkeit‘), seinem ambivalenten<br />
Verhältnis zu Literaturwissenschaft und Literaturkritik, zu Missverständnissen<br />
im Bereich der Rezeption und – natürlich! – zur Wiener<br />
Gruppe äußerte. Ein Zusammenschnitt aus diesem Gespräch findet sich<br />
auf der beiliegenden CD.<br />
Der Schwerpunkt des Bandes gilt dem literarischen Werk Gerhard<br />
Rühms, ergänzt durch Ausführungen von Martin Maurach zum intermedialen<br />
neuen Hörstück sowie eine Studie von Friedrich Block zu Rühms<br />
‚Texten zur Kunst‘, die er, abweichend von der üblichen Praxis, nicht<br />
einfach als Sekundärliteratur wertet, sondern unter dem „künstlerisch<br />
funktionale[n] Aspekt“ der „Selbstvermittlung“ 4 begreift – ein Ansatz,<br />
der im ‚zweiten <strong>Durchgang</strong>‘ durch das bereits erwähnte Gespräch aus<br />
der Perspektive des Autors komplettiert wird. Vergleichbar sind die Beiträge<br />
von Block und Maurach auch insofern, als beide für die jeweils untersuchte<br />
Textsorte Typologien entwickeln, einander gleichzeitig jedoch<br />
ergänzen: Während Block durch seine Beschäftigung mit Rühms Poetologie<br />
den Aspekt der Autoreferentialität fokussiert, gelangt in Maurachs<br />
Auseinandersetzung mit Rühms Requiem über das Waldsterben der<br />
Aspekt der Referentialität in den Blick.<br />
Die Mehrzahl der Beiträge besteht aus Einzeltextanalysen, die gerade<br />
im Bereich experimenteller Literatur nach wie vor die Ausnahme darstellen.<br />
Die Distanzierung resp. Ablehnung von Deutungsansätzen gleich<br />
welcher Art dürfte zu einem guten Teil zu den Nachwirkungen von Arnold<br />
Gehlens Verurteilung der modernen Kunst aufgrund ihrer ‚Kommentarbedürftigkeit‘<br />
einerseits und Susan Sontags vehementem Ausfall<br />
Against Interpretation andererseits gehören. Wie verbreitet diese Einstel-<br />
4 Vgl. S. 141 in diesem Band.
Vorwort III<br />
lung nach wie vor ist, belegt beispielsweise Helmut Schödel, der, bezogen<br />
auf Günter Brus, einen Weggefährten Gerhard Rühms, noch zu Beginn<br />
des neuen Jahrtausends von einer „Verstehsucht der Exegeten“<br />
spricht, die dem Phänomen gänzlich unangemessen sei. „Die Avantgarde“,<br />
dekretiert Schödel, „war gegen ihre Auslegung konzipiert“ 5 .Selbst<br />
wenn dem so wäre, wäre dies ja keineswegs unhinterfragt hinzunehmen,<br />
schon gar nicht in einer historisch veränderten Situation. Einzeltextanalysen,<br />
so lässt sich nicht zuletzt mit Blick auf die hier versammelten Beiträge<br />
feststellen, unterliegen zumindest einer Gefahr in aller Regel nicht,<br />
nämlich der, ihren Gegenstand und das ihm innewohnende (Bedeutungs-)Potential<br />
zu unterschätzen, wie das bei den ‚Deutungsverächtern‘<br />
allzu oft der Fall ist. Was aber Gerhard Rühm betrifft, so zeigen seine<br />
Selbstkommentare, dass er nicht gewillt ist, die ‚Deutungshoheit‘ der Literaturwissenschaft<br />
zu überlassen. Vive l’auteur…<br />
Zeitlich reicht das Spektrum der behandelten Texte – der Werkchronologie<br />
folgend, die auch für die Abfolge der Beiträge im ‚ersten <strong>Durchgang</strong>‘<br />
maßgeblich ist 6 – von Mitte der 1950er bis Ende der 1980er Jahre,<br />
umfasst also gut drei Jahrzehnte mit einem deutlichen Fokus auf dem<br />
Frühwerk.<br />
Ebenfalls breit gefächert sind die Gattungen, in welchem Zusammenhang<br />
sich allerdings fragen ließe, ob es überhaupt sinnvoll ist, angesichts<br />
der gerade in Bezug auf Rühm immer wieder betonten Grenzüberschreitungen<br />
7 traditionelle Kategorien wie die der Gattung zu bemühen. Rühm<br />
selbst tut dies dezidiert, macht von Gattungsbezeichnungen einen nachgerade<br />
exzessiven Gebrauch 8 .Dasmagaufdenersten Blick überraschen,<br />
erklärt sich indessen aus seiner über Jahrzehnte hinweg mit Konsequenz<br />
betriebenen Auseinandersetzung mit der Tradition. Wer erst einmal darauf<br />
zu achten beginnt, wird z.B. feststellen, dass er auffallend häufig<br />
herkömmliche wie von ihm erfundene Gattungs- bzw. Subgattungsbe-<br />
5 Helmut Schödel: Masturbieren zur Bundeshymne. In: Süddeutsche Zeitung<br />
(25.11.2003).<br />
6 Aus sachlogischen Gründen wurde diese Abfolge im zweiten <strong>Durchgang</strong> geringfügig<br />
modifiziert.<br />
7 Vgl. Hajo Schiff: Professor für Grenzüberschreitungen. In: Die Tageszeitung<br />
(20.01.1989) sowie Melitta Becker: Vita Gerhard Rühm. „Professor für<br />
Grenzüberschreitungen“. In: Dossier Gerhard Rühm. Hrsg. von Kurt Bartsch<br />
und Stefan Schwar. Graz/Wien: Droschl, 1999. S. 205-219.<br />
8 Vgl. dazu auch den Beitrag von Friedrich W. Block S. 144f.
IV Renate Kühn<br />
zeichnungen als Titel oder Untertitel verwendet und damit deutlich exponiert.<br />
Darüber hinaus bestimmt das Gattungsprinzip aber auch die<br />
Anordnung der Texte in seinen Buchpublikationen bis hin zur Werkausgabe,<br />
die ja als Ausgabe letzter Hand konzipiert ist. Dabei kann es leicht<br />
geschehen, dass derselbe Text in unterschiedlichen Publikationen unterschiedlichen<br />
Gattungen zugeordnet ist. So wird beispielsweise die von<br />
Michael Vogt im ‚zweiten <strong>Durchgang</strong>‘ analysierte „verbesserung eines<br />
sonetts von anton wildgans“ wie auch „die österreichische bundeshymne,<br />
um einen schritt weiter“ vom Gedicht zur Paraphrase, was eine<br />
durchaus andere Wertigkeit impliziert. Ähnliches gilt für das zunächst als<br />
‚Litanei‘ ausgewiesene „glaubensbekenntnis“, das in der Werkausgabe, in<br />
der es sehr wohl eine Sektion ‚Litaneien‘ gibt, als Sprechtext figuriert,<br />
während andere Litaneien in der Rubrik „vermischte gedichte“ 9 auftauchen.<br />
Mit der Änderung der Gattungsbezeichnung geht i.a.R. eine Kontextänderung<br />
einher, die ihrerseits eine veränderte Textwahrnehmung<br />
begünstigt. Auf ein den Gattungszuordnungen resp. Kontextänderungen<br />
vergleichbares Phänomen macht Friedrich Block aufmerksam, der, bezogen<br />
auf Rühms „vorwort“ zu dem Band Die Wiener Gruppe, ein immer<br />
neues ‚Umkopieren‘ konstatiert.<br />
Teilweise ändert sich indessen nur die Reihenfolge, in der zusammengehörige<br />
Texte dargeboten werden. Daraus resultiert im Fall der frühen<br />
Chansons zwar keine i.e.S. neue Lesart, wohl aber eine bemerkenswerte<br />
Verschiebung: Während es bei der Erstveröffentlichung im Wiener-Gruppe-Band<br />
bei der Reise durch die Körperlandschaft von unten nach oben<br />
geht, verhält es sich in geschlechterdings wie in der Werkausgabe genau umgekehrt<br />
– zum Stichwort ‚Umkehrungen‘, d.h. auf ein bei Rühm m.W.<br />
bislang unbeachtetes Verfahren, sei bei dieser Gelegenheit auf den Beitrag<br />
von Mathias Märtin im ‚ersten <strong>Durchgang</strong>‘ verwiesen.<br />
Ähnlich wie bei den Chansons finden auch bei den von Mathias Märtin<br />
analysierten Märchen und den von Hermann Bühlbäcker untersuchten,<br />
zwischen 1955 und 1956 entstandenen (Thusnelda-)Romanzen keine<br />
Veränderungen der Gattungszuordnung statt. Bezogen auf die<br />
Romanzen äußert Rühm selbst, einige von ihnen seien „für die erstpublikation<br />
[…] geringfügig verbessert“ 10 worden, was in unserem Kontext<br />
9 „durch und durch ein lebemann“ sowie „an der kreuzung“ – ein Text, der in<br />
der Gesamtausgabe überdies mit verändertem Titel erscheint.<br />
10 Gerhard Rühm: thusnelda-romanzen. In: Rühm: gesammelte werke. Bd 1.2:<br />
gedichte. Hrsg. von Michael Fisch. Berlin: Parthas, 2005. S. 1193.
Vorwort V<br />
heißt, dass er nicht nur die Texte anderer, von ihm dezidiert kritisch gesehener<br />
Autoren wie Wildgans „verbessert“. Von ‚Geringfügigkeit‘ kann<br />
dabei, wie Märtin im ‚zweiten <strong>Durchgang</strong>‘ am Beispiel von „das mädchen<br />
und die blume“ sowie „die werbung“ zeigt, indessen nicht die Rede<br />
sein.<br />
Über die vom Autor vorgenommene – und später nicht ‚verbesserte‘<br />
– Gattungszuschreibung setzt sich Hermann Bühlbäcker im ‚ersten<br />
<strong>Durchgang</strong>‘ beherzt hinweg, indem er das Ministück „kalender für ertrunkene“<br />
nicht als Theatertext, sondern als Gedicht liest – mit dem Ergebnis,<br />
dass durch diese ‚Eigenmächtigkeit‘, bei der Text und Paratext als<br />
Einheit verstanden werden, die Komplexität des vordergründig über Reduktionen<br />
funktionierenden ‚Kalenders‘ allererst fassbar gemacht wird.<br />
Ein ähnlicher Verstoß gegen die vorgegebene Gattungszuordnung findet<br />
sich bei Mathias Märtin, der Rühms Titelmärchen aus dem Band knochenspielzeug<br />
als eine im Märchenton daherkommende, diesen aber zugleich<br />
verfremdende Spielform des Grotesken erweist.<br />
Betrachtet man die innerhalb des Bandes berücksichtigten Gattungen,<br />
könnte sich auf den ersten Blick der Eindruck des Disparaten, um nicht<br />
zu sagen: des Beliebigen einstellen. Das Ministück steht neben dem Märchen,<br />
dieses wiederum neben dem Chanson, das Chanson neben der Romanze<br />
usw. Bei genauerem Hinsehen lässt sich indessen eine Art Systematik<br />
erkennen, die entsprechende Präokkupationen des Autors<br />
indiziert, gleichzeitig aber auch die einzelnen Beiträge des Bandes mit einem<br />
Netz von Verweisungen überzieht, was im Vorangehenden bereits<br />
angeklungenist.Sotrittdas–unabhängigvonBühlbäckersVorgehen–<br />
intermedial ausgerichtete Ministück in Beziehung zum von Maurach analysierten,<br />
ebenfalls intermedial ausgerichteten Hörstück. Märchen (Märtin,<br />
Kühn), Romanze (Bühlbäcker) und Fragment (Kühn) haben einen<br />
gemeinsamen Bezugspunkt in der (im Fall der „thusnelda-romanzen“:<br />
schwarzen) Romantik. Requiem (Maurach) und Litanei (Kühn) konvergieren<br />
bei gleichzeitigem religiösem Bezug im Musikalischen und treten<br />
solcherart in Beziehung zum seinerseits weltlichen Chanson (Vogt), das<br />
wiederum Bezüge zur (hier: österreichischen Bundes-)Hymne aufweist.<br />
Das bereits für „ophelia und die wörter“ charakteristische Rearrangement<br />
des Materials wiederum verbindet so unterschiedliche Texte wie<br />
wald, ein deutsches requiem und die „verbesserung eines sonetts von anton<br />
wildgans“ etc. Darüber hinaus zeigt sich im Verlauf beider Durchgänge,<br />
dass die politische resp. ideologiekritische Dimension den frühen wie
VI Renate Kühn<br />
den späten Texten inhärent ist und sich bemerkenswerterweise auch dort<br />
nachweisen lässt, wo man es auf den ersten Blick nicht erwartet hätte.<br />
Zum Gegenstand der Darstellung werden dabei alle wichtigen Aspekte<br />
von Welt: Politik, Religion, Sexualität, (gutes) Essen und Trinken, Körperlichkeit<br />
und Sinnlichkeit, Poesie und Metapoesie.<br />
Was wäre ein Vorwort ohne Dank! Der meinige gilt den Beiträgern dieses<br />
Bandes – für ihr Engagement, ihre Geduld und eine Fülle neuer Perspektiven<br />
und Erkenntnisse. Er gilt Hubert Sielecki für die Erlaubnis,<br />
seinen Film Sehen. fünf kinematographische sprechtexte während des Symposions<br />
zeigen zu dürfen, und Martina Pfeiler für ihre Kompetenz und Kürze<br />
verbindende Einführung. Er gilt den Institutionen, die das Symposion<br />
großzügig unterstützt haben, mithin der DEW21, der Gesellschaft der<br />
Freunde der TU Dortmund, der Fakultät Kulturwissenschaften sowie dem<br />
Kulturbüro der Stadt Dortmund. Und er gilt allen, die tatkräftig an der<br />
Vorbereitung des Symposions beteiligt waren: Verena Beringhoff, Sarah<br />
Maaß und Mathias Märtin sowie Nils Jablonski und Vera Pleßer, die darüber<br />
hinaus auch die Moderation übernommen haben.<br />
Gewidmet ist der ‚Doppelte <strong>Durchgang</strong>‘ dem – eines Tages hoffentlich<br />
auch wissenschaftlichen – Nachwuchs, der Vater bzw. Mutter manches<br />
Mal mit Gerhard Rühm teilen musste: Luzia, Willem und Elisabeth,<br />
Jona, Ida Eleonora und Jasper.<br />
Renate Kühn
Mathias Märtin<br />
Knochenkomposita<br />
Groteske Körper in Gerhard Rühms „knochenspielzeug“<br />
Als im Herbst 2006 Fotos auftauchten, die deutsche Soldaten im Afghanistaneinsatz<br />
beim Posieren mit Menschenknochen zeigten, veröffentlichte<br />
die Bild Zeitung einen Artikel mit der Schlagzeile „Das perverse<br />
Knochen-Puzzle“ 1 . Das Determinatum des Kompositums ‚Knochen-<br />
Puzzle‘ bezieht sich auf die von den Soldaten stammende Anordnung<br />
der Knochen (‚Puzzle‘), die von Foto zu Foto variiert, wobei ‚Puzzle‘<br />
einen spielerischen Umgang mit den Knochen konnotiert, der deren traditionellem<br />
Status als Objekten der Pietät zuwiderläuft. Dies wird durch<br />
das Adjektiv ‚pervers‘ herausgestellt: Die Darstellungen verstoßen gegen<br />
die Verhaltensnorm – sind also perverso more 2 – und werden vom Verfasser<br />
des Artikels nicht gebilligt. Darüber hinaus spiegelt sich in der<br />
Schlagzeile aber auch die Wirkung, die die Bilder auf den Betrachter haben.<br />
Angesichts des krassen Verstoßes gegen die Pietät wirken sie einerseits<br />
abartig, eben: pervers; andererseits erscheint das Verhalten der Soldaten<br />
lächerlich, geradezu kindisch: Sie setzen ein ‚Puzzle‘ zusammen.<br />
Konträr dazu erinnern Knochen an die Unausweichlichkeit des Todes<br />
und sind daher unheimlich. Diese Gefühlsambivalenz ist charakteristisch<br />
für das Groteske, denn zu ihm „gehören Lachen und Grauen zugleich“ 3 .<br />
Wird etwas als ‚grotesk‘ empfunden, liegt immer ein Verstoß gegen eine<br />
geltende Norm bzw. Ordnung vor. Als mögliche Objekte eines solchen<br />
Verstoßes nennt Peter Fuß in seiner (für diesen Aufsatz maßgeblichen)<br />
Arbeit zum Grotesken die Verhaltensordnung, dieGeschmacksordnung, die<br />
Sprachordnung sowie die Erkenntnisordnung 4 . Diese Ordnungen können<br />
ihm zufolge durch die groteske-typischen Mechanismen der Vermischung,<br />
1 Dirk Hoeren: Das perverse Knochen-Puzzle. www.bild.t-online.de/BTO/<br />
news/aktuell/2006/10/28/afghanistan-fotos-knochenpuzzle. Stand: 21.1.2007.<br />
2 Vgl. Pons. Wörterbuch. Schule und Studium. Latein. 3., neu bearbeitete Aufl.<br />
Stuttgart: Ernst Klett Sprachen, 2003. S. 672. Stichwort ‚per-verto‘.<br />
3 Carl Pietzcker: Das Groteske. In: Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der<br />
Dichtung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980. S. 96.<br />
4 Vgl. Peter Fuß: Das Groteske. Medium des kulturellen Wandels. Kölner Germanistische<br />
Studien: Neue Folge: Band 1. Köln/Weimar/Wien: Böhlau,<br />
2001. S. 13.
28 Mathias Märtin<br />
Verzerrung und Verkehrung außer Kraft gesetzt werden, deren Produkte<br />
(in entsprechender Reihenfolge) das Chimärische, dasMonströse und das<br />
Inverse sind 5 . Im vorliegenden Fall wird die Verhaltensordnung durch<br />
eine Vermischung der Bereiche ‚Spiel‘ und ‚Tod‘ außer Kraft gesetzt. In<br />
der Terminologie Wolfgang Kaysers wäre dies eine „Vereinigung des<br />
Unvereinbaren“ 6 .<br />
Gerhard Rühm setzt das Determinativkompositum „knochenspielzeug“<br />
7 aus den zwei Konstituenten ‚Knochen‘ und ‚Spielzeug‘ zusammen<br />
– wobei letzteres bereits ein lexikalisiertes Kompositum ist. ‚Puzzle‘ und<br />
‚Spielzeug‘ gehören zum selben semantischen Bereich. Die Vermischung<br />
mit dem Bereich ‚Tod‘ erfolgt jeweils durch Hinzufügung des Determinans<br />
‚Knochen‘, ist jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt: Während<br />
der Bindestrich und die Majuskel ‚P‘ in „Knochen-Puzzle“ die Grenzen<br />
der zwei Einzelwörter betonen, werden sie bei Rühm, der die zwei Konstituenten<br />
zu einem Wort verbindet, aufgehoben – die Einzelwörter verschmelzen<br />
zu einer Wort-Chimäre 8 .<br />
Die Komposition dient der grotesken Verfremdung häufig als Folie.<br />
Dies liegt zum einen daran, dass die Vermischung sowohl für die Zusammensetzung<br />
als auch für das Groteske typisch ist. Zum anderen ist<br />
die Komposition eines der Hauptverfahren zur Wortbildung im Deutschen,<br />
was oft als Argument für dessen ‚Nobilitierung‘ herangezogen<br />
wurde. Dazu heißt es bei Kayser:<br />
Auch die Fähigkeit zur Zusammensetzung hatten die deutschen<br />
Humanisten an ihrer Muttersprache gelobt und sie deswegen neben<br />
das Griechische und noch vor das Lateinische, d.h. rangmäßig<br />
zu den ‚heiligen‘ Sprachen gestellt 9 .<br />
Die Möglichkeit der Komposition dient hier also der ‚Erhöhung‘ des<br />
Deutschen zur klassischen Sprache. Groteske Verfremdungen, in denen<br />
sich der Mechanismus scheinbar verselbständigt, unterlaufen diesen Anspruch<br />
jedoch 10 . So stellt Kayser fest, dass bei Johann Fischart „nach ganz<br />
5 Vgl. Fuß: Das Groteske. S. 16.<br />
6 Wolfgang Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung. Reinbek bei Hamburg:<br />
Rowohlt, 1960. S. 90.<br />
7 Gerhard Rühm: knochenspielzeug. In: Rühm: knochenspielzeug. märchen,<br />
fabeln und liebesgeschichten. Düsseldorf: eremiten-presse, 1979. S. 22.<br />
8 Vgl. Fuß: Das Groteske. S. 377.<br />
9 Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung. S. 113.<br />
10 Vgl. Fuß: Das Groteske. S. 342.
Knochenkomposita 29<br />
ernsthaftem Beginn die tollsten Bildungen [… durch eine] den Sprecher<br />
mitreißende Betriebsamkeit spracheigener Prinzipien“ 11 entstehen. Fuß<br />
fasst das Klassische und das Groteske dementsprechend als einander gegenläufige<br />
Prinzipien auf 12 . Im Gegensatz zu anderen grotesken Wortmischungen<br />
wie François Rabelais’ „morderegrippipiotabirofreluchamburelurecoquelurintimpanemens“<br />
13 oder Fischarts „hasenasinorige“ 14 , deren<br />
Konstituenten eher schwer zu rekonstruieren sind, bleiben in Rühms<br />
Kompositum „knochenspielzeug“ die Grenzen der Einzelwörter erkennbar,<br />
da es wegen seiner relativen Kürze überschaubar ist. Rühm erfüllt<br />
konsequent eine Regel der Wortbildung auf formalsprachlicher Ebene<br />
und führt so die Wiederholbarkeit des Prozesses vor Augen, für die Johannes<br />
Volmert als extremes Beispiel die Scherzbildung „Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitänswitwenrentenauszahlungsstelle“<br />
15 nennt.<br />
Wörter dieser Länge sind monströs, weil die Maße eines ‚normalen‘<br />
Worts ins ‚Riesenhafte‘ gesteigert werden. Dies ist bei Rühm nicht der<br />
Fall: „knochenspielzeug“ ist eine Wort-Chimäre, aber kein Wort-Monstrum.<br />
Durch die ungewöhnliche Erweiterung des Kompositums ‚Spielzeug‘<br />
lenkt er die Aufmerksamkeit auf dessen Einzelmorpheme, was eine<br />
weitere Analyse erlaubt:<br />
Das Determinatum ‚Zeug‘ kann als metapoetischer Hinweis auf den<br />
„Materialcharakter der Sprache“ 16 und somit auf Rühms generelles<br />
Kunstverständnis gelesen werden. Das ‚Materialbewusstsein‘ unterscheidet<br />
ihm zufolge „Poesie […] von bloßer Mitteilung“ 17 . Entsprechend re-<br />
11 Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung. S. 113.<br />
12 Vgl. Fuß: Das Groteske. S. 51.<br />
13 Heinrich Schneegans: Geschichte der grotesken Satire. Straßburg: Karl J.<br />
Trübner, 1894. S. 264.<br />
14 Johann Fischart: Geschichtklitterung. Text der Ausgabe letzter Hand von<br />
1590. Düsseldorf: Karl Rauch, 1963. S. 7.<br />
15 Johannes Volmert (Hg): Grundkurs Sprachwissenschaft. Eine Einführung in<br />
die Sprachwissenschaft für Lehramtsstudiengänge. München: Wilhelm Fink,<br />
4 2000. S. 106.<br />
16 Vgl. Dagmar-Sonja Winkler: Ideologische Ziele der ‚Wiener Gruppe‘ und ihre<br />
Bedeutung für die Gegenwartsliteratur. In: Zeitschrift für Germanistik 1.3<br />
(1991). S. 592; vgl. auch Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der<br />
deutschen Sprache. Einträge: ‚Zeug‘, ‚Zeuge‘ und ‚zeugen‘. 24., durchgesehene<br />
Aufl. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2002. S. 1009-1010.<br />
17 Gerhard Rühm: konkrete poesie. In: Rühm: gesammelte werke. Bd 1.2. gedichte.<br />
Hrsg. von Michael Fisch. Berlin: Parthas, 2005. S. 1176; vgl. auch Franz
30 Mathias Märtin<br />
duziert er vorhandenes Sprachmaterial in einem Wechselspiel aus Deund<br />
Rekomposition auf Grundelemente wie Satz, Wort oder Laut und<br />
fügt sie neu zusammen. Im Extremfall kommt es „zu einer art ‚atomzertrümmerung‘<br />
des wortes in seine phonetischen bestandteile […] – also<br />
zur reinen ‚lautdichtung‘“ 18 . Das Determinans ‚Knochen‘ aktualisiert den<br />
im Determinatum ‚Zeug‘ implizierten Materialgedanken. Knochen sind<br />
Überreste des toten Körpers. Auf der Objektebene verfolgt Rühm die<br />
Strategie einer Reduktion auf Grundelemente weiter. Indem er auf das<br />
„Motiv des zerstückelten Körpers“ 19 zurückgreift, reduziert er den Leib<br />
auf sein ‚Grundmaterial‘. Durch die Verwendung dieses Motivs stellt er<br />
„knochenspielzeug“ zudem in die Tradition von Texten, in denen der<br />
(menschliche) Körper Objekt der grotesken Dekomposition ist 20 .Michail<br />
Bachtin grenzt das ‚klassische‘ vom grotesken Körperkonzept ab:<br />
Den grotesken Gestalten liegt eine besondere Vorstellung vom<br />
körperlichen Ganzen und dessen Grenzen zugrunde. Die GrenzenzwischenLeibundWeltundzwischenLeibundLeibverlaufenindergroteskenKunstganzandersalsinderklassischenoder<br />
naturalistischen 21 .<br />
In Anlehnung an Bachtin nennt Fuß griechische Skulpturen als Beispiele<br />
für Manifestationen der klassischen Körperkonzeption, die sich durch<br />
die „Geschlossenheit der Körpergrenze“ 22 auszeichnet. Knochen sind<br />
demgegenüber Manifestationen der Übertretung dieser Grenze. Sie sind<br />
von der Ordnung des Skeletts – das wiederum die Physiognomie des<br />
klassischen Körpers maßgeblich bestimmt – entbunden und so für eine<br />
kreative Rekombination verfügbar gemacht.<br />
Das Determinans ‚Spiel‘ weckt die Erwartung, dass die Rekombination<br />
buchstäblich ‚spielerisch‘ erfolgt. Darüber hinaus dürfte es als Hin-<br />
Schuh: Das Material der Sprache. In: Kurt Bartsch und Stefan Schwar (Hgg.):<br />
Dossier. Band 15: Gerhard Rühm. Graz: Droschl, 1999. S. 15-16.<br />
18 Rühm: konkrete poesie. S. 1176.<br />
19 Fuß: Das Groteske. S. 76.<br />
20 Vgl. Michail Bachtin: Die groteske Gestalt des Leibes. Übersetzt von Alexander<br />
Kaempfe. In: Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt:<br />
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980. S. 198: „Der groteske Modus<br />
der Darstellung des Leibes und des leiblichen Lebens beherrschte die Kunst,<br />
einschließlich der Wortkunst, jahrtausendelang“.<br />
21 Bachtin: Die groteske Gestalt des Leibes. S. 195.<br />
22 Fuß: Das Groteske. S. 75.
Knochenkomposita 31<br />
weis auf Ludwig Wittgensteins Sprachspielkonzeption zu verstehen sein,<br />
zu der Rühm – wie er selbst bezeugt – eine große Affinität hat 23 .Im<br />
Sprachspiel werden Zeichen durch intersubjektiven Gebrauch mit Bedeutungen<br />
versehen, also ist das Ergebnis des Sprachspiels – die Sprachordnung<br />
– wie auch die Verhaltens- und die Erkenntnisordnung „ein kollektives<br />
Produkt“ 24 . Die Bedeutung eines Zeichens wird demnach durch<br />
dessen Gebrauch bestimmt: Wird es „nicht gebraucht, so ist es bedeutungslos“<br />
25 . Damit ist zugleich angedeutet, dass Ordnungen nicht gegeben sind,<br />
sondern gemacht werden, und dass sie dekomponierbar sind: „Alles, was<br />
wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir beschreiben können,<br />
könnte auch anders sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori“ 26 .<br />
Rühms inverse Sprachspiele dekomponieren die Sprachordnung. Sie sind<br />
invers, weil sie die kollektiven Sprachspiele, die zur Komposition einer<br />
Sprachordnung führen, zu Verfahrensweisen der Dekomposition verkehren.<br />
Dabei bedient sich Rühm sprachinterner Mechanismen wie beispielsweise<br />
der Wortzusammensetzung. Dies entspricht dem von Fuß<br />
formulierten ‚Kernparadox des Grotesken‘: „Das Groteske stellt mit den<br />
Mitteln seiner kulturellen Ordnung innerhalb dieser Ordnung dar, was<br />
ihr äußerlich bleibt“ 27 und forciert so ihre Auflösung. Für das Groteske<br />
gilt, was Jonathan Culler zum Dekonstruktivismus sagt: „Der Praktiker<br />
der Dekonstruktion arbeitet innerhalb eines Begriffssystems, aber in der<br />
Absicht, es aufzubrechen“ 28 . Identifiziert man das ‚Spiel‘ auf der Metaebene<br />
also als Sprachspiel, repräsentieren die ‚Knochen‘ das Sprachmaterial.<br />
Dafür spricht auch, dass Rühm die Sprache als ein „begriffliches<br />
System mit eigener Wirklichkeit“ 29 versteht, was besagt, dass sie keine<br />
außersprachliche Realität, sondern nur sich selbst repräsentiert. Dieses<br />
Verständnis basiert auf Wittgensteins Vorstellung von der ‚Autonomie<br />
der Sprache‘, der zufolge<br />
23 Vgl. Rühm in: Schuh: Das Material der Sprache. S. 14.<br />
24 Fuß: Das Groteske. S. 175.<br />
25 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: Wittgenstein: Werkausgabe.<br />
Band I. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984. S. 23. Hervorhebung im<br />
Original.<br />
26 Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. S. 68.<br />
27 Fuß: Das Groteske. S. 14.<br />
28 Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie.<br />
Übersetzt von Manfred Momberger. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt,<br />
1999. S. 95.<br />
29 Olaf Nicolai: Geste zwischen Expression und Kalkül. Zur Poetik der Wiener<br />
Gruppe. Leipzig: phil. Diss.,1993. S. 85.
32 Mathias Märtin<br />
die GRAMMATIK, die sprachlichen Regeln, die unseren begrifflichen<br />
Bezugsrahmen bilden, willkürlich in dem Sinn ist, daß sie<br />
auf ein angebliches Wesen oder eine Form der Wirklichkeit keine<br />
Rücksicht nimmt 30 .<br />
Rühm ordnet „knochenspielzeug“ der Gattung ‚Märchen‘ zu, die traditionellerweise<br />
mit dem Wunderbaren, nicht aber mit dem Grotesken verbunden<br />
wird 31 , obwohl sein Figuren- und Motivinventar häufig groteske<br />
Züge trägt – man denke nur an Riesen, Hexen, sprechende Tiere und<br />
Gegenstände sowie zerstückelte Körper. Dieser scheinbare Widerspruch<br />
lässt sich Kayser zufolge so auflösen:<br />
[D]as Groteske ist die entfremdete Welt. […] Man könnte die Welt des<br />
Märchens, wenn man von außen auf sie schaut, als fremd und<br />
fremdartig bezeichnen. Aber sie ist keine entfremdete Welt 32 .<br />
Die abnorme und mit dem Wirklichkeitsbild einer aufgeklärten Gesellschaft<br />
unvereinbare Märchenwelt wirkt seiner Ansicht nach nicht grotesk,<br />
weil sie strikt von der realen Welt geschieden ist. Die im traditionellen<br />
Märchen konstituierte Wunderwelt ist eine „von den Bedingungen<br />
der Wirklichkeitswelt mit ihren Kategorien Zeit, Raum und Kausalität“ 33<br />
losgelöste „autonome Eigenrealität“ 34 . Das „Märchen sagt: – Es war einmal“<br />
35 und „über den Bergen“ 36 und wird durch solcherart Formeln von<br />
der außersprachlichen Realität zeitlich bzw. räumlich getrennt. Fuß zufolge<br />
stellen diese Formeln Manifestationen historischer und geographischer<br />
Marginalisierungsstrategien dar, die dazu dienen, das Abnorme<br />
30 Hans-Johann Glock: Wittgenstein-Lexikon. Darmstadt: Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft, 2000. S. 60. Stichwort ‚Autonomie der Sprache‘<br />
31 Vgl. Fuß: Das Groteske. S. 127, 133; vgl. auch Max Lüthi: Märchen. Bearbeitet<br />
von Heinz Rölleke. 10., aktualisierte Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler,<br />
2004. S. 3.<br />
32 Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung. S. 136. Hervorhebungen im<br />
Original.<br />
33 Kurt Ranke in: Lüthi: Märchen. S. 4.<br />
34 Fuß: Das Groteske. S. 133.<br />
35 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethes<br />
Werke. Hamburger Ausgabe. Textkritisch durchgesehen und kommentiert<br />
von Erich Trunz. Bd 3. 10., überarbeitete Auflage. München: C.H. Beck,<br />
1976. S. 316, Vers 10496.<br />
36 Jakob Grimm und Wilhelm Grimm: Sneewittchen. In: Kinder- und Hausmärchen.<br />
Band I. Ausgabe letzter Hand. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Philipp<br />
Reclam jun., 2001. S. 272.
Knochenkomposita 33<br />
vom Normalen zu trennen und damit die Norm zu fixieren 37 . Im traditionellen<br />
Märchen wird das Marginalisierte repräsentiert, aber – und dies<br />
ist entscheidend – nicht re-zentriert. Es findet keine (virtuelle) Vermischung<br />
der Realwelt mit der Märchenwelt statt, vielmehr bleiben beide<br />
strikt getrennt. Rühm selbst bezeichnet das Märchen als „Geschichte, die<br />
gar nicht wahr sein darf“ 38 und sieht den Vorteil dieser Gattung für seine<br />
Dichtung darin, „dass man Unwahrscheinliches unter dem Überbegriff<br />
‚Märchen‘ unterbringen kann“ 39 . Die Autonomie des Märchens ist als<br />
prototypisch für die ‚Autonomie der Sprache‘ insgesamt zu interpretieren<br />
und prädestiniert es für deren „formale Introversion“ 40 . Paradoxerweise<br />
sind Rühms Märchen nicht durch Formeln abgeschlossen, zu denen<br />
auch das für traditionelle Märchen konstitutive Happy End zählt.<br />
Ihre „Form ist offen“ 41 : „ein kind spielte gerne mit knochen“ 42 .Rühm<br />
reduziert das ‚es war einmal‘ des Märchens auf das Präteritum („spielte“)<br />
und somit bis zur Unkenntlichkeit. Die Grenzen zwischen Märchenwelt<br />
und Wirklichkeitswelt werden aufgehoben, das Marginalisierte wird rezentriert<br />
und das Groteske kann seine Wirkung entfalten.<br />
Der erste Satz des Textes aktualisiert die Verbindung der unvereinbaren<br />
semantischen Bereiche ‚Spiel‘ und ‚Tod‘, wobei das Spiel mittels der<br />
Nominalphrase ‚ein Kind‘ buchstäblich dem kindlichen Bereich zugeordnet<br />
wird. Dies lässt sich als metapoetischer Bezug auf die „ontogenetische<br />
Marginalisierung“ 43 lesen, obwohl das Kind auch schlicht zum märchentypischen<br />
Figureninventar gehört. Ebenso typisch wie die Figur ist<br />
37 Vgl. Fuß: Das Groteske. S. 38, 41, 43.<br />
38 Rühm in: Jörg Drews: Abhandlung über das Lautall. Hörspielmacher Gerhard<br />
Rühm. In: Klaus Schöning (Hg.): Hörspielmacher: Autorenportraits und<br />
Essays. Königstein: Athenäum, 1983. S. 160.<br />
39 Rühm im Gespräch mit dem Verfasser am 8.1.2007 in Köln.<br />
40 Karl Riha: Zum Prinzip der Rekomposition: Gerhard Rühm und die ‚traditionellen<br />
Formen‘. In: Protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst 2 (1987).<br />
S. 25. Bei der ‚Introversion‘ werden als verbindlich geltende Regeln in einem<br />
Wechselspiel aus Normerfüllung und -abweichung bewusst gemacht und Alternativen<br />
aufgezeigt.<br />
41 Jörg Drews: Märchen für Erwachsene. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 129<br />
(30./31.5.1970).<br />
42 Rühm: knochenspielzeug. S. 22. Zeile 1. Die Zitate aus Rühms „knochenspielzeug“<br />
werden von nun an im laufenden Text durch eingeklammerte Angabe<br />
der jeweiligen Zeile nachgewiesen.<br />
43 Fuß: Das Groteske. S. 43.
34 Mathias Märtin<br />
die fehlende Charakterisierung des Kindes – „Personen und Dinge des<br />
Märchens sind im allgemeinen nicht individuell gezeichnet“ 44 , was dem<br />
„raschen Fortschreiten“ 45 der Handlung dient. Das Adverb ‚gerne‘ bestimmt<br />
die Modalität des Spiels und impliziert die Selbstverständlichkeit,<br />
mit der die Märchenfigur dem Knochen – dem memento mori – begegnet<br />
46 . Rühm behält also den traditionellen „Märchenton“ 47 bei wie auch<br />
die märchentypischen Wiederholungen 48 .<br />
Durch die analoge Materialfunktion von Wort und Knochen stellt<br />
Rühm eine Verbindung der Bereiche ‚Sprache‘ und ‚Tod‘ her, die sich<br />
bereits bei Friedrich Nietzsche findet: „[D]as Wort tödtet, alles was fest<br />
ist tödtet“ 49 . Sprache ist ein Ausdruck des „Verlangens in eine Welt des<br />
Bleibenden“ 50 . Sprach-Grotesken dekomponieren das ‚Wort‘ oder, besser<br />
gesagt, die sprachlichen Mechanismen, da die Deformation nicht nur<br />
auf der Ebene des Einzelworts stattfindet. Das ‚Bleibende‘ wird im Grotesken<br />
zugunsten des Wandels aufgegeben:<br />
Das groteske Motiv zeigt ein Phänomen in der Transformation,<br />
in der Metamorphose, im Stadium des Sterbens oder der Geburt,<br />
des Wachsens und Werdens. Die Beziehung zur Zeit, zumWerden,<br />
ist ein konstitutives Merkmal grotesker Motive. Eine damit<br />
zwangsläufig verbundene Eigenschaft ist die Ambivalenz: dasMotiv<br />
stellt auf die eine oder andere Weise beide Pole der Veränderung,<br />
das Alte und das Neue, das Sterbende und das Entstehende, den Beginn<br />
und das Ende der Metamorphose dar 51 .<br />
44 Lüthi: Märchen. S. 28.<br />
45 Lüthi: Märchen. S. 29.<br />
46 Vgl. Lüthi: Märchen. S. 7.<br />
47 Drews: Märchen für Erwachsene.<br />
48 Vgl. Lüthi: Märchen. S. 25-26.<br />
49 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden.<br />
Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd 6. München: Deutscher<br />
Taschenbuch Verlag, de Gruyter, 1980. S. 204.<br />
50 Friedrich Nietzsche: Bd 12. S. 365. Konstituiert wird die ‚Welt des Bleibenden‘<br />
z.B. durch Kanonisierung. Das Lateinische etwa ist eine ‚tote‘ Sprache.<br />
Seine Sprachordnung unterliegt keinem Wandel mehr. Die Bemühungen der<br />
deutschen Humanisten, das Deutsche in den Kanon der klassischen Sprachen<br />
aufzunehmen, erforderten eine Fixierung der Sprachordnung. Diese wird<br />
durch groteske Sprachspiele subvertiert.<br />
51 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt<br />
von Gabriele Leupold. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. S. 74-75. Hervorhebungen<br />
im Original.
Knochenkomposita 35<br />
Kindheit und Tod stehen in dialektischer Opposition am Anfang und<br />
am (absoluten) Ende des Lebens 52 . Die Zusammenführung dieser Pole<br />
in „knochenspielzeug“ wirkt grotesk. Produkt des grotesken Wandels ist<br />
der groteske Gegenstand, die „Form im geformten Zustand ihrer Auflösung“<br />
53 bzw. die „gestaltete Ungestalt“ 54 . Auf der Objektebene des Textes<br />
sind die Knochen ihrer fixen Relation, die sie zum Skelett macht, enthoben.<br />
So wird eine Relativierung möglich: „es baute burgen daraus“<br />
(1f.). Das Kind spielt ein ‚Werkspiel‘ im Sinne Karl Bühlers 55 und bedient<br />
sich eines Modells, das dem klassischen Prinzip entspricht 56 .Das<br />
Material ist allerdings inadäquat. Eine ‚Knochenburg‘ ist ein grotesker<br />
Gegenstand 57 .<br />
52 Vgl. Bachtins Feststellung, dass im Grotesken bevorzugt jene „Altersphasen<br />
des Körpers“ dargestellt werden, „die Tod und Geburt am nächsten stehen,<br />
also Kindheit und Greisenalter“ (Bachtin: Rabelais und seine Welt. S. 77).<br />
53 Pietzcker: Das Groteske. S. 88.<br />
54 Fuß: Das Groteske. S. 156.<br />
55 Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena:<br />
Gustav Fischer, 1934. S. 52ff.<br />
56 Fuß unterscheidet die territoriale (klassische) von der nomadischen (grotesken)<br />
Ordnung (vgl. Fuß: Das Groteske. S. 19-20). Die Gestalt einer Burg<br />
wird durch die Burgmauer bestimmt. Das Innere ist klar definiert. Die Burg<br />
dient dem Schutz des gestalteten, inneren Territoriums vor dem Einfall des<br />
Äußeren, in dem das nomadische Prinzip vorherrscht. Auch Kant erklärt das<br />
Entstehen der Stadt – des Äquivalents von Burg (vgl. Kluge: Etymologisches<br />
Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 161. Stichwort ‚Burg‘) – aus dem Sicherheitsbedürfnis<br />
der Sesshaften gegenüber der Aggression der Nomaden<br />
(vgl. Immanuel Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte. In:<br />
Kant: Gesammelte Schriften. Bd 8. Abhandlungen nach 1781. Hrsg. von der<br />
Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin/Leipzig: Walter<br />
de Gruyter, 1923. S. 118ff.). Im Märchen dient die Burg bzw. das Schloss<br />
ebenfalls als Symbol der Abgrenzung. So wird z.B. die Prinzessin in Hans<br />
Christian Andersens Märchen „Das Feuerzeug“ im Schloss den Blicken der<br />
Menschen entzogen: „Sie wohnt in einem großen kupfernen Schlosse, ringsum<br />
durch viele Mauern und Türme geschützt“ (Hans Christian Andersen:<br />
Das Feuerzeug. In: Andersen: Märchen. Übersetzt von Heinrich Denhardt.<br />
Stuttgart: Reclam jun., 2004. S. 11).<br />
57 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Bachtins zum Motiv<br />
der ‚panurgischen Mauer‘, das eine Abwandlung des griechisch-antiken Motivs<br />
der ‚unzerstörbaren Körpermauer‘ ist: „Schon in dieser Antikenreminiszenz<br />
im hohen Stil wird die groteske Verkörperlichung der Mauer eingeleitet, und<br />
zwar durch eine Metapher: die stärkste Mauer besteht aus den Knochen von Krie-
36 Mathias Märtin<br />
Gemäß der metasprachlichen Funktion von ‚Knochen‘ als Äquivalent<br />
zum Sprachmaterial, das durch die Dekomposition der konventionellen<br />
Sprachordnung (des ‚Sprachkörpers‘) gewonnen wird, repräsentiert ‚Kind‘<br />
den Sprecher bzw. Autor. Sigmund Freud zufolge verhält sich jedes spielende<br />
Kind „wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft<br />
oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige<br />
Ordnung versetzt“ 58 . Darüber hinaus repräsentiert das Kind, dessen<br />
Knochen bereits das Material zu späteren Spielen bereitstellen, auch die<br />
dekomponierte Sprachordnung: Es starb „und seine knochen lagen da<br />
[…]. bis ein kind vorbeikam, das gerne mit knochen spielte“ (8ff.). Die<br />
groteske Sprachordnung ist wie die klassische mittels der Sprache selbst<br />
dekomponierbar: „es baute burgen daraus und zerstörte sie wieder mit<br />
knochen“ (1f.). Dies ist das „spielerische Auflösen fester und verfestigter<br />
Formen, welche mit dem Anspruch auftr[e]ten, ewige Werte zu verkörpern“<br />
59 . Die groteske Ordnung unterliegt diesem Anspruch nicht: Sie ist<br />
„Zeugnis einer Möglichkeit des Andersseins“ 60 – Rühm verwendet<br />
Sprachspiele im Sinne Wittgensteins als „Vergleichsobjekte, die durch<br />
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache<br />
werfen sollen“ 61 . Dafür sprechen – neben der Reversibilität des Ordnungsvorgangs<br />
– auch die verschiedenartigen Relationen, in denen die<br />
Knochen in „knochenspielzeug“ zueinander stehen: Sie sind scheinbar<br />
relationslos – „seine knochen lagen da“ (8) –, stehen in grotesker Relation<br />
zueinander – „burgen“ (1), „flöten“ (4) – und sind ‚klassisch‘ zu<br />
„kind“ (1) verbunden. Auch die zuletzt genannte Verbindung unterliegt<br />
dem Wandel: Das Kind „wurde groß“ (3). Grundsätzlich entspricht dies<br />
der ‚natürlichen‘ Entwicklung. Hier ist die mit dem Wachsen einhergehende<br />
extreme Dünnleibigkeit, die letztlich zur Auflösung des Körpers führt,<br />
jedoch eine Normverletzung: „es wurde groß, blieb aber schwach und hager<br />
[…], bis es ganz und gar vom fleische gefallen war und nur noch aus<br />
gern. Der menschliche Körper wird zu Baumaterial“ (Bachtin: Rabelais und<br />
seine Welt. S. 354. Hervorhebungen im Original).<br />
58 Sigmund Freud: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur. Frankfurt/M.: Fischer<br />
doppelpunkt [sic], 1963. S. 7-8.<br />
59 Alfred Doppler: Die literarischen Verfahrensweisen der Wiener Gruppe. In:<br />
Michael Klein (Hg.): Thematisierung der Sprache in der österreichischen Literatur<br />
des 20. Jahrhunderts. Innsbruck: Universität, 1982. S. 113.<br />
60 Nicolai: Geste zwischen Expression und Kalkül. S. 49.<br />
61 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Wittgenstein:<br />
Werkausgabe. Bd I. S. 304.
Knochenkomposita 37<br />
eitel knochen bestand“ (3ff.). Fuß stellt fest, dass das Motiv der monströsen<br />
Dick- bzw. Dünnleibigkeit als Subversion des klassischen Körperideals<br />
zu interpretieren ist 62 . Darüber hinaus dient die Dekomposition des<br />
menschlichen Körpers in der Literatur der Moderne häufig der Zerstörung<br />
des Glaubens an das Ich i.S. des autonomen Subjekts. So finden sich<br />
bei August Stramm, der Rühm stark beeinflusste 63 , folgende Verse:<br />
Reißet aus dem Raum<br />
Das<br />
Ich! 64<br />
Fuß sieht in Arthur Rimbauds Aussage „Ich ist ein Anderer“ 65 ein Paradigma<br />
der Moderne. Er verweist auf die Möglichkeit, dass das Subjekt<br />
nur ein fiktionales Produkt der Sprache ist und sieht in der Moderne die<br />
‚Krise des Subjekts‘ mit einer allgemeinen ‚Sprachkrise‘ verbunden 66 .Zu<br />
erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an Jacques Lacans ‚Spiegelstadium‘<br />
als Phase der Ich-Konstitution, deren Scheitern sich in dem<br />
Albtraum vom grotesken zerstückelten Körper ausdrückt 67 .BeiStramm<br />
geht das Ich in der Masse unter – richtiger gesagt, ist zu bezweifeln, ob<br />
sie überhaupt aus Individuen besteht:<br />
62 Vgl. Fuß: Das Groteske. S. 312.<br />
63 Rühm im Gespräch mit dem Verfasser am 8.1.2007 in Köln.<br />
64 August Stramm: Die Menschheit. In: Stramm: Die Dichtungen. Sämtliche<br />
Gedichte, Dramen, Prosa. Hrsg. und mit einem Nachwort von Jeremy Adler.<br />
München/Zürich: Piper, 1990. S. 63-74. S. 67f. Rühm kommt dieser ‚Forderung‘<br />
beispielsweise in der ‚Liebesgeschichte‘ nach: „die kugel rollte auf mich<br />
zu“ (in: Rühm: knochenspielzeug. S. 54). Dort heißt es: „langsam kam ich zu<br />
mir, ging aber vorüber und verschwand“ (Zeile 11f.). Konsequenterweise verwendet<br />
er das Pronomen der ersten Person Singular im weiteren Textverlauf<br />
nicht mehr in der Subjektfunktion. Vgl. dazu auch Jakob van Hoddis: „Von<br />
Mir und vom Ich“ (in: van Hoddis: Dichtungen und Briefe. Hrsg. von Regina<br />
Nörtemann. Zürich: Arche, 1987. S. 65-68, hier S. 68), wo es heißt: „Ich<br />
schlug mich gegenseitig tot“.<br />
65 Arthur Rimbaud zitiert nach Fuß: Das Groteske. S. 204.<br />
66 Vgl. Fuß: Das Groteske. S. 204-205.<br />
67 Vgl. Jacques Lacan: Le stade du miroir comme formateur de la fonction du<br />
Je. In: Lacan: Écrits. Paris: Éditions du Seuil, 1966. S. 99; vgl. auch Ursula<br />
Amrein: Das Groteske als Existenzchiffre der Moderne. In: Colloquium Helveticum.<br />
Bd 35. Freiburg in der Schweiz: 2004. S. 260-261.