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Gerhard Waldherr - Antarktis

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ANTARKTIS<br />

Irre im Eis<br />

Zuerst über den Gletscher. Milchiggrau liegt er in der kargen Landschaft,<br />

bedeckt von sulzigem Schnee. Bäche von Schmelzwasser plätschern aus<br />

seiner eisigen Zunge. Dann vorbei an der uruguayischen Forschungsstation<br />

Artigas. Die erste Steigung und hinein in die steinerne Einsamkeit.<br />

Rechts ein anthrazitfarbener See, links die blauschwarz schimmernde<br />

Maxwell Bay. Endlose Trampelpfade, ein paar morsche Bretter über<br />

schlammigen Bächen, Felsbrocken so groß wie Melonen. Und überall<br />

schmieriger, kalter, ekelhafter Matsch.<br />

Der verdammte Matsch. Er wird sich festsaugen an den Schuhsohlen<br />

und die Fersen hochkriechen. Er wird die Zehen steif und die Beine<br />

schwer machen auf dem Weg hinunter zur chinesischen Basis Chang<br />

Cheng, was so viel heißt wie Große Mauer. Dort stehen kleine Wissenschaftler<br />

aus Shanghai und Peking in Armeeparkas und lachen halb amüsiert,<br />

halb mitleidig, schmunzeln, während der Wind ätzenden<br />

Guanogestank von der angrenzenden Pinguinkolonie herüberträgt. An<br />

einem kantigen Felsen hinter Chang Cheng ist der Wendepunkt. Zurück<br />

zum Gletscher und alles noch mal. Das ist die Route. 42,195 Kilometer.<br />

Ein Marathon.<br />

Es ist 9.30 Uhr und sie haben keine Ahnung, was auf sie zukommt.<br />

Da stehen sie mit Pflastern auf der Nase, Wollmützen über den Ohren,<br />

Müsliriegeln und Eiweißpräparaten in der Hosentasche. Sie wissen<br />

nichts von den Raubmöwen, die sie gleich mit blechernem Gequieke<br />

attackieren, nichts von den Robben der Spezies Kerguelen-Seebär, die<br />

sie mit glasigen Augen verstört anglotzen werden. Deren männliche Vertreter<br />

können laut Reiseführer Antarctica von Lonely Planet »formidable<br />

Gegner für Artgenossen und Menschen gleichermaßen werden«. Sie wissen<br />

nur, dass ihnen »das härteste Rennen ihres Lebens« bevorsteht, wie<br />

Thom Gilligan prophezeit. Der Himmel ist ein wenig trübe und es riecht<br />

nach Schnee.<br />

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Kurz nach 10 Uhr laufen sie los. Paul, der sich »Daredoc« nennt, der<br />

Doktor, der sich traut, ein kleiner, dünner Ingenieur mit krummen Beinen<br />

aus Phoenix. Thommy, Müllmann aus Staten Island, New York City, ein<br />

sympathischer Spinner, der jedem erzählt, dass er einmal einen Ladendieb<br />

gestellt hat. Als die Polizei ihn fragte, warum er mit 52 noch so fit<br />

sei, sagte er, er trainiere für einen Marathon in der <strong>Antarktis</strong>. Natürlich<br />

sei die Story in die Zeitung gekommen, mit Bild. Stacey, eine Krankenschwester<br />

aus Columbus, Ohio, stapft tapfer mit; Schulter an Schulter<br />

mit Laura, die in Atlanta, Georgia, Pferde für Fuchsjagden ausbildet;<br />

und Julia, einer Amerikanerin, die vor zehn Jahren in Italien mal irgendeine<br />

Miss-Wahl gewonnen hat. Da ist Johannes, Kieferchirurg aus Kapstadt,<br />

Henrik, ein dänischer Speditionskaufmann, der in Dakar lebt; ein<br />

Fahrradhändler aus Detroit, den alle »Nummer 39« nennen, und Guido,<br />

Managementberater aus Hamburg und Mitglied im noblen Golfclub von<br />

Skibo Castle, Schottland, dem Altersruhesitz des Stahlbarons Andrew<br />

Carnegie. »Natürlich sind das alles Irre«, sagt Adam, der dicke, gemütliche<br />

Barkeeper von der Akademik Ioffe nach dem Startschuss, »die Frage<br />

ist nur: Welche Art Irre?«<br />

Die Akademik Ioffe, ein vom kanadischen Reiseveranstalter Marine<br />

Expeditions gechartertes russisches Forschungsschiff, hatte sie hierher<br />

gebracht. Von Ushuaia auf Feuerland aus, der südlichsten Stadt der Welt,<br />

war es mit 35 Knoten, Kurs 157 Grad, Richtung Süden geschaukelt. Es<br />

hatte die Drake Passage durchpflügt, ob ihrer tosenden Wellen in der Seemannssprache<br />

»der Tanzboden des Teufels« genannt, und danach die antarktische<br />

Konvergenz passiert, eine unsichtbare Grenze, hinter der das<br />

Meerwasser konstant minus 1,8 Grad hat und Fische nur überleben,<br />

weil Eiweißverbindungen in ihrer Blutbahn wirken wie Frostschutzmittel.<br />

Nach drei Tagen und zwei Nächten waren Boot und Besatzung am<br />

Ziel: King George Island. Die langgezogene Insel liegt auf 62 Grad südlicher<br />

Länge, 58 Grad westlicher Breite, etwa 50 Seemeilen vor der antarktischen<br />

Peninsula. Und die ist der nördliche Vorposten des kältesten,<br />

windigsten und menschenfeindlichsten Kontinents, der überzogen ist<br />

von bis zu 3000 Meter dickem, ewigem Eis und geprägt vom Charme<br />

einer Gefriertruhe. Die <strong>Antarktis</strong>. Ewige Terra incognita, letztes aller<br />

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unbekannten Länder. Gesichtet wurde sie erstmals 1820, aber geblieben<br />

ist sie bis heute das geheimnisvolle Ende der Welt.<br />

»Die <strong>Antarktis</strong>«, sagt Gilligan, als sich die 145 Läufer zum ersten Mal<br />

den Gletscher hinaufquälen, »ist eigentlich genau der Platz, an dem man<br />

keinen Marathonlauf veranstalten will«. Vielleicht hat er ihn deshalb bei<br />

der Premiere 1995 »The Last Marathon« genannt. Gilligan war früher<br />

selbst Läufer, nun arrangiert sein Reisebüro in Boston Trips für Marathonfreaks.<br />

Als er im Magazin Runners World zitiert wurde, sein Programm<br />

umfasse alle großen Rennen und alle Kontinente außer der<br />

<strong>Antarktis</strong>, rief ihn jemand von Marine Expeditions an und meinte:<br />

»Warum eigentlich nicht die <strong>Antarktis</strong>?« Die Kanadier boten an, den<br />

Transport zu übernehmen. Gilligan nahm Kontakt mit den Forschungsstationen<br />

auf King George Island auf. »Anfangs dachten alle, das ist ein Witz,<br />

doch dann sagten sie: ›Hey, warum nicht?‹ Einen Monat später hatte ich<br />

110 Anmeldungen.«<br />

Kurz nach Mittag. Das Feld der Läufer längst verstreut. Rote, violette<br />

Anoraks vor dem Panorama einer Schutthalde. Neongrün behoste Beine,<br />

die durch Pfützen staksen. Hier lila Sprenkel, dort blaue, gelbe Farbtupfer.<br />

Aus der Luft müssten sie aussehen wie Smarties im Sandkasten.<br />

Irgendwo eiert Daredoc Paul einen Hügel herunter. Er ächzt, stöhnt.<br />

»Du kannst im Leben nichts erreichen«, hatte er vorher gesagt, »wenn<br />

du nicht bereit bist, einen Preis zu bezahlen.« Müllmann Thommy atmet<br />

schwer, bewegt sich wie in Trance. Sein Nasenpflaster ist verrutscht, seine<br />

Wollmütze hat er abgenommen. Stoisch wühlt er sich durch die schlammige<br />

Malaise. Vor dem Rennen hatte er gesagt: »Keine Ahnung, wie es<br />

werden wird, aber ich mag Herausforderungen.«<br />

Herausforderungen, jeder hatte davon gesprochen, als sie noch auf<br />

dem Schiff waren. Tom, Nummer 39, auch. Tom ist ein kräftiger Bursche.<br />

Dicker Bizeps, feister Nacken. Einmal habe er beim Eco Challenge mitgemacht,<br />

einem Wettkampf über neun Tage »an der Grenze zum Wahnsinn«,<br />

so Tom, »gegen den sind die Marlboro Adventure Tours oder die<br />

Camel Trophy ein Picknick«. In seinem Eco-Challenge-Anorak mit der<br />

Nummer 39 auf dem Rücken wackelt er schon mehr, als er läuft. Reden<br />

kann er noch, keuchend: »Du kommst immer an den Punkt, an dem du<br />

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denkst, ich bin nicht stark genug für den Scheiß, aber dann machst du<br />

weiter.« Genauso wie Guido natürlich weitermacht, irgendwo zwischen<br />

Chang Cheng und nirgendwo, blass und hager im Gesicht. Guido sagt:<br />

»Mein Gott, bei diesen Steinen muss man aufpassen, dass man sich nicht<br />

die Knochen bricht.«<br />

Als die Akademik Ioffe in Ushuaia auslief, sahen sie aus wie eine harmlose<br />

Reisegruppe. Sie standen im Nieselregen am Bug, guckten auf die<br />

schneebedeckten Ausläufer der Anden und erzählten sich Geschichten.<br />

Einige waren in Colorado einen Doppelmarathon gelaufen, der auf 2000<br />

Meter über Normalnull begann und auf 4000 Meter endete. Andere<br />

waren beim Marathon de Sables in Marokko, einer Gewalttour über 100<br />

Kilometer durch die Sahara in vier Tagen. Kaum einer, der nicht wenigstens<br />

an einem der Klassiker in London, Boston oder New York teilgenommen<br />

hatte. Ob es der Midnight Sun Marathon war, ziemlich weit oben in<br />

der kanadischen Arktis, oder bloß der Gaudilauf Frost on the Pumpkin in<br />

Neuengland – sie hatten alle extreme Erfahrungen hinter sich. Die<br />

T-Shirts von den Rennen trugen sie wie Visitenkarten, sie philosophierten<br />

über Blutwerte, Aminosäuren und Kohlehydrate. Sie waren eine kuriose<br />

Truppe.<br />

Warum Menschen laufen? Laufen, sagten sie, mache den Kopf frei.<br />

Laufen schaffe Ausgleich für Stress. Laufen sei ein Ventil für Aggressionen.<br />

Es sei, sagten alle, wie eine Droge. Niemand käme davon wieder<br />

los, weil Adrenalin durch die Venen rast, Endorphine im Gehirn hämmern,<br />

»und das Glücksgefühl, anzukommen, unbeschreiblich ist«, wie<br />

Müllmann Thommy meint. Daniel, ein Investmentbroker aus Tel Aviv,<br />

der jeden Morgen um 5.30 eine Stunde rennt, Karate macht, auf dem Kilimandscharo<br />

war und auf Achttausendern im Himalaya, dieser Daniel sagt:<br />

»Wir suchen nur den Wettkampf mit uns selbst. Ein Läufer ist ein Tier,<br />

das laufen muss.« Und Daredoc Paul, der in Indien geboren wurde, meinte:<br />

»Hinterher ist es immer, als hätte man einen Elefanten gegessen.«<br />

Das ist ein schönes Bild, aber keine Antwort auf die nächste Frage.<br />

Warum ausgerechnet die <strong>Antarktis</strong>? Warum all die Strapazen nach all<br />

den Entbehrungen? Warum ist Thommy zwei Jahre lang vom Müllwagen<br />

direkt in den Supermarkt, wo er bis Mitternacht Regale einräumte, um<br />

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sich den Trip leisten zu können? Warum hat Stacey sich im Krankenhaus<br />

beurlauben lassen, auf die Gefahr hin, ihren Job zu verlieren? Warum<br />

haben Andrei und seine Freundin Lubow 27 Stunden im Flugzeug gesessen<br />

von Nignevartowsk in Sibirien bis Feuerland? Warum sagt Michael,<br />

Busfahrer aus Eutin, Ostholstein, er wäre auch hierhergekommen, wenn<br />

es einen Linienflug nach King George Island gegeben und er bloß drei<br />

Tage Zeit gehabt hätte? Und warum sitzt Guido, der gesteht, »durchaus<br />

ein Bonvivant zu sein«, warum also sitzt der weltgewandte Jurist Guido<br />

jetzt nicht lieber auf Skibo Castle, wo das Kaminfeuer prasseln und der<br />

Butler ihm einen Scotch servieren würde?<br />

13.30 Uhr. Die Temperatur knapp unter dem Gefrierpunkt. Der<br />

Himmel bedrohlich dunkel. Sie sind immer noch draußen, obwohl ein<br />

Marathon für einen trainierten Läufer in dreieinhalb Stunden durchaus<br />

zu schaffen ist. Aber der verdammte Schlamm. Die elenden Steigungen.<br />

Die glitschigen Steine. Tückisches Gelände. Eine Woche vor dem Rennen<br />

war ein chilenischer Soldat auf King George Island in eine Gletscherspalte<br />

gefallen. Die Leiche wurde nicht gefunden. Und kursierten<br />

nicht Gerüchte unter den Teilnehmern, von der Premiere des Last Marathon<br />

1995, bei dem sich Läufer angeblich in Schneewehen verirrten und<br />

andere halberfroren eingesammelt werden mussten? Im Lonely Planet<br />

stand: »Ein Wunder, dass niemand starb.« Gilligan eisig: »Ein Bündel<br />

Lügen.«<br />

Fest steht: Ohne das Mysterium <strong>Antarktis</strong> wäre es eine andere Geschichte.<br />

Die Crew von Marine Expeditions garnierte ihre täglichen Shipboard<br />

News am Morgen des Rennens mit der Zeitungsannonce, die der<br />

irische Entdecker Ernest Shackleton für seine legendäre Expedition auf<br />

dem Schoner Endurance aufgab. »Männer für riskante Reise gesucht«,<br />

stand da. Und: »Bitterkalt. Lange Monate völliger Dunkelheit. Sichere<br />

Rückkehr fraglich. Ehre und Anerkennung im Erfolgsfall.« Shackleton<br />

bekam 5000 Zuschriften. Als er das gelesen habe, sagt Fred aus Reno,<br />

Nevada, Geschäftsführer in einem Fitnessklub: »wünschte ich mir, ich<br />

wäre vor 150 Jahren geboren worden. Wir wollen alle Abenteurer sein.<br />

Entdecker. Helden. Ob wir Läufer sind oder nicht.« Anders: Die <strong>Antarktis</strong><br />

braucht keinen Marathon, der Läufer braucht die <strong>Antarktis</strong>.<br />

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»Gott hatte einen Plan für mich«, sagt Daredoc Paul, »weshalb ich als<br />

Kind Tbc überlebte und meine Schwester nicht.« Paul glaubt, er sei berufen<br />

für »etwas Großes«. Es ist sein 124. Marathon, sein Ziel sind 600, sein<br />

Rekord sind 43 innerhalb eines Jahres. Stacey, die in die <strong>Antarktis</strong> reiste,<br />

um über die Trennung von ihrem Freund hinwegzukommen, meint:<br />

»Jeder Zielstrich ist eine neue Startlinie. Ich muss nach vorne gehen.«<br />

Nummer 39 erzählt, dass er mit 13 über 100 Kilo wog; alle hätten ihn<br />

gehänselt, verachtet. Nun lacht keiner mehr, sagt Tom: »Laufen zeigt mir<br />

meinen wahren Charakter, meine wahre Größe.« Und Busfahrer Michael,<br />

der Ostholsteiner, murmelt: »Mir jungem Spund von 28 Jahren traut man<br />

nicht zu, was ich schon alles gemacht habe.« 50 000 Mark hat er bisher<br />

schon in sein Hobby Marathon gesteckt, die <strong>Antarktis</strong> war der letzte Kontinent,<br />

der ihm noch fehlte. Und man hätte dem stillen, schüchternen<br />

Michael das alles nicht geglaubt ohne die Urkunden und Medaillen, die<br />

er sicherheitshalber mitgebracht hatte.<br />

Stoff für allerlei Theorien. Etwa die vom »Fanatiker, der im richtigen<br />

Leben nichts hat als eine mittelmäßige Existenz und sich daher ständig<br />

beweisen muss«, wie Gilligan sagt. Die <strong>Antarktis</strong> bezwingen. Ehre und<br />

Anerkennung im Erfolgsfall. Gilligan: »Es ist oft das Einzige, was diese<br />

Leute zu erzählen haben.« Aber hat jemand wie Guido, dessen Firma in<br />

Deutschland Nummer 27 ihrer Branche ist, das nötig? Guido sagt: »Ich<br />

glaube, wenn man sich im Sport durchbeißt, hat man auch Erfolg im richtigen<br />

Leben. Das Klischee vom dicken Topmanager mit Zigarre ist jedenfalls<br />

passé.« Schon wahr. Aber die Frage, ob er nun beruflich erfolgreich<br />

ist, weil er sich im Sport durchbeißen kann oder umgekehrt, lässt sich<br />

damit nicht beantworten. »Ach, immer diese Sinnsuche«, sagt Gilligan,<br />

»das lohnt sich doch nicht. Ich stelle schon lange keine Theorien mehr<br />

auf, von mir aus soll jeder machen, was er muss.«<br />

The Last Marathon ist für Gilligan primär ein Geschäft. Und als solches<br />

eine Art Lizenz zum Gelddrucken. Alle zwei Jahre heuert er Marine<br />

Expeditions samt Personal und Eisbrecher an und kassiert zwischen 5000<br />

und 9000 Dollar pro Teilnehmer. Mit keiner seiner Reisen macht er mehr<br />

Umsatz. »Meine brillanteste Idee«, sagt Gilligan: »Ich kann gar nicht verhindern,<br />

dass die Reise immer populärer wird.« Nebenher nutzt er den<br />

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Trip, um weitere Touren aus seinem Programm anzubieten, darunter<br />

einen Extremlauf in Südafrika rund ums Kap der Guten Hoffnung, einen<br />

Marathon in Frankreich, der durch 53 Weinberge führt, mit Rotwein aus<br />

Pappbechern und Käsecrackern am Wegesrand, oder einen Dauerlauf im<br />

Doppelpack mit Beachparty auf Bermuda. Abenteuer, Sightseeing und<br />

Savoir vivre kombiniert mit Trimm-Trab. Marathon als Nischentourismus.<br />

Gilligan: »Wir machen das schon seit über zwanzig Jahren.«<br />

Kurz vor 18 Uhr. Das Rennen ist gelaufen. Die wunderbare Mrs. Margret<br />

kommt als Letzte ins Ziel. Sie ist 75. Mit 64 hatte sie sich das Rauchen<br />

ab- und das Laufen angewöhnt. Ihre Zeit: 7:47 Stunden. Gilligans<br />

Leute sammeln die Wasserflaschen und Meilenzeichen ein, verstauen<br />

Stoppuhren und Ergebnislisten. Als sie zur Ioffe übersetzen, ist vom Rennen<br />

nichts mehr zu sehen außer ein zertrampelter Gletscher und Spuren<br />

im Matsch. Zur selben Zeit serviert Adam in der Schiffsbar bereits Cocktails,<br />

darunter seinen gefürchteten Harvey Walrusbanger. Und bei dem<br />

und anderen Alkoholika wird der Last Marathon zum grandiosen Erfolg<br />

erklärt. Keine Verletzten, keine Erfrierungen, keiner musste aufgeben.<br />

Zwar hatte sich Daredoc Paul einmal verlaufen, weil die Strecke etwas<br />

lax mit orangefarbenen Papierbändchen markiert war, aber das störte ihn<br />

jetzt nicht mehr, er plante bereits, noch mal Marathons in allen US-Bundesstaaten<br />

zu laufen. Einmal Elefant essen, immer Elefant essen.<br />

Fred, der Mann aus dem Fitnessklub in Reno, hat das Rennen gewonnen.<br />

Er meint, 3:45 Stunden seien okay für einen »Crosslauf inklusive<br />

Gletscher, aber wer sonst hat jemals einen Work-out in der <strong>Antarktis</strong><br />

gehabt?« Schnellste bei den Frauen war Laura, die Pferdeausbilderin aus<br />

Atlanta, die sagt: »Meine 4:30 Stunden sind wahrscheinlich die schlechteste<br />

Siegerzeit in der Geschichte des Marathons, aber ich bin froh, überhaupt<br />

durchgekommen zu sein.« Währenddessen erzählt Müllmann<br />

Thommy jedem, dass er »zu Hause jedem vom Rennen erzählen wird«.<br />

Andrei und Lubow schweigen eisern in ihre Mineraldrinks. Vielleicht<br />

liegt es an der Frage, wie sie im inflationären Russland das Geld für die<br />

Reise zusammenbekommen hätten. Tja, Russen. Michael, der herausgefunden<br />

hat, dass er der jüngste Teilnehmer an Bord ist, der Marathons<br />

auf sieben Kontinenten absolviert hat, will ein Tagebuch im Ostholsteiner<br />

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Anzeiger veröffentlichen. Und Guido meint: »Auch wenn wir das ultimative<br />

Risiko nicht eingegangen sind, es war ein Abenteuer.«<br />

Vor der Rückreise über Kap Hoorn nach Ushuaia gleitet die Ioffe noch<br />

durch einige Fjorde mit Eisbergen wie gläserne Kathedralen. Gletscher<br />

kalben mit donnerndem Getöse. In einer atemberaubend schönen Bucht<br />

namens Neko Harbor gibt es ein Barbeque auf dem Achterdeck, bei dem<br />

Thommy kostümiert auftritt und mit einer roten Perücke aussieht wie Rod<br />

Steward. Später werden alle mit Schlauchbooten an Land gebracht. Da<br />

sind Sturmvögel und Pinguine, Kormorane und See-Elefanten. Als auf<br />

der Rückfahrt zur Ioffe zwei Buckelwale neugierig den Kopf aus dem Wasser<br />

steckten, machten alle »Ah« und »Oh« und diskutierten anschließend<br />

weiter, ob es fair war von Thom, den Gletscher an den Beginn des Marathons<br />

zu stellen. Wesen, die immer laufen müssen, müssen auch immer<br />

über Laufen reden. Guido gehört zu den wenigen, die feststellen: »Das<br />

Schönste war, die <strong>Antarktis</strong> zu erleben, das Rennen alleine wäre es nicht<br />

wert gewesen.«<br />

Neko Harbor liegt hinter der Ioffe, die antarktische Konvergenz vor<br />

ihr. Delfine begleiten den Bug des Schiffes, das wieder Richtung Ushuaia<br />

pflügt. An einem frostigen Nachmittag. Die Teilnehmer des Last Marathon<br />

treffen sich auf dem Vorderdeck und feiern die Gründung des Stone<br />

Cold Penguin Club. Natürlich gehört Müllmann Thommy zu den Initiatoren.<br />

Daredoc Paul wird Schriftführer oder so was Ähnliches. Und nun<br />

macht die lustige Gesellschaft ein Gruppenbild in Badeanzügen, einige<br />

posieren nackt. Sie schlottern und jauchzen und versuchen, sich gegenseitig<br />

Höschen und Handtücher vom Po zu ziehen. Barkeeper Adam steht<br />

daneben und schüttelt den Kopf. Welche Art von Irren sind sie denn<br />

nun? Und Adam sagt: »Ehrlich gesagt, das würde ich auch gerne wissen.«<br />

(2001)<br />

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