KINDES- UND ERWACHSENENSCHUTZRECHT
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<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
INFORMATIONEN <strong>UND</strong> PRAKTISCHE ARBEITSHILFEN FÜR BEHINDERTENEINRICHTUNGEN<br />
Foto: Scriptum, Angel Sanchez<br />
> FOCUS<br />
Interview mit den beiden Experten<br />
Urs Vogel und Thomas Bickel<br />
Neues Erwachsenenschutzrecht<br />
als Abbild<br />
der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung > Seite 6
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> INHALT<br />
> EDITORIAL<br />
Foto: Scriptum, Angel Sanchez<br />
Gemeinsame Arbeit in der Küche der<br />
Stiftung Phoenix Uri, gleichzeitig Mitglied<br />
von INSOS und von CURAVIVA<br />
Hinter dem Aufbau einer Lebensqualitätskultur steht ein<br />
umfassendes Konzept, schreibt der Präsident der Fachgruppe<br />
Erwachsenenschutzrecht, Franz Bricker. > Seite 3<br />
> PERSÖNLCH<br />
Otto Piller, Präsident CURAVIVA SCHWEIZ, erklärt, weshalb<br />
das Schweizer Zivilgesetzbuch seit 100 Jahren nahe bei den<br />
Menschen ist. > Seite 4<br />
INSOS-Präsidentin Marianne Streiff fordert ein selbstbestimmtes<br />
Daheim im Heim. > Seite 5<br />
Christina Affentranger Weber beschreibt ein umfassendes<br />
Menschenbild, das die individuellen Bedürfnisse berücksichtigt.<br />
> Seite 14<br />
Foto: Scriptum, Angel Sanchez Foto: Erika Schmid<br />
Angeregtes Expertengespräch über paternalistisches<br />
Denken, individuelle Bedürfnisse<br />
und die Macht des Vokabulars.<br />
Einfache, nachvollziehbare und durchdachte<br />
Hilfsmittel helfen bei der Lösung komplexer<br />
Aufgaben.<br />
> FOCUS<br />
Die Kindes- und Erwachsenenschutzrechts-Experten Thomas<br />
Bickel und Urs Vogel sind sich in der Fachdiskussion einig:<br />
«Menschen mit Behinderung wollen als Subjekt und nicht<br />
mehr als Objekt betrachtet werden» > Seite 6<br />
> ARBEITSHILFEN<br />
Die Bedürfnisse sind individuelle, die Regelungen generell:<br />
CURAVIVA Schweiz und INSOS haben gemeinsam Instrumente<br />
entwickelt, um die Umsetzung des Kindes- und Erwachsenenschutzrechtes<br />
für die Heime so einfach als möglich zu gestalten.<br />
> Seite 15<br />
Die CD zum Kindes- und<br />
Erwachsenenschutzrecht<br />
CURAVIVA hat als Ergänzung zu dieser<br />
Broschüre eine Daten-CD zum Erwachsenenschutzrecht<br />
entwickelt mit<br />
elek tronischen Formularen, dem Gesetzestext<br />
sowie weiteren Hintergrundinformationen.<br />
Die CD kostet 120 CHF und ist beim<br />
Online-Shop von CURAVIVA erhältlich:<br />
www.shop.curaviva.ch<br />
2
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> EDITORIAL<br />
DIE PRAXIS IST AUF KOORDINIERTE ARBEITSHILFEN ANGEWIESEN<br />
Foto: Scriptum, Angel Sanchez<br />
Franz Bricker ist Geschäftsführer<br />
von Phoenix Uri<br />
Boden für Lebensqualität<br />
Zahlreiche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine Lebensqualitätskultur<br />
entstehen und bestehen kann. Dahinter stecken mehr als nur Schlagworte.<br />
Um meine Aufgabe als Heimleiter einer Wohneinrichtung für Menschen mit<br />
psychischer Behinderung erfüllen zu können, muss ich die vielen Kriterien,<br />
welche Lebensqualität ausmachen, kennen und unterscheiden können. Menschliche<br />
Werte, betriebliche und formelle Anforderungen sowie politische Rahmenbedingungen<br />
muss ich miteinander verbinden. Dabei darf ich nie das Wesentliche<br />
vergessen, wofür ich mich einzusetzen habe. Was nützt zum Beispiel<br />
eine juristisch korrekte Patientenverfügung, wenn ich dabei achtlos mit den<br />
Menschen umgehe? Es ist ein Klima zur Entfaltung von Werten zu schaffen.<br />
Nebst den rechtlichen Aspekten sollen Werte aus den Leitbildern wie Respekt,<br />
Achtung, Solidarität, Selbstbestimmung und Mitgefühl den Mitarbeitenden<br />
in den Institutionen einen verlässlichen Boden zum Arbeiten geben.<br />
Die vorliegenden Arbeitshilfen der Branchenverbände bilden ein wichtiges<br />
Instrument zur Aufgabenerfüllung in den Institutionen. Vertraglich geregelter<br />
Schutz der Rechte und transparente Unterstützung bilden Voraussetzungen<br />
für Lebensqualität für betreute und begleitete Menschen in Institutionen.<br />
Die einfachen und einleuchtenden Vorgaben des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechtes<br />
sind in einem komplexen politischen Umfeld sowie einem<br />
föderalistischen Sozial- und Gesundheitswesen kaum einheitlich umsetzbar.<br />
Umso mehr ist die koordinierte Anwendung mittels einheitlicher Arbeitshilfen<br />
notwendig. Dabei bin ich froh um die Unterstützung der nationalen Fachverbände<br />
und Organisationen.<br />
Alle bezeichnen das neue Recht als wichtiges Instrument zur Förderung von<br />
Lebensqualität von Unterstützungsbedürftigen. In diesem Sinne hat die verbandsübergreifende<br />
Expertengruppe der beiden Verbände INSOS und CURAVIVA<br />
die vorliegenden Umsetzungshilfen diskutiert und für die praktische Anwendung<br />
fertig gestellt. Als Doppelmitglied von INSOS und CURAVIVA bin ich<br />
besonders stolz über die vorliegende Gemeinschaftspublikation. /<br />
Franz Bricker-Grepper<br />
3
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> PERSÖNLICH<br />
ZIVILGESETZBUCH IM ZEITSPIEGEL<br />
Nahe bei den Menschen<br />
Wer war Lina Weissert?<br />
> Otto Piller, Präsident CURAVIVA Schweiz<br />
Gottfried Keller und Eugen Huber<br />
haben im Niederdorf in Zürich um<br />
die Gunst derselben Serviertochter<br />
geworben. Lina Weissert hat<br />
sich für den Juristen, Richter und<br />
NZZ Redaktor Huber entschieden,<br />
den alleinigen Verfasser unseres<br />
Otto Piller<br />
100-jährigen Zivilgesetzbuches –<br />
Der ehemalige Direktor des<br />
wie es lange hiess. Revolutionär<br />
Bundesamtes für Sozialversicherung<br />
(BSV) und Freibur-<br />
war und bleibt dieses Gesetz aufgrund<br />
seiner Klarheit und seiner<br />
ger Ständerat ist heute<br />
einfachen Sprache, die alle verstehen,<br />
die lesen und schreiben kön-<br />
Präsident von CURAVIVA<br />
Schweiz.<br />
nen. Inzwischen ist unbestritten,<br />
dass Lina Weissert einen wichtigen<br />
Beitrag geleistet hat: Allgemeinverständlichkeit<br />
und Praxisnähe unseres Grundgesetzes<br />
sind zu einem grossen Teil ihr zu verdanken.<br />
Das ZGB war seiner Zeit voraus und wurde deshalb<br />
von anderen Staaten übernommen wie beispielsweise<br />
1920 der Türkei, wo es heute noch Gültigkeit hat.<br />
Verständliche Vereinbarungen, Verträge und Spielregeln<br />
schaffen Rechtssicherheit und Lebensqualität.<br />
Seither hat in unseren westlichen Gesellschaften<br />
die Bedeutung der individuellen Freiheit, Lebensqualität,<br />
Selbstbestimmung und Würde nicht nur<br />
für die Mächtigen und Wohlhabenden, sondern für<br />
alle Menschen neue Dimensionen erlangt. Die Präzisierung<br />
und Formalisierung dieses Gesellschaftsauftrages<br />
wird im neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht<br />
umgesetzt.<br />
Verständlichkeit und Transparenz<br />
Der Anspruch der Serviertochter Lina Weissert, ein<br />
Gesetz zu schaffen, das nahe bei den Menschen ist,<br />
besonders bei den Schutzbedürftigen und Schwachen,<br />
die sich nicht selber helfen können, bleibt so<br />
aktuell wie vor 100 Jahren. Heute wie damals sind<br />
auf der formalen Ebene einfache und verständliche<br />
Vereinbarungen, Verträge und Spielregeln notwendig,<br />
damit diese einen transparenten Bezug zur Lebensqualität<br />
und zu den Rechten der Betroffenen<br />
schaffen.<br />
Mit den vorliegenden Arbeitshilfen und Anleitungen<br />
wollen wir dazu beitragen, das neue Kindesund<br />
Erwachsenenschutzrecht einfach, zuverlässig<br />
und für alle verbindlich mit Leben zu füllen. /<br />
Foto: Scriptum, Angel Sanchez<br />
4
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> PERSÖNLICH<br />
ES GILT DAS GLEICHE RECHT SOWOHL IN DER INSTITUTION WIE AUCH ZUHAUSE<br />
Selbstbestimmt daheim im Heim<br />
Daheim ist für mich der Ort, den ich selber gestalte, der Ort, wo ich bestimme, wie ich mich verhalte.<br />
Ich muss niemanden miteinbeziehen, ausser diejenigen, mit denen ich mein Heim teile.<br />
> Marianne Streiff, Präsidentin INSOS<br />
Foto: Scriptum, Angel Sanchez<br />
Jede und jeder soll selbst entscheiden können, wo er oder sie sich daheim fühlt.<br />
Mein Daheim ist meine private Sphäre und damit<br />
Teil meiner Würde, auf die ich nicht verzichten will<br />
und kann, selbst wenn ich krank werde und Unterstützung<br />
brauche. Ob das in meinem privaten Zuhause<br />
oder in einer Institution ist, spielt dabei keine<br />
Rolle.<br />
Ich habe das Recht auf meine private Sphäre und<br />
meine Würde und darauf, dass sie geschützt werden,<br />
selbst wenn mir eine Krankheit die klaren Gedanken<br />
nimmt und ich nicht mehr beurteilen kann,<br />
was mir und meinem Umfeld gut tut. Sollten Massnahmen<br />
nötig sein, um mich und andere zu schützen,<br />
sind dafür transparente und für alle gültige<br />
Spielregeln nötig. Bis heute geschah dies in einer<br />
rechtlichen Grauzone.<br />
Das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht<br />
setzt Leitplanken. Die hohe Verantwortung der<br />
Entscheidungsträger bleibt aber bestehen. Mit<br />
Marianne Streiff<br />
Die Präsidentin von INSOS<br />
gehört seit 2010 dem Nationalrat<br />
an. Sie ist Mitglied der<br />
dem Erwachsenenschutzrecht werden<br />
auch die freiheitsbeschränkenden<br />
Massnahmen erstmals gesetz-<br />
staatspolitischen Kommission.<br />
Geschäftsprüfungs- und der<br />
lich erwähnt. Das ZGB schreibt vor,<br />
dass vor der Einschränkung der Bewegungsfreiheit<br />
einer betroffenen Person erklärt<br />
wird, was geschieht, warum die Massnahme angeordnet<br />
wird, wie lange diese voraussichtlich dauert<br />
und wer sich während dieser Zeit um die betroffene<br />
Person kümmert. Die Einschränkung der<br />
Bewegungsfreiheit muss so bald als möglich wieder<br />
aufgehoben und regelmässig auf ihre Berechtigung<br />
hin überprüft werden.<br />
Arbeitshilfen für Bewegungsfreiheit<br />
Damit ist dafür gesorgt, dass mir meine Bewegungsfreiheit,<br />
meine private Sphäre und mein Daheim<br />
zurückgegeben werden, sobald ich es brauche. Dafür<br />
haben wir diese zweckdienlichen, einfachen<br />
und formell korrekten Arbeitshilfen entwickelt.<br />
5
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> FOCUS<br />
<strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong>-EXPERTEN IM GESPRÄCH<br />
«Menschen mit Behinderung wollen als Subjekt<br />
und nicht mehr als Objekt betrachtet werden»<br />
Im neuen Erwachsenenschutzrecht spiegelt sich die gesellschaftliche Entwicklung, die weg von<br />
einem paternalistischen Denken hin zu einem möglichst selbstbestimmten Leben für alle führt.<br />
Die Experten Thomas Bickel und Urs Vogel ordnen das neue Erwachsenenschutzrecht ein und<br />
analysieren Probleme und Chancen der Umsetzung.<br />
> Interview: Bernhard Schneider<br />
Der Jurist und diplomierte<br />
Sozialarbeiter<br />
Urs Vogel<br />
ist Inhalber einer<br />
Rechts- und Unternehmensberatung<br />
in der öffentlichen<br />
Verwaltung, im<br />
Sozial- und Gesundheitswesen.<br />
Das von den eidgenössischen Räten 2008 verabschiedete<br />
neue Erwachsenenschutzrecht tritt auf<br />
den 1. Januar 2013 in Kraft. Es löst das Vormundschaftsrecht<br />
aus dem Jahr 1912 ab. Die oft ehrenamtlich<br />
geführten Vormundschaftsbehörden werden<br />
durch Fachbehörden ersetzt, welche die rechtliche<br />
Vertretung und die Betreuung von Menschen mit<br />
eingeschränkter Urteilsfähigkeit so regeln, dass ihnen<br />
möglichst viel Autonomie und Selbstbestimmung<br />
zugestanden wird. Für den Aufenthalt von<br />
Urteilsunfähigen in Wohn- oder Pflegeeinrichtungen<br />
muss in einem Betreuungsvertrag verbindlich<br />
festgelegt werden, welche Leistungen die Einrichtung<br />
zu welchem Preis erbringt, wie es bereits heute<br />
für IFEG-anerkannte Institutionen vorgeschrieben<br />
ist. Neu ist, dass bewegungseinschränkende Massnahmen<br />
den vertretungsberechtigten Personen gemeldet<br />
werden müssen und dass die freie Arztwahl<br />
gewährleistet wird.<br />
6
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
des Erwachsenenschutzrechts ist die Emanzipierung.<br />
Viele Menschen mit Behinderung wollen<br />
heute im Rahmen ihrer Fähigkeiten selber über ihr<br />
Leben bestimmen: welche Leistungen sie beziehen,<br />
Viele Menschen mit Behinderung wollen heute im Rahmen<br />
ihrer Fähigkeiten selber über ihr Leben bestimmen.<br />
ob sie in eine Institution einziehen, eine betreute<br />
Wohn- oder eine andere Lebensform suchen. Das<br />
neue Recht hat mit der Entwicklung der Gleichstellung<br />
zu tun. Menschen mit Behinderung wollen<br />
als Subjekt und nicht mehr als Objekt betrachtet<br />
werden. In angelsächsischen Ländern hat man als<br />
Bürger grundsätzlich die gleichen Rechte und allenfalls<br />
auch Pflichten. Was in diesen Ländern gang<br />
und gäbe ist, soll auch in der Schweiz gelten: Alle<br />
Barrieren, die abgebaut werden können, sollen verschwinden<br />
beziehungsweise gar nicht geschaffen<br />
werden. Damit wird auch das gesamte Sozialversicherungssystem<br />
entlastet. Ein Teil dieses Denkens<br />
ist im neuen Recht umgesetzt worden.<br />
Das alte Recht basierte auf einer paternalistischen<br />
Denkweise. Wann hat sich diese Denkweise geändert?<br />
Vogel: Der Prozess begann nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg mit den Menschenrechts- und Grundrechtsfragen:<br />
Plötzlich stand eine andere Haltung<br />
zu Menschenrechtsfragen zur Debatte, auch in der<br />
Gesprächsleiter<br />
Bernhard Schneider,<br />
langjähriger<br />
Leiter Wort DRS1,<br />
führt heute eine<br />
Kommunikationsagentur.<br />
Fotos: Erika Schmid<br />
Der Jurist Thomas Bickel, Zentralsekretär<br />
von Integration Handicap, leitet nebenamtlich<br />
den Bereich Recht und Politik bei INSOS.<br />
Das neue Erwachsenenschutzrecht stellt Autonomie<br />
und Selbstbestimmung in den Vordergrund.<br />
Können Sie den geistesgeschichtlichen Hintergrund<br />
des Erwachsenenschutzrechts beschreiben?<br />
Bickel: Das 100-jährige Vormundschaftsrecht wirkt<br />
heute mit Begriffen wie «Geisteskrankheit», «liederlicher<br />
Lebenswandel» oder «Misswirtschaft» provokativ.<br />
Sprache prägt das Denken, deshalb war es<br />
nur schon wichtig, das Vokabular dem heutigen<br />
Empfinden anzupassen. Der zweite Grundgedanke<br />
7
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> FOCUS Sozialarbeit. Das Vormundschaftsrecht ist zwar<br />
eine juristische Materie, doch in der Umsetzung<br />
war und ist es vor allem eine Aufgabe der Sozialen<br />
Arbeit. Die Entwicklungen in der Sozialarbeit führten<br />
in den 60er- und 70er-Jahren zur Einsicht, dass<br />
sich auch rechtlich etwas ändern muss. Nach und<br />
nach haben sich auch die Begrifflichkeiten verändert.<br />
Bis in die 1980er-Jahre beispielsweise wurde<br />
im Kanton Uri noch der Begriff Waisenvogt verwendet,<br />
was aber bereits unter altem Recht angepasst<br />
wurde. Solche Prozesse beginnen unabhängig<br />
von der Schaffung neuen Rechts – und dauern.<br />
heute das Erwachsenenschutzrecht prägen, neu<br />
normiert und trat am 1. Januar 1978 in Kraft. Kinder<br />
werden nicht mehr als bis zur Volljährigkeit<br />
vollständig von Erwachsenen abhängig betrachtet,<br />
sondern haben eine eigene Rechtspersönlichkeit<br />
mit entsprechenden Rechten. Diese Ideen werden<br />
im Personenrecht und im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht<br />
geregelt, insbesondere auch Fragen,<br />
die formell nicht oder nur teilweise handlungsfähige<br />
Personen betreffen, die aber urteilsfähig sind.<br />
Wie zufrieden sind Sie mit dem nun rechtskräftigen<br />
Gesetzestext?<br />
Bickel: Die Formulierung des Gesetzes gibt Anlass zu<br />
einem gewissen Optimismus. Wie immer stellt sich<br />
natürlich die Frage, wie das Gesetz umgesetzt wird.<br />
Sprache prägt das Denken, deshalb war es nur schon<br />
wichtig, das Vokabular dem heutigen Empfinden<br />
anzupassen.<br />
So heissen die Mitglieder der Vormundschaftsbehörde<br />
in der Stadt Zürich heute noch Waisenrat<br />
und Waisenrätin, ein sicherlich veralteter Begriff …<br />
… wie beispielsweise auch die Begriffe Invalidität<br />
und Invalidenversicherung, die von lateinisch invalidus,<br />
«wertlos» stammen ...<br />
… wie gesagt, die Anpassung der Begriffe ist ein<br />
langfristiger Prozess, der zeigt, dass ein Wandel im<br />
Gang ist, der mit einem neuen Gesetz aber keineswegs<br />
abgeschlossen ist. Das heute geltende Kindesrecht<br />
wurde bereits 1975 mit den Ideen, die<br />
Wie ist heute der Stand der Umsetzung?<br />
Vogel: Je nach Kanton sehr unterschiedlich. Das<br />
Gesetz ist zwar Bundesrecht, doch es wird von den<br />
Kantonen umgesetzt. Der Bund schreibt wesentlich<br />
vor, dass eine Fachbehörde anstelle von Laienbehörden<br />
die Entscheidungen treffen muss. Die Resultate<br />
sind meiner Ansicht nach in vielen Kantonen<br />
erfreulich. In der Konferenz der kantonalen<br />
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden konnten<br />
wir verschiedene Grundlagenpapiere ausarbeiten<br />
und den Kantonen als Umsetzungshilfe zur<br />
Verfügung stellen. Seit 2009 treffen sich alle Projektleiter<br />
der Kantone, um auf der Projektebene<br />
Einheitlichkeit in der Umsetzung zu schaffen. Die<br />
meisten Kantone bauen ihre Organisation nach<br />
diesen Empfehlungen auf. Das hat aber auch Auswirkungen.<br />
Im Kanton Zürich beispielsweise ist<br />
das kantonale Gesetz noch nicht verabschiedet.<br />
Die Kostenfolgen des neuen Gesetzes werden im<br />
Kantonsrat sicher noch Diskussionen verursachen.<br />
Heute haben wir keine Kostenwahrheit. Niemand<br />
weiss, was das Vormundschaftswesen tatsächlich<br />
kostet. Künftig werden die Organisationskosten<br />
zwar sicher teurer, da neu zwingend Fachpersonen<br />
benötigt werden. Gleichzeitig wird aber auch eine<br />
Kostentransparenz geschaffen. Ein direkter Kostenvergleich<br />
mit der heutigen Umsetzung ist deshalb<br />
nicht möglich.<br />
Ist dies der einzige Grund für die Verzögerung im<br />
Kanton Zürich?<br />
Vogel: Gewisse Kantone haben die Komplexität<br />
der Umsetzung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts<br />
etwas unterschätzt. Die Umsetzung<br />
des Gesetzes ist ein politischer Prozess, der<br />
politische Überzeugungsarbeit braucht. Heute sind<br />
die Gemeinden für diese Fragen zuständig, die neuen<br />
Fachbehörden müssen vielerorts regionalisiert<br />
werden. Das ist ein zeitintensiver Prozess.<br />
8
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
Der Bundesrat hat den Kantonen, die im Verzug<br />
sind, keinen Aufschub gewährt. Bis Ende 2012<br />
muss also alles umgesetzt sein. Wäre es nicht<br />
sinnvoll, wenn die Kantone mehr Zeit für diesen<br />
Prozess erhielten?<br />
Vogel: Dazu wäre eine Gesetzesänderung erforderlich,<br />
denn das Gesetz verfügt über keine Übergangsfrist.<br />
Ab dem Moment, in dem das neue Gesetz<br />
in Kraft tritt, entfällt das alte. Bei den Mandaten<br />
ist das anders: Eine Beistandschaft oder Beiratschaft<br />
bleibt noch während drei Jahren bestehen, Vormundschaften<br />
werden automatisch umgewandelt.<br />
Aber die Behördenorganisation muss am 1. Januar<br />
2013 umgesetzt sein, um dem Bundesgesetz zu<br />
entsprechen. Im Kanton Zürich beispielsweise sind<br />
die Vorbereitungsarbeiten operativ bereits sehr<br />
weit fortgeschritten, auch wenn das kantonale Gesetz<br />
noch nicht definitiv verabschiedet worden ist.<br />
Wie weit sind die Institutionen mit der Umsetzung?<br />
Bickel: Bei vielen ist es sicher so, dass sich das Hauptinteresse<br />
auf Fragen bezieht, die unmittelbar vor<br />
der Tür stehen. Vor einem Jahr hatten wir eine erste<br />
Zusammenkunft einer gemischten Gruppe von IN-<br />
SOS und CURAVIVA, um die Vermittlung der neuen<br />
Rechtsvorschriften an die Institutionen zu diskutieren.<br />
Nun bieten wir den Institutionen Schulungen<br />
an, um ihnen die wesentlichen Änderungen<br />
darzulegen und so die rechtzeitige Umsetzung des<br />
neuen Rechts zu ermöglichen. Die Schulungen<br />
werden primär die bewegungseinschränkenden<br />
Massnahmen betreffen. Mit der neuen Regelung<br />
der Beistandschaft soll klarer werden, wer in welcher<br />
Situation entscheidungsberechtigt ist. Dies<br />
ist mit der Aufhebung der Weiterführung der elterlichen<br />
Sorge gemäss bisherigem Recht verknüpft.<br />
Das neue Gesetz fordert die Kantone und die<br />
Institutionen. Was verlangt es von den Menschen<br />
mit Behinderung?<br />
Bickel: Sie sollen mehr Selbstverantwortung übernehmen.<br />
Man muss ihnen Entwicklungsspielraum<br />
geben. Das geschieht in vielen Institutionen bereits<br />
heute. Paternalistisches Denken ist in Institutionen<br />
kaum noch vorhanden. Vor allem bei Menschen<br />
mit psychischen Beeinträchtigungen wird die<br />
Kernfrage ist immer, in welchem Mass eine Person urteilsfähig<br />
ist und einem Eingriff überhaupt zustimmen kann.<br />
Selbstverantwortung jetzt schon stark unterstützt,<br />
damit sie weitgehend selber Entscheidungen treffen<br />
können. Die Institutionen müssen vermehrt<br />
Zielvereinbarungen mit den Klienten entwickeln<br />
9
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> FOCUS<br />
und ihnen so mehr Verantwortung übergeben. Da<br />
wird man in der Praxis manchmal auch an Grenzen<br />
stossen. Das erste Gesetz, das dieses partizipative<br />
Denken umgesetzt hat, war das Sterilisationsgesetz.<br />
Der Prozess, wie er jetzt für den Erwachsenenschutz<br />
vorgesehen ist, entspricht diesem in<br />
vielen Punkten. Kernfrage ist immer, in welchem<br />
Mass eine Person urteilsfähig ist und einem Eingriff<br />
überhaupt zustimmen kann. Ist sich die betroffene<br />
Person der Tragweite ihrer Entscheidung<br />
Vom Grundsatz her ist der Gedanke, über die Urteilsfähigkeit<br />
eines Menschen entscheiden zu können, immer noch<br />
paternalistisch.<br />
bewusst? So wird auch beim Erwachsenenschutzrecht<br />
eine subjektive Komponente in der Beurteilungen<br />
bleiben.<br />
Vogel: Das neue Recht bietet andere Handlungsspielräume<br />
und betont die Selbstbestimmung<br />
stärker. Aber der Dreh- und Angelpunkt ist die Frage<br />
der Urteilsfähigkeit. Die Hoffnung liegt darin,<br />
dass neu Fachbehörden verantwortlich sind und<br />
dass diese entsprechend kompetent entscheiden.<br />
Einen Punkt in den Ausführungen von Thomas<br />
Bickel möchte ich nochmals unterstreichen: Viele<br />
Massnahmen im neuen Gesetz kommen nur zum<br />
Tragen, wenn eine Person urteilsunfähig ist. Die<br />
bewegungseinschränkenden Massnahmen beispielsweise<br />
sind nur im Fall einer Urteilsunfähigkeit<br />
geregelt. Wann ist jemand urteilsunfähig? Stellt<br />
Unvernunft die Urteilsfähigkeit in Frage? Wann<br />
kann bei Verwahrlosung der Staat sagen, dass jemand<br />
bezüglich seiner Verwahrlosung urteilsunfähig<br />
ist? Da kommen zwar fachspezifische Parameter<br />
ins Spiel, doch einen subjektiven Spielraum<br />
wird es immer geben. Vom Grundsatz her ist der<br />
Gedanke, über die Urteilsfähigkeit eines Menschen<br />
entscheiden zu können, immer noch paternalistisch.<br />
Das ist natürlich auch im neuen Gesetz drin:<br />
Der Staat weiss es in gewissen Situationen besser<br />
als das Individuum. Hilfe hat generell eine paternalistische<br />
Komponente. Die Frage ist, wie der Paternalismus<br />
ausgeübt wird.<br />
Die Tendenz geht dennoch weg von einer paternalistischen<br />
Haltung in Richtung Führung, der immer<br />
auch eine subjektive Komponente innewohnt.<br />
Bickel: Ich würde eher von Begleitung sprechen.<br />
Der Prozess des Begleitens setzt den gemeinsamen<br />
Weg, den man mit der Person geht, ins Zentrum.<br />
Da liegt die Aufgabe darin, festzulegen, in welcher<br />
10
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
Situation die Person entscheiden kann und in welcher<br />
nicht. Einige Bundesgerichtsentscheide zur<br />
Thematik liegen vor. In meinem «Lieblingsfall»<br />
wollte der Beistand einer Frau die Heirat verbieten;<br />
das Bundesgericht hat sich zum Wesen der Urteilsfähigkeit<br />
im Fall der Heirat ausgesprochen und den<br />
treffenden Satz formuliert: «Es dürfen keine allzu<br />
hohen Ansprüche gestellt werden.»<br />
Vogel: Jedes Gesetz lässt Interpretationsspielraum<br />
offen. Müssen beispielsweise Bestimmungen zur<br />
Behandlung psychischer Störungen urteilsunfähiger<br />
Personen in psychiatrischen Kliniken auch in<br />
einem Pflegeheim angewendet werden? Wer beurteilt<br />
in einer Einrichtung, ob eine Person urteilsunfähig<br />
ist oder nicht, und ob ihr ein bestimmtes<br />
Medikament ohne ihr Einverständnis gegeben werden<br />
kann? Der Gesetzgeber wollte den Rechtsschutz<br />
in der psychiatrischen Klinik verbessern. Aber was ist<br />
eine psychiatrische Klinik, was nicht? Viele Wohnformen<br />
werden heute unter dem Dach von psychiatrischen<br />
Diensten zusammengefasst. Ein anderes<br />
Beispiel: Das Gesetz schreibt den Entscheidungsspielraum<br />
des Chefarztes einer Ab teilung vor. Doch<br />
fällt wirklich der Chefarzt eine Entscheidung, oder<br />
eher ein Kaderarzt? Die Umsetzung steht und fällt<br />
auf jeden Fall mit der Interpretation.<br />
Bei den bewegungseinschränkenden Massnahmen<br />
geht es hier um die medikamentöse Ruhigstellung.<br />
Was muss diesbezüglich protokolliert werden, was<br />
nicht? Bei diesen Themen werden wir mehr in die<br />
Tiefe gehen und einen ganzen Tag durchführen,<br />
mit Referaten und Workshops.<br />
Der Gesetzgeber wollte den Rechtsschutz in der psychiatrischen<br />
Klinik verbessern. Aber: was ist eine psychiatrische<br />
Klinik, was nicht?<br />
Welche Mitarbeitenden von Institutionen werden<br />
an den Schulungsnachmittagen teilnehmen?<br />
Bickel: Eingeladen werden die Mitglieder der Regionalverbände<br />
von INSOS. Die Einladungen richten<br />
sich an Führungspersonen von Institutionen, wir<br />
werden aber nicht prüfen, ob eine Person wirklich<br />
teilnehmen darf. Jetzt kommen auch schon Anfragen<br />
von Institutionen, ob jemand in die Institution<br />
kommen könnte, um die Mitarbeitenden bis auf<br />
die Stufe Gruppenleitung zu schulen.<br />
Vogel: Für mich soll die Weiterbildungsoffensive,<br />
die wir durchführen, eindeutig die Kaderebene ansprechen.<br />
Es geht um Grundsätzliches und um<br />
Fragen, was eine Institution gegebenenfalls kon-<br />
Ein Aspekt der Interpretation ist die Schulung.<br />
Wie gehen Sie bei der Schulung des Erwachsenenschutzrechts<br />
vor?<br />
Bickel: Nach der Sistierung der Kooperationsbestrebungen<br />
der Verbände CURAVIVA und INSOS<br />
wurde die Zusammenarbeit auf einzelne Tätigkeitsfelder<br />
wie das Erwachsenenschutzrecht beschränkt<br />
und war anfangs etwas belastet. Dennoch sind wir<br />
nach Anfangsschwierigkeiten mittlerweile gut unterwegs.<br />
Drei Massnahmenpakete mit Schulungsangeboten<br />
sind in Vorbereitung: Erstens eine gemeinsame<br />
Broschüre. Zweitens führen Urs Vogel<br />
und ich an vier Nachmittagen Schulungen bei den<br />
Regionalverbänden durch. Bei diesen Schulungen<br />
wollen wir die allgemeinen Zielsetzungen und den<br />
Geist des Gesetzes vermitteln. In einem zweiten Teil<br />
werden wir dann näher auf die Institutionen eingehen.<br />
Drittens führen wir eine Fachtagung durch,<br />
für Leitungspersonal im Bereich psychische Erkrankungen.<br />
Bei Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen<br />
haben wir andere Fragestellungen,<br />
da diese oft urteilsfähig sind und beispielsweise<br />
eine Patientenverfügung aufsetzen können. Sie<br />
können auch einen Vorsorgeauftrag formulieren,<br />
der im Falle einer Urteilsunfähigkeit Gültigkeit hat.<br />
11
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> FOCUS zeptionell anpassen muss, insbesondere bei bewegungseinschränkenden<br />
Massnahmen. Beispielsweise<br />
im Kanton Bern wird die Aufsichtsbehörde neu als<br />
Bewilligungsvoraussetzung ein Konzept für die Umsetzung<br />
bewegungseinschränkender Massnahmen<br />
verlangen. Ohne ein solches Konzept wird keine Betriebsbewilligung<br />
mehr erteilt. Teilweise werden<br />
die Institutionen Externe beiziehen, um Konzept und<br />
Im Recht wird eigentlich nie etwas abgebildet,<br />
das noch nicht existiert.<br />
Umsetzung mit den Mitarbeitenden zu diskutieren<br />
und aufgrund der Resultate konzeptionelle Schritte<br />
in die Wege zu leiten. Das Thema fliesst auch bei<br />
CURAVIVA und bei höheren Fachschulen für Sozialpädagogik<br />
in den Lehrplan ein, namentlich bei der<br />
Hochschule Luzern für Soziale Arbeit, die federführend<br />
in der Ausbildung der Fachbehörden ist. Ab dem<br />
Sommer finden dort Einführungsseminare zu je<br />
acht Tagen für Behördenmitglieder aus der ganzen<br />
Schweiz statt. Das neue Gesetz führt offensichtlich<br />
zu einer grossen Ausbildungsoffensive.<br />
Das heisst, diese Weiterbildung hat auch eine<br />
harmonisierende Wirkung?<br />
Vogel: Das ist zu hoffen!<br />
Bickel: Die Institutionen für erwachsene Behinderte<br />
sind generell ein Stück weiter als Alters- und Pflegeeinrichtungen.<br />
Gemäss IFEG müssen sie qualitative<br />
Bedingungen erfüllen und ein Qualitätsmanagement<br />
implementiert haben. Viele Behinderteninstitutionen<br />
haben beispielsweise den Umgang mit<br />
bewegungseinschränkenden Massnahmen bereits<br />
im Qualitätsmanagement geregelt. In diesem Sinne<br />
bietet das IFEG den Kantonen Kriterien zur Erteilung<br />
von Anerkennungen. Die Kantone können darüber<br />
hinaus aber noch weitere Vorgaben erlassen.<br />
Das Erwachsenenschutzrecht ist also kein radikaler<br />
Bruch, sondern eher eine logische Ergänzung zu<br />
anderen gesetzlichen Bestimmungen, die während<br />
der letzten Jahrzehnte entstanden sind.<br />
Vogel: Als eine Expertenkommission Anfang der<br />
90er-Jahre den Entwurf des Erwachsenenschutzrechtes<br />
an die Hand genommen hat, bestand für<br />
vieles, das heute selbstverständlich scheint, noch<br />
Urs Vogel<br />
Jurist und diplomierter Sozialarbeiter, Inhaber<br />
der Urs Vogel Consulting Rechts- und Unternehmensberatung<br />
in der öffentlichen Verwaltung,<br />
im Sozial- und Gesundheitswesen. Er<br />
war als Vormundschaftssekretär tätig. Seit<br />
zwanzig Jahren befasst er sich mit Vormundschaftsrecht,<br />
Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
im Rahmen von Organisationsentwicklungen,<br />
Schulungen und Beratung.<br />
12
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
Thomas Bickel<br />
Jurist, Zentralsekretär von Integration Handicap<br />
(Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur<br />
Eingliederung Behinderter) seit 1984, bis<br />
2000 gleichzeitig Geschäftsführer von INSOS<br />
Schweiz. Heute leitet er bei INSOS auf Mandatsbasis<br />
den Bereich Recht und Politik. In<br />
dieser Funktion ist er unter anderem für das<br />
Erwachsenenschutzrecht zuständig. Persönlich<br />
eröffnete ihm sein geistig behinderter<br />
Bruder den Zugang zum Thema Erwachsenenschutzrecht.<br />
Diskussionsbedarf. So bestand beispielsweise das<br />
IFEG damals noch nicht. In der Zwischenzeit haben<br />
weitere Gesetzesrevisionen stattgefunden. In der<br />
früheren Heimleiterausbildung waren um 1990<br />
noch viele der Meinung, in ihrer Institution seien<br />
keine schriftlichen Verträge erforderlich. In den<br />
letzten zwanzig Jahren hat sich dieses Verständnis<br />
grundlegend gewandelt. Deshalb ist das neue Gesetz<br />
tatsächlich eine Harmonisierung, ein Nachvollzug<br />
der schon bestehenden Realität. In der<br />
Rechtsentwicklung ist das aber immer so. Im Recht<br />
wird eigentlich nie etwas abgebildet, das noch<br />
nicht existiert. Meistens wird etwas Bestehendes,<br />
das allgemein als sinnvoll erachtet wird, in der Gesetzessprache<br />
kodifiziert. Das neue Gesetz klärt<br />
viele Fragen und eröffnet gleichzeitig neue Felder.<br />
Die Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
(KOKES) hat soeben eine Mustersammlung<br />
zu all diesen Themen erarbeitet. Bereits<br />
in der Expertengruppe mit lediglich acht Personen<br />
waren wir uns nicht in allen Fragen einig<br />
– und es gibt noch viel mehr Menschen, die sich<br />
mit dem Thema befassen. Es wird noch viele kontroverse<br />
Themen geben. Da muss dann eben interpretiert<br />
werden, und schliesslich liegt es am Bundesgericht,<br />
die Leitplanken zu setzen. Trotz all dieser<br />
Relativierungen, das Gesetz enthält tatsächlich<br />
neue Formulierungen, beispielsweise: «Der Beistand<br />
erfüllt die Aufgaben im Interesse der betroffenen<br />
Person, nimmt auf deren Meinung soweit<br />
tunlich Rücksicht, achtet den Willen, das Leben<br />
nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen<br />
zu gestalten.» Das steht im Gesetz! So ein Gesetzestext<br />
wäre noch vor zwanzig Jahren kaum denkbar<br />
gewesen. Nach geltendem Recht hat der Beistand<br />
einen sehr grossen Ermessenspielraum in<br />
der Gestaltung der Aufgabe und hat weitreichende<br />
Vertretungskompetenzen. Neu muss die Kindesund<br />
Erwachsenenschutzbehörde dem Beistand<br />
detailliert vorschreiben, in welchen Bereichen er<br />
Viele Behinderteninstitutionen haben beispielsweise den<br />
Umgang mit bewegungseinschränkenden Massnahmen<br />
bereits im Qualitätsmanagement geregelt.<br />
für welche Aufgaben zuständig ist. Wenn in der<br />
Verfügung nicht steht, dass der Beistand für die medizinischen<br />
Angelegenheiten zuständig ist, dann<br />
ist er das auch nicht. Punkt. Diese Massschneiderung<br />
bedeutet, dass bei behinderten Personen ganz<br />
genau im Voraus geklärt wird, was diese Person<br />
autonom entscheiden kann. Das ist nicht mehr<br />
Aufgabe des Beistands.<br />
Bickel: Ich bin gespannt auf die Umsetzung in den<br />
Institutionen, ob beispielsweise engagierte Sozialpädagogen<br />
nach dem Abendessen noch ein Aktivierungsprogramm<br />
durchsetzen können, wenn die<br />
Wohngruppe lieber fernsehen möchte. /<br />
13
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> PERSÖNLICH<br />
BERÜCKSICHTIGUNG DER INDIVIDUELLEN BEDÜRFNISSE<br />
Umfassendes Menschenbild<br />
Ein Mensch mit lebenslanger Behinderungserfahrung hat andere Bedürfnisse als eine betagte<br />
Person, die an Demenz leidet, oder ein chronisch krankes Kind. Doch alle haben dasselbe Recht<br />
auf Schutz, Autonomie und Selbstbestimmung, soweit es möglich ist.<br />
> Von Christina Affentranger Weber<br />
Foto: Scriptum, Angel Sanchez<br />
Die Möglichkeit,<br />
gemäss den individuellen<br />
Bedürfnissen<br />
und Fähigkeiten<br />
zu wohnen<br />
und zu arbeiten,<br />
ist eine Voraussetzung<br />
für ein selbstbestimmtes<br />
Leben.<br />
Christina Affentrager<br />
Weber<br />
Leiterin der Fachkonferenz<br />
Erwachsene Menschen<br />
mit Behinderung<br />
CURAVIVA Schweiz<br />
Für diese Grundhaltung treten wir bei allen Menschen<br />
ein, und es ist unwesentlich, in welcher Lebensphase<br />
sie sich befinden. Das heisst, für Begleitende,<br />
Betreuende, Pflegende und alle anderen, die<br />
für die Unterstützung verantwortlich sind, ergibt<br />
sich dieselbe Pflicht: alle Handlungen und Massnahmen<br />
mit Einfluss auf Sicherheit, Autonomie und<br />
Selbstbestimmung von Unmündigen sind erstens<br />
zu begründen, zweitens durch die Berechtigten zu<br />
legitimieren und drittens kontinuierlich zu dokumentieren,<br />
zu überprüfen und allenfalls anzupassen.<br />
Nur weil die ältere und demenzkranke Vreni Müller<br />
am liebsten die Perlen ihrer Nachbarinnen trägt,<br />
darf sie niemand vom Pflegeheim eigenmächtig<br />
im Zimmer einschliessen und ihr<br />
damit die Bewegungsfreiheit nehmen. In<br />
Ab sprache mit ihrem Ehemann oder einer<br />
anderen berechtigten Person oder Behörde<br />
ist eine geeignete Lösung, die Vreni Müller<br />
so weit als möglich ihren Freiraum lässt,<br />
schriftlich abzumachen, zu dokumentieren<br />
und periodisch zu überprüfen.<br />
Ebenso haben erwachsene Menschen mit<br />
einer Behinderung ein Anrecht auf selbstbestimmte<br />
Beziehungen, selbst wenn sie<br />
ausser Stande sind, das Zusammensein<br />
und die Auswirkungen dieser Beziehungen vollumfänglich<br />
einschätzen und planen zu können. Kein<br />
Heim und kein Arzt hat das Recht, ihr intimes Leben<br />
zu regeln oder die Verhütung durchzusetzen, ohne<br />
dass die Eltern oder die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde<br />
darüber befindet. Diese<br />
haben sich verpflichtet, eine verbindliche Regelung,<br />
die den Betroffenen die grösst mögliche Selbstbestimmung<br />
lässt, zu finden und dauerhaft durchzusetzen.<br />
Vergleichbar ist dies mit den Rechten eines Kindes,<br />
das im Heim lebt und 24 Stunden am Tag einen<br />
Helm tragen sollte, um sich nicht zu verletzen. Für<br />
alle wichtigen Schritte, die seine Entwicklung, seine<br />
Sicherheit und seine Gesundheit beeinflussen,<br />
sind seine Eltern oder die zuständige Kindes- und<br />
Erwachsenenschutzbehörde beizuziehen. Die notwendigen<br />
Abmachungen stützen sich auf dieselben<br />
Grundlagen, die auch für Vreni Müller gelten.<br />
Welche Unterlagen einzusetzen sind, entscheiden<br />
die handlungsberechtigten Angehörigen oder Behörden,<br />
in Zusammenarbeit mit den Leistungserbringern<br />
(Heime und Institutionen). Um diese Aufgaben<br />
in allen Begleitungs-, Betreuungs- und Pflegeorganisationen<br />
zu erleichtern, ob ambulant, teil stationär<br />
oder stationär, wurden die vorliegenden Arbeitshilfen<br />
entwickelt. /<br />
14
c) Patientenverfügung kurz d) Patientenverfügung lang e) Vorsorgeauftrag zusatzinformationen referate und Fachzeitschriftartikel 8. zusatzinformationen,<br />
1. Vorwort 2. PDF Broschüre 3. Gesetzestexte 4. FAQ Katalog – häufige Fragen und Antworten 5. Juristische Erläuterungen zum<br />
<strong>KINDES</strong>- <strong>UND</strong> <strong>ERWACHSENENSCHUTZRECHT</strong><br />
> CD<br />
CD Kindes- und Erwachsenenschutzrecht,<br />
praktische Hilfe zur Umsetzung des Gesetzes<br />
Verkaufspreis: 120 CHF<br />
Herausgeber: CURAVIVA.CH 3000 Bern, info@curaviva.ch<br />
Bestellung: www.shop.curaviva.ch<br />
Erschienen: Bern 2. April 2012<br />
Inhalt:<br />
1. Vorwort<br />
2. PDF Broschüre<br />
3. Gesetzestexte<br />
4. FAQ Katalog häufige Fragen und Antworten<br />
5. Juristische Erläuterungen zum Erwachsenenschutzrecht<br />
6. Musterreferat<br />
7. E-Formulare*:<br />
a) Mustervertrag für Wohnstätten<br />
b) Muster Pensionsvertrag für Alters- und Pflegeheime<br />
c) Patientenverfügung kurz<br />
d) Patientenverfügung lang<br />
e) Vorsorgeauftrag<br />
8. Zusatzinformationen, Fachzeitschriftartikel und Referate<br />
*Exklusiv auf dieser CD erhältlich sind PDF E-Formulare mit Feldfunktionen<br />
zum direkten Ausfüllen, Abspeichern und Ausdrucken.<br />
Das neue KinDes- unD erwachsenenschutzrecht<br />
Erwachsenenschutzrecht 6. musterreferat 7. E-Formulare*: a) mustervertrag für Wohnstätten b) muster Pensionsvertrag für Alters- und Pfegeheime<br />
Fachzeitschriftartikel und referate * Exklusiv auf dieser cD erhältlich sind PDF E-Formulare mit Feldfunktionen zum direkten Ausfüllen, Abspeichern und Ausdrucken;<br />
PrAKtischE hilFE zur umsEtzunG DEs GEsEtzEs<br />
>Verkaufspreis: 100 chF; >Konzept: Franz Bricker und stefan sutter curAViVA.ch, 3000 Bern; >Bestellung: www.shop.curaviva.ch; >Bern 2. April 2012<br />
35
IMPRESSUM<br />
ISBN Nummer: 978-3-9523215-5-3<br />
Herausgeber: CURAVIVA.CH<br />
Erschienen: Bern 2012<br />
Preis: 16.00 CHF<br />
Preis mit CD: 120.00 CHF<br />
Bestellung: www.shop.curaviva.ch<br />
Recht und Arbeitshilfen:<br />
Thomas Bickel<br />
Urs Vogel<br />
Fachgruppe:<br />
Franz Bricker, Vorsitz<br />
Thomas Bickel<br />
Ursula Limacher<br />
Peter Moser<br />
Bruno Ruegge<br />
Eusebius Spescha<br />
Projektleitung:<br />
Stefan Sutter<br />
Redaktion und Gestaltung:<br />
Schneider Communications AG,<br />
Bernhard Schneider<br />
Erika Schmid<br />
Fotos:<br />
Scriptum, Angel Sanchez;<br />
Erika Schmid<br />
Trägerschaft:<br />
INSOS Schweiz<br />
Nationaler Branchenverband<br />
der Institutionen für Menschen<br />
mit Behinderung<br />
Zieglerstrasse 53<br />
3000 Bern<br />
CURAVIVA.CH<br />
Verband Heime und<br />
Institutionen Schweiz<br />
Zieglerstrasse 53<br />
3000 Bern