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Von Yizhak Ahren (Köln) - Jüdisches Leben in Berlin

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Seite 5 Jüdische Korrespondenz März 2005<br />

... Wem Ehre gebührt<br />

Unsere Familiengrabste<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Merch<strong>in</strong>gen Foto: Autor<br />

Es war wohl um die Jahrtausendwende, als mich<br />

e<strong>in</strong> Brief aus me<strong>in</strong>em Geburtsort Merch<strong>in</strong>gen erreichte.<br />

E<strong>in</strong>e damals 16 jährige Schüler<strong>in</strong> schilderte<br />

mir, was sie empf<strong>in</strong>de und bewege, wenn sie<br />

- gelegentlich - zum Jüdischen Friedhof gehe.<br />

Darüber sprach sie auch mit e<strong>in</strong>em ihrer Lehrer<br />

des Gymnasiums. Wenig später erhielt ich von<br />

diesem Post. Enthalten dar<strong>in</strong> auch e<strong>in</strong>e kurze Andeutung<br />

se<strong>in</strong>er nebenberuflichen Tätigkeit: Die<br />

Er<strong>in</strong>nerung an die jüdischen Landgeme<strong>in</strong>den vor<br />

dem Vergessen zu bewahren. 2002 kontaktierte<br />

mich e<strong>in</strong> Bernard Kramer aus Chicago und teilte<br />

mir mit, dass wir Verwandte seien. Denn se<strong>in</strong>e Ur-<br />

Ur-Großmutter, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Merch<strong>in</strong>gen geborene<br />

Fleischhacker, sei Mitte des 19. Jahrhunderts <strong>in</strong><br />

die USA ausgewandert. Nun wolle er mit se<strong>in</strong>er<br />

Frau und zwei Töchtern die familiären Wurzeln<br />

kennen lernen. Er habe von e<strong>in</strong>er Bekannten <strong>in</strong><br />

San Francisco gehört, da gebe es im Merch<strong>in</strong>gen<br />

benachbarten Adelsheim e<strong>in</strong>en Lehrer, der über<br />

ehemals <strong>Jüdisches</strong> <strong>in</strong> diesem Gebiet gut Bescheid<br />

wisse. Auf der Rückreise lernten wir uns <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

kennen, und die Kramers waren begeistert über<br />

den Lehrer Re<strong>in</strong>hart Lochmann. E<strong>in</strong> Jahr später<br />

fuhr unsere Familie, Enkelk<strong>in</strong>der mit an »Bord«,<br />

nach Merch<strong>in</strong>gen. Lochmann erwartete uns am<br />

Friedhof, wo me<strong>in</strong>e Großeltern und die Vorfahren<br />

seit Beg<strong>in</strong>n des 19. Jahrhunderts ruhen. Wir erfuhren,<br />

dass sich der Gymnasiallehrer seit zwei<br />

Jahrzehnten <strong>in</strong>tensiv mit der Geschichte der Jüdischen<br />

Geme<strong>in</strong>den und den stillen Zeugen, deren<br />

Grabste<strong>in</strong>en, beschäftigt. In Sennfeld, e<strong>in</strong>em Vorort<br />

von Adelsheim, ist durch se<strong>in</strong>e Initiative die<br />

ehemalige Synagoge zu e<strong>in</strong>em Heimatmuseum<br />

geworden,. E<strong>in</strong>e dort verschüttet gewesene Mikwe<br />

wurde freigelegt. Es f<strong>in</strong>den regelmäßig Kolloquien<br />

mit Religionslehrern der südbadischen Region<br />

statt. Es werden E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> deutsch-jüdisches<br />

Zusammenleben über Jahrhunderte<br />

vermittelt. Bis es ab l933 systematisch ausgelöscht<br />

wurde. Gerade heute hält er es für unerlässlich,<br />

das über Jahrhunderte zwar nie<br />

konfliktfreie, aber im Wesentlichen doch friedvolle,<br />

tolerante, für alle Seiten letztlich ertragreiche<br />

<strong>Von</strong> Alfred Fleischhacker<br />

Zusammenleben von Juden, Christen, Atheisten<br />

als zukunftsweisend <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung zu rufen.<br />

Fast nebenbei sagte uns Lochmann, dass er<br />

schon seit e<strong>in</strong>igen Jahren an e<strong>in</strong>er Dokumentation<br />

über die e<strong>in</strong>stigen Jüdischen Geme<strong>in</strong>den im<br />

Bereich Neckar-Odenwald arbeite. Er sei zuversichtlich,<br />

ab Herbst dieses Jahres, nach se<strong>in</strong>er<br />

Pensionierung gut voran zu kommen. Mit diesem<br />

Wissen fuhren wir zurück nach Berl<strong>in</strong> und ich<br />

hatte die E<strong>in</strong>gebung, dieses gesellschaftlich so<br />

wichtige Engagement verdiene eigentlich e<strong>in</strong>e<br />

staatliche Würdigung. Unsere Familie formulierte<br />

e<strong>in</strong>en Antrag an die Staatskanzlei Baden-<br />

Württemberg <strong>in</strong> Stuttgart. Der wurde von<br />

Bernard Kramer und se<strong>in</strong>er Bekannten <strong>in</strong> San<br />

Francisco, Bianca Zwang-Hirsch, unterstützt.<br />

Inzwischen wurde Re<strong>in</strong>hart Lochmann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Feierstunde im großen Saal des Rathauses Adelsheim<br />

für se<strong>in</strong>e ehrenamtliche Arbeit das Bundesverdienstkreuz<br />

am Bande verliehen. Mit se<strong>in</strong>en<br />

historischen Forschungen, hieß es <strong>in</strong> der Festrede,<br />

hat er die deutsch-jüdische Alltags- und Regionalgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ganzen Bereich wieder gegenwärtig werden lassen<br />

und damit bleibende Verdienste erworben.<br />

Glückwünsche der Israelitischen Religionsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

Baden überbrachte deren stellvertretender<br />

Vorsitzender David Seldner. Er beschrieb<br />

Lochmann als jemanden, der Menschen nicht nur<br />

helfe, ihre eigenen Wurzeln zu f<strong>in</strong>den, sondern<br />

auch zur Aufklärung über das Judentum beitrage.<br />

Die ganze Geme<strong>in</strong>de freue sich über die Auszeichnung.<br />

Ich schilderte den Anwesenden, wie<br />

ich das November–Pogrom 1938 <strong>in</strong> Baden erlebte<br />

und wie e<strong>in</strong>e deutliche Mehrheit der Merch<strong>in</strong>ger<br />

E<strong>in</strong>wohner mit ihren Mitbürgern »Juden« bis<br />

zu deren Deportation im Oktober 1940 wenig<br />

nachbarschaftlich umg<strong>in</strong>g. Ich kann heute<br />

darüber berichten, weil ich mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>dertransport<br />

kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges<br />

nach England kam und so vor dem Tod bewahrt<br />

wurde. Das ist jetzt Geschichte. Sehr gegenwärtig<br />

ist me<strong>in</strong>e Bekanntschaft mit Re<strong>in</strong>hart Lochmann<br />

und se<strong>in</strong>er Familie Ja, sie ist zu e<strong>in</strong>er<br />

Freundschaft geworden. Ich b<strong>in</strong> zuversichtlich,<br />

dass der Gymnasiallehrer, bald im Ruhestand, <strong>in</strong><br />

überschaubarer Zeit e<strong>in</strong>e vollständige Dokumentation<br />

der e<strong>in</strong>stmals Jüdischen Geme<strong>in</strong>den im<br />

Neckar-Odenwald Kreis vorlegen wird.<br />

An der Universität Wroclaw (Polen) ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale<br />

Studentengruppe damit beschäftigt,<br />

e<strong>in</strong>e Ausstellung und CD-Rom zur NS-Zeit <strong>in</strong><br />

Breslau zu erarbeiten. Gesucht werden Zeitzeug<strong>in</strong>nen<br />

und Zeitzeugen, Fotografien, Briefe, Tagebücher,<br />

Ton- u. Filmdokumente. Auch Kontakte zu<br />

Menschen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der schlesischen Konzentrationslager<br />

<strong>in</strong>haftiert wurden oder <strong>in</strong> Breslau<br />

Zwangsarbeit leisten mussten, wären e<strong>in</strong>e<br />

große Hilfe sowie H<strong>in</strong>weise auf HistorikerInnen,<br />

HobbyforscherInnen oder JournalistInnen, die<br />

sich mit dem Thema beschäftigt haben.<br />

Kontakt: Dom Edyty Ste<strong>in</strong> Jens Adam Ulica Nowowiejska<br />

3850-315 WrocawPolska Tel.: 0048-<br />

71-7833619; leo.baeck@berl<strong>in</strong>.de<br />

Epste<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a<br />

<strong>Von</strong> Rosa Lew<strong>in</strong><br />

Ehe Prof. Theo Bergmann bei uns über se<strong>in</strong>e<br />

jüngste Ch<strong>in</strong>a-Reise berichtete, wäre ich durch<br />

die Frage <strong>in</strong> Verlegenheit gebracht worden, wer Israel<br />

Epste<strong>in</strong> ist. Vielleicht hätte ich auf e<strong>in</strong>en Angestellten<br />

der Mendelssohn-Bank getippt,<br />

vielleicht auch auf e<strong>in</strong>en Hoteldirektor <strong>in</strong> Tel Aviv,<br />

auf die Wahrheit wäre ich nie im <strong>Leben</strong> gekommen:<br />

Epste<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> jüdischer ch<strong>in</strong>esischer Kommunist,<br />

87 Jahre alt und Abgeordneter des Parlaments.<br />

Der Vater war e<strong>in</strong> Bundist aus dem Baltikum,<br />

der von Riga aus nach den USA wollte, es<br />

aber zunächst nur bis nach Ch<strong>in</strong>a geschafft hatte,<br />

wo der Sohn hängen blieb und es bis zum Mitarbeiter<br />

der Witwe Sun Yat-sens und nun zum<br />

allseits geachteten Mitglied der obersten Volksvertretung<br />

brachte.<br />

»Me<strong>in</strong> alter Freund«, wie ihn der etwa gleichaltrige<br />

Theo Bergmann freundschaftlich titulierte,<br />

ist e<strong>in</strong>er der neun bis zehn Juden <strong>in</strong> diesem Gremium<br />

und war der verlässliche Ratgeber für e<strong>in</strong>e<br />

Studienfahrt durch das Riesenland, die Bergmann<br />

geme<strong>in</strong>sam mit e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Gruppe deutscher<br />

Historiker unternahm. Der eigentliche Grund des<br />

Ch<strong>in</strong>a-Aufenthalts war die dritte ch<strong>in</strong>esische<br />

Rosa-Luxemburg-Konferenz <strong>in</strong> Kanton. In der<br />

Volksrepublik Ch<strong>in</strong>a beg<strong>in</strong>nt man, wie Bergmann<br />

betonte, mit mehreren Jahrzehnten Verspätung,<br />

die Werke Rosa Luxemburgs herauszugeben. Das<br />

Interesse an der wissenschaftlichen Beschäftigung<br />

mit ihrem Schaffen und ihren Lehren ist vor<br />

allem <strong>in</strong> der jungen Generation, unter den Studenten,<br />

groß, die verständlicherweise nicht<br />

zuletzt über ihre Freiheitsdef<strong>in</strong>ition diskutieren.<br />

<strong>Von</strong> der Luxemburg-Rezeption schwenkte der<br />

Redner bald zu der Fasz<strong>in</strong>ation über, die ihm Ch<strong>in</strong>as<br />

Weg bereitet. Bergmann warnte vor vorschnellen<br />

Urteilen über ch<strong>in</strong>esischen Sozialismus.<br />

Er sei sicherlich ke<strong>in</strong> Modell, aber dort erfolgversprechend.<br />

Es gebe zwar zahlreiche<br />

Widersprüche, aber sie seien nicht antagonistisch,<br />

würden von der Führung gesehen und bekämpft.<br />

Bee<strong>in</strong>druckt vom wirtschaftlichen Aufschwung<br />

Ch<strong>in</strong>as, e<strong>in</strong>e jährliche Produktionssteigerung<br />

von acht bis neun Prozent sucht <strong>in</strong> der<br />

Welt ihresgleichen, beg<strong>in</strong>nen die USA und Japan<br />

das Land mit se<strong>in</strong>en 1, 3 Milliarden E<strong>in</strong>wohnern<br />

als Bedrohung wahrzunehmen. Um das Ziel zu erreichen,<br />

e<strong>in</strong> Land mittleren Wohlstands zu werden,<br />

ist freilich noch immense Arbeit erforderlich.<br />

Die <strong>Leben</strong>smittelfrage ist gelöst, das Energieproblem<br />

nicht. Bergmann sprach über soziale Spannungen<br />

und Polarisierung, über das Problem der<br />

Wanderarbeiter und ausländisches Kapital, über<br />

die Beziehungen zu Russland und Folgen der E<strong>in</strong>-<br />

K<strong>in</strong>d-Politik, über Demokratiedefizite und Gewerkschaften.<br />

Natürlich hat er alle se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke<br />

und Analysen bereits zu e<strong>in</strong>em Buch verarbeitet,<br />

das an diesem Abend viel gekauft wurde.<br />

Auf die Juden <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a kam man <strong>in</strong> der lebhaften<br />

Debatte zurück. An die 30 000 Emigranten, die <strong>in</strong><br />

Shanghai Asyl gefunden hatten, er<strong>in</strong>nert e<strong>in</strong> Museum.<br />

Die e<strong>in</strong>st <strong>in</strong> Charb<strong>in</strong> ansässigen Juden leben<br />

heute <strong>in</strong> Israel.

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