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Von Yizhak Ahren (Köln) - Jüdisches Leben in Berlin

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März 2005 Jüdische Korrespondenz Seite 2<br />

Ist die E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de nur e<strong>in</strong> Traum?<br />

Das Wort »E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de« haben wir erst <strong>in</strong><br />

Deutschland gehört. Dass es dazu e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same<br />

Podiumsveranstaltung - organisiert vom Integrationsclub<br />

»Impuls« zusammen mit dem Jüdischen<br />

Kulturvere<strong>in</strong> – gab, war für unser bisheriges<br />

Verständnis des jüdischen <strong>Leben</strong>s von<br />

großem Nutzen, und soweit wir unsere Geme<strong>in</strong>demitglieder<br />

kennen auch für andere. Zu merken<br />

war leider, dass fast nur neuere Mitglieder der Geme<strong>in</strong>de<br />

zur Veranstaltung kamen, um mehr<br />

darüber zu erfahren, was vor allem <strong>in</strong> der anschließenden<br />

Diskussion etwas genauer zum<br />

Ausdruck gebracht wurde.<br />

Für uns E<strong>in</strong>gewanderte war stets klar, der jüdischste<br />

Ort <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadt ist die Synagoge mit<br />

e<strong>in</strong>em Rabb<strong>in</strong>er. Und natürlich die Geme<strong>in</strong>de, die<br />

sich aus den Mitgliedern bildet, die e<strong>in</strong>ander kennen<br />

und an Feiertagen zum Gebet gehen. Jedoch<br />

jüdische Geme<strong>in</strong>de als adm<strong>in</strong>istrative Institution<br />

- wie es <strong>in</strong> Deutschland der Fall ist - kannten wir<br />

bei uns nicht. Dass es beispielsweise <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> am<br />

Anfang der 1930er Jahre e<strong>in</strong>en vere<strong>in</strong>igten Synagogenvorstand<br />

bestehend aus der Abteilung A<br />

(Alter Ritus) mit sieben und der Abteilung B<br />

(Neuer Ritus) mit neun Geme<strong>in</strong>desynagogen gab,<br />

wie Irene Runge ausführte, war ohne Zweifel<br />

nicht nur für uns neu. So haben wir an diesem<br />

Abend auch erfahren, dass deutsche Juden schon<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts von Staats wegen am<br />

Wohnort Geme<strong>in</strong>demitglieder se<strong>in</strong> mussten und<br />

Geme<strong>in</strong>desteuern zu zahlen hatten. Der jüdische<br />

Wunsch nach religiöser Vielfalt unter e<strong>in</strong>em<br />

Dach kam erst später und führte 1854 dazu, dass<br />

<strong>in</strong> Breslau die erste E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de gegründet<br />

wurde. Zwar gab es auch <strong>in</strong> der früheren UdSSR<br />

religiöse jüdische Vielfalt, aber wir hatten ke<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de. Man wusste z. B., dass Herr X<br />

zu Orthodoxen geht und dass Frau Y den Liberalen<br />

angehört, wenn es <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Ortes e<strong>in</strong>e<br />

solche Möglichkeit gab. Man hatte se<strong>in</strong>en Rabb<strong>in</strong>er<br />

und man fragte nur ihn um e<strong>in</strong>en Rat. Zur Synagoge<br />

e<strong>in</strong>er anderen Richtung g<strong>in</strong>g man nicht.<br />

Jedoch alle Richtungen unter e<strong>in</strong>em Dach zu vere<strong>in</strong>igen<br />

– dies war für viele von uns schwer vorstellbar.<br />

Die Podiumsdiskussion, die auf Deutsch unter<br />

dem Motto »Ist die E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de nur e<strong>in</strong><br />

schöner Traum?« geleitet wurde, schien sowohl<br />

Alte<strong>in</strong>wohner als auch neue Immigranten mit e<strong>in</strong>er<br />

bisher ganz offensichtlich nicht wahrgenommenen<br />

Idee zu konfrontieren. Dabei war auf Russisch<br />

noch e<strong>in</strong>e Frage <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>ladung, nämlich<br />

ob die e<strong>in</strong>heitliche Geme<strong>in</strong>de überhaupt e<strong>in</strong>e Zukunft<br />

habe?<br />

Die mit viel<br />

Temperament<br />

im Großen<br />

Saal des Centrum<br />

Judaicum<br />

geäußerten<br />

Ansichten waren<br />

natürlich<br />

alles andere<br />

als e<strong>in</strong>heitlich.<br />

So brachten<br />

Raissa Kruk,<br />

Dr. Irene Runge,<br />

Juri Vexler<br />

und Moderator<br />

Andreas<br />

Poetke (der<br />

für die erkrankte<br />

Judith Kessler e<strong>in</strong>gesprungen war) nicht<br />

nur sehr verschiedene, sondern be<strong>in</strong>ahe e<strong>in</strong>ander<br />

ausschließende Me<strong>in</strong>ungen mit. Poetke umriss<br />

den Begriff und er<strong>in</strong>nerte an die Entstehungsgeschichte.<br />

Runge warf die Bemerkung e<strong>in</strong>, dass jüdische<br />

E<strong>in</strong>heit adm<strong>in</strong>istrativ erst nötig wurde,<br />

nachdem sich religiöse Vielfalt etabliert hatte.<br />

Raissa Kruk plädierte ohne jeglichen Rückblick<br />

für die E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> ihrer heutigen Form.<br />

Und Juri Vexler deutete an, dass er weniger an der<br />

Religions-, dagegen aber mehr an e<strong>in</strong>er Kulturgeme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>in</strong>teressiert sei. Die Podiumsteilnehmer<br />

haben also das Thema des Abends genauso<br />

unterschiedlich <strong>in</strong>terpretiert, wie die E<strong>in</strong>ladung<br />

formuliert war. Runge und Poetke wollten<br />

darüber sprechen, was die historische E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de<br />

heute als Anregungen bzw. H<strong>in</strong>dernissen<br />

bereithält. Kruk sah dazu jedoch ke<strong>in</strong>en Diskussionsbedarf.<br />

Sie plädierte für E<strong>in</strong>igkeit <strong>in</strong>nerhalb<br />

der Geme<strong>in</strong>de und erklärte, für sie seien<br />

überhaupt nur e<strong>in</strong>geschriebene Geme<strong>in</strong>demitglieder<br />

Juden, andere nicht, und nur solche sollten<br />

Zutritt zu Synagogen haben. Dies provozierte<br />

Andreas Poetke zu e<strong>in</strong>er scharfen Replik, denn<br />

se<strong>in</strong> Vater - e<strong>in</strong> Holocaustüberlebender - habe<br />

immer <strong>in</strong> der Rykestraße gebetet und sei heute<br />

dennoch ke<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>demitglied, aber natürlich<br />

e<strong>in</strong> Jude. Runge nannte es »jüdisches Pr<strong>in</strong>zip«,<br />

wenn jeder selbst entscheide, wie er jüdisch sei.<br />

Das G‘tteshaus stehe grundsätzlich allen offen,<br />

ke<strong>in</strong> Jude dürfe vom Gebet ausgeschlossen werden.<br />

Dem folgend beschrieb Vexler se<strong>in</strong>en eigenen<br />

Weg zurück <strong>in</strong>s Judentum und beklagte zugleich<br />

die mangelnde E<strong>in</strong>beziehung von Interessenten <strong>in</strong><br />

kulturelle Aktivitäten der Geme<strong>in</strong>de.<br />

In der Debatte mit dem Publikum wiederholten<br />

sich auch Missverständnisse. Manche wollten<br />

über die heutige Situation der Geme<strong>in</strong>de sprechen,<br />

andere wiederum eher persönliche Probleme<br />

vortragen. Die Veranstaltung ähnelte<br />

Podiumsdebatte. Organisator<strong>in</strong> Swetlana Agronik stehend. Foto: Margrit Schmidt<br />

<strong>Von</strong> Nataliya Gladil<strong>in</strong>a und Vadim Brovk<strong>in</strong>e<br />

zeitweise e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>deversammlung. Dabei<br />

versuchten die anwesenden Repräsentanten der<br />

Jüdischen Geme<strong>in</strong>de Mark Aizikowitsch und<br />

Pjotr Feldman, auf Fragen und Vorwürfe redlich<br />

e<strong>in</strong>zugehen, was allerd<strong>in</strong>gs teilweise vom Thema<br />

der E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de wegführte. Die von verschiedenen<br />

Teilnehmern ergänzte, meist zusammenfassende<br />

und manchmal <strong>in</strong>terpretierte Übersetzung<br />

<strong>in</strong>s Russische half dabei, den komplizierten<br />

Zusammenhängen von Strukturen und<br />

Inhalten auf die Spur zu kommen.<br />

Am Ende konnte jeder die <strong>in</strong> die Zukunft reichenden<br />

Fragen von Irene Runge mit nach Hause nehmen:<br />

Welche Geme<strong>in</strong>destrukturen müssten heute<br />

stabilisiert werden? Welche festgefahrenen Gewohnheiten<br />

s<strong>in</strong>d besser abzubrechen? Für sie<br />

bleibt jedoch zu klären, wie sich welches kulturelle<br />

Umfeld um den religiösen Kern anlagern<br />

lässt, weil doch E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de letztendlich<br />

e<strong>in</strong>e Religionsgeme<strong>in</strong>de sei. E<strong>in</strong> Grundproblem<br />

bestehe <strong>in</strong> der Tatsache, dass die Geme<strong>in</strong>den von<br />

vielen Immigranten heute weniger als Orte der<br />

Religion, sondern vielmehr als »jüdische Sozialämter«<br />

angesehen werden. Aus diesem Irrtum<br />

leiteten sich falsche Erwartungen vieler E<strong>in</strong>wanderer<br />

ab, die nur wenig mit der Idee e<strong>in</strong>er deutschen<br />

E<strong>in</strong>heitsgeme<strong>in</strong>de verb<strong>in</strong>den. Viele Immigranten<br />

sehen sich e<strong>in</strong>em Apparat gegenüber, dessen<br />

S<strong>in</strong>n und Verwaltungspr<strong>in</strong>zip ihnen schlicht<br />

fremd ist.<br />

Abschließend regte Runge noch ironisch an, viele<br />

kle<strong>in</strong>e Kulturvere<strong>in</strong>e zu gründen, die sich dann<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eigenen Dachverband bei der Geme<strong>in</strong>de<br />

wiederf<strong>in</strong>den könnten - um dem Wunsch nach<br />

Kultur zu entsprechen, ohne den Zweck der Religionsgeme<strong>in</strong>de<br />

zu beschädigen.<br />

»Europas Juden im Mittelalter« <strong>in</strong><br />

Speyer. Die Ausstellung stellt das mittelalterliche<br />

Judentum mit se<strong>in</strong>en Zentren<br />

am Rhe<strong>in</strong> und auf der Iberischen<br />

Halb<strong>in</strong>sel vor - Geme<strong>in</strong>destrukturen, religiöse<br />

Gebräuche, literarische Tätigkeit<br />

<strong>in</strong> Religion, Philosophie und anderen<br />

Wissenschaften sowie die jüdischen<br />

E<strong>in</strong>flüsse auf Gesellschaft und<br />

Wirtschaft. Im Mittelpunkt das Verhältnis<br />

der Traditionskreise der Aschkenasen<br />

und der Sepharden zue<strong>in</strong>ander und<br />

zu ihrer nicht-jüdischen Umwelt. Speyer,<br />

Worms und Ma<strong>in</strong>z - <strong>in</strong> dieser Region<br />

erlebte das Judentum zwischen dem 11.<br />

und 13. Jahrhundert e<strong>in</strong>e große kulturelle<br />

Blüte. Anlass der Ausstellung ist<br />

der 900. Jahrestag der mittelalterlichen<br />

Synagoge von Speyer. Die Ru<strong>in</strong>e der<br />

Synagoge und die vollkommen erhaltene<br />

Mikwe <strong>in</strong> unmittelbarer Nähe des Museums<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> das Ausstellungskonzept<br />

e<strong>in</strong>gebunden.<br />

Kontakt: Historisches Museum der<br />

Pfalz, Domplatz, D - 67324 Speyer;<br />

Tel.: 06232 / 1 32 50; Fax: 06232 / 1 32<br />

540 <strong>in</strong>fo@museum.speyer.de Noch bis<br />

20. März 2005

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