Agnethler Blatt 71 - HOG-Agnetheln
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Treffen<br />
Jenseits seiner Familie trifft sich der einheimische Deutsche<br />
mit Freunden und Bekannten bevorzugt in seinem<br />
Verein, am Stammtisch, beim Sport, im Tanz- oder Kochkurs;<br />
vielleicht auch mit den Nachbarn zum Straßenfest<br />
oder zum gelegentlichen Grillen; mit den Arbeitskollegen<br />
zum Firmenfest und auf dem Betriebsausflug; wenn das<br />
Klima stimmt, gibt es sogar eine gemeinsame Kasse, und<br />
sobald diese entsprechend gefüllt ist, macht er mit bei<br />
einer aufwendigeren Gemeinschaftsaktion. Eltern finden<br />
über die Krabbelgruppen, Spielplätze oder Schulklassen<br />
ihrer Kinder zusammen, die Jugend bisher über Schule,<br />
Disco und Sportverein, seit einiger Zeit wird man vielleicht<br />
lieber „Freund“ in einem virtuellen „sozialen Netzwerk“,<br />
wenn man aus der Einsamkeit vor dem Bildschirm einen<br />
Ausweg sucht.<br />
Die Medien, besonders das Fernsehen, liefern meist die<br />
Themen und Informationen, die Haltungen und das Vokabular<br />
für die Gespräche, die sich bei solchen Zusammenkünften<br />
ergeben. Ein paar Dutzend Prominente bespielen<br />
die Kanäle und werden von den vielen Millionen wahrgenommen,<br />
von ihnen bezieht man die Meinungen, die<br />
man sich zu eigen macht oder denen man widerspricht.<br />
Was in diesen Kanälen nicht vorkommt, das gibt es für<br />
den Einheimischen nicht. Oder es ist jedenfalls unwichtig.<br />
Es wird übersehen und übergangen, denn es ist nicht auf<br />
dem Schirm.<br />
Wir sind nicht auf diesem Schirm. Aber unsere Sache<br />
war es unlängst. Als die Banatschwäbin Herta Müller<br />
vor knapp zwei Jahren den Literatur-Nobelpreis zugesprochen<br />
erhielt, kamen mit ihr auch ihre beiden Themen<br />
auf den Schirm: „Securitate“ und „Verschleppung in die<br />
Sowjetunion“. Beide gehören zu unseren prägenden Erfahrungen,<br />
und wir hätten die Aufmerksamkeit der deutschen<br />
Medienöffentlichkeit mit einem erleichterten „Na<br />
endlich!“ begrüßen können. Wenn nicht verschiedenes<br />
dagegen gestanden hätte.<br />
In dem einen Fall würden wir die sechzigjährige Verspätung<br />
gleich mitbegrüßt haben, die die trägen Herzen<br />
brauchten, um Deportation und Quälerei unserer Eltern<br />
oder Großeltern wahrzunehmen. (Abgesehen von jenen<br />
Herzchen, die in dem Müller/Pastiorschen Leidensbericht<br />
in Romanform nur einen Gewichtsabzug von der historischen<br />
deutschen Schuld sehen wollten.) Bei dem anderen<br />
Thema zeigt Frau Müller unerbittlich nicht nur auf Securitate-Machenschaften<br />
dort und damals, sondern auch auf<br />
solche hierzuland und deren Fortsetzungsgeschichten bis<br />
heute. Da wäre es mit Wundenlecken und „Bewältigung“<br />
des Vergangenen nicht getan, wir müßten schon an die<br />
eigenen Hausaufgaben gehen. Wenn dem nicht die eigene<br />
Herzensträgheit entgegenstünde. Oder gibt es auch<br />
DIESMAL<br />
www.hog-agnetheln.de<br />
Seite 23<br />
gute Gründe für die Zögerlichkeit? Die landsmannschaftliche<br />
Auszeichnung zu Pfingsten in Dinkelsbühl für die<br />
Professoren h. c. Dres. Motzan und Sienerth, Literaturwissenschaftler<br />
mit Spezialzugang zu den Akten des ehemaligen<br />
rumänischen Geheimdienstes, sollte nicht so mißverstanden<br />
werden, als ob wir die Klärung dieses trüben<br />
Kapitels an andere, etwa die Kulturpreisträger, delegieren<br />
könnten, die sie statt unser betreiben würden. Vielmehr<br />
sollte die gerade nur begonnene Arbeit der Ausgezeichneten<br />
uns Mut machen, das heiße Eisen anzupacken. (Der<br />
Anstoß in diese Richtung im vorangegangenen „Diesmal“<br />
ist so gut wie folgenlos geblieben.) – Welche Themen sind<br />
überhaupt noch unsere Sache, die dann auch „auf den<br />
Schirm“ kommt? Etwa wenn wir uns treffen.<br />
Wie ist es mit unseren Treffen bestellt? Natürlicher Weise<br />
mehr und mehr so wie eingangs beschrieben: Wir begegnen<br />
den Einheimischen in ihren Kreisen und lernen, wie<br />
sie zu sein. Den Jüngeren fällt das leichter, sie sind schwer<br />
oder gar nicht zu unterscheiden von den Einheimischen.<br />
Ihnen fehlt der Kontakt zu den Landsleuten weniger. Die<br />
Alten hängen an ihren Besonderheiten, die sie einerseits<br />
beisammen und andererseits abseits der Mehrheitsbevölkerung<br />
halten. Sie sprechen die Ortsmundart und ziehen<br />
die sächsische Küche vor, sie pflegen die Familienbindungen<br />
und behalten die früh geschlossenen Freundschaften<br />
bei, sie beziehen sich auch nach Jahrzehnten immer noch<br />
auf <strong>Agnetheln</strong>, wenn sie Kirche, Friedhof, Schule als „unsere“<br />
bezeichnen. Das sind nur wenige Beispiele.<br />
Dieser Hang zum Eigenen führt sogar zu erstaunlichen<br />
Wiedererweckungen. So zu der neuen Wertschätzung der<br />
Volkstracht als Repräsentationsgewand, das Identität signalisieren<br />
soll. – Bei den <strong>Agnethler</strong>n ist das besonders<br />
augenfällig. Sie waren ein Jahrhundert lang stolz darauf,<br />
an einem bestimmten Tag schon in den sechziger Jahren<br />
des 19. Jahrhunderts, gemeinsam und nach Absprache,<br />
die Tracht und den zugehörigen Haarschnitt abgelegt zu<br />
haben und sich ab dato „städtisch“, also bürgerlich, zu<br />
tragen. Friedrich Rosler berichtet in seinen „Kulturhistorischen<br />
Bildern“ von diesem denkwürdigen Tag. Damals<br />
nahm man sogar die lange Reise mit der Kutsche oder<br />
dem Pferdewagen nach Hermannstadt auf sich, um den<br />
Zopf pünktlich loszuwerden, weil es im Markt nicht genügend<br />
Friseure gab. – Dieses Roll-back, das den Aussiedlern<br />
– auch den <strong>Agnethler</strong>n, wenn der Anlaß offiziellen<br />
Anstrich haben soll – erneut die Volkstracht beschert, ist<br />
ideologisch zugeschnitten, es läßt sie malerisch-exotisch<br />
auftreten, als wäre unser ziviler Entwicklungsstand de<br />
facto ein anderer, deutlich archaischer als der eines durchschnittlichen<br />
Rheinländers, Schwaben oder Hessen. Und<br />
solche Durchschnittsdeutschen finden uns dann mögli-<br />
<strong>Agnethler</strong> <strong>Blatt</strong> / Nr. <strong>71</strong>