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Handreichung zu Gustav Mahler Sinfonie Nr.6 a-Moll (Tragische)

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<strong>Handreichung</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong><br />

<strong>Sinfonie</strong> <strong>Nr.6</strong> a-<strong>Moll</strong> (<strong>Tragische</strong>)<br />

von Christoph Wagner<br />

Konzerte am<br />

Do 24./Fr 25. Oktober 2013<br />

Liederhalle Stuttgart, Beethovensaal<br />

20 Uhr Beginn<br />

19 Uhr Einführung (Björn Gottstein)<br />

Radio-<strong>Sinfonie</strong>orchester Stuttgart des SWR<br />

Dirigent: Stéphane Denève<br />

Empfohlen ab Klasse 8


<strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong>, <strong>Sinfonie</strong> Nr. 6 a-<strong>Moll</strong><br />

Hinweise <strong>zu</strong> den Materialien:<br />

Die Materialien bieten in Bild, Text und Notenbeispielen einen Eindruck über die 6. <strong>Sinfonie</strong><br />

von <strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong> ohne einem konkreten Unterrichtsgang <strong>zu</strong> folgen. Sie sind von daher<br />

flexibel einsetzbar, um - vor allem im Oberstufenunterricht - den Schülerinnen und Schülern<br />

eine Einführung in dieses Werk <strong>zu</strong> vermitteln.<br />

Ein erster Kontakt mit <strong>Mahler</strong> und der „<strong>Tragische</strong>n Symponie“ kann mittels der Karikatur<br />

erfolgen, die Mutmaßungen evoziert, wie der Zeichner <strong>zu</strong> dieser Darstellung kommt.<br />

Die Überschrift „<strong>Tragische</strong> <strong>Sinfonie</strong>“ lässt die SuS außerdem Vermutungen anstellen, wie es<br />

<strong>zu</strong> diesem Titel kommt und welche Elemente die Musik haben muss, um dem Titel gerecht<br />

<strong>zu</strong> werden.<br />

Ein erster Höreindruck könnte die Frage aufwerfen worin die Tragik besteht.<br />

Nachfolgend sollten die Texte erarbeitet werden, die sowohl durch das Werk führen als auch<br />

den biografischen Hintergrund liefern, der die Frage der Tragik nochmals thematisiert.<br />

Die Notenbeispiele sollen helfen die wichtigsten Themen und Motive kennen<strong>zu</strong>lernen. Dies<br />

kann entweder lesend erfolgen oder noch besser: indem sie von den SuS selbst gespielt bzw.<br />

vom Lehrer bzw. der Leherin vorgespielt und auf ihre Wirkung hin untersucht werden.<br />

Bei so einem komplexen Werk, wie dem vorliegenden, versteht es sich natürlich von selbst,<br />

dass die Fülle des motivisch-thematischen Materials nur in äußerst bescheidenem Umfang<br />

im Unterricht vorgestellt werden kann. Die Komplexität des Werkes könnte auch durch einen<br />

Einblick in die umfangreiche Partitur 1 deutlich werden.<br />

Auf eine im Internet leicht abrufbare Überblicksbeschreibung des Werkes wurde in dieser<br />

<strong>Handreichung</strong> bewusst verzichtet. Hier sei neben dem entsprechenden Wikipedia-Artikel <strong>zu</strong>r<br />

Biografie (http://de.wikipedia.org/wiki/<strong>Gustav</strong>_<strong>Mahler</strong>) und Werk<br />

(http://de.wikipedia.org/wiki/6._<strong>Sinfonie</strong>_(<strong>Mahler</strong>)) auch auf folgende Ausführung hingewiesen:<br />

http://www.la-belle-epoque.de/mahler/sinf06_d.htm<br />

Christoph Wagner<br />

1<br />

Die vollständige Partitur kann man als pdf-Datei bei der Petrucci-Musikbibliothek<br />

herunterladen. Folgender Link führt direkt <strong>zu</strong>r 6. <strong>Sinfonie</strong> von <strong>Mahler</strong>:<br />

http://imslp.org/wiki/Symphony_No.6_(<strong>Mahler</strong>,_<strong>Gustav</strong>)


M 1:<br />

<strong>Mahler</strong>-Karikatur <strong>zu</strong>r Wiener Aufführung der sechsten Symphonie<br />

„Herrgott, dass ich die Hupe vergessen habe! Jetzt kann ich n o c h eine <strong>Sinfonie</strong> schreiben.“


M 2:<br />

Entstehung und Beset<strong>zu</strong>ng<br />

Entstehungszeit: 1903-1904<br />

Uraufführung:<br />

27. Mai 1906 <strong>zu</strong>m 42. Tonkünstlerfest in Essen unter der Leitung des Komponisten<br />

Beset<strong>zu</strong>ng:<br />

Piccoloflöte, vier Flöten (3. und 4. auch Piccoloflöte), vier Oboen (3. und 4. auch<br />

Englischhorn), Englischhorn, Klarinette in D und Es, drei Klarinetten in A und B,<br />

Bassklarinette, vier Fagotte, Kontrafagott, acht Hörner, sechs Trompeten, drei<br />

Posaunen, Bassposaune, Basstuba, Schlagzeug (Pauken, Glockenspiel, Herdenglocken,<br />

tiefen Glocken, Rute und Hammer), Xylophon, zwei Harfen, Celesta und Streicher<br />

Satzbezeichnungen:<br />

1. Allegro energico, ma non troppo - Heftig, aber markig;<br />

2. Scherzo. Wuchtig-Trio. Altvaterisch, grazioso;<br />

3. Andante moderato;<br />

4. Finale. Allegro moderato<br />

M 3: Aus einem CD-Booklet <strong>zu</strong>r 6. <strong>Sinfonie</strong> 2<br />

Prinzipielle Relevanz sowohl für die Konstruktion der Sechsten als auch für die Erkenntnis<br />

der programmatischen Intentionen <strong>Mahler</strong>s besitzt das sogenannte Motto: eine ungemein<br />

einprägsame Gestalt, die aus einem Leitklang (der Akkordfolge Dur - <strong>Moll</strong>) und einem<br />

charakteristischen Leitrhythmus besteht und mit der Funktion eines »Leitmotivs« häufig<br />

wiederkehrt, den Kopfsatz, das Scherzo und das Finale wie eine eiserne Klammer haltend.<br />

(Die beiden Elemente des Mottos kommen auch isoliert vor.) Kein Zweifel, dass das Motto<br />

die Semantik eines Schicksalsspruches hat, und gleichfalls kein Zweifel, dass die Sechste<br />

<strong>Mahler</strong>s - wie die Fünfte Beethovens und wie die Vierte und die Fünfte Tschaikowskys - eine<br />

Schicksalssymphonie ist.<br />

Zum ersten Mal intoniert wird das Motto von Trompeten und Pauken im Anschluss an das<br />

ungemein energische marschartige Hauptthema des Kopfsatzes Es folgen ein choralartiges<br />

Thema, das die Überleitungspartie vertritt, und ein »schwungvolles« Seitenthema, das als<br />

Porträt Almas gedacht war. Die Dynamik des konzisen 3 Satzes (er ist regelmäßig nach dem<br />

Schema der Sonatenform gebaut) resultiert aus der Gegenüberstellung und Verarbeitung<br />

dieser drei kontrastierenden Themen. Zu den originellsten Partien des Satzes gehören drei<br />

Stellen in der Durchführung (Z. 21 -25), in der Reprise (Z. 33-35) und unmittelbar vor der<br />

Coda (Z. 41), in denen die Musik so klingt, als käme sie aus weitester Ferne Die an der ersten<br />

Stelle erklingenden Herdenglocken interpretierte <strong>Mahler</strong> als Symbol »weltfremder<br />

Einsamkeit«.<br />

<strong>Mahler</strong>s Äußerungen über das musikalische Porträt seiner Frau im Seitensatz werden<br />

verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass in Richard Strauss' 1898 vollendeter<br />

Tondichtung Ein Heldenleben ein Abschnitt ursprünglich mit dem Titel Des Helden Gefährtin<br />

überschrieben war. <strong>Mahler</strong> verfolgte das symphonische Schaffen seines Freundes und<br />

2 Constantin Floros: <strong>Mahler</strong>: Sechste Symphonie. In:<br />

3 kurz, gedrängt


Rivalen Strauss mit größter Aufmerksamkeit, und vieles spricht dafür, dass er bei der<br />

Konzeption seiner Sechsten von Strauss' autobiographischen Tondichtungen manche<br />

Anregung empfing.<br />

<strong>Mahler</strong> war sich lange Zeit über die Platzierung des Scherzos und des Andantes<br />

unschlüssig. Nach der ursprünglichen Konzeption folgte das Scherzo auf den Kopfsatz und<br />

das Andante stand vor dem Finale. In dieser Reihenfolge wurden die Sätze in Essen<br />

uraufgeführt. Nach einem Bericht Klaus Pringsheims war sich <strong>Mahler</strong> jedoch noch nach der<br />

Generalprobe nicht im klaren darüber, ob er die mittleren Sätze nicht lieber vertauschen<br />

sollte.<br />

Der zweite Satz ist zweifelsohne eines der dämonischsten Scherzi, die <strong>Mahler</strong> geschrieben<br />

hat. In fünf Teilen (nach dem Muster Hauptsatz - Trio - Hauptsatz - Trio - Hauptsatz)<br />

angelegt, ist der Satz aus wenigen Motiven ökonomisch entwickelt Die Vortragsbezeichnung<br />

»wuchtig« und die Spielanweisung »wie gepeitscht« geben eine Vorstellung von dem<br />

Charakter der Hauptteile, die im Schauerlichen beheimatet sind. Die Thematik der Trioteile<br />

(<strong>Mahler</strong> überschreibt sie mit »altväterisch«) mutet dagegen stellenweise kinderliedartig an.<br />

Übrigens ist der so hervorstechende Takt- und Tempowechsel in den Trioteilen<br />

programmatisch bedingt - <strong>Mahler</strong> sprach von dem »arhythmischen Spielen« der beiden<br />

kleinen Kinder. Dem Andante moderato liegen zwei kontrastierende Themenkomplexe<br />

<strong>zu</strong>grunde, die rondohaft nach dem Schema ABABA alternieren und wiederkehrend<br />

durchgeführt werden. Das erste Thema, zwischen Dur und <strong>Moll</strong> changierend, ist im Ton dem<br />

vierten der Kindertotenlieder (Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen) ähnlich. Der zweite<br />

Themenkomplex, aus einer »traurigen« Weise entwickelt, erfährt großartige Steigerungen.<br />

Die glanzvoll instrumentierte E-Dur-Stelle (Z. 53), an der wieder die Herdenglocken<br />

erklingen, weist typische Züge des Pastorale auf.<br />

Das Finale (das längste <strong>Mahler</strong>s) ist nach dem Muster der Sonatenform gebaut. Die<br />

Besonderheit der Anlage macht es aus, dass Exposition, Durchführung, Reprise und Coda mit<br />

einer Introduktion eröffnet werden. Überwältigend ist in diesem Satz der Reichtum an<br />

Ausdruckscharakteren. Visionäres, Choralartiges, Marschähnliches, Überschwängliches,<br />

dramatisch Bewegtes, Musik aus weiter Ferne, Hymnisches - die verschiedensten Charaktere<br />

folgen in raschem Wechsel aufeinander. Besondere Bedeutung besitzen die Hammerschläge,<br />

die (in der ersten Fassung) an drei Stellen fallen: <strong>zu</strong> Beginn des zweiten und des vierten<br />

Durchführungsteiles (Z. 129 und Z. 1 40) und in der Coda (Takt 783). <strong>Mahler</strong> hat bei einer<br />

späteren weitgehenden Veränderung der Instrumentation den dritten Hammerschlag<br />

gestrichen, denn er hätte wie Erwin Ratz mutmaßt - »das Gefühl des absoluten Endes <strong>zu</strong> sehr<br />

verstärkt, das in Wahrheit kein Ende ist«.<br />

Wie kam aber <strong>Mahler</strong> auf den Einfall, in der Sechsten den Hammer <strong>zu</strong> verwenden?<br />

Mehreres spricht dafür, dass er die Anregung hier<strong>zu</strong> von dem Gedicht Alexander Ritters <strong>zu</strong><br />

Strauss' Tod und Verklärung erhielt. Dort stehen nämlich die Verse<br />

Da erdröhnt der letzte Schlag<br />

Von des Todes Eisenhammer,<br />

Bricht den Erdenleib entzwei,<br />

Deckt mit Todesnacht das Auge.<br />

<strong>Mahler</strong>s Sechste gibt sich - so können wir <strong>zu</strong>sammenfassend sagen - als Gegenstück und<br />

<strong>zu</strong>gleich als Gegenpol <strong>zu</strong> Strauss' Ein Heldenleben <strong>zu</strong> erkennen. Richard Strauss, dem Jünger<br />

Friedrich Nietzsches, dem Gegner des Christentums, wäre es sicherlich nie in den Sinn


gekommen, in einem symphonischen Werk seinen eigenen Untergang <strong>zu</strong> schildern<br />

Bezeichnenderweise äußerte er nach der Uraufführung der Sechsten <strong>zu</strong> Alma: »Warum sich<br />

der <strong>Mahler</strong> im letzten Satz die größte Wirkung wegnimmt, indem er gleich <strong>zu</strong> Anfang die<br />

stärkste Stärke gibt und dann immer schwächer wird, das versteh' ich nicht« Alma aber, die<br />

viele Ressentiments gegen Strauss hatte, kommentierte diese Äußerung <strong>zu</strong> Recht so »Er<br />

[Strauss] hat ihn [<strong>Mahler</strong>] nie verstanden. Hier und immer sprach der Theatermensch. Dass<br />

<strong>Mahler</strong> den ersten Schlag am stärksten, den zweiten schwächer und den dritten, den<br />

Todesschlag des verendenden Helden, am schwächsten machen musste, ist jedem klar, der<br />

die Symphonie nur einigermaßen begriffen hat. Vielleicht wäre die Augenblickswirkung in<br />

umgekehrter Dynamik stärker gewesen. Aber um die ging’s ihm nicht.<br />

M 4: Hans Heinrich Eggebrecht 4<br />

In der sechsten Symphonie (1903/04) ist die Vergeblichkeit <strong>zu</strong>r alles beherrschenden<br />

Aussage erhoben - bis hin <strong>zu</strong>m Schluss. Wieder im ersten Satz marschiert die Musik, und<br />

alsbald ertönt erstmals jenes aus vier Takten bestehende prägnante Ereignis, das als Motto<br />

dieser Symphonie bezeichnet werden kann. Es besteht aus drei Substanzen: einem <strong>zu</strong><br />

knallender Härte verdichteten Marschrhythmus in den Pauken; einem in diese Schläge von<br />

den Trompeten fortissimo hinein geschmetterten Durdreiklang, piano gefärbt von den<br />

Oboen; und dem Wechsel dieses Dur- <strong>zu</strong>m <strong>Moll</strong>dreiklang, wobei im Augenblick des Wechsels<br />

der Trompetenklang ins Pianissimo <strong>zu</strong>rückgetreten und der traurig-elegische Oboenton <strong>zu</strong>m<br />

Fortissimo angewachsen ist. Die Bezeichnung dieses Mottos als »Schicksalspruch« verdeckt<br />

und ebnet ins Bekannte ein, was hier gemeint ist: Gegen die Unerbittlichkeit der<br />

Paukenschläge, die als äußere Set<strong>zu</strong>ng das Schreiten diktieren, rebelliert das Subjekt im<br />

Ausbruch des Dur, das - Zeichen des Unterliegens - ins <strong>Moll</strong> umkippt.<br />

In seiner Aussage und Wiederkehr an den formal exponierten Stellen des ersten und<br />

letzten Satzes ist dieses Motto der unverrückbare Be<strong>zu</strong>gspunkt der Symphonie. Alles, was -<br />

<strong>zu</strong>nächst im ersten Satz - sonst noch vorkommt, bleibt dagegen machtlos, auch das<br />

Choralidiom, auch das emphatisch »schwungvolle« zweite Thema und in der Durchführung<br />

dann die Episode mit dem Getön der Herdenglocken, dem in die Symphonie verpflanzten<br />

realen Naturlaut, der als Inbegriff der Erdenferne den Durdreiklang des Mottos, das<br />

Opponieren, am extremsten motiviert.<br />

Die beiden Mittelsätze sind Einschübe: Sie kommentieren die um das Motto kreisende<br />

Aussage der Ecksätze. Der zweite Satz, das quasi Scherzo, ist nach außen gerichtet. In<br />

seinem Wechsel zwischen verzerrter Musik und - im Trioteil - einem hämischen Hinzeigen<br />

aufs »altväterliche« Gehabe ist er ein Abbild der Außenwelt in ihrer Negativität: Er weist auf<br />

die destruktiven Kräfte, die im Motto die Vergeblichkeit des Opponierens, das Umkippen von<br />

Dur nach <strong>Moll</strong>, verursachen, und er schließt selbst mit einem siebenmaligen Dur-<strong>Moll</strong>-<br />

Wechsel in den gedämpften Bläsern, der in einen angehaltenen <strong>Moll</strong>dreiklang der Posaunen<br />

einmündet. - Das Andante moderato dagegen ist nach innen gerichtet, Abkapselung von der<br />

Außenwelt, Bild der Seele, Versunkenheit ins Schöne und Traurige in eins; zart und<br />

ausdrucksvoll - Misterioso - mit bewegter Empfindung - morendo heißt es in der Partitur.<br />

Musik jenseits des Mottos und doch ebenfalls von ihm verursacht.<br />

4 aus: Musik im Abendland. München 1991. S. 616f.


Zur Wiederkehr des Mottos und <strong>zu</strong>r Welt, in der es als Kurzformel fungiert, treten im<br />

Finale (am Ende jeweils des ersten und dritten Durchführungsteils, Ziffer 129 und 140, sowie<br />

ursprünglich auch <strong>zu</strong> Beginn der Coda, elf Takte nach Ziffer 164) als auffälligstes Ereignis die<br />

Schläge des Hammers hin<strong>zu</strong>. Sie konzentrieren den Paukenrhythmus je auf einen einzigen<br />

Schlag, der - nach <strong>Mahler</strong>s Anweisung in der Partitur - kurz, mächtig, aber dumpf hallen soll,<br />

»wie ein Axthieb«. Sie sind in ihrem Krach die in die Musik hineingenommene Antimusik. das<br />

Zerschlagen des Subjekts - woher auch immer die Schläge kommen mögen. Später hat<br />

<strong>Mahler</strong> den letzten Hammerschlag gestrichen und damit - als dürfte es nicht sein - der<br />

Symphonie die Endgültigkeit der Niederwerfung nehmen wollen - aber nicht mehr nehmen<br />

können: An ihrem Ende, in den letzten drei Takten, hat das Motto das letzte Wort, und zwar<br />

derart, dass über dem Marschrhythmus der Pauken statt des Dur-<strong>Moll</strong>-Wechsels nur noch<br />

der aus dem Fortissimo heraus ersterbende <strong>Moll</strong>dreiklang ertönt.<br />

Was mit der sechsten Symphonie und ihrem Motto konkret gemeint ist, lässt die Musik<br />

offen, und jede Zeit, jeder Hörer wird es <strong>zu</strong> sich hin verstehen. Ich glaube aber fest, dass es<br />

nicht bestimmte Ereignisse und persönliche Erlebnisse waren, die diese Musik veranlasst<br />

haben. Sondern für <strong>Mahler</strong> war die Welt schon im Entwurf ihrer Schöpfung grausam und<br />

vollends in der geschichtlichen und gegenwärtigen Entfaltung dieses Entwurfs eine<br />

Negativität schlechthin, unheilbar verdorben, kaputt. Und gereift war in ihm die Einsicht,<br />

dass der Widerstreit zwischen dieser Welt und einer anderen weder durchs Anzünden<br />

apotheotischer Lichter noch durch »Humor« <strong>zu</strong> lösen ist und dass gegenüber den negativen<br />

Kräften dieser Welt das Prinzip Opposition unterliegt.<br />

M 5: <strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong> an seinen Biografen Richard Specht (1904)<br />

Meine 6. [<strong>Sinfonie</strong>] wird Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen<br />

darf, die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat.<br />

M 6:<br />

Alma <strong>Mahler</strong> über den Eindruck, den sie hatte, als ihr Mann ihr die<br />

vollendete Skizze des ganzen Werkes erstmals vorspielte<br />

„Nachdem er den ersten Satz entworfen hatte, war <strong>Mahler</strong> aus dem Walde herunter<br />

gekommen und hatte gesagt »Ich habe versucht, dich in einem Thema fest <strong>zu</strong>halten - ob es<br />

mir gelungen ist, weiß ich nicht. Du musst dirs schon gefallen lassen «<br />

Es ist das große, schwungvolle Thema des 1. Satzes der VI. Symphonie. Im dritten Satz<br />

[gemeint ist das Scherzo] schildert er das arhythmische Spielen der beiden kleinen Kinder,<br />

die torkelnd durch den Sand laufen. Schauerlich - diese Kinderstimmen werden immer<br />

tragischer, und <strong>zu</strong>m Schluss wimmert ein verlöschendes Stimmchen. Im letzten Satz<br />

beschreibt er sich und seinen Untergang oder, wie er später sagte, den seines Helden »Der<br />

Held, der drei Schicksalsschläge bekommt, von denen ihn der dritte fällt, wie einen Baum.«<br />

Dies <strong>Mahler</strong>s Worte.<br />

Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses. Wir weinten damals<br />

beide. So tief fühlten wir diese Musik und was sie vorahnend verriet. Die Sechste ist sein<br />

allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein. Er hat sowohl mit den<br />

Kindertotenliedern wie auch mit der Sechsten sein Leben »anticipando musiziert«. Auch er


ekam drei Schicksalsschläge, und der dritte fällte ihn. Damals aber war er heiter, seines<br />

großen Werkes bewusst und seine Zweige grünten und blühten 5<br />

M 7: Max Hehemann in: Neue Zeitschrift für Musik vom 6. Juni 1906<br />

Wie <strong>Mahler</strong> diatonisch-klare, plastische Themen liebt, die in jeglicher polyphoner<br />

Verflechtung deutlich erkennbar bleiben, so ist auch seine ganze Orchesterbehandlung auf<br />

Klarheit und Übersichtlichkeit angelegt. Ich möchte seine Instrumentation mit einem<br />

vielleicht etwas <strong>zu</strong> kühnen Wort als eine diatonische im Gegensatz <strong>zu</strong> der chromatischen<br />

Mischfarbenweise von Richard Strauss bezeichnen. Es ist zweifellos, dass die letztere Art<br />

mehr Nuancierungsmöglichkeiten bietet, als die andere; ebenso zweifellos, dass ein <strong>Gustav</strong><br />

<strong>Mahler</strong> da<strong>zu</strong> gehört, innerhalb der wenigen von ihm benutzten Grundfarben stets wieder<br />

Neues <strong>zu</strong> erfinden. Vielleicht hat seine Art schon etwas Artistisches, dem Strauss, da er sein<br />

Orchester den feinsten psychologischen Regungen dienstbar <strong>zu</strong> machen sucht, mit mehr<br />

Glück und Sicherheit aus dem Weg <strong>zu</strong> gehen vermag. Es scheint manchmal die Freude am<br />

Klang als solchem <strong>Mahler</strong>s Notenfeder geführt <strong>zu</strong> haben. Was er darin ersonnen, ist<br />

allerdings der Mühe wert. Tausend Sprühteufelchen blitzen auf in dieser Partitur, das<br />

Schlagzeug spielt eine im Symphonie-Orchester nie geahnte Rolle, wenn sie auch bis <strong>zu</strong>r<br />

Aufführung in mancher Hinsicht reduziert wurde und die Hammerschläge auf die viereckige<br />

Riesentrommel ganz weggefallen sind. Entzückende, ganz neue Klangwirkungen hat <strong>Mahler</strong><br />

der Einführung der Celesta abgewonnen, und die Glockentöne hinter der Szene gehören <strong>zu</strong><br />

den feinsten Reizen, die wir dem modernen Orchester verdanken. In die Mittelsätze<br />

namentlich hat <strong>Mahler</strong> eine Fülle zartester Klangschönheiten gebannt, während er in den<br />

Ecksätzen seiner Freude an der gelben Orchesterfarbe, die er mit einem Massenkontingent<br />

von Blechbläsern auftrug, keinen Zwang antat.<br />

M 8: Signale für die musikalische Welt 6 (1907)<br />

Kuhglocken und Celesta! Paradies auf Erden und elysäische Gefilde dort oben! Es wäre<br />

recht einfach, wenn sich <strong>Mahler</strong>s <strong>Sinfonie</strong> nur zwischen diesen beiden schönen Dingen<br />

abspielte. Aber dazwischen gähnt ein tiefer Riss, ein unbefriedigtes sich Sehnen, ein<br />

Verzweifeln, ein sich Abmühen des vollen Orchesters namentlich im letzten Satz, wo das<br />

starkbesetzte Blechkorps fast keinen Augenblick <strong>zu</strong>r Ruhe gelangt, ein Stöhnen und Ächzen<br />

und ein Schreien und Brüllen, und das ist es, was der <strong>Sinfonie</strong> die Tragik verleiht, die ihr der<br />

obenhin Urteilende wohl abstreitet, die sie bei näherem Aufhorchen dennoch besitzt und<br />

mehr besitzt als die frühern Schöpfungen <strong>Mahler</strong>s.<br />

5 Almas Andeutung ist klar. Die tragische Botschaft der Symphonie, wie die Totenklage der Rückertlieder<br />

antizipieren beide den Katastrophensommer 1907, als <strong>Mahler</strong>s älteres Töchterchen starb, als seine schwere<br />

Herzkrankheit erstmals ärztlich erkannt wurde, und als er schließlich - unter dem Druck lokaler Intrigen - von<br />

seiner machtvollen Stellung an der Wiener Oper <strong>zu</strong>rücktreten musste. Alma bezieht sich ausdrücklich auf die<br />

drei Hammerschläge des Finale, die sie als drei Schicksalsschläge bezeichnet, von denen der dritte tödlich sein<br />

sollte. In diesem Sinne ist die VI. Symphonie zweifellos ein autobiographisch konzipiertes Werk, dessen Held<br />

(ein Ausdruck, den Alma stets gebraucht, wenn sie der VI. gedenkt) als „ideales" Selbstbildnis des Komponisten<br />

gelten kann.<br />

In: Hans F. Redlich (Hg.) Vorwort <strong>zu</strong> Eulenburg Taschenpartitur der Sinf. Nr. 6 von G. <strong>Mahler</strong>. Mainz 1968. S. IV.<br />

6 Aus: Renate Ulm, <strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong>s Symphonien. München 5 2010. S. 184f.


M 9: Alma <strong>Mahler</strong>, in: Erinnerungen (1949) 7<br />

„Ein Tempo ist richtig, wenn alles noch klingen kann.<br />

Wenn eine Figur nicht mehr erfasst werden kann, weil die Töne ineinander gleiten, dann<br />

ist das Tempo <strong>zu</strong> schnell.<br />

Bei einem Presto ist die äußerste Distinctgrenze das richtige Tempo, darüber hinaus<br />

verliert es die Wirkung.“<br />

<strong>Mahler</strong> sagte, wenn ihm ein Adagio wirkungslos auf das Publikum erscheine, so<br />

verlangsame er das Tempo und beschleunige es nicht, wie es gemeiniglich gemacht wird.«<br />

M 10: Klaus Pringsheim, Erinnerungen an <strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong> 8 (1960)<br />

Dem Dirigenten <strong>Mahler</strong>, und hier also dem Dirigenten seines eigenen Werks, war es vor<br />

allem immer um die Erzielung maximaler Deutlichkeit <strong>zu</strong> tun; sie war ihm wichtiger als<br />

Kolorit und Klangreiz. Während einer Probe <strong>zu</strong>r Sechsten Symphonie, an einer Stelle im<br />

Finale, klopfte er ab und rief den Trompeten <strong>zu</strong>: >Können Sie das nicht noch stärker blasen?<<br />

Im leeren Saal hörte sich's schon an wie unbeherrschter Lärm, aber: die Trompeten noch<br />

stärker? Er unterbrach ein zweites Mal, und wieder <strong>zu</strong> den Trompeten gewandt, jetzt mit<br />

einer Geste der linken Hand, deren Befehlsgewalt unwiderstehlich war: >Können Sie das<br />

nicht noch stärker blasen?!< Sie bliesen noch stärker, alles andere übertönend, und was<br />

eben noch bloßer Lärm schien, gewann jetzt - jetzt erst den musikalischen Sinn, den er<br />

verhüllte. Nach der Generalprobe bemerkte Strauss, wie obenhin, er finde die Symphonie<br />

teilweise >überinstrumentiertklingt es


Wichtige Themen und Motive:<br />

Notenbeispiel 1: 1. Satz - Haupthema (Z. 1)<br />

Notenbeispiel 2: Hauptthema (Z. 2)<br />

Notenbeispiel 3:<br />

Das „Motto“<br />

Notenbeispiel 4:<br />

Der „Choral“


Der Choral als Klaviersatz:<br />

Notenbeispiel 5:<br />

2. Thema<br />

Notenbeispiel 6:<br />

2. Satz - Hauptthema


Notenbeispiel 7: 2. Satz - Trio (Z. 56)<br />

Notenbeispiel 8:<br />

3. Satz - Hauptthema<br />

Notenbeispiel 9:<br />

3. Satz - Seitenthema


Notenbeispiel 10:<br />

4. Satz - 1. Themengruppe<br />

Notenbeispiel 11:<br />

4. Satz - 1. Themengruppe (Klaviersatz)


Literaturverzeichnis:<br />

Hans Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland. München 1991. Vor allem sei<br />

hier auf den Artikel „Wo die schönen Trompeten blasen - Über die Musik<br />

<strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong>s“ verwiesen (s. 724-740)<br />

Renate Ulm (Hg.), <strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong>s Symphonien (Reihe: Bärenreiter<br />

Werkeinführungen). München 5 2010. Insbesondere: Werkbetrachtung und<br />

Essay <strong>zu</strong>r 6. Symphonie von Peter Gülke (S. 174-200)<br />

Hans Redlich in: Vorwort <strong>zu</strong>r Taschenpartitur (Eulenburg). Mainz 1968.<br />

Entstehung und sehr ausführliche Analyse mit Notenbeispielen.<br />

Constantin Floros: <strong>Mahler</strong>: Sechste Symphonie. Booklet <strong>zu</strong>r CD <strong>Gustav</strong> <strong>Mahler</strong><br />

Symphonie Nr. 6 - Kindertotenlieder. Wiener Philharmoniker, Ltg.: Leonard<br />

Bernstein. Deutsche Grammophon 1989.<br />

Karl-Josef Müller: <strong>Mahler</strong>. Leben, Werke, Dokumente. Mainz 1988. Vor allem:<br />

„Vollendung der Sechsten“ (S. 275f) und „Uraufführung der Sechsten“ (S. 324)<br />

Wolfgang Schreiber: <strong>Mahler</strong>. Reinbek bei Hamburg 1971 (rororo-Reihe).

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