Harry Potter und das Tor zur Unterwelt doc - Harry auf Deutsch
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<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong><br />
<strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> <strong>Tor</strong> <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong><br />
von<br />
Maria Sehrt<br />
Eine Fanfiction <strong>zur</strong> <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Reihe<br />
I
„<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong>“<br />
widme ich allen Lesern,<br />
die sich schon einmal in die unbeschreiblichen<br />
Weiten von J.K. Rowlings Welt begeben haben<br />
<strong>und</strong> genauso wie ich<br />
nie genug davon bekommen können.<br />
II
Vorwort<br />
Bevor ihr euch in <strong>das</strong> Buch vertieft, zuerst einige Worte vorweg. Vor<br />
etwa einem Jahr habe ich den siebten <strong>und</strong> letzten Band "<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> die<br />
Heiligtümer des Todes" gelesen, in dem alle Geheimnisse der Buchreihe<br />
<strong>auf</strong>geklärt, alle Kämpfe gefochten <strong>und</strong> alle losen Enden verknüpft worden sind.<br />
Viele Jahre Rätseln um <strong>das</strong> weitere Schicksal von so vielen Romanfiguren<br />
nahmen innerhalb von nur wenigen Tagen ein Ende, was ich beschloss, nicht<br />
einfach so wahrhaben zu wollen – <strong>und</strong> stellte fest, <strong>das</strong>s es noch viele Ideen<br />
gibt, die man innerhalb des <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Universums in die Tat umsetzen<br />
könnte ... was wäre gewesen, wenn ... dies nicht geschehen wäre ... oder es<br />
diese Möglichkeit gegeben hätte ... hätte man an dieser Stelle nicht anders<br />
vorgehen können ...<br />
Was gäbe es für eine bessere Antwort <strong>auf</strong> zumindest einige meiner<br />
vielen gedanklichen Fragen, als eine eigene Geschichte zu schreiben, die sich<br />
zwar innerhalb der Grenzen von J.K. Rowlings geschaffener Welt bewegt,<br />
aber andere Wege nimmt als die Charaktere ihrer Bücher? Die <strong>das</strong><br />
tatsächliche, offiziell Geschriebene hinter sich lässt, um in eigene Phantasien<br />
abzutauchen?<br />
Meine Geschichte schließt an den fünften Band "<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> der<br />
Orden des Phönix" an <strong>und</strong> behandelt, anders, als ihr <strong>das</strong> von J.K. Rowlings<br />
Bänden gewohnt seid, nicht ein gesamtes Schuljahr, sondern nur gute dreii<br />
Monate. Da diese Zeitspanne aber vollkommen ausreichte, um meine Ideen<br />
umzusetzen, habe ich es nicht für nötig angesehen, eine längere erzählte Zeit<br />
zu wählen.<br />
Meine Absicht war es dabei, eine Fanfiction zu kreieren, welche sich<br />
harmonisch in die offizielle Fassung der <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Bücher fügt. Ich habe<br />
daher während des Schreibens versucht, mich an die gegebenen Fakten zu<br />
halten <strong>und</strong> sämtliches Geschehen vor dem Hintergr<strong>und</strong> der sieben uns<br />
bekannten Bände abl<strong>auf</strong>en zu lassen. Sollten mit dabei inhaltliche Fehler<br />
unterl<strong>auf</strong>en sein, die den von J.K. Rowling festgesetzten Tatsachen<br />
widersprechen, so lag dies nicht in meinem Willen. Natürlich habe ich meine<br />
eigenen Charaktere erf<strong>und</strong>en, eigene Erweiterungen dieser grandiosen Welt<br />
vorgenommen <strong>und</strong> – unvermeidlicherweise – auch in den weiteren Verl<strong>auf</strong> der<br />
über meine Erzählung hinausgehenden Handlung eingegriffen. Dennoch sehe<br />
ich "<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong>" eher als Ergänzung denn als<br />
Abzweigung der eigentlichen <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Saga.<br />
Der einzige Zweck des Buches besteht darin, wenigstens einige Leser<br />
einzuladen, noch einmal in <strong>das</strong> Leben von <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> den<br />
dazugehörigen Charakteren abzutauchen, um für eine Weile der Langeweile<br />
des Alltags zu entkommen.<br />
III
Name: <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong><br />
Autorin: Maria Sehrt<br />
Originallocation: www.harry-<strong>auf</strong>-deutsch.de<br />
Originalkapitel: 17<br />
Originalsprache: <strong>Deutsch</strong><br />
Kategorie: Abenteuer/Mystery/Humor<br />
Stand nach Buch: 5 (Ein Teil der Geschichte wurde geplant, bevor ich<br />
Band 7 gelesen habe. Deshalb habe ich in meiner Fan-<br />
Fiction Informationen aus diesem Buch (z.B. zu Ört-<br />
lichkeiten) außer Acht gelassen.)<br />
Inhalt Nach dem Kampf im Ministerium kehrt <strong>Harry</strong> wieder<br />
zu den Dursleys <strong>zur</strong>ück – <strong>und</strong> muss endlos lange,<br />
quälende Wochen durchstehen, bevor ihn endlich der<br />
Phönixorden abholt. Zusätzlich zu der Angst vor<br />
weiteren Angriffen von Voldemort belastet ihn die<br />
Trauer um Sirius Black, bis er zusammen mit Ron <strong>und</strong><br />
Hermine ein geheimnisvolles Buch findet …<br />
Was hat es wirklich <strong>auf</strong> sich mit dem mysteriösen<br />
Raum, in dem sein Pate gestorben ist?<br />
Rechte: Sämtliche Rechte an diesem Buch, den handelnden<br />
Charakteren <strong>und</strong> den erwähnten Orten gehören J.K.<br />
Rowling, von welcher ich sie mir geliehen habe – bis<br />
<strong>auf</strong> diese, die ich selbst hinzuerf<strong>und</strong>en habe, <strong>und</strong><br />
welche leicht zu erkennen sein sollten.<br />
Quellen: Als Informations- <strong>und</strong> Nachschlagewerke dienten mir<br />
natürlich die sieben <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Bände, dazu habe ich<br />
oft Rat gesucht <strong>auf</strong> www.hp-lexicon.org <strong>und</strong>,<br />
besonders wegen einiger Begrifflichkeiten, in der<br />
Wörterliste <strong>auf</strong> www.harry-<strong>auf</strong>-deutsch.de.<br />
Die (teils selbstständig abgeänderten) Bilder verdanke<br />
ich ebenfalls www.hp-lexicon.org bzw.<br />
www.wikipedia.de.<br />
IV
Inhaltsverzeichnis<br />
Ein hitziger Tag..................................................1<br />
Ungesehen <strong>und</strong> Ungehört .................................19<br />
Ein trostloser alter Ort......................................35<br />
Hermines Paradies.............................................58<br />
Das verbotene Buch ..........................................77<br />
Wieder zu Hause...............................................98<br />
Der Neue.........................................................115<br />
Die Rückkehr des Adlers .................................132<br />
Besen <strong>und</strong> Armeen...........................................152<br />
Im See..............................................................170<br />
Das gestohlene Pergament...............................197<br />
Durch den Schleier ..........................................219<br />
Im Feldlager....................................................245<br />
Durch Zeit <strong>und</strong> Raum.....................................268<br />
Das andere London.........................................291<br />
Der Hexer........................................................312<br />
Halloween .......................................................333<br />
V
KAPITEL EINS<br />
Ein hitziger Tag<br />
Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, erhitzte Straßen<br />
<strong>und</strong> brachte Autos zum Kochen, ließ resignierende Bäume <strong>und</strong><br />
Sträucher die Blätter durch ihre sengenden Strahlen schlaff<br />
herunterhängen <strong>und</strong> bereitete den Menschen im ganzen Land einen<br />
anstrengenden Tag mit viel Schweiß <strong>und</strong> Kopfschmerzen. Im ländlichen<br />
Städtchen Little Whinging machte sie zudem Wasser zum derzeit<br />
begehrtesten Gut. Die <strong>das</strong> Dorf umgebenden Felder mit ihrem<br />
vertrocknenden Weizen lechzten genauso nach dem kühlen Nass wie<br />
die Vorgärten der Häuser in einer netten, kleinen Vorstadtsiedlung,<br />
welche Straßen mit so hübschen, klingenden Namen wie Rosenstraße,<br />
Nelkenallee <strong>und</strong> Ligusterweg beherbergte.<br />
Den letzteren unterschied <strong>auf</strong> den ersten Blick nichts von seinen<br />
gutbürgerlichen Pendanten: Schmucke, geräumige Einfamilienhäuser<br />
säumten die Wege, die Fensterläden waren gegen die stechende Sonne<br />
heruntergelassen. Kleine gepflegte, wie mit dem Lineal gezogene<br />
Gärtchen bildeten einen grünen Puffer gegen eventuell zu scharfe<br />
Nachbaraugen, die <strong>auf</strong> der Suche nach dem neuesten Klatsch die<br />
Siedlung absuchten. In ihnen wuchsen hautsächlich Blumen, Kräuter<br />
<strong>und</strong> andere beliebte oder nützliche Pflanzen.<br />
Die fast mathematische Strenge der Beetanordnung war in<br />
Nummer 4, Ligusterweg, <strong>zur</strong> höchst denkbaren Perfektion getrieben<br />
worden. Fein säuberlich reihten sich Beete mit schnurgeraden Wegen, in<br />
Zentimeterabständen gesteckte Möhren mit nunmehr braunem Kraut,<br />
Zwiebeln <strong>und</strong> Kohlköpfe mit welken Blättern aneinander, welche den<br />
Anschein erweckten, als gehorchten sie einer strikten militärischen<br />
Formation. Man hatte unweigerlich <strong>das</strong> Gefühl, <strong>das</strong> Gesamtbild zu<br />
zerstören, wenn man auch nur eine winzige Blume entfernte. Auch <strong>das</strong><br />
1
langsame Dahinsiechen der Gewächse, eine Folge des landesweiten<br />
Verbots der Gartenbewässerung <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> der Rekordhitze, konnte nicht<br />
darüber hinwegtäuschen, <strong>das</strong>s sich hier ein Garten befand, der von<br />
seinen Eigentümern mit viel Aufmerksamkeit bedacht wurde.<br />
All diese Gartenidylle diente allerdings dazu, etwas zu verbergen,<br />
etwas Ungeheuerliches, was die Bewohner der angrenzenden Häuser<br />
darüber in Empörung versetzt hätte, <strong>das</strong>s ihr netter, normaler Alltag von<br />
eindeutig abnormalen, zutiefst verabscheuenswerten Dingen gestört<br />
worden wäre. Aber natürlich kam es nicht dazu. Hatten <strong>doc</strong>h die Besitzer<br />
des Ligusterweges 4 selbst so große Angst davor, ihr Geheimnis könnte<br />
bekannt werden, <strong>das</strong>s sie alles in ihrer Macht stehende getan hatten, es<br />
vor neugierigen Nachbaraugen zu verbergen. So fiel niemandem <strong>das</strong><br />
kleine, seltsame Gewächs <strong>auf</strong>, welches verborgen hinter einem riesigen<br />
Busch gelber Rosen <strong>und</strong> umgeben von dichtem Ginster, der extra von<br />
seinem ursprünglichen Platz neben dem Efeuspalier umgesetzt worden<br />
war („Das beeinträchtigt die Gartengeometrie, damit blamieren wir uns<br />
vor der ganzen Gemeinde!“), sein Dasein im letzten Winkel des<br />
Vorgartens fristete. Seine kleinen, von kurzen Stacheln besetzten<br />
Tentakel waren von leicht übelgrüner Farbe, <strong>und</strong> eine gewisse<br />
Bösartigkeit ging von der unscheinbaren Pflanze aus. Das sehr sonnige<br />
Fleckchen Erde konnte nur von einer Stelle aus eingesehen werden:<br />
Vom Wohnzimmerfenster sah man direkt in die geschützte Ecke, was die<br />
übervorsichtigen Bewohner von Nummer 4 dazu nutzten, etwa alle 20<br />
Minuten einen ängstlichen Blick in den Garten zu werfen, als fürchteten<br />
sie, allein die Anwesenheit des kleinen Pflänzchens könnte ungewollte<br />
Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> sich ziehen.<br />
Der erschwerte Zugang zu dem Stück Beet machte die Pflege des<br />
Gewächses aber auch zu einer unangenehmen Angelegenheit. Dies<br />
musste der Junge wieder einmal feststellen, der sich an dem<br />
Rosenbusch vorbei <strong>auf</strong> den Weg kämpfte <strong>und</strong> sich dabei einige Dornen<br />
einzog. Fluchend schlug er einen Ast beiseite <strong>und</strong> verwünschte mal<br />
wieder die Angst seiner Verwandten, die sich vor nichts mehr fürchteten,<br />
als <strong>das</strong>s die Nachbarn herausfanden, was es mit ihrem unglückseligen<br />
Neffen <strong>auf</strong> sich hatte.<br />
Kopfschüttelnd ging <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>zur</strong>ück ins Haus <strong>und</strong> füllte dabei<br />
die Tabelle aus, welche mit sauberen, geraden Strichen <strong>auf</strong> ein Stück<br />
Pergament gezeichnet worden war. Zahlen vor sich hinmurmelnd trug er<br />
die Höhe der Pflanze, die Anzahl ihrer Ausläufer <strong>und</strong> ihr momentanes<br />
Verhalten ein. Heute schien sie ihm ein wenig aggressiver gewesen zu<br />
sein als in den letzten Tagen, aber deswegen machte er sich keine<br />
Sorgen. Eine Teufelsschlinge war nicht gefährlicher als ein Büschel<br />
Petersilie, solange sie genug Sonne abbekam. Und abgesehen von ihm<br />
begab sich sowieso niemand in ihre Nähe. Allein bei der Vorstellung,<br />
2
seine Tante Petunia, Onkel Vernon oder gar sein Cousin Dudley könnten<br />
sich für magische Pflanzen interessieren, musste er süffisant grinsen.<br />
Denn <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>, obwohl er nicht viel anders wirkte als andere<br />
15-Jährige, war ein ganz <strong>und</strong> gar nicht normaler Schüler. Er ging nämlich<br />
<strong>auf</strong> die Schule für Hexerei <strong>und</strong> Zauberei von Hogwarts, <strong>und</strong> <strong>das</strong> schon<br />
seit fünf Schuljahren. Seine Verwandten würden ihm <strong>das</strong> am liebsten<br />
verbieten <strong>und</strong> umgehend <strong>auf</strong> eine Schule, besser, in eine Anstalt für<br />
Geisteskranke stecken – denn genau <strong>das</strong> sahen sie in der Zauberei:<br />
Eine Krankheit, etwas zutiefst Verbotenes <strong>und</strong> Unnormales, <strong>das</strong> so<br />
schnell wie möglich vernichtet werden musste. <strong>Harry</strong> ließ sich von<br />
diesem feindlichen Verhalten schon lange nicht mehr beeindrucken, aber<br />
es machte seine Sommerferien regelmäßig <strong>zur</strong> schlimmsten Zeit des<br />
Jahres. Leider kam er um diese jährlichen Besuche bei seinen einzigen<br />
noch lebenden Verwandten nicht herum – wen <strong>das</strong> weniger erfreute,<br />
seine Familie oder ihn, war schwer zu sagen. Seine letzte Drohung, <strong>das</strong><br />
neue Firmenauto von Onkel Vernon in ein Denkmal vom Premierminister<br />
zu verwandeln, war genauso wenig <strong>auf</strong> Gegenliebe gestoßen wie die<br />
Behauptung von Tante Petunia, seinen Zauberstab zu verbrennen, wenn<br />
er ihn noch einmal in der Küche trug. So ersehnte er auch dieses Mal vor<br />
allem eins: Von seinem ersten Ferientag an hatte er die Tage bis <strong>zur</strong><br />
Rückkehr nach Hogwarts an einem selbst gebastelten Kalender<br />
abgestrichen. Immer noch blieben ihm knapp fünf Wochen, die er im<br />
Ligusterweg 4 verbringen musste. Während er diesen trübsinnigen<br />
Gedanken nachhing, durchquerte er die Küche, um noch einen<br />
abschließenden Blick <strong>auf</strong> die Teufelsschlinge zu werfen.<br />
Auch wenn es keine angenehme Pflanze war (tatsächlich hatte er<br />
schon von einem Fall gehört, in dem sie einen Menschen getötet hatte),<br />
<strong>und</strong> er sie sich gewiss nicht ins Zimmer stellen würde, so war sie <strong>doc</strong>h<br />
eines der wenigen Zeugnisse der magischen Welt, die er bei den<br />
Dursleys hatte. Beim Anblick des kleinen Gewächses kamen ihm wieder<br />
die Bilder seiner ersten Begegnung mit seiner Art in den Sinn. Er dachte<br />
an Ron, wie er, gefangen in den Tentakeln einer sehr viel größeren<br />
Teufelsschlinge, die Kontrolle <strong>und</strong> auch beinahe sein Leben verloren<br />
hatte, <strong>und</strong> er sah Hermine vor sich, wie sie per Zauberspruch <strong>das</strong> Licht<br />
der Sonne herbeigeholt hatte, um die Pflanze zu bekämpfen. Wehmütig<br />
dachte <strong>Harry</strong> an seine beiden besten Fre<strong>und</strong>e, die er derzeit mehr<br />
vermisste als alles andere. Seit Wochen hatte er keinen Kontakt mehr<br />
mit ihnen gehabt, nicht einmal Briefe hatten sie ihm geschrieben. Im<br />
Gr<strong>und</strong>e war seine Lage noch schlimmer als letzten Sommer, als Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine ihm nutzlose Briefe mit unwichtigem Inhalt geschickt hatten<br />
ohne die Informationen, die er so dringend gewollt hatte, <strong>und</strong> <strong>das</strong>,<br />
obwohl sie durchaus im Mittelpunkt des Geschehend der magischen<br />
Welt gelebt hatten. Dennoch war er ihnen dieses Mal nicht böse. So sehr<br />
er sich vor einem Jahr über ihre Geheimniskrämerei <strong>auf</strong>geregt hatte –<br />
3
<strong>Harry</strong> überkam eine plötzliche Verlegenheit, als er sich an Hermines<br />
betroffenes Gesicht erinnerte, zu Tode erschrocken, während er sie <strong>und</strong><br />
Ron im Grimmauldplatz 12 angebrüllt hatte – so gut verstand er dieses<br />
Mal ihre Zurückhaltung. Im letzten Monat hatte es einen furchtbaren<br />
Zwischenfall gegeben, der für die gesamte Zauberergemeinschaft von<br />
größter Bedeutung war. Der böseste schwarze Zauberer aller Zeiten,<br />
Lord Voldemort, war wieder erstarkt <strong>und</strong> hatte zusammen mit seinen<br />
schrecklichen Anhängern, welche ihm in Grausamkeit <strong>und</strong><br />
Rücksichtslosigkeit in nichts nachstanden, den Versuch unternommen, in<br />
<strong>das</strong> Ministerium für Zauberei einzubrechen.<br />
Obwohl er eine Gefahr für alle Zauberer <strong>und</strong> Hexen darstellte <strong>und</strong><br />
besonders diejenigen mit seiner Rückkehr zu alter Macht in Angst<br />
versetzte, welche seine erste Schreckensherrschaft schon miterlebt<br />
hatten, so war <strong>Harry</strong> mehr als alle anderen von ihm betroffen. Eine alte,<br />
mystische Prophezeiung hatte Voldemort nicht lange nach <strong>Harry</strong>s Geburt<br />
davon überzeugt, <strong>das</strong>s ein ihm Ebenbürtiger kommen werde, der eine<br />
Bedrohung für seine Herrschaft bedeuten würde. Und es ergab sich,<br />
<strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> derjenige war, in dem Voldemort diese Bedrohung wähnte –<br />
<strong>und</strong> <strong>Harry</strong>s Leben damit radikal veränderte.<br />
Vor einem Jahr hatte <strong>Harry</strong> noch nichts von der Prophezeiung<br />
gewusst, kämpfte aber schon seit einigen Jahren gegen seinen ärgsten<br />
Feind. Denn Voldemort hatte im Bestreben, <strong>Harry</strong> im Alter von einem<br />
Jahr zu töten, dessen Eltern umgebracht, war anschließend aber von<br />
dem <strong>Harry</strong> geltenden Todesfluch selbst getroffen worden. Danach lebte<br />
er viele Jahre als Geist, kaum lebendig, bis er es vor gut einem Jahr<br />
geschafft hatte, mittels eines Gehilfen wieder einen eigenen Körper zu<br />
erhalten. Seitdem sammelte er erneut seine Anhänger um sich mit dem<br />
Ziel, zu vollenden, was er vor 14 Jahren vergeblich versucht hatte: <strong>Harry</strong><br />
zu töten.<br />
Mit diesem düsteren Schatten über seinem Leben musste <strong>Harry</strong><br />
schon seit einiger Zeit <strong>zur</strong>echtkommen. Den Dursleys hatte er nichts von<br />
der Prophezeiung erzählt, es reichte, wenn sie wussten, wer Voldemort<br />
war <strong>und</strong> <strong>das</strong>s er <strong>Harry</strong> nach dem Leben trachtete. Besser gesagt, allein<br />
Tante Petunia hatte eine leise Ahnung davon, was es bedeutete, <strong>das</strong>s<br />
Voldemort <strong>zur</strong>ück war. Von Seiten der Dursleys konnte er am wenigsten<br />
mit Unterstützung <strong>und</strong> Beistand rechnen. Wären Hermine, Ron mit<br />
seiner Familie, den Weasleys, einer der ältesten Zaubererfamilien<br />
Großbritanniens, <strong>und</strong> einige seiner Mitschüler in Hogwarts, die sich zum<br />
Widerstand gegen Voldemort entschlossen hatten, nicht gewesen, <strong>Harry</strong><br />
hätte nicht gewusst, wie er mit der Situation hätte umgehen sollen.<br />
Bedrückt schaute er ein letztes Mal <strong>auf</strong> die Teufelsschlinge, konnte<br />
kaum glauben, <strong>das</strong>s es so etwas wie gleißenden Sonnenschein <strong>und</strong><br />
einen fre<strong>und</strong>lichen Sommertag geben konnte, wo <strong>doc</strong>h Voldemort<br />
4
gerade jetzt irgendwo einen weiteren Plan ausarbeitete, um <strong>Harry</strong> zu<br />
töten, <strong>und</strong> versuchte, noch mehr Kreaturen anzuwerben, die sich seiner<br />
Armee anschließen sollten. Aber hier in der Muggelwelt war Voldemort<br />
niemandem ein Begriff. Dabei befanden sich auch einige nichtmagische<br />
Menschen unter seinen vielen Opfern. <strong>Harry</strong> erinnerte sich an den Tod<br />
einer Familie in Birmingham, die angeblich bei einem Großbrand in<br />
ihrem Haus gestorben war. Je<strong>doc</strong>h steckten auch hier Todesser<br />
dahinter, denn die Eltern hatten Bestreben gezeigt, sich der<br />
Widerstandsbewegung gegen Voldemort anzuschließen – einer ihrer<br />
Söhne war nach Hogwarts gegangen.<br />
All <strong>das</strong> wusste <strong>Harry</strong> aus dem Tagespropheten, einer der<br />
wichtigsten magischen Zeitungen, den er einmal täglich per Eulenpost<br />
bekam. Auch heute Morgen war ein kleiner Steinkauz, die<br />
zusammengerollten Blatt Pergament um sein Bein geb<strong>und</strong>en, durch sein<br />
offenes Zimmerfenster geflogen. Um ihm den Propheten abzunehmen<br />
<strong>und</strong> als Gegenleistung einige bronzene Knuts in den kleinen Geldbeutel<br />
am anderen Bein des Kauzes zu stecken, musste <strong>Harry</strong> stets früh<br />
<strong>auf</strong>stehen. Aber <strong>das</strong> machte ihm nichts aus. Er konnte seit Wochen<br />
ohnehin kaum schlafen. Ständig schwebten ihm Schreckensbilder von<br />
Voldemort vor Augen, wie er ihm gegenübergestanden hatte im großen<br />
Atrium des Ministeriums, den Zauberstab erhoben, bereit, zu töten –<br />
Als einzige Ablenkung, um den verschwommenen Bildern von<br />
Todessern mit hasserfüllten Blicken <strong>und</strong> den quälenden Gedanken<br />
daran, wen Voldemort vielleicht schon morgen töten würde, nur weil ihm<br />
jemand im Weg stehen würde, zu entkommen, hatte <strong>Harry</strong> seine<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben. Seine Angst um Ron <strong>und</strong> Hermine <strong>und</strong> seine stetige<br />
Unruhe, die ihm die Erinnerungen an den Kampf im Ministerium<br />
bereiteten, vermochte er wenigstens teilweise in Arbeit zu ersticken.<br />
Ungeachtet der Geschehnisse hatten seine Lehrer ihnen auch in<br />
diesen Ferien eine Menge Arbeit <strong>auf</strong>gegeben, darunter komplexe<br />
Projekte <strong>und</strong> langwierige Experimente, wie er sie noch nie zu Hause<br />
hatte machen müssen. Manchmal wünschte er sich Hermine her, die <strong>auf</strong><br />
jede seiner Frage zu einem komplizierten Zauberspruch eine Antwort<br />
gewusst hätte, oder ihm zumindest seinen Aufsatz über Verschwinde-<br />
<strong>und</strong> Materialisierungszauber <strong>und</strong> ihre Anwendung in der<br />
Verwandlungswissenschaft, eine Vorbereitung <strong>auf</strong> den kommenden Stoff<br />
in Verwandlung, hätte korrigieren können. Andererseits hatte er erstaunt<br />
festgestellt, <strong>das</strong>s es ihm Spaß machte, anspruchsvolle Themen zu<br />
bearbeiten <strong>und</strong> dabei entstehende Probleme selbst zu lösen, jetzt, wo er<br />
genügend Zeit <strong>und</strong> keine andere Beschäftigung als sein Studium hatte.<br />
Mit den Gedanken ganz bei seinen Haus<strong>auf</strong>gaben schloss <strong>Harry</strong><br />
die Tür zu seinem Zimmer <strong>und</strong> ging zum Bett. Nach wie vor benutze er<br />
5
die lose Bodendiele unter seinem Bett, um einige seiner Schulsachen<br />
<strong>auf</strong>zubewahren. Dort hatte er früher immer heimlich magische<br />
Gegenstände oder Zeugnisse der magischen Welt <strong>auf</strong>bewahrt, die er<br />
aus der Besenkammer hatte holen können, wo die Dursleys seinen<br />
Besitz eingeschlossen hatten <strong>und</strong> ihm verboten hatte, ihm im<br />
Ligusterweg 4 zu benutzen, aus Angst, die Nachbarn könnten etwas<br />
bemerken.<br />
In diesem Sommer je<strong>doc</strong>h hatte <strong>Harry</strong> es geschafft, Onkel Vernon<br />
überzeugend darzulegen, <strong>das</strong>s er nach Voldemorts Rückkehr unter<br />
besonderem Schutz des Zaubereiministeriums stände <strong>und</strong> sich jederzeit<br />
mit einer Beschwerde an den Minister wenden könne, welcher dann<br />
kommen würde <strong>und</strong> nachschauen würde, woran es <strong>Harry</strong> denn fehlte.<br />
Allein die Vorstellung, einer von denen könnte vor seinem Haus<br />
<strong>auf</strong>tauchen, mit weiten Umhängen in absurden Farben <strong>und</strong> so einem<br />
Ding in der Hand, mit dem man <strong>das</strong> Verbotene tun konnte, hatte Onkel<br />
Vernon in solch grauenhaften Schrecken versetzt, <strong>das</strong>s er sich aus<br />
Versehen Senf <strong>auf</strong> sein Marmeladebrötchen geschmiert hatte. Seitdem<br />
durfte <strong>Harry</strong> all seine Schulsachen in seinem Zimmer <strong>auf</strong>bewahren <strong>und</strong><br />
sogar Eulenpost bekommen. Er hatte den Dursleys außerdem<br />
weismachen können, <strong>das</strong>s es ihm <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> seiner besonderen Lage per<br />
Ausnahmegenehmigung vom Zaubereiminister persönlich erlaubt war,<br />
zu zaubern, obwohl er noch minderjährig war, was normalerweise<br />
Zauberverbot außerhalb Hogwarts bedeutete.<br />
Dass <strong>das</strong> Ministerium bei der kleinsten Verfehlung seinerseits<br />
nichts lieber täte, als ihn abzuführen <strong>und</strong> eines genauen Verhörs zu<br />
unterziehen, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s er derzeit kaum etwas Besseres tun konnte, als<br />
möglichst vom Ministerium fernzubleiben, hatte er lieber nicht erwähnt.<br />
Die Zaubererregierung hätte nur zu viel Freude daran, irgendeinen<br />
Vorwand zu nutzen, um ihn über die Prophezeiung <strong>und</strong> Voldemort<br />
auszufragen. Die Wahrheit über <strong>das</strong>, was in der Mysteriumsabteilung im<br />
Juni passiert war, wussten neben ihm nur Albus Dumbledore, Schulleiter<br />
von Hogwarts <strong>und</strong> größter Kämpfer gegen Voldemort, sowie Ron <strong>und</strong><br />
Hermine, die er <strong>auf</strong> der Rückreise von Hogwarts vor einigen Wochen<br />
<strong>doc</strong>h noch mit eingeweiht hatte. Die Nachricht, <strong>das</strong>s entweder er oder<br />
Voldemort eines Tages von der Hand des anderen sterben mussten, wie<br />
es die Prophezeiung besagte, hatte beide entsetzt, ganz gleich, wie sehr<br />
<strong>Harry</strong> beteuerte, <strong>das</strong>s diese Prophezeiung nur Auslegungssache war<br />
<strong>und</strong> sich vielleicht nie erfüllen würde. Hermine hatte mit ruhiger, ernster<br />
Stimme erklärt, <strong>das</strong>s sie ihm beistehen würden, egal, was <strong>das</strong> bedeuten<br />
mochte, <strong>und</strong> auch Ron hatte seine anfängliche Ungläubigkeit<br />
überw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> theatralisch gemeint, sie würden <strong>Harry</strong> folgen, <strong>und</strong> sei<br />
es bis in Voldemorts Quartier (dabei hatte eine leise Erleichterung<br />
darüber, <strong>das</strong>s niemand wusste, wo genau sich dieses befand,<br />
mitgeklungen).<br />
6
<strong>Harry</strong> fühlte sich gleich besser bei dem Gedanken an die beiden,<br />
auch wenn sie sich derzeit nicht trauten, gegenseitig Briefe zu schreiben.<br />
Im Propheten hatte gleich zu Anfang der Ferien etwas von eventueller<br />
Gefahr gestanden, <strong>das</strong>s Todesser im Auftrag Voldemorts Briefe<br />
anfingen, um Informationen über die Anhänger Dumbledores zu<br />
bekommen. Dar<strong>auf</strong>hin waren sie übereingekommen, lieber keinen<br />
Kontakt miteinander <strong>auf</strong>zunehmen, Ron hatte ihm nur noch versprechen<br />
können, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um <strong>Harry</strong> bald zu sich<br />
nach Hause zu holen, damit er der unangenehmen Gesellschaft der<br />
Dursleys entfliehen konnte. Mit der Mut machenden Hoffnung, den<br />
Ligusterweg bald hinter sich lassen zu können, streckte <strong>Harry</strong> sich <strong>auf</strong><br />
seinem Bett aus <strong>und</strong> zog seinen Aufsatz über die Teufelsschlinge, an<br />
dem er gestern Nacht noch geschrieben hatte, unter dem Kopfkissen<br />
hervor. Er tauchte seine Schreibfeder in ein Tintenfass <strong>und</strong> glättete die<br />
Pergamentrolle, <strong>auf</strong> der er in den letzten drei Wochen die Entwicklung<br />
der Teufelsschlinge festgehalten hatte. Dieses Projekt für Kräuterk<strong>und</strong>e<br />
war ihnen Ende des letzten Schuljahres <strong>auf</strong>gegeben worden. Jeder<br />
Schüler der fünften Klasse hatte von Professor Sprout die Aufgabe<br />
erhalten, sich eine anspruchsvolle magische Pflanze zu suchen, eine<br />
Knolle, Schössling oder Ausläufer der betreffenden Pflanze aus den<br />
Gewächshäusern von Hogwarts mitzunehmen <strong>und</strong> sein Wachstum in<br />
den Ferien zu beobachten <strong>und</strong> zu protokollieren. <strong>Harry</strong> hatte sich für die<br />
Teufelsschlinge entschieden, weil sie sie im letzten Schuljahr behandelt<br />
hatten <strong>und</strong> er sich dachte, noch die größten Chancen zu haben, die<br />
Dursleys zu überreden, eine magische Pflanze in ihrem Garten<br />
anzupflanzen, wenn sie möglichst klein <strong>und</strong> un<strong>auf</strong>fällig war. Außerdem,<br />
so hatte Ron grinsend hinzugefügt, könne er sich ja Hoffnung machen,<br />
<strong>das</strong>s die Schlinge vielleicht mal Lust haben würde, ihre Tentakel um<br />
Dudley zu legen (Hermine hatte dar<strong>auf</strong> mit ihrem vorwurfsvollen Blick<br />
geantwortet, den sie sonst immer für ihn reserviert hatte, wenn er in<br />
Geschichte der Zauberei zu laut schnarchte <strong>und</strong> in für Rons Geschmack<br />
etwas zu hohem Ton geantwortet, jemand, der einmal von einer<br />
Teufelsschlinge fast erwürgt worden war, sollte nicht leichtfertig solche<br />
Dinge sagen). Neville hatte ihm mit einem gespielt bedauernden Ton<br />
erklärt, sie würden alle nur so kleine Pflanzen erhalten, <strong>das</strong>s keine ihnen<br />
gefährlich werden könnte <strong>und</strong> wirklich tödliche Gewächse wie Alraunen<br />
wären ohnehin verboten.<br />
Etwas enttäuscht hatte Ron sich dann für einen Kreischbeißer<br />
entschieden, da er meinte, eine Pflanze, die ihn schreiend dar<strong>auf</strong><br />
<strong>auf</strong>merksam machte, wenn sie etwas brauchte, wäre noch am<br />
einfachsten zu versorgen. Hermine wählte eine Alihotsi, welche<br />
diejenigen, die ihre Blätter aßen, hysterisch werden ließ (Ron, noch<br />
immer etwas gekränkt, meinte, Hermine habe wohl einige davon zum<br />
Frühstück gehabt).<br />
7
In einer Woche würde <strong>das</strong> Projekt beendet sein, da sie ihre<br />
Schützlinge insgesamt nur einen Monat beobachten sollten. <strong>Harry</strong> war<br />
darüber auch sehr froh, wenn er daran dachte, wie lange er Onkel<br />
Vernon hatte bearbeiten müssen, bis er die kleine Teufelsschlinge in den<br />
letzten Winkel des Gartens hatte pflanzen dürfen, natürlich nur unter<br />
Aufbringung eines ganzen Nachmittags an Arbeit, an dem er möglichst<br />
viele andere Gewächse vor die Schlinge als Sichtschutz eingegraben<br />
hatte – <strong>und</strong> auch nur mit Hilfe weiterer Drohungen vom herbeieilenden<br />
Zaubereiminister, der sicher nicht glücklich darüber sein würde, wenn er,<br />
<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>, seine Haus<strong>auf</strong>gaben nicht erledigen könne.<br />
Nach 10 Minuten war er mit seinen Eintragungen fertig <strong>und</strong> ging in<br />
Gedanken seine restlichen Haus<strong>auf</strong>gaben durch. Seinen Aufsatz für<br />
Verteidigung gegen die dunklen Künste hatte er bereits in der ersten<br />
Woche angefertigt. Ihnen war <strong>das</strong> Thema freigestellt gewesen, <strong>und</strong> so<br />
hatte er 2 Rollen Pergament über die Arbeit der Auroren im ersten<br />
Zaubererkrieg <strong>und</strong> ihre Methoden beim Vorgehen gegen Todesser<br />
geschrieben.<br />
Nicht so gut sah es mit seiner Arbeit für Zauberkunst aus.<br />
Professor Flitwick hatte ihnen einige verzwickte Fragen <strong>auf</strong>gegeben über<br />
Zauber, mit denen man Gegenstände zum Singen bringen konnte <strong>und</strong><br />
ihren möglichen Nutzen (<strong>auf</strong> den <strong>Harry</strong> einfach nicht kam, obwohl er alle<br />
seine Schulbücher bereits durchgeblättert hatte), <strong>und</strong> bisher hatte er nur<br />
einen kleinen Absatz zu Stande gebracht. Er hatte sich vorgenommen, in<br />
der ersten Schulwoche einige St<strong>und</strong>en in der Bibliothek von Hogwarts<br />
zu verbringen <strong>und</strong> zu hoffen, vor der ersten Zauberkunstst<strong>und</strong>e des<br />
neuen Schuljahres fertig zu werden.<br />
Blieb ihm noch <strong>das</strong> letzte Projekt: Als Vorbereitung <strong>auf</strong> <strong>das</strong> sechste<br />
Schuljahr sollte jeder Schüler, der Zaubertränke weiter belegen wollte,<br />
eine Abhandlung über den Trank der lebenden Toten schreiben <strong>und</strong> ihn<br />
einmal erfolgreich brauen („Und auch anwenden?“, hatte Ron in einem<br />
ungewöhnlichen Anflug von Aufmüpfigkeit Snape während der letzten<br />
Zaubertrankst<strong>und</strong>e gefragt, wohl wissend, <strong>das</strong>s er zum letzten Mal in<br />
dessen Unterricht saß. Snapes Bemerkung, Ron würde unter der<br />
Wirkung des Trankes wenigstens nicht mehr so eine Pampe anrühren<br />
wie die, die sich anstatt eines Beruhigungstrankes in seinem Kessel<br />
befinde, brachte Ron zum Schweigen <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> fast zum Lachen, <strong>das</strong> er<br />
aber <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> seines Hasses <strong>auf</strong> Snape schnell wieder abwürgen<br />
konnte).<br />
<strong>Harry</strong> hatte sich allerdings noch nicht richtig dazu durchringen<br />
können, den Trank zu brauen. Ob er mit Zaubertränke weitermachen<br />
würde, konnte er derzeit noch nicht abschätzen. Im Gr<strong>und</strong>e wäre er<br />
unendlich erleichtert, <strong>das</strong> Fach abzugeben, da dessen Lehrer, Severus<br />
Snape <strong>und</strong> er sich von der ersten Sek<strong>und</strong>e ihrer Begegnung an mit<br />
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Inbrunst gehasst hatten, <strong>und</strong> dieser Hass sich in den letzten Jahren nur<br />
noch verschlimmert hatte. Andererseits stach ihn der Gedanke,<br />
Zaubertränke fallen zu lassen, auch wenn damit eines seiner größten<br />
Ärgernisse des Hogwarts-Alltags nur noch Vergangenheit wäre. Er hätte<br />
alles dafür gegeben, Snape nie mehr sehen zu müssen, wie er, seine<br />
Hakennase über den Kessel gebeugt, über <strong>Harry</strong>s zu optimistisch<br />
portionierte Gürteltiergalle hämte.<br />
Andererseits war es sein insgeheimer Wunsch, später den Beruf<br />
eines Auroren zu ergreifen, den eines Jägers schwarzer Magier. Und<br />
dazu wurde vom Ministerium eben 7-jähriger Zaubertrankunterricht mit<br />
bestandenem UTZ gefordert. Obwohl, überlegte <strong>Harry</strong>, er war momentan<br />
sowieso nicht scharf dar<strong>auf</strong>, im Ministerium anzufangen.<br />
Deshalb haderte er in den letzten Wochen mit sich, ob er sich <strong>auf</strong><br />
den Zaubertrankunterricht im nächsten Schuljahr vorbereiten sollte oder<br />
nicht. Snape ließ nämlich nur Schüler in seine UTZ-Klassen, die ein<br />
„Ohnegleichen“, die höchste Note, in den ZAG-Prüfungen am Ende des<br />
5. Schuljahres erreicht hatten. Und auch wenn <strong>Harry</strong> seinem Gefühl<br />
nach dank Snapes Abwesenheit in den ZAGs weitaus besser gearbeitet<br />
hatte als im üblichen Zaubertrank-Unterricht, so gab er sich keinen<br />
Hoffnungen hin, Snapes Anforderungen entsprochen zu haben. Selbst<br />
wenn er ein „Ohnegleichen“ geschafft hätte – was im krassen Gegensatz<br />
zu seinen bisherigen Zaubertrank-Leistungen gestanden hätte – so<br />
würde Snape einen Weg finden, ihn von seiner UTZ-Klasse fernzuhalten,<br />
dachte <strong>Harry</strong> mürrisch.<br />
Er schaute sich halbherzig zu Hedwigs Käfig um, der am anderen<br />
Ende seines Zimmers stand. Seine Schneeeule <strong>und</strong> einzige Fre<strong>und</strong>in im<br />
Ligusterweg 4 war seit der letzten Nacht ausgeflogen, vermutlich, um<br />
etwas anders in den Schnabel zu bekommen, als den laschen,<br />
vertrockneten Salat aus dem Garten, den die Dursleys <strong>Harry</strong> großzügig<br />
überlassen hatten. <strong>Harry</strong> machte sich keine Sorgen um sie, vermisste sie<br />
aber. Ihr Käfig war sauber, da er gestern schon nicht viel anderes zu tun<br />
gehabt hatte, als ihn <strong>auf</strong><strong>zur</strong>äumen, genauso wie seine übrigen<br />
Zaubersachen auch: Fein säuberlich aneinander gereiht stapelten sie<br />
sich in seinem großen Reisekoffer. Seufzend gestand er sich ein, <strong>das</strong>s<br />
er einfach im Moment nichts keine andere Beschäftigung finden konnte<br />
<strong>und</strong> nahm ergeben den Zauberkessel in die Hand, um mit dem Trank der<br />
lebenden Toten anzufangen. Auch wenn er in Zaubertränke wohl nie<br />
mehr Unterricht haben würde, so war es <strong>doc</strong>h wohl keine<br />
Zeitverschwendung, sich ein wenig an komplizierten Tränken zu<br />
versuchen. Vielleicht würde er ihn im weiteren Verl<strong>auf</strong> seines Lebens<br />
noch brauchen können.<br />
Etwas motivierter stellte er den Kessel vorsichtig <strong>auf</strong> den<br />
improvisierten Kamin, den er aus einer großen, rostigen Metallplatte, die<br />
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er vom Schrottplatz geholt hatte, <strong>und</strong> einigen Spänen Holz gefertigt<br />
hatte. Da er außerhalb Hogwarts nicht zaubern durfte, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Verbot<br />
schon einige Male arg strapaziert hatte, würde er dieses Mal seinen<br />
Kessel <strong>auf</strong> Muggel-Art erhitzen müssen.<br />
Leise schlich er <strong>zur</strong> Zimmertür <strong>und</strong> horchte hinaus, ob die Dursleys<br />
im Haus waren. Als er nichts hörte, spähte er durch die Gardine seines<br />
Fensters, <strong>das</strong> <strong>auf</strong> den Garten hinausging. Tante Petunia, Onkel Vernon<br />
<strong>und</strong> Dudley bestaunten seit einer halben St<strong>und</strong>e den neuen Swimming-<br />
Pool, den Onkel Vernon als Überraschung für den Sommer hatte bauen<br />
lassen. In den letzten Tagen hatte er den Nachbarn ausführliche<br />
Besichtigungen angeboten, inklusive einer detaillierten Beschreibung der<br />
gekachelten Fließen am Boden des Beckens <strong>und</strong> der Funktionsweise<br />
der eingebauten Sprinkleranlage. Mit vor Stolz geschwellter Brust hatte<br />
Onkel Vernon die lautstark k<strong>und</strong> getane Bew<strong>und</strong>erung der Anwohner<br />
genossen. Mrs. Johnson von gegenüber hatte sogar mit andächtigem<br />
Blick ein Foto vom Pool geschossen, <strong>das</strong> sie zu Tante Petunias<br />
Entzücken an ihre Pinnwand heften wollte.<br />
<strong>Harry</strong> grinste, als er sah, wie Onkel Vernon nun auch <strong>das</strong> alte<br />
Ehepaar vom Ende der Straße galant in den Garten führte <strong>und</strong> dabei<br />
eine neue Ausgabe seines Pool-Besichtigungstextes zum Besten gab.<br />
Das würde ihm sicher eine halbe St<strong>und</strong>e geben, um mit seinen<br />
Zaubertrank-Haus<strong>auf</strong>gaben anzufangen.<br />
Bevor er sein Lehrbuch „Zaubertränke weitergeführt“ <strong>auf</strong>schlug,<br />
holte <strong>Harry</strong> noch einen großen Eimer Wasser aus dem Bad für den Fall,<br />
<strong>das</strong>s er <strong>das</strong> Feuer nicht mehr kontrollieren könnte bzw. um es am Ende<br />
seiner Arbeit löschen zu können – auch dafür durfte er keine Magie<br />
verwenden. Er konnte zudem nur hoffen, <strong>das</strong>s die Dursleys nicht<br />
mitbekamen, <strong>das</strong>s er in seinem Zimmer ohne Kamin <strong>und</strong> ohne<br />
Rauchabzug ein Feuer entfachte. Er hatte 14 Jahre lang Zeit gehabt,<br />
Onkel Vernons Wutausbrüche <strong>und</strong> Gemeinheiten kennen zu lernen <strong>und</strong><br />
wollte eine weitere Auseinandersetzung tunlichst vermeiden. Mit<br />
Gewissensbissen entzündete er nun die Holzspäne unter seinem alten<br />
Zaubererkessel. Dieser war an einigen Stellen schon durchgerostet <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> Kupfer am Boden recht dünn, seit er im letzten Schuljahr einen<br />
unglücklich starken Ätztrank darin zubereitet hatte. Vermutlich würde er<br />
sich einen neuen Kessel k<strong>auf</strong>en müssen, sollte er <strong>doc</strong>h mit Zaubertränke<br />
weitermachen.<br />
Kleine Flämmchen züngelten nun an den Spänen hoch. <strong>Harry</strong><br />
schmiss die Streichhölzer beiseite <strong>und</strong> legte schnell ein paar größere<br />
Holzscheite nach, um <strong>das</strong> Feuer am Leben zu erhalten. Vorsichtig<br />
hängte er mit Hilfe eines aus Schrottteilen hergestellten Gestells den<br />
Kessel über die knisternden Flammen <strong>und</strong> gab einen Messbecher voll<br />
Wasser hinein, wie im Zaubertänke-Buch vorgegeben. Er drosselte <strong>das</strong><br />
Feuer <strong>und</strong> machte zusätzlich <strong>das</strong> Fenster <strong>auf</strong>, damit der Rauch<br />
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wenigstens etwas abziehen konnte. Über <strong>das</strong> kochende Wasser gebeugt<br />
blätterte er konzentriert in den Anleitungen für den Trank der lebenden<br />
Toten, um in Gedanken die einzelnen Arbeitsschritte festzulegen. Das<br />
Fehlen derartig geplanten Vorgehens war meist der Gr<strong>und</strong>, warum er<br />
im Hogwarts-Unterricht oft nur mangelhafte Ergebnisse erzielte – denn<br />
häufig war er so beschäftigt damit, Snape, der nie eine Gelegenheit<br />
ausließ, <strong>Harry</strong> vor seinen Mitschülern zu blamieren, zu hassen, <strong>das</strong>s er<br />
stets einige Zutaten vergaß oder sie in der falschen Reihenfolge in den<br />
Trank tat. In der letzten St<strong>und</strong>e vor den Ferien hatte er sogar beim<br />
Abgeben seiner Trankprobe bemerkt, <strong>das</strong>s er am Anfang der St<strong>und</strong>e<br />
kein Feuer unter dem Kessel angezündet hatte, weil Snape in den ersten<br />
zehn Minuten so hämisch über <strong>Harry</strong>s in seinen Augen völlig<br />
ungenügenden Haus<strong>auf</strong>gaben<strong>auf</strong>satz hergezogen war, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />
kochend vor Wut vergessen hatte, den Anweisungen im Buch zu folgen.<br />
Nun aber machte er sich daran, den ersten Punkt <strong>auf</strong> seiner<br />
unsichtbaren Liste zu bearbeiten <strong>und</strong> begann, eine Affodilwurzel zu<br />
zerreiben. Sie hatte er zusammen mit anderen Zutaten wie alle Schüler,<br />
die eventuell mit Zaubertränke weitermachen wollten, aus dem<br />
Vorratsschrank von Hogwarts mitgenommen <strong>und</strong> seitdem in einer<br />
besonders dunklen Ecke des kleinen Schrankes seines Zimmers im<br />
Ligusterwegs 4 <strong>auf</strong>bewahrt. Langsam schabte er mit einem Messer<br />
kleine Stücke von der Wurzel <strong>auf</strong> eine <strong>auf</strong> dem Boden <strong>auf</strong>geschlagene<br />
Zeitung <strong>und</strong> versuchte, eine Messerspitze voll des feinen, braunen<br />
Staubes zusammenzubekommen. Sobald er genug haben würde, würde<br />
er zwei Messbecher voll Wehrmut in <strong>das</strong> immer noch leicht köchelnde<br />
Wasser schütten <strong>und</strong> die zerriebene Wurzel mit einrühren. Der Trank<br />
sollte dann eine leicht grünliche Farbe bekommen, ein wenig nach Zimt<br />
riechen <strong>und</strong> nach einigen Minuten eine dickere Konsistenz annehmen.<br />
Das wäre der Zeitpunkt, an dem er die Schlafbohne zerschneiden –<br />
„Oh mein Gott, Junge, was tust du hier?“, hörte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> einmal<br />
eine schrille, hohe Stimme, die genauso erschrocken klang, wie er nun<br />
<strong>auf</strong> seine Füße sprang. Entsetzt schaute er <strong>zur</strong> Tür, welche <strong>auf</strong>gegangen<br />
war, ohne <strong>das</strong>s er es mitbekommen hatte – so <strong>auf</strong>merksam hatte er mit<br />
seiner Affodilwurzel gearbeitet.<br />
„Ein offenes Feuer mitten im Zimmer – wie furchtbar – was hätte<br />
nicht alles – ich kann es nicht fassen –“<br />
Unfähig, sich zu rühren, starrte <strong>Harry</strong> die Frau an, welche in seiner<br />
Zimmertür stand <strong>und</strong> immer noch von dem unsäglichen Bild, <strong>das</strong> sich vor<br />
ihren Augen zeigte, überrumpelt schien. Er kannte sie nicht dem Namen<br />
nach, wusste aber, <strong>das</strong>s sie mit ihrem Mann zusammen gerade eben<br />
noch im Garten gewesen war, um sich Onkel Vernons Swimming-Pool<br />
anzusehen. Wie kam sie hier hoch?<br />
In einem verzweifelten Versuch, die Situation zu retten, schob<br />
<strong>Harry</strong> die Frau mit ein wenig Gewalt aus dem Zimmer, Sachen wie „alles<br />
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unter Kontrolle“, „Privatsphäre“ <strong>und</strong> „Schulprojekt“ vor sich hin<br />
murmelnd. Er wünschte sich <strong>auf</strong>s Sehnlichste, einen Vergessenszauber<br />
anwenden zu können. Den hatten sie in der Schule zwar noch nicht<br />
gehabt – „Dann könnten Sie mich ja verzaubern, die <strong>auf</strong>gegebenen<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben zu vergessen!“, hatte Professor McGonagall dazu nur<br />
trocken gesagt – aber <strong>Harry</strong> hatte einen seiner früheren Lehrer für<br />
Verteidigung gegen die dunklen Künste einmal einen ausführen sehen.<br />
Der letzte seiner Sätze schien bei seinem nun etwas abgehakt<br />
atmenden Eindringling hängen geblieben zu sein.<br />
„Schulprojekt? So etwas geben sie euch in der Schule <strong>auf</strong>?<br />
Projekte, bei denen kleine Kinder“ – <strong>Harry</strong> fühlte <strong>auf</strong>steigende Wut, er<br />
war alles andere als ein Kind! – „mit Feuer spielen dürfen <strong>und</strong> <strong>das</strong> ganze<br />
Haus in Brand setzen könnten? Das ist unerhört, ich werde der Schule<br />
einen Beschwerdebrief schreiben <strong>und</strong> die Schulbehörde über diese<br />
Untat informieren, am besten wende ich mich gleich an <strong>das</strong><br />
Bildungsministerium!“<br />
<strong>Harry</strong> schaffte es schließlich <strong>doc</strong>h, den Redestrom seiner<br />
Gegenüber zu unterbrechen.<br />
„Wieso sind Sie eigentlich hier oben?“ wollte er mit möglichst<br />
ruhiger Stimme wissen, schaffte es aber nicht, ein leicht nervöses Zittern<br />
zu unterdrücken. Wenn die Dursleys von dem Vorfall erfahren würden…<br />
Sie würden ihn sicher aus dem Haus schmeißen. Nicht, <strong>das</strong>s ihn <strong>das</strong> so<br />
sehr stören würde – er kannte ein Dutzend Orte, wo er seine Ferien<br />
besser verbringen konnte als hier – aber Dumbledore würde ohne jeden<br />
Zweifel bald Bescheid wissen <strong>und</strong> von ihm, <strong>Harry</strong>, erfahren wollen, wieso<br />
er in einer Muggelgegend so leichtsinnig Zauberei anwandte, ob sie nun<br />
theoretisch erlaubt war oder nicht.<br />
„Auf welche Schule gehst du?“, wollte die Frau nun ausdrücklich<br />
wissen.<br />
„Ich –“<br />
<strong>Harry</strong> wusste nicht, was er antworten sollte. Die Wahrheit durfte er<br />
nicht erzählen, natürlich nicht, nicht nur, <strong>das</strong>s sie ihm nie glauben <strong>und</strong><br />
endgültig annehmen würde, er wäre vom Wahnsinn befallen, nein, er<br />
würde damit auch noch <strong>das</strong> internationale Geheimabkommen des<br />
Zaubereiministeriums verletzten. Deshalb blieb er bei der Lüge, welche<br />
Onkel Vernon bei solchen Anlässen zu erzählen pflegte.<br />
„Ich gehe <strong>auf</strong> die Sankt-Brutus-Anstalt für schwer erziehbare<br />
Jungen“, presste <strong>Harry</strong> hervor, <strong>und</strong> seine Eingeweide zogen sich bei<br />
dieser Behauptung zusammen.<br />
„Auf eine Schule für schwer Erziehbare?“, schrie die Nachbarin <strong>und</strong><br />
machte <strong>auf</strong> der Stelle kehrt.<br />
„Diesen Vorfall muss Mr. Dursley sofort erfahren, sonst geschieht<br />
noch ein Unglück. Der arme Mann, da zieht er schon den Sohn seiner<br />
dahingeschiedenen Schwägerin <strong>auf</strong>, dann gehört der noch zu den<br />
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problematischen Fällen, <strong>und</strong> am Ende jagt dieses Balg gar sein ganzes<br />
Haus in die Luft! Das so etwas im Ligusterweg je passieren könnte, hätte<br />
ich nie gedacht …“<br />
<strong>Harry</strong> versuchte angestrengt, sie davon abzuhalten, zu seinem<br />
Onkel zu l<strong>auf</strong>en.<br />
„Es ist wirklich nur ein Schulprojekt“, beteuerte er – wenigstens <strong>das</strong><br />
entsprach der Wahrheit. „Und Onkel Vernon weiß davon“, setzte er nicht<br />
ganz glaubwürdig dazu.<br />
„Was du nicht sagst, <strong>das</strong> werden wir <strong>doc</strong>h gleich überprüfen!“<br />
Die Frau wandte sich zum Gehen, <strong>Harry</strong> versuchte noch, sie<br />
<strong>zur</strong>ückzuhalten, aber mitten in seine Bewegung tönte Onkel Vernons<br />
tiefe, Unheil verkündende Stimme. <strong>Harry</strong> gefror <strong>das</strong> Blut, aber<br />
gleichzeitig erfasste ihn eine trotzige Wut. Wieso musste er unter<br />
Muggeln leben? Jeder andere seiner Klassenkameraden konnte die<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben sicher ohne Widerstände erledigen, nur er kam sich<br />
ständig vor wie etwas Unerwünschtes, nur er wurde behandelt wie ein<br />
besonders schmutziges Stück Wäsche, nur er musste verbergen, was er<br />
war <strong>und</strong> hoffen, <strong>das</strong>s keiner der Muggel dahinter kam. Ein<br />
überwältigender Abscheu überkam ihn, <strong>und</strong> er wünschte sich, überall zu<br />
sein, nur nicht hier.<br />
„Ach Gott sei Dank, hier sind Sie, Mr. Dursley. Ich habe die Tür<br />
zum Badezimmer ja gleich gef<strong>und</strong>en, aber da wurde ich dar<strong>auf</strong><br />
<strong>auf</strong>merksam, <strong>das</strong>s Rauch aus dem oberen Teil ihres Hauses quoll –“<br />
„Rauch?!“, polterte Onkel Vernon, <strong>und</strong> sein Gesicht färbte sich in<br />
bekannter Manier feuerrot. In düsterer Vorahnung schaute er <strong>Harry</strong> an.<br />
„Hast du irgendeine Ahnung, von welchem Rauch sie spricht?“<br />
schnappte er.<br />
„Nun ja –“, begann <strong>Harry</strong>. Was konnte er sagen, was Onkel Vernon<br />
nicht zu sehr in Rage versetzte? Obwohl <strong>das</strong> bereits zu spät schien.<br />
„Du weißt <strong>doc</strong>h, Onkel, <strong>das</strong>s wir – dieses Chemieprojekt erledigen<br />
müssen, <strong>und</strong> dafür müssen wir Wasser in einem Kessel erhitzen“,<br />
sprudelte er hervor, froh über die gute Erklärung, die er seinem Onkel<br />
damit als Vorlage gab. „Chemieprojekt!“, donnerte Onkel Vernon. Seine<br />
kleinen Augen verengten sich zu Schlitzen, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> konnte fast<br />
spüren, wie hinter seiner Stirn die Gedanken wild durcheinander flogen.<br />
Schließlich klärte sich sein Blick <strong>und</strong> wurde stattdessen dunkel vor Wut.<br />
„Ach ja, Chemie!““, brachte er mit Mühe hervor. Schauspielern war<br />
für einen Mann wie Onkel Vernon, der jede emotionale Regung mit<br />
Brachialgewalt seiner Umwelt mitteilen musste, ein hartes Stück Arbeit.<br />
Erklärend wandte er sich an die Frau, welche ihn fragend ansah.<br />
„Mrs. Berlyne, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sehen<br />
Sie, dieser Beng – äh, <strong>Harry</strong> muss für die Schule einige Aufgaben in den<br />
Ferien erledigen, <strong>und</strong> da haben wir uns gedacht, wir unterstützen ihn <strong>und</strong><br />
lassen ihm freie Bahn –“<br />
13
„Aber er hätte <strong>das</strong> Haus anbrennen können!“, keifte Mrs. Berlyne<br />
<strong>und</strong> schlenkerte ihre Handtasche grob durch die Gegend.<br />
„Ich bin sicher, er hat alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen<br />
getroffen“, quetschte Onkel Vernon hervor <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> äußerst<br />
misstrauisch an.<br />
„Äh, ja, sicher“, beeilte sich <strong>Harry</strong> zu sagen.<br />
„Und so ist alles in Ordnung“, beendete sein Onkel die<br />
Diskussionen <strong>und</strong> schob Mrs. Berlyne nun den Flur entlang <strong>zur</strong> Tür.<br />
„Kommen Sie, ich war gerade dabei, Ihrem Mann die automatische<br />
Wasserpumpe vorzuführen, <strong>das</strong> wird Sie brennend interessieren …“<br />
<strong>Harry</strong> hörte erleichtert die Tür ins Schloss fallen <strong>und</strong> ging mit<br />
schnellen Schritten <strong>zur</strong>ück zu seinem Kessel. Wütend schleuderte er die<br />
Affodilwurzel quer durchs Zimmer, wobei sie gegen den Schrank prallte<br />
<strong>und</strong> etwas lädiert am Boden liegen blieb.<br />
Es konnte aber auch nie etwas funktionieren! Wieso musste dieses<br />
neugierige Weibsstück ausgerechnet in seiner Tür stehen, wenn er<br />
gerade einen Zaubertrank zubereitete? Er schaute <strong>auf</strong> seinen für<br />
Muggelaugen ungewöhnlichen, dickbauchigen Kessel, <strong>auf</strong> <strong>das</strong> seltsame<br />
Gestell aus Schrott <strong>und</strong> <strong>auf</strong> die magischen Kräuter <strong>und</strong> Pflanzen, die<br />
ordentlich aneinandergereiht neben ihm lagen, fertig <strong>zur</strong> Verarbeitung.<br />
Hatte Mrs. Berlyne sich von der Chemie-Geschichte überzeugen lassen?<br />
Wenn nicht, könnte sie ein Problem werden. Wenn Muggel <strong>auf</strong> Zauberei<br />
<strong>auf</strong>merksam wurden, musste <strong>das</strong> Ministerium eingreifen. Und <strong>Harry</strong><br />
wollte sich lieber nicht vorstellen, bei Fudge an<strong>zur</strong>ufen <strong>und</strong> um Hilfe zu<br />
bitten. Aber <strong>zur</strong> Not, dachte er bitter, würde Onkel Vernon schon eine<br />
Ausrede finden, die sich wohl hauptsächlich um seine Verwirrtheit <strong>und</strong><br />
Dummheit drehte.<br />
Apropos Onkel Vernon. <strong>Harry</strong> wusste, <strong>das</strong>s er bald dampfend vor<br />
Zorn in seiner Zimmertür stehen würde, <strong>und</strong> packte hastig alle seine<br />
Schulsachen weg. Der Kessel mit dem angefangenen Trank, über den er<br />
schnell eine Konservierungsfolie gelegt hatte, welche den Trank so wie<br />
er ihn zubereitet hatte, erhielt, bis er weitermachen wollte, stellte er<br />
vorsichtig in den Schrank. Seine Zutaten <strong>und</strong> <strong>das</strong> zusammengelegte<br />
Gestell kamen in einen seiner Schulkoffer, in den er noch ein paar seiner<br />
Lehrbücher schmiss. Trübselig sah er sich im Zimmer um, nun erinnerte<br />
höchstens noch der Eulenkäfig an die andere Welt, der er sich so viel<br />
mehr zugehörig fühlte wie dieser. Nicht, <strong>das</strong>s Onkel Vernon nicht<br />
wusste, was <strong>Harry</strong> alles <strong>auf</strong>bewahrte, er wollte seinen Onkel nur nicht<br />
noch mehr in Rage versetzen, indem er ihn den Anblick von<br />
Zauberersachen <strong>auf</strong>dränge. Im Normalfall reagierte Onkel Vernon dar<strong>auf</strong><br />
wie ein Stier <strong>auf</strong> ein rotes Tuch.<br />
Seufzend trat <strong>Harry</strong> ans Fenster. Schweren Herzens sah er die<br />
Nachbarn nun den Ligusterweg 4 verlassen <strong>und</strong> die Straße zu ihrem<br />
eigenen, normalen, hübschen Reihenhaus hinuntergehen. Dudley,<br />
14
<strong>Harry</strong>s fetter Cousin, begab sich in die andere Richtung, wohl zu Besuch<br />
bei seinem Fre<strong>und</strong>, mit dem er zusammen <strong>auf</strong> eine Schule ging <strong>und</strong> in<br />
den Ferien zum Zeitvertreib oft Kinder vom nahe gelegenen<br />
Kindergarten verprügelte. Tante Petunia widmete sich ihrer erstaunlichen<br />
Sammlung an Zierpflanzen, die sie jeden Abend gewissenhaft mit<br />
Wasser aus der Küche goss, damit sie nicht vertrockneten. Aufgr<strong>und</strong> des<br />
Verbots der Gartenbewässerung war sie wohl die einzige in der ganzen<br />
Stadt, die so etwas tat, denn nur bei den Dursleys konnte man noch<br />
frisch blühende Blumen bestaunen.<br />
Onkel Vernon je<strong>doc</strong>h stapfte zielstrebig ins Haus. Kurz dar<strong>auf</strong> hörte<br />
<strong>Harry</strong> ihn <strong>auf</strong> der Treppe poltern. Dann ging seine Zimmertür <strong>auf</strong>.<br />
„Was hast du dir dabei gedacht?!“, schrie er <strong>Harry</strong> an, welcher<br />
trotzig <strong>und</strong> unnachgiebig <strong>zur</strong>ück in Onkel Vernons Schweinsaugen<br />
blickte.<br />
„Ich habe nur meine Schul<strong>auf</strong>gaben erledigt“, stellte sich <strong>Harry</strong><br />
stur. „So, wie du es Mrs. Berlyne erzählt hast ...“<br />
„Tu nicht so dumm! Wie kannst du es wagen, mit diesem Ding – “<br />
„Das Ding heißt Kessel …“<br />
„… in ihrer Gegenwart, in Gegenwart eines normales Menschen zu<br />
hantieren …“<br />
„Ich habe <strong>doc</strong>h nicht geahnt, <strong>das</strong>s du alle Nachbarn in mein<br />
Zimmer schickst …“<br />
Wutschaubend herrschte Onkel Vernon <strong>Harry</strong> an.<br />
„Soll <strong>das</strong> heißen, ich darf keine Gäste mehr empfangen, weil du<br />
<strong>das</strong> Haus für deine – deine Mätzchen missbrauchst? Das geht zu weit.<br />
Ich habe die Nase voll, ein für alle Mal. Mrs. Berlyne hat mich<br />
unangenehm über deine Schule ausgefragt, <strong>und</strong> du kannst dir nicht<br />
vorstellen, welche Mühen ich <strong>auf</strong> mich nehmen musste, um nichts zu<br />
verraten.“<br />
<strong>Harry</strong> konnte sich ganz gut vorstellen, <strong>das</strong>s ein phantasieloser<br />
Mensch wie Onkel Vernon seine Schwierigkeiten hatte, sich etwas<br />
auszudenken.<br />
„Deshalb habe ich sie nur wegschicken können, indem ich ihr<br />
versichert habe, <strong>das</strong>s du in zwei Tagen wieder <strong>auf</strong> deine Schule<br />
<strong>zur</strong>ückkehrst!“<br />
<strong>Harry</strong> war baff. Das hatte er nicht erwartet.<br />
„Und wie stellst du dir <strong>das</strong> vor?“, fragte er keuchend. „Ich kann<br />
noch nicht nach Hog- <strong>auf</strong> meine Schule, erst Anfang September, <strong>das</strong><br />
weißt du ganz genau!“<br />
„Na, du bist <strong>doc</strong>h letztes Jahr auch zu diesen Wieseln gefahren –“<br />
„Weasleys –“<br />
„Wie auch immer. Wenn sie dich einmal <strong>auf</strong>genommen haben,<br />
dann tun sie es sicher auch ein zweites Mal“, triumphierte Onkel Vernon.<br />
15
<strong>Harry</strong> wurde <strong>das</strong> Herz schwer. Sicher, die Weasleys würden ihn<br />
jederzeit <strong>auf</strong>nehmen, <strong>und</strong> sie hatten es ihm im L<strong>auf</strong>e des Sommers auch<br />
versprochen. Nur wusste er nicht, wann sie ihn holen würde, da die Lage<br />
wegen Voldemort derzeit unsicher war. Und ganz sicher durfte er nicht<br />
selbst nach Lust <strong>und</strong> Laune bei ihnen vorbeispazieren.<br />
„Ich habe noch keine Nachricht von ihnen erhalten“, presste <strong>Harry</strong><br />
hervor. „Ich muss warten, bis sie mir sagen, wann sie mich holen<br />
kommen. So lange muss ich hier bleiben.“<br />
„Unsinn!“, schrie Onkel Vernon <strong>und</strong> rupfte sich nervös an seinem<br />
Schnurrbart. „Du kannst sie von mir aus anrufen, <strong>und</strong> ihnen sagen, <strong>das</strong>s<br />
du in zwei Tagen bereit bist, ab<strong>zur</strong>eisen. Und wenn nicht, ist es mir auch<br />
egal, denn du wirst in jedem Fall bis dahin hier von verschw<strong>und</strong>en sein!“<br />
Und damit knallte er die Tür zu <strong>und</strong> ging.<br />
<strong>Harry</strong> warf sich <strong>auf</strong> sein Bett, zog die Decke über sich <strong>und</strong><br />
verfluchte seine Situation <strong>und</strong> den Rest der Welt. Was sollte er jetzt tun?<br />
Die Weasleys anrufen ging natürlich nicht, da sie überhaupt kein Telefon<br />
besaßen. Eulenpost fiel wegen der befürchteten Kontrollen ebenfalls<br />
weg, <strong>und</strong> eine andere Möglichkeit sah <strong>Harry</strong> nicht. Wenn er <strong>und</strong> Ron je<br />
einen Zweiwegspiegel hätten, so wie ihn Sirius –<br />
Sein Magen krampfte sich zusammen. In den letzten Wochen hatte<br />
er versucht, nicht so oft an seinen Paten zu denken. Es schien ihm<br />
immer noch unwirklich, <strong>das</strong>s er nie wieder mit ihm würde reden können,<br />
ihn nie wieder um Rat fragen konnte. Die gähnende Leere in seinem<br />
Kopf, die ihn überkam, wenn er wieder die alptraumhaften Bilder aus<br />
dem Zaubereiministerium vor sich sah, irritierte ihn, es fühlte sich an, als<br />
hätte sich ein Schatten über seine Umgebung gelegt, als hätte er die<br />
Fähigkeit verloren, Glück zu empfinden. Wie konnte alles einen Sinn<br />
haben, wenn Sirius tot war?<br />
Am Tage schaffte er es meistens, sich in seine Arbeit zu flüchten,<br />
um nicht mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert zu werden. Aber<br />
nachts, wenn er wie so oft nicht schlafen konnte, gelang es ihm nicht,<br />
von den Geschehnissen loszukommen, die Sirius` Schicksal besiegelt<br />
hatten. Er sah Bellatrix Zauberstab durch die Luft peitschen, hörte ihr<br />
wahnsinniges Lachen, als Sirius durch den Bogen stolperte <strong>und</strong> somit<br />
außerhalb der Reichweite jedes lebendigen Wesens. <strong>Harry</strong> hatte nie<br />
verstanden, was es mit dem Bogen <strong>auf</strong> sich hatte, der <strong>das</strong> Leben seines<br />
Paten so jäh beendet hatte, aber er hatte auch keine Kraft <strong>und</strong> Lust<br />
gef<strong>und</strong>en, darüber nachzudenken. Ihm schien alles so gleichgültig zu<br />
sein. Und wenn er alle Mysterien der Zaubererwelt lösen würde, Sirius<br />
käme <strong>doc</strong>h nicht wieder <strong>zur</strong>ück.<br />
Der Verlust einer seiner größten Vertrauenspersonen schmerzte<br />
ihn in einer Lage wie der jetzigen noch mehr. Er hatte niemanden, an<br />
den er sich wenden, den er um Hilfe bitten konnte, niemanden, dem er<br />
16
von seinen Ängsten <strong>und</strong> Sorgen hätte erzählen können. Selbst mit Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine teilte er nicht alles. Manchmal brauchte er einfach einen<br />
erwachsenen, erfahrenen Zauberer, der in der Lage war, ihm bei Dingen<br />
weiterzuhelfen, die er <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> der 11 Jahre, die er unter Muggeln gelebt<br />
hatte, über die Zaubererwelt nicht wusste. Und bei Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
kam er sich dann immer ein wenig dumm vor; vor allem, da Hermine<br />
selbst bei Muggeln groß geworden war, aber dennoch zehnmal mehr<br />
über Zauberei zu wissen schien als er selbst. Sirius hatte nie großspurig<br />
geklungen, wenn <strong>Harry</strong> ihn nach etwas fragte, was andere Zauberer als<br />
selbstverständlich ansahen. Aber <strong>das</strong> war nun vorbei.<br />
Momentan blieb <strong>Harry</strong> nichts anderes übrig, als sich <strong>auf</strong> sich selbst<br />
zu verlassen.<br />
Ohne eine Ahnung, wie er es schaffen sollte, in zwei Tagen den<br />
Ligusterweg sicher zu verlassen, kniete er sich vor seinen Koffer, um<br />
vielleicht einen nützlichen Gegenstand oder zumindest eine Idee zu<br />
bekommen. Sein Rennbesen, ein exzellentes Exemplar der Marke<br />
Feuerblitz, lehnte in einer versteckten Ecke seines Zimmers, aber an den<br />
durfte er nicht denken. Er würde es nie schaffen, sich <strong>und</strong> die Koffer<br />
sowie Hedwigs Käfig unter seinen unsichtbar machenden Tarnumhang<br />
zu quetschen, <strong>und</strong> sichtbar zu fliegen würde sowohl die Regeln des<br />
Ministeriums als auch alle Gebote der Vorsicht missachten. <strong>Harry</strong> legte<br />
den Umhang beiseite <strong>und</strong> hielt nun die Scherben des zerbrochenen<br />
Zweiwegspiegels von Sirius in der Hand. Er hatte ihn Ende des letzten<br />
Schuljahres vor Wut <strong>und</strong> Enttäuschung zerbrochen, als er sich<br />
eingestehen musste, <strong>das</strong>s es keinen Weg mehr für ihn gab, jemals<br />
wieder mit seinem Paten zu reden. Und selbst wenn der Spiegel<br />
unversehrt wäre, hätte er ihm jetzt wohl nicht weitergeholfen. <strong>Harry</strong> hatte<br />
keinen blassen Schimmer, wo sich <strong>das</strong> Gegenstück <strong>auf</strong>hielt.<br />
Unter seinen Schulumhängen, Schulbüchern, Pergamentrollen,<br />
Tintenfässern <strong>und</strong> einer ganzen Anzahl alten Aufsätze aus dem<br />
vergangenen Schuljahr fand er <strong>das</strong> kleine Fotoalbum, <strong>das</strong> ihm einst<br />
Hagrid, der Wildhüter von Hogwarts, geschenkt hatte. Es enthielt Fotos<br />
seiner Eltern, die einzigen, die <strong>Harry</strong> besaß. Er hatte es wohlweißlich<br />
nicht aus seinem Koffer geholt <strong>und</strong> den Dursleys vor die Nase gelegt –<br />
Tante Petunia war äußerst schlecht <strong>auf</strong> ihre verstorbene Schwester zu<br />
sprechen. Ein seltsames Gefühl von Verlassenheit überkam <strong>Harry</strong>, als<br />
ihm klarer als je zuvor bewusst wurde, wie allein er war. Er hatte keine<br />
Verwandte mehr außer den Dursleys, die ihn hassten, er hatte nur<br />
wenige Fre<strong>und</strong>e, denen er vollkommen vertraute, von denen er aber<br />
nicht wusste, wo sie sich <strong>auf</strong>hielten, <strong>und</strong> er hatte im Gr<strong>und</strong>e auch keinen<br />
erwachsenen Ansprechpartner. Lupin, sein ehemaliger Lehrer, würde<br />
ihm sofort helfen, da war sich <strong>Harry</strong> sicher – aber auch mit ihm verband<br />
ihn keine vertrauliche Fre<strong>und</strong>schaft. Eigentlich hatte dies nur <strong>auf</strong> Sirius<br />
17
zugetroffen. <strong>Harry</strong> spürte wieder Tränen des Zorns, der Trauer <strong>und</strong><br />
Verzweiflung in seinen Augen brennen wie so oft in den letzten Wochen.<br />
Unfähig, sich weiter um den drohenden Rausschmiss von den Dursleys<br />
zu kümmern, warf er sich <strong>auf</strong>s Bett <strong>und</strong> starrte an die Decke, während<br />
seine Gedanken wild durcheinander rasten, ihn gleichzeitig aber eine<br />
erdrückende Leere ergriffen hatte. Bevor er einschlief, dachte er nur<br />
noch eins: Ich bin alleine, <strong>und</strong> ich weiß nicht, was ich tun soll.<br />
18
KAPITEL ZWEI<br />
Ungesehen <strong>und</strong> Ungehört<br />
<strong>Harry</strong> erwachte von dem unsinnig lauten Gezwitscher eines<br />
Schwarms Vögel im Garten <strong>und</strong> richtete sich schläfrig <strong>auf</strong>. Die Sonne<br />
schien in sein Zimmer, sich anschickend, den nächsten heißen,<br />
trockenen Tag über Little Whinging zu bringen. Er trat ans Fenster <strong>und</strong><br />
schaute <strong>auf</strong> den neuen, friedlichen Sommertag, den er nicht zu teilen<br />
vermochte. Was sollte er nur tun?<br />
Seine letzten Hoffnungen, Onkel Vernon würde seine Meinung<br />
geändert haben <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> <strong>doc</strong>h bis zum Ferienende im Ligusterweg<br />
wohnen lassen, zuschlugen sich, als er zum Frühstück in die Küche<br />
ging. Die Dursleys saßen versammelt am Tisch. Onkel Vernon las wie<br />
üblich in seiner Zeitung, ein Stück Toast in der einen, einen starken<br />
Kaffee in der anderen Hand, Tante Petunia schaute alle zwei Minuten zu<br />
den Nachbarn hinüber, um den ersten Morgenklatsch nicht zu<br />
verpassen, <strong>und</strong> Dudley vernichtete gerade seine zweite Portion<br />
Schinken mit Ei. Vermutlich würden noch zwei weitere folgen, was sich<br />
auch im letzten Jahr dahin gehend ausgewirkt hatte, <strong>das</strong>s Dudley<br />
langsam die Statur von King Kong annahm. Seine Eltern schien <strong>das</strong> im<br />
Gegensatz zum letzten Sommer nicht mehr zu stören, hatten sie damals<br />
<strong>auf</strong> Anraten Dudleys Schulkrankenschwester noch versucht, ihn <strong>auf</strong> Diät<br />
zu setzen, so hatten sie entmutigt von der Undurchführbarkeit dieses<br />
Vorhabens nun eine andere Strategie gewählt: Dudley essen zu lassen,<br />
was er wollte <strong>und</strong> zu hoffen, <strong>das</strong>s sein Hunger <strong>und</strong> sein Körper zu einem<br />
natürlichen Gleichgewicht finden würden. <strong>Harry</strong> erschien <strong>das</strong> keine gute<br />
Idee.<br />
Er setzte sich schweigend an den Tisch <strong>und</strong> nahm eine Scheibe<br />
Toast.<br />
19
„Hrrr“, kam es von Onkel Vernons Seite des Tisches her, <strong>und</strong> die<br />
Zeitung raschelte. <strong>Harry</strong> ahnte neue Feindseligkeiten gegen sich <strong>und</strong><br />
blickte gewarnt <strong>auf</strong>, wurde aber beruhigt.<br />
„Die Aktie geht immer weiter in den Keller“, beschwerte sich Onkel<br />
Vernon mit einem für ihn ungewöhnlich besorgten Blick. Seit seine<br />
Firma, welche Bohrer herstellte, letzten Monat an die Börse gegangen<br />
war, wurde <strong>Harry</strong> zusammen mit Dudley <strong>und</strong> Tante Petunia jeden<br />
Morgen mit den neuesten Kursen gequält <strong>und</strong> wusste mit Sicherheit<br />
schon mehr über Börsenhandel als jeder andere seines Alters.<br />
„Ich muss was dagegen tun …“, murmelte Onkel Vernon nun vor<br />
sich hin. „Das Investitionsprojekt von Birmingham wirft nicht genug ab,<br />
<strong>das</strong> senkt die Rendite, ich sollte es <strong>zur</strong>ücknehmen. Dafür klang <strong>das</strong><br />
Angebot aus Manchester ganz vernünftig …“<br />
Tante Petunia versuchte derweil, Dudley zu überreden, heute mit<br />
zum Kaffetrinken zu den Nachbarn zu gehen.<br />
„Du weißt <strong>doc</strong>h, wie sehr sie sich freuen würden, dich zu sehen,<br />
<strong>und</strong> du kannst ihnen was von dem Klassenausflug deiner Schule nach<br />
Frankreich erzählen, Duddy-Schatz …“<br />
<strong>Harry</strong> hörte nicht mehr zu, sondern dachte wieder über seine<br />
prekäre Situation nach. Widerwillig gestand er sich ein, <strong>das</strong>s es <strong>das</strong><br />
Beste wäre, die Dursleys zu bitten, bleiben zu dürfen, auch wenn es <strong>das</strong><br />
Letzte war, was er wollte. Er setzte schon zum Reden an, als Onkel<br />
Vernon auch endlich bemerkt hatte, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> eingetroffen war.<br />
„Du!“, donnerte er. „Habe ich nicht gesagt, du sollst von hier<br />
verschwinden?“ Seine kleinen Augen funkelten böse <strong>und</strong> sahen <strong>Harry</strong><br />
an, als sei er ein besonders unattraktives Investitionsprojekt.<br />
„Nein, Schatz, du hast gesagt, er soll bis morgen gehen“, kam ihm<br />
Tante Petunia dazwischen. „Erinnerst du dich nicht mehr?“ Auch sie<br />
blicke ihren Neffen feindselig an.<br />
<strong>Harry</strong> verlor alle Hoffnung. Er hatte momentan nicht die Kraft oder<br />
die Lust, sich mit den Dursleys in einem sinnlosen, klein karierten Streit<br />
zu verlieren, <strong>und</strong> nickte nur.<br />
„Na gut“, brummte sein Onkel <strong>und</strong> verschwand wieder hinter der<br />
Zeitung.<br />
„Und siehe zu, <strong>das</strong>s du alle diese – diese – du weißt schon was für<br />
Sachen mitnimmst“, fauchte Tante Petunia. „Vernon kann dich zum<br />
Bahnhof bringen, wenn du willst.“<br />
Was wie ein fre<strong>und</strong>liches Angebot klang war in Wahrheit nur <strong>das</strong><br />
Bestreben, <strong>Harry</strong> so weit wie möglich vom Ligusterweg weg zu<br />
bekommen. <strong>Harry</strong> aber hätte fast bitter <strong>auf</strong>gelacht. Wo sollte er denn hin,<br />
<strong>und</strong> sei es per Bahn? Nach London in den Grimmauldplatz 12 vielleicht,<br />
aber er wusste nicht, was mit Sirius Elternhaus nach dessen Tod<br />
geschehen war <strong>und</strong> wollte keinen Todessern in die Hände geraten.<br />
Möglicherweise könnte er zu den Weasleys fahren. Der Fahrende Ritter,<br />
20
ein Zaubererbus, würde zwar auch kommen, wenn er ihn rief, aber er<br />
hatte Angst, dort jemanden zu treffen, der ihn erkannte, noch schlimmer,<br />
jemand, der den Todessern berichtete. Nein, <strong>das</strong> Beste wäre, er schlüge<br />
sich in der Muggelwelt durch zu einem Ort, wo er sicher war. Dabei fiel<br />
ihm <strong>auf</strong>, <strong>das</strong>s er keine Ahnung hatte, wie er nach Hogwarts kommen<br />
sollte, wenn er zu Fuß ging. Geknickt beendete er sein Frühstück <strong>und</strong><br />
ging wieder in sein Zimmer, während Onkel Vernon sich bereit machte,<br />
um <strong>auf</strong> Arbeit zu gehen. Dudley watschelte ins Wohnzimmer, um<br />
„Ballershooter 6“ weiterzuspielen, <strong>und</strong> Tante Petunia begann ihr<br />
morgendliches Putzen.<br />
Oben angekommen schaute <strong>Harry</strong> müde aus dem Fenster, denn<br />
auch in dieser Nacht hatte er überwiegend Albträume gehabt <strong>und</strong> nur<br />
schlecht geschlafen. Dunkel erinnerte er sich an seine Teufelsschlinge<br />
<strong>und</strong> ging mit dem Block in der Hand unmotiviert nach unten, um noch<br />
einmal <strong>das</strong> Pflänzchen abzumessen. Die verbleibenden sechs Tage des<br />
Projekts würde er sich wohl oder übel Zahlen ausdenken müssen.<br />
Nachdem er sich einmal mehr an dem Rosenbusch vorbeigekämpft <strong>und</strong><br />
die Teufelsschlinge bewertet hatte, riss er sie mit geübtem Griff heraus<br />
<strong>und</strong> schmiss sie <strong>auf</strong> den Kompost, nachdem er ihre Wurzeln durchtrennt<br />
hatte. Jetzt, wo er nicht mehr da sein würde, hätte es keinen Sinn, die<br />
Schlinge im Boden zu lassen. Am Ende würde sie die Dursleys wirklich<br />
erwürgen, wobei <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> im Moment kein unangenehmes Szenario zu<br />
sein schien.<br />
Gerade, als er sich wieder ins Haus begeben wollte, surrte ein<br />
großer Käfer <strong>auf</strong>gebracht um seinen Kopf. Unwillig wedelte <strong>Harry</strong> mit<br />
seinen Händen durch die Luft, aber <strong>das</strong> Insekt ließ sich nicht<br />
abschütteln, sondern machte es sich auch noch <strong>auf</strong> seiner Hand<br />
bequem.<br />
„Hey, du, verschwinde, dich kann ich nicht brauchen“, rief <strong>Harry</strong><br />
genervt <strong>und</strong> wollte <strong>das</strong> Tier schon von seiner Hand schnipsen, als ihm<br />
dessen Färbung <strong>auf</strong>fiel. Zwar schien er ein ganz normaler, fetter<br />
Maikäfer zu sein, dennoch stach <strong>das</strong> seltsame Muster <strong>auf</strong> seinen Fühler<br />
hervor. Das hatte er <strong>doc</strong>h schon einmal gesehen …<br />
„Rita Kimmkorn?“, flüsterte er überrumpelt. Der Käfer bewegte<br />
seinen kleinen Kopf <strong>und</strong> schien zu nicken. Perplex starrte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />
kleine Tier. Animagi, also Zauberer oder Hexen, die sich in Tiere<br />
verwandeln konnten, waren in der Zaubererwelt recht selten. Diesen<br />
Käfer <strong>und</strong> die dazugehörige Person kannte <strong>Harry</strong> bereits. Er hätte nur<br />
nie geglaubt, Rita Kimmkorn, eine penetrante Journalistin, welche <strong>das</strong><br />
vorletzte Schuljahr damit zugebracht hatte, bösartige <strong>und</strong> unwahre<br />
Artikel über <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>e veröffentlicht hatte, zu ihm in den<br />
Ligusterweg kommen würde. Hermine hatte schließlich ihr Geheimnis<br />
entdeckt <strong>und</strong> unter Androhung, es dem Ministerium zu verraten, sie <strong>zur</strong><br />
21
Mithilfe gezwungen. Schnell sah <strong>Harry</strong> sich nach einer geschützten Ecke<br />
um <strong>und</strong> verschwand mit dem Käfer <strong>auf</strong> der Hand hinter einer großen<br />
Hecke, wo ihn keiner sehen konnte.<br />
Er setzte den Käfer vorsichtig <strong>auf</strong> den Boden, <strong>und</strong> eine Sek<strong>und</strong>e<br />
später stand eine Frau vor ihm, mit schwerem Kiefer, rotem Umhang <strong>und</strong><br />
einer Krokodilledertasche, die sie umklammert hielt.<br />
„Was machen Sie hier?“, wollte <strong>Harry</strong> neugierig wissen. Durch <strong>das</strong><br />
überraschende Auftauchen eines anderen Mitglieds der magischen<br />
Gesellschaft hatte er seine missliche Lage vorübergehend vergessen.<br />
Rita Kimmkorn schaute missbilligend <strong>auf</strong> ein kleines Beet in der Hitze<br />
verrottender Möhren <strong>und</strong> wandte sich dann mit hochmütigem Blick <strong>Harry</strong><br />
zu.<br />
„Deine kleine Fre<strong>und</strong>in hat anscheinend immer noch keinen<br />
Anstand erlernt“, meinte sie mit unterdrücktem Zorn. „Sie ist der<br />
Meinung, ich müsste noch mehr unsinnige Aufträge für sie erledigen,<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> nur damit sie mich nicht – du weißt schon.“<br />
<strong>Harry</strong> musste unfreiwillig grinsen. Die Strafe für einen<br />
unregistrierten Animagus war hoch.<br />
„Und deshalb kam sie gestern bei meinem Haus vorbei <strong>und</strong> hat<br />
<strong>doc</strong>h tatsächlich verlangt, <strong>das</strong>s ich für sie Eule spiele <strong>und</strong> dir Post<br />
übergebe“, meinte sie Nase rümpfend <strong>und</strong> eindeutig klar machend, <strong>das</strong>s<br />
solche Aktivitäten unter ihr Niveau fielen. Sie kramte in ihrer Tasche<br />
herum <strong>und</strong> übergab <strong>Harry</strong> einen Brief.<br />
Er nahm ihn schnell an sich <strong>und</strong> sah erleichtert Hermines saubere<br />
Schrift, rollte <strong>das</strong> Blatt Pergament auseinander <strong>und</strong> begann zu lesen.<br />
Lieber <strong>Harry</strong>,<br />
tut mir Leid, <strong>das</strong>s ich dir <strong>auf</strong> so einem Weg schreiben muss – aber<br />
einen anderen, sicheren habe ich nicht gef<strong>und</strong>en. Ich hoffe, Rita hält ihr<br />
Versprechen <strong>und</strong> nimmt auch deine Antwort an sich. Unseren<br />
Vereinbarungen zu folge sollte sie in die Nähe deines Dorfes apparieren<br />
<strong>und</strong> dann als Käfer getarnt zu dir fliegen.<br />
Was ich dir sagen wollte ist, <strong>das</strong>s morgen Mittag einige Mitglieder<br />
des Ordens bei dir vorbeischauen, um dich nach London ins<br />
Hauptquartier zu begleiten. Wir sind uns nach wie vor nicht ganz sicher,<br />
wie es um <strong>das</strong> Haus steht, jetzt wo Sirius nicht mehr der Eigentümer ist.<br />
Bisher hat keiner sein Testament gef<strong>und</strong>en. Aber in den letzten Wochen<br />
haben wir uns im Grimmauldplatz <strong>auf</strong>gehalten, <strong>und</strong> es hat keine<br />
Schwierigkeiten gegeben. Immerhin ist er noch mit dem Fidelius<br />
geschützt. Ron ist auch mit hier, genauso wie alle Weasleys. Wie haben<br />
die Zeit genutzt, um unsere Haus<strong>auf</strong>gaben zu erledigen – wir dürfen die<br />
private Büchersammlung des Ordens mit benutzen, du glaubst gar nicht,<br />
22
wie umfangreich die ist – eine Menge Werke behandeln auch unseren<br />
Schulstoff!<br />
<strong>Harry</strong> musste wieder grinsen, Hermines Begeisterung für Bücher<br />
war unübertroffen.<br />
Wir freuen uns schon <strong>auf</strong> dich <strong>und</strong> erwarten dich morgen<br />
Nachmittag.<br />
In Liebe,<br />
Hermine<br />
Aufgeregt schnappte <strong>Harry</strong> sich den Bleistift, mit dem er die Daten<br />
über die Teufelsschlinge gerade noch abgetragen hatte, <strong>und</strong> schrieb <strong>auf</strong><br />
die Rückseite des Pergaments:<br />
Liebe Hermine <strong>und</strong> Lieber Ron,<br />
Ihr habt mir mit eurem Brief <strong>das</strong> Leben gerettet. Die Dursleys sind<br />
derzeit gar nicht gut <strong>auf</strong> mich zu sprechen <strong>und</strong> haben mir bis morgen<br />
eine Frist gesetzt, zu verschwinden – <strong>und</strong> <strong>das</strong> nur wegen einer albernen<br />
Geschichte mit ihrer Nachbarin, die mich bei Zaubertränke überrascht<br />
hat. Der Orden kommt keine St<strong>und</strong>e zu früh. Morgen Mittag werde ich<br />
mit meinen Sachen im hinteren Teil des Gartens stehen – ich denke, <strong>das</strong><br />
ist besser, als wenn sie an der Tür klingeln <strong>und</strong> noch die Bekanntschaft<br />
der Dursleys machen. Sag ihnen, sie sollen am Swimming-Pool warten.<br />
Bis morgen!<br />
In Liebe,<br />
<strong>Harry</strong><br />
Zufrieden rollte er <strong>das</strong> Pergament wieder zusammen <strong>und</strong> übergab<br />
es unversiegelt Rita Kimmkorn – Versiegelung mit Zauberei war jetzt<br />
nicht möglich.<br />
„Achten Sie gut dar<strong>auf</strong> <strong>und</strong> bringen Sie es ohne Umwege zu<br />
Hermine“, meinte er in einem vielleicht zu scharfen Befehlston. Aber<br />
andererseits, dachte er, hatte diese Frau sein Leben so oft schwer<br />
genug gemacht.<br />
„Ja, ja“, knurrte Rita Kimmkorn <strong>und</strong> verstaute den Brief in ihrer<br />
Handtasche. „Wie ein Hauself werde ich behandelt, <strong>das</strong> kann wirklich<br />
nicht sein. Ich hoffe stark, <strong>das</strong> geht nicht so weiter“, lamentierte sie <strong>und</strong><br />
mit einem letzten Murmeln, <strong>das</strong> sich wie „Kings Cross“ anhörte,<br />
23
verwandelte sie sich wieder in einen großen Käfer <strong>und</strong> flog über die<br />
Hecke <strong>und</strong> in den heißen Sommertag hinein.<br />
<strong>Harry</strong> war erst etwas verwirrt, dann fiel ihm ein, <strong>das</strong>s sie Hermine<br />
wohl kaum im Hauptquartier des Ordens treffen konnte.<br />
Mit unendlicher Dankbarkeit machte er sich <strong>auf</strong> den Rückweg ins<br />
Haus, plötzlich durchströmte ihn eine unerwartete Leichtigkeit – <strong>das</strong><br />
erste Mal seit Wochen empfand er wieder so etwas wie Glück. Sein<br />
Problem war gelöst, er würde den Ligusterweg morgen verlassen<br />
können, in fünf Tagen war sein Geburtstag – wenn er daran dachte, wie<br />
er sich noch vor einer St<strong>und</strong>e gefühlt hatte, so hatte sich vieles zum<br />
Besseren gewendet.<br />
Im Flur lief er Tante Petunia in die Arme. Hastig wollte er sich<br />
davonmachen, als sie ihm hinterher rief.<br />
„He du, ich muss dir noch was sagen. Wenn du morgen<br />
verschwindest, könntest du <strong>das</strong> möglichst schon am Morgen tun? Wir<br />
haben die Nachbarschaft zum Mittag eingeladen, um unseren Pool<br />
einzuweihen. Es wird ein Grillfest geben; <strong>und</strong> wir werden den Pool <strong>das</strong><br />
erste Mal benutzen. Du lässt dich dabei natürlich nicht blicken, deshalb<br />
wäre es <strong>das</strong> Beste, du bist vorher schon weg“, sagte sie <strong>und</strong> taxierte<br />
<strong>Harry</strong>, anscheinend keinen Widerspruch erduldend.<br />
„Ich reise um 12 Uhr mittags von hier ab“, meine <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> konnte<br />
nur hoffen, <strong>das</strong>s die Fete nicht eher anfing.<br />
„Dann mach <strong>das</strong> gefälligst un<strong>auf</strong>fällig, denn um die Zeit beginnen<br />
wir mit der Ansprache“, keifte seine Tante <strong>und</strong> ging in den Garten.<br />
„Verschwinde am Besten über den Vordereingang, damit du nicht am<br />
Pool zu sehen bist“, warf sie noch über ihre Schulter.<br />
Erneut entmutigt lief <strong>Harry</strong> in sein Zimmer. Er konnte natürlich nicht<br />
den Vordereingang benutzen, da er sich mit dem Orden extra am Pool<br />
verabredet hatte! Wie konnte er wissen, <strong>das</strong>s die Dursleys ausgerechnet<br />
an diesem Tag die ganze Nachbarschaft um ihn herum versammeln<br />
wollten …<br />
Aber erst einmal wollte er seine Sachen packen. Da er in den<br />
Ferien größtenteils Ordnung gehalten hatte, dauerte es nicht lange, all<br />
seine Besitztümer in den beiden großen Schulkoffern zu verstauen. Den<br />
Besen legte er neben sie <strong>und</strong> machte Hedwigs Käfig sauber, damit er für<br />
morgen reisefertig war. Seine Eule war nach wie vor nicht zu sehen,<br />
aber sie würde bestimmt vor morgen erscheinen, <strong>und</strong> selbst wenn nicht,<br />
würde sie den Weg zu ihm finden, wo immer er auch war. Schließlich<br />
ließ er sich wieder <strong>auf</strong> seinem Bett nieder <strong>und</strong> verbrachte noch einige<br />
Zeit mit seinen Haus<strong>auf</strong>gaben, konnte sich aber nicht richtig<br />
konzentrieren. Zu oft musste er daran denken, <strong>das</strong>s er morgen seine<br />
24
Fre<strong>und</strong>e wieder sah <strong>und</strong> endlich wieder in die Welt <strong>zur</strong>ückkehrte, in die<br />
er gehörte.<br />
Am Abend aß er zusammen mit den Dursleys wieder einmal<br />
schweigend am Küchentisch <strong>und</strong> musste sich die angeregte <strong>und</strong> recht<br />
einseitige Diskussion Onkel Vernons mit Dudley über Bohrer anhören,<br />
welcher notgedrungen in den Ferien noch einige Wochen Praktikum in<br />
Onkel Vernons Firma absolvieren würde. Nicht etwa, weil sein<br />
Geschäftssinn erwacht wäre, sondern, weil dies in seiner Klassenstufe<br />
Pflicht war. Hätte sein Onkel kein eigenes Geschäft, so wäre Dudley <strong>auf</strong><br />
verlorenem Posten gestanden – <strong>Harry</strong> konnte sich nicht vorstellen, wer<br />
ihn sonst nehmen würde.<br />
Er war froh, als er bald dar<strong>auf</strong> wieder alleine war <strong>und</strong> verbrachte<br />
den Rest des Abends damit, sich vorzustellen, was er morgen alles<br />
essen würde – sicher würde Mrs. Weasley kochen, <strong>und</strong> er kannte<br />
niemanden, der es besser konnte – er würde Butterbier trinken können<br />
<strong>und</strong> sich mit Ron <strong>und</strong> Hermine über Dinge unterhalten, die wirklich<br />
wichtig für ihn waren, <strong>und</strong> nicht über Swimming-Pools <strong>und</strong> Praktika.<br />
Am nächsten Morgen weckte ihn <strong>das</strong> Schrillen seines alten<br />
Weckers, den er vor Urzeiten, wie ihm heute schien, repariert hatte. Er<br />
blieb noch eine Weile im Bett liegen, immer noch schwitzend von dem<br />
Albtraum, der ihn auch diese Nacht gequält hatte. Wiederum war er in<br />
der Mysteriumsabteilung gewesen, hatte sich die Stufen im Raum des<br />
Todes hoch gekämpft, um den Todessern zu bekommen, die kleine<br />
Kristallkugel, wegen derer all dies erst geschehen war, an sich gepresst,<br />
während er verzweifelt versuchte, schnell aus dem Ministerium zu<br />
kommen, zu Sirius zu l<strong>auf</strong>en <strong>und</strong> ihm zu sagen, <strong>das</strong>s alles in Ordnung<br />
war <strong>und</strong> er nicht kommen musste, um ihn zu retten – aber da hörte er<br />
auch schon Bellatrix` furchtbares Lachen <strong>und</strong> sah den Fluch, der Sirius<br />
zum Taumeln brachte –<br />
<strong>Harry</strong> schlug entschlossen die Bettdecke beiseite. Er wollte nicht<br />
an den Tod seines Paten denken. Zwar wusste er, <strong>das</strong>s Verdrängung<br />
<strong>und</strong> zwanghafte Konzentration <strong>auf</strong> andere Beschäftigungen ihm nicht<br />
immer helfen würden, um <strong>das</strong> Geschehene zu verarbeiten. Aber im<br />
Moment fühlte er sich noch nicht in der Lage dazu, mit Sirius’ Tod<br />
umgehen zu können.<br />
Er blickte gedankenverloren <strong>auf</strong> die Schatten, die durch die<br />
strahlende Sonne in seinem Zimmer entstanden, hörte die Schreie<br />
einiger Nachbarskinder, die <strong>auf</strong> der Straße spielten, im Hintergr<strong>und</strong> dazu<br />
<strong>das</strong> Brummen einiger Rasenmäher, die pedantisch <strong>das</strong> vertrocknete<br />
Gras kürzten, <strong>das</strong> in den letzten Wochen eigentlich kaum hätte wachsen<br />
können. <strong>Harry</strong> kam diese Alltagsidylle absurd <strong>und</strong> fremd vor. Ich gehöre<br />
nicht in diese Welt, dachte er. In meinem Leben gibt es keine<br />
Rasenmäher <strong>und</strong> Bohrmaschinen. Was hätte er gemacht, wenn er kein<br />
25
Zauberer gewesen wäre? Wenn er wie geplant <strong>auf</strong> eine normale<br />
englische High School gegangen wäre? Diese Vorstellung ließ ihn<br />
erschaudern. Er konnte sich vage daran erinnern, einmal Gefallen an<br />
Fächern wie Mathematik oder Biologie gef<strong>und</strong>en zu haben. Wäre er als<br />
Muggel also Biologe geworden? Mittlerweile schienen ihm diese<br />
Gedanken fiktiv <strong>und</strong> unrelevant. In der Zaubererwelt ergreift man andere<br />
Berufe. Der eines Aurors war so weit vom Agenten oder<br />
Kriminalpolizisten allerdings auch nicht entfernt, musste er mit einem<br />
Lächeln plötzlich feststellen.<br />
Anstatt sich mit solch müßigen Überlegungen <strong>auf</strong>zuhalten, zog er<br />
sich nun lieber an <strong>und</strong> überprüfte noch einmal seine Koffer. Soweit er<br />
sah, hatte er alles Wichtige eingepackt. Laut seines Weckes war es jetzt<br />
um zehn, also gerade die richtige Zeit, um noch ein ausgiebiges<br />
Frühstück zu nehmen. Wie er an den lauten Stimmen erkennen konnte,<br />
hielten sich alle Dursleys wie so oft in der Nähe ihres Pools <strong>auf</strong>. Tante<br />
Petunia bereitete die Tische <strong>und</strong> Sitzgelegenheiten für die Gäste vor,<br />
Onkel Vernon hatte schon den Grill aus der Garage hervorgekramt <strong>und</strong><br />
Dudley vergnügte sich mit seinem 10-Uhr-Eis.<br />
Somit blieb ihm eine ungewohnte Freiheit in der Küche, die <strong>Harry</strong><br />
auch ausgiebig nutzte. Er briet sich Schinken, machte sich einige Toasts,<br />
kostete von Dudleys Lieblingsmarmelade <strong>und</strong> kochte eine große Tasse<br />
Kaffee, einfach nur, weil er sonst nie welchen bekam, <strong>und</strong> nicht, weil er<br />
ihn ausgesprochen mochte. Nachdem er dar<strong>auf</strong> geachtet hatte, die<br />
Küche sauber zu hinterlassen, um Tante Petunia den unerlässlichen<br />
Schreikrampf wegen eines Toastkrümels <strong>auf</strong> dem Esstisch zu ersparen,<br />
machte er sich träge <strong>und</strong> satt <strong>auf</strong> in sein Zimmer <strong>und</strong> trug die einzelnen<br />
Koffer hinunter in den Garten. Da seine Verwandten für zehn Minuten in<br />
der Parallelstraße verschw<strong>und</strong>en waren, um frische Blumen für die<br />
Tischvasen vom dort ansässigen Händler zu k<strong>auf</strong>en, hatte er genügend<br />
Zeit, sein Gepäck hinter einer großen Hecke zu verstecken, wo es vom<br />
Swimming-Pool nur gesehen werden konnte, wenn sich jemand <strong>auf</strong> dem<br />
Ein-Meter-Brett den Hals um 180 Grad verdrehte. Zufrieden schlenderte<br />
er am Pool entlang, entschlossen, bis Mittag im Garten zu sein <strong>und</strong> sich<br />
von den Dursleys nicht stören zu lassen. Der Orden musste ihn finden,<br />
<strong>und</strong> es wäre besser, wenn er <strong>das</strong> ohne Hilfe von Muggel bewerkstelligen<br />
würde. Natürlich gab es Streit.<br />
„Wir haben dir <strong>doc</strong>h gesagt, du sollst im Haus warten <strong>und</strong> dann<br />
über den Vordereingang schnellstens verschwinden!“, keifte Mr. Dursley,<br />
<strong>das</strong> Gesicht von der Hitze gerötet <strong>und</strong> schwitzend in seinem geblümten<br />
T-Shirt, gerade vom kurzen Spaziergang <strong>zur</strong>ückgekehrt. „Wenn dich<br />
einer der Nachbarn sieht, vielleicht sogar Mrs. Berlyne, dann geht <strong>das</strong><br />
Gerede wieder los. Was sollen sie nur von uns denken, wenn sie sehen,<br />
wie missraten <strong>und</strong> verdorben du bist! Das merkt man <strong>doc</strong>h schon in zehn<br />
Meter Entfernung!“<br />
26
<strong>Harry</strong> bezweifelte ernsthaft, <strong>das</strong>s Muggel, denen Zauberei nicht<br />
einmal <strong>auf</strong>fiel, wenn sie direkt vor ihrer Nase stattfand, in ihm etwas<br />
anderes sehen würden als einen normalen 15-Jährigen. Er war an die<br />
Neurose der Dursleys, alles auch nur im Ansatz Unnormale zu meiden<br />
<strong>und</strong> zu verbannen, aber so gewöhnt, <strong>das</strong>s ihn ihr Verhalten nicht<br />
w<strong>und</strong>erte.<br />
„Wenn ich durch den Vordereingang verschwinden würde, dann<br />
würden mich die Nachbarn <strong>doc</strong>h erst recht sehen“, setzte er entgegen,<br />
innerlich grinsend, weil er <strong>das</strong> dursleysche Schreckensszenario Nummer<br />
eins her<strong>auf</strong>beschwor. „Und <strong>das</strong>“, sinnierte er weiter, „während ich meine<br />
Koffer, den Käfig, womöglich mit Hedwig, wenn sie bis dahin wieder da<br />
ist, <strong>und</strong> meinen Besen trage.“<br />
Tante Petunia wurde so weiß wie die Orchideen, die sie gerade in<br />
eine Vase stellen wollte, während Onkel Vernons Gesicht eher die Farbe<br />
seiner Grillkohle annahm, dann aber schnell in den Ton eines<br />
ausgewachsenen Leuchtfeuers wechselte.<br />
„Solltest du dir <strong>das</strong> trauen!“, schrie er, Spucke über den Gitterrost<br />
des Grills verteilend, „dann brauchst du nächstes Jahr hier nicht mehr<br />
antanzen, weil wir einen Teufel tun werden <strong>und</strong> dich aussperren<br />
werden!“ Triumphierend wedelte er mit der Grillzange um sich <strong>und</strong> fegte<br />
dabei die Würstchen vom Tisch.<br />
<strong>Harry</strong> wurde es mulmig. So kindisch diese Drohung war, <strong>und</strong> so<br />
sehr er sich diese Situation im Gr<strong>und</strong>e wünschte, so wusste er <strong>doc</strong>h von<br />
Dumbledore, <strong>das</strong>s er bis zu seinem 17. Geburtstag im nächsten Jahr<br />
noch einmal bei den Dursleys wohnen musste, um den Zauber nicht zu<br />
brechen, der ihn zumindest in der Ferienzeit vor Voldemort beschützte<br />
<strong>und</strong> von der Tatsache herrührte, <strong>das</strong>s in Tante Petunia als letzter Person<br />
außer ihm noch <strong>das</strong> Blut seiner Mutter floss, die für ihn gestorben war.<br />
Kleinlaut <strong>und</strong> seinen Widerwillen unterdrückend meinte er: „Ich<br />
werde mit meinem Gepäck um Punkt 12 Uhr aus dem Garten abgeholt.<br />
Ich will versuchen, mich im hinteren Teil abseits vom Pool <strong>auf</strong>zuhalten,<br />
<strong>und</strong> kein Mug- äh, Nachbar wird auch nur einen Zaub- ich meine, einen<br />
meiner Fre<strong>und</strong>e bemerken“, stieß er zwischen den Zähnen hervor.<br />
Sein Onkel schien sich nicht entscheiden zu können, ob ihm <strong>das</strong><br />
reichte.<br />
„Diese Leute kennen kein Benehmen <strong>und</strong> wissen nicht, was ihnen<br />
zusteht“, knurrte er in Richtung Petunia, welche ihm missbilligend<br />
nickend zustimmte.<br />
Mit zusammengekniffenen, gemein funkelnden Augen durchbohrte<br />
er <strong>Harry</strong><br />
„Wir sehen nichts von dir <strong>und</strong> deinem Anhang, <strong>und</strong> wir hören<br />
nichts. Andernfalls kannst du dich nächsten Sommer nach einer neuen<br />
Bleibe umsehen, falls denn überhaupt jemand bereit wäre, so etwas wie<br />
dich <strong>auf</strong>zunehmen.“<br />
27
<strong>Harry</strong> unterließ es, Onkel Vernons Weltbild zu zerstören <strong>und</strong><br />
klarzustellen, <strong>das</strong>s er <strong>auf</strong> dieser Welt durchaus Fre<strong>und</strong>e hatte, die ihn<br />
gerne bei sich wohnen lassen würden, da sie seine Gesellschaft<br />
schätzten, <strong>und</strong> wandte sich stattdessen seinem Gepäck zu. Wortlos<br />
überprüfte er ein letztes Mal, ob alles im Garten war <strong>und</strong> setzte sich<br />
dann <strong>auf</strong> einen Stein, der als Zierde neben einer Ansammlung von<br />
Schwerlilien diente. Die Dursleys gaben ihren Partyvorbereitungen einen<br />
letzten Schliff, nachdem sich Onkel Vernon mit einem Schnauben von<br />
<strong>Harry</strong> abgewandt hatte.<br />
Dieser schaute nun verträumt in den a<strong>zur</strong>blauen Himmel <strong>und</strong> stellte<br />
sich vor, wie es sein würde, einfach davonzufliegen. Womöglich war dies<br />
genau <strong>das</strong>, was er gleich tun würde. Noch wusste er nicht, wie ihn der<br />
Orden abholen würde <strong>und</strong> wer dabei sein würde. Sicherlich Mad-Eye<br />
Moody, der Ex-Auror, welcher sich stets mit Eifer in die Schlacht stürzte<br />
<strong>und</strong> <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> seiner Wachsamkeit <strong>und</strong> Vorsicht für solche Art von<br />
Missionen prädestiniert war. Vielleicht kamen auch Lupin <strong>und</strong> Tonks –<br />
<strong>Harry</strong> freute sich plötzlich unbändig dar<strong>auf</strong>, sie alle wieder zu sehen,<br />
wieder über Tonks Ungeschicke <strong>und</strong> ihre unkomplizierte Art lachen zu<br />
können, mit Lupin wieder ernsthafte Gespräche über Zauberei führen zu<br />
können, <strong>und</strong> selbst die Aussicht <strong>auf</strong> Moodys sehr<br />
gewöhnungsbedürftiges Auge konnte seine Stimmung nicht trüben.<br />
Vor sich hin lächelnd streckte <strong>Harry</strong> sich <strong>auf</strong> dem warmen Rasen<br />
aus, spürte die Sonne <strong>auf</strong> seinem Gesicht <strong>und</strong> hörte entfernt die<br />
Stimmen eintreffender Nachbarn. Beifällige Rufe beim Erblicken des<br />
Swimming-Pools wechselten sich mit eifrigem Geschnatter über <strong>das</strong><br />
neueste Gerücht über den Geliebten von Frau Sowieso in Nummer 10<br />
ab, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> döste über diesem Durcheinander an belanglosem Gerede<br />
langsam ein, nichts als Wärme um ihn herum <strong>und</strong> Summen in seinen<br />
Ohren…<br />
Ein explosionsartiges Knallen zerriss den Sommertag. Ein oder<br />
zwei Leute kreischten, dann war <strong>das</strong> unmissverständliche Platschen von<br />
etwas Großem zu hören, <strong>das</strong> ins Wasser fiel. Dazu gab es <strong>das</strong> Klirren<br />
von mindestens einem Glas voll mit Champagner.<br />
Mit einem Ruck fuhr <strong>Harry</strong> aus seinem Halbschlaf <strong>auf</strong>. Was war<br />
<strong>das</strong> gewesen? Hektisch sprang er <strong>auf</strong>, rückte seine Brille <strong>zur</strong>echt <strong>und</strong><br />
schaute sich noch etwas benommen um.<br />
Er sah Onkel Vernon sich über den Rand des Pools beugend, dank<br />
seines enormen Gewichtes fast selbst hineinfallend. Offenbar war einer<br />
der Gäste ins Wasser gefallen…<br />
<strong>Harry</strong> entspannte sich. Hatte er <strong>doc</strong>h befürchtet, der Orden hätte<br />
<strong>das</strong> Chaos ausgelöst. Nun ging er betont langsam in den vorderen Teil<br />
des Gartens, um sich zu vergewissern, <strong>das</strong>s bald wieder Ruhe einkehrte<br />
28
<strong>und</strong> er unbemerkt mit seinen Fre<strong>und</strong>en verschwinden konnte, sobald sie<br />
eintrafen.<br />
Tante Petunia half gerade einer triefenden Frau aus dem Pool. Sie<br />
japste keuchend <strong>und</strong> schlug mit den Armen um sich, während sie <strong>auf</strong><br />
den Rand zu schwamm <strong>und</strong> schließlich an Land gezogen wurde.<br />
Aufmerksamkeit haschend, als wäre sie gerade einem wütenden<br />
Seedrachen entkommen, blickte sie um sich.<br />
„Es tut uns so Leid, <strong>das</strong>s es dazu gekommen ist“, stammelte Tante<br />
Petunia.<br />
„Das müssen wohl die rutschigen Fließen gewesen sein, sehen sie,<br />
hier sind sie ganz nass – Vernon hat sie vorhin noch abgeschrubbt,<br />
damit alles sauber ist, wenn die Gäste kommen …“<br />
„Nein, nein“, schnappte die Nachbarin, Wasser prustend.<br />
„Das waren keine Fließen, ich bin über etwas gestolpert. Ich wollte<br />
einfach nur hinüber zum Grill gehen, <strong>und</strong> plötzlich war dieser<br />
Gegenstand zwischen meinen Füßen – wie ein Ast oder so etwas.“<br />
Onkel Vernon sah verdattert drein. <strong>Harry</strong> konnte sich vorstellen,<br />
<strong>das</strong>s allein die Möglichkeit, ein verfaulter Ast könnte in seinem Garten<br />
herumliegen, seine Laune erheblich verschlechterte.<br />
„Hier ist kein Ast“, beteuerte er <strong>und</strong> schaute sich<br />
überflüssigerweise um.<br />
„Da müssen Sie sich wohl getäuscht haben. Schließlich haben wir<br />
hier keine unsichtbaren Dinge im Garten“, startete er einen halbherzigen<br />
Versuch zu scherzen. Anscheinend beruhigte <strong>das</strong> die noch triefend<br />
nasse Nachbarin, denn sie wandte sich mit einem Murmeln wie<br />
„Wenigstens trocknet es in der Sonne schnell“ wieder ihrer Wurst zu.<br />
<strong>Harry</strong> dagegen fuhr zusammen. Unbeabsichtigt hatte Onkel Vernon<br />
ihn <strong>auf</strong> eine Idee gebracht. Unsichtbar? Er kannte eine Menge<br />
Möglichkeiten, wie Gegenstände <strong>und</strong> sogar Menschen unsichtbar<br />
wurden. Nur nicht in der Muggelwelt …<br />
Langsam <strong>und</strong> sich vorsichtig umsehend bewegte er sich <strong>auf</strong> den<br />
Esstisch zu. Etwa ein Dutzend Menschen saßen daran, aßen Würstchen<br />
<strong>und</strong> Salate, tranken Bier <strong>und</strong> Wasser <strong>und</strong> unterhielten sich über die<br />
Belanglosigkeiten ihres Alltags.<br />
„<strong>Harry</strong>!“<br />
<strong>Harry</strong> schreckte <strong>auf</strong> <strong>und</strong> stieß mit einem Stuhl zusammen. Ein<br />
älterer Nachbar, welcher ihn fast jeden Tag mit unfre<strong>und</strong>lichen<br />
Kommentaren über den Zaun hinweg begrüßte, starrte ihn feindselig an.<br />
„Entschuldigung“, stammelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> ging schnell einen Schritt<br />
<strong>zur</strong>ück. Hörte er jetzt schon Stimmen? Wer hatte ihn gerufen?<br />
„Setzt die <strong>auf</strong>!“, flüsterte jemand in sein Ohr <strong>und</strong> er fühlte etwas<br />
Hartes, <strong>das</strong> ihm in die Hand gedrückt wurde. Gehetzt drehte er sich um<br />
sich selbst <strong>und</strong> versuchte, die Quelle der unheimlichen Geräusche zu<br />
erk<strong>und</strong>en. Aber er sah nichts, <strong>das</strong> nicht in die bekannte Welt der<br />
29
Dursleys gepasst hätte. Unsicher befühlte er den Gegenstand in seinen<br />
Händen. Er war kalt, spitz <strong>und</strong> r<strong>und</strong> gleichzeitig. Eine Brille, erkannte er.<br />
Setz sie <strong>auf</strong> …<br />
Er tat es.<br />
Erschrocken prallte er abermals mit dem Nachbarn vor sich<br />
zusammen <strong>und</strong> musste eine weitere Schimpfsalve über sich ergehen<br />
lassen, die er aber nicht mitbekam. Zu sehr lenkte ihn ab, was sich <strong>auf</strong><br />
einmal seinen Augen darbot.<br />
Da waren sie. Moody, neben dem Kartoffelsalat stehend <strong>und</strong> <strong>auf</strong><br />
die hübsche Tochter von Frau Gegenüber grinsend, Tonks neben sich,<br />
wie sie neugierig ein Handy musterte, <strong>das</strong> sie von einem der Gäste<br />
genommen haben musste. Direkt neben den Dursleys, welche sich noch<br />
am Grill befanden, stand Lupin <strong>und</strong> schien sie argwöhnisch zu<br />
beobachten. <strong>Harry</strong> fuhr herum, als etwas seine Schulter streifte. Was er<br />
sah, ließ ihn für einen Moment den Atem stocken.<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine, beide hier, im Ligusterweg inmitten von Muggeln<br />
– aber niemand war in der Lage, sie zu sehen, außer <strong>Harry</strong>. Er<br />
bemerkte, <strong>das</strong>s seine Fre<strong>und</strong>e dieselbe Brille trugen wie er. Nur mit ihr<br />
konnte man anscheinend die sonst durch einen Zauber unsichtbar<br />
gewordenen Ordensmitglieder sehen. Hermine hüpfte <strong>auf</strong>geregt <strong>auf</strong> der<br />
Stelle <strong>und</strong> strahlte <strong>Harry</strong> an, ihr buschiges braunes Haar wurde hell von<br />
der Sonne angestrahlt. Ron, rothaarig <strong>und</strong> sommersprossig, stand neben<br />
ihr <strong>und</strong> grinste ebenfalls, allerdings mit einem etwas verlegenen<br />
Ausdruck im Gesicht. Mit seinen Händen umklammerte er einen<br />
mitgenommenen wirkenden Rennbesen, an dem dunkle Erdklumpen<br />
klebten. Sein Sauberwisch 11, wie <strong>Harry</strong> registrierte – <strong>und</strong>, ging ihm<br />
plötzlich <strong>auf</strong>, der Gr<strong>und</strong>, weshalb die Nachbarin vorhin ins Wasser<br />
gefallen war.<br />
„Habe ihn nach der Landung liegen gelassen, weißt du, wo er <strong>doc</strong>h<br />
sowieso unsichtbar ist – konnte <strong>doc</strong>h nicht wissen, <strong>das</strong>s die alte<br />
Schachtel gerade in dem Moment dort langgegangen ist“, flüsterte Ron<br />
ihm zu <strong>und</strong> schielte, noch immer rot im Gesicht, in Richtung Moody.<br />
„Hat mir die Hölle heiß gemacht. Na, ihm kann <strong>das</strong> nicht passieren,<br />
er steckt ja nicht einmal seinen Zauberstab in die Hosentasche“,<br />
beendete Ron mit einem halb <strong>auf</strong>gebrachten, halb hochnäsigen Ton<br />
seine Schimpftirade.<br />
Hermine wollte gerade etwas dar<strong>auf</strong> erwidern, vermutlich, um<br />
Moody Recht zu geben, da konnte <strong>Harry</strong> nicht mehr an sich halten <strong>und</strong><br />
stürzte <strong>auf</strong> seine Fre<strong>und</strong>e zu. Hermine umarmend meinte er leise:<br />
„Ich bin so froh, <strong>das</strong>s ihr hier seid. Es ist alles so viel schwieriger<br />
geworden, seit –“ Er sprach nicht weiter, aber ein Blick in Hermines<br />
Gesicht sagte ihm, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> auch nicht nötig war.<br />
„Ich weiß, <strong>Harry</strong>. Es tut uns Leid, <strong>das</strong>s wir erst jetzt kommen<br />
konnten, jeden Tag habe ich Moody gefragt, ob der Orden dich nicht<br />
30
endlich holen könnte, aber der Zauber, der dich im Ligusterweg schützt,<br />
darf nicht gebrochen werden.“ Sie schaute ihn bedauernd <strong>und</strong> mitleidig<br />
an. Ron legte ihm die Hand <strong>auf</strong> seine Schulter.<br />
„Nun kommst du mit, <strong>und</strong> in der Gegenwart von Fred <strong>und</strong> George,<br />
Ginny <strong>und</strong> dem Orden kommst du <strong>auf</strong> gar keine anderen Gedanken, so<br />
sehr beschäftigen die einen. Dann denkst du sicher nicht mehr so oft an<br />
Si – an du weißt schon wen.“ Ron schien es für unschicklich zu halten,<br />
den Namen von <strong>Harry</strong>s Paten auszusprechen, vielleicht glaubte er,<br />
dessen Tod weniger schlimm aussehen zu lassen, wenn er ihn nicht<br />
direkt ansprach.<br />
„Schon gut“, unterband <strong>Harry</strong> schnell weitere Diskussionen. „Ich<br />
will nicht darüber reden.“<br />
„<strong>Harry</strong>“, meinte Hermine sanft, wurde aber von Moody<br />
unterbrochen, der die Betrachtung der hübschen Nachbarin vom<br />
anderen Tischende <strong>auf</strong>gab <strong>und</strong> nun <strong>auf</strong> die drei zukam.<br />
<strong>Harry</strong> grüßend zunickend winkte er Lupin <strong>und</strong> Tonks herbei,<br />
welche <strong>auf</strong> dem Weg um den Tisch den Kartoffelsalat umstieß, der sich<br />
umgehend dekorativ <strong>auf</strong> dem sauber gewischten Holzboden der<br />
Dursleyschen Veranda ausbreitete. Sogleich entbrannte ein Streit unter<br />
den Gästen, wem <strong>das</strong> Missgeschick passiert war, wobei die vermutete<br />
Anwesenheit möglicher unsichtbarer Wesen zum Glück keine Rolle zu<br />
spielen schien.<br />
Die Mitglieder des Phönixordens versammelten sich um <strong>Harry</strong>, Ron<br />
<strong>und</strong> Hermin <strong>und</strong> gingen mit ihnen einige Schritte <strong>zur</strong> Seite, um nicht mit<br />
den Muggel-Bewohnern des Ligusterweges zusammenzustoßen.<br />
„Hi, <strong>Harry</strong>“, flüsterte Tonks ein wenig zu laut, während sie ihm<br />
beschwingt die Hand schüttelte. Sie trug wie die anderen einen weiten<br />
Umhang, diesmal in stechendem Pink, <strong>das</strong> sich grässlich mit ihren heute<br />
grellrosa Haaren biss. Vermutlich passte Ron deshalb sorgfältig <strong>auf</strong>,<br />
nicht direkt neben ihr zu stehen, um seine feuerroten Haare nicht auch<br />
noch dieser Farbkatastrophe hinzuzufügen.<br />
Auch Lupin lächelte <strong>Harry</strong> an <strong>und</strong> schüttelte ihm die Hand. Die<br />
letzten Wochen schienen ihm nicht gut getan zu haben. Er wirkte müde<br />
<strong>und</strong> abgekämpft, sein Umhang war verschlissen <strong>und</strong> an vielen Stellen<br />
geflickt. Kein W<strong>und</strong>er, dachte <strong>Harry</strong>, nun, wo Voldemort <strong>zur</strong>ück war <strong>und</strong><br />
jeden Tag mehr Macht erlangte, hatte der Orden sicher Tag <strong>und</strong> Nacht<br />
zu tun, um die Aktivitäten der Todesser zu überwachen <strong>und</strong><br />
gegebenenfalls ihre Pläne zu vereiteln. Und, fiel ihm ein, Lupin war einer<br />
der besten Fre<strong>und</strong>e Sirius` gewesen … sicher hatte dessen Tod ihm<br />
nicht minder zu schaffen gemacht als <strong>Harry</strong>. Er fühlte eine jähe<br />
Sympathie für seinen ehemaligen Lehrer.<br />
Außerdem brannte er dar<strong>auf</strong>, Neuigkeiten aus der<br />
Widerstandsbewegung zu erfahren. Er war es leid, eingesperrt in einer<br />
Welt zu sein, die keine noch so kleine Verbindung zu der Gemeinschaft<br />
31
der Zauberer <strong>und</strong> Hexen hatte, derer er sich zugehörig fühlte. In den<br />
Ferienwochen war ihm immer klarer geworden, <strong>das</strong>s die Zeit vorbei war,<br />
in der er sich hinter Dumbledore, Sirius oder dem Orden hatte<br />
verstecken können. Voldemort wollte ihn haben, ihn besiegen <strong>und</strong> töten,<br />
sicher mit dem Ziel, die Herrschaft über die freie Zaubererwelt zu<br />
übernehmen, aber dennoch war es <strong>Harry</strong>, hinter dem Voldemort <strong>und</strong><br />
seine Gefolgsleute her waren, <strong>und</strong> er konnte von den anderen nicht<br />
mehr erwarten, <strong>das</strong>s sie ihr Leben für ihn <strong>auf</strong>`s Spiel setzten, während er<br />
seinen eigenen Dingen nachging, Zauberei studierte <strong>und</strong> Quidditch<br />
spielte. Er wollte kämpfen.<br />
Moody unterbrach <strong>Harry</strong>s Gedanken, indem er <strong>auf</strong> eine entfernte<br />
Ecke des Gartens zeigte, wo sich einige Besen befanden, die recht<br />
achtlos <strong>auf</strong> <strong>das</strong> vertrocknete braune Gras geworfen worden waren.<br />
„Es wird Zeit, <strong>das</strong>s wir <strong>auf</strong>brechen“, meinte der Ex-Auror, der mit<br />
seinen vielen Narben aus unzähligen Kämpfen gegen Todesser <strong>und</strong><br />
seinem magischen Auge bedrohlich wirkte. Tatsächlich kannte <strong>Harry</strong> ihn<br />
kaum, hatte er <strong>doc</strong>h ein Jahr lang Unterricht bei einem Doppelgänger<br />
Moodys <strong>und</strong> nicht bei ihm selbst gehabt. Allerdings waren ihm schon<br />
einige Gerüchte <strong>und</strong> Geschichten über den etwas eigenen Kämpfer zu<br />
Ohren gekommen, vor allem im Zusammenhang mit seiner an<br />
Verfolgungswahn erinnernden Vorsicht <strong>und</strong> Aufmerksamkeit.<br />
Die kleine Gruppe Zauberer <strong>und</strong> Hexen schlängelte sich nun<br />
behutsam durch die Muggel hindurch, um zu ihren Besen zu kommen.<br />
<strong>Harry</strong> vergaß ganz, <strong>das</strong>s er durchaus sichtbar war <strong>und</strong> wurde von Tante<br />
Petunia scharf angesehen, als er sich <strong>auf</strong> Zehenspitzen an dem Grill<br />
vorbei schleichen wollte.<br />
„Wohin bist du schon wieder unterwegs?“, wollte sie schnappend<br />
wissen. „Bleib bloß in der Nähe, ich will dich unter meinen Augen haben,<br />
damit du mit deinem Pack, insofern es irgendwann ankommen sollte“ –<br />
sie schnaubte, als bezweifelte sie es stark – „keinen Unsinn anstellst.“<br />
<strong>Harry</strong> blieb erschrocken stehen. Wie sollte er erklären, <strong>das</strong>s der<br />
Orden bereits da war, um ihn zu holen? Allein die Erwähnung etwaiger<br />
unsichtbarer Personen in ihrem Garten würden die Dursleys mit<br />
Sicherheit in Ohnmacht fallen lassen.<br />
„Ich habe – äh, gerade ein Zeichen bekommen“, log <strong>Harry</strong> rasch<br />
<strong>und</strong> wandte sich der Ecke des Gartens zu, in dem sein Gepäck versteckt<br />
war. „Ich hole schnell meine Sachen <strong>und</strong> bin weg. Ihr braucht nicht<br />
mitzukommen.“<br />
Sollte er damit vorgehabt haben, die Dursleys zu beruhigen <strong>und</strong> die<br />
Möglichkeit zu erhalten, unbemerkt zu verschwinden, so machte sie<br />
Onkel Vernon zu Nichte. Mit einem Bratenwender bedrohlich in <strong>Harry</strong>s<br />
Richtung wedelnd kam er angestapft, im Schlepptau den<br />
stellvertretenden Bürgermeister von Little Whinging, der an diesem Tag<br />
32
zufällig zu Besuch bei seiner Schwester, zweite Nachbarin <strong>auf</strong> der linken<br />
Seite, war. <strong>Harry</strong> schwante Übles.<br />
„Na, wen haben wir denn da?“, fragte der stellvertretende<br />
Bürgermeister beschwingt <strong>und</strong> kleckerte sich etwas Bier aus dem großen<br />
Krug, den er gefährlich locker in seiner Hand hielt, <strong>auf</strong> sein gestreiftes<br />
Hemd.<br />
„Herr Mayor, <strong>das</strong> ist – äh, mein Neffe. Er ist etwas verwirrt <strong>und</strong><br />
wollte sowieso gerade gehen“, zischte Onkel Vernon mehr in <strong>Harry</strong>s<br />
Richtung denn zu Mr Mayor.<br />
„Aber wieso denn? Ich würde liebend gerne mehr über den jungen<br />
Mann hören, ich wusste gar nicht, <strong>das</strong>s sie neben ihrem äußerst viel<br />
versprechenden Sohn“ – er schaute, nun gar nicht mehr angeheitert,<br />
skeptisch zu Dudley, der am Tisch saß <strong>und</strong> gerade seinen zweiten Teller<br />
randvoll mit Würstchen verspeiste, während seine Pobacken jeweils den<br />
Stuhl neben ihm mit beanspruchten – „noch einen Zögling haben“.<br />
„Da gibt es nicht viel zu wissen“, beeilte sich Onkel Vernon zu<br />
sagen, <strong>und</strong> diesmal pflichtete <strong>Harry</strong> ihm bei, er musste verschwinden<br />
<strong>und</strong> endlich mit dem Orden fliegen.<br />
„Er geht in eine Anstalt für schwer Erziehbare, müssen Sie wissen,<br />
<strong>und</strong> ist nicht besonders helle. Es bringt vermutlich gar nichts, wenn Sie<br />
sich mit ihm unterhalten.“ Er packe demonstrativ <strong>Harry</strong>s Arm <strong>und</strong><br />
schwenkte ihn <strong>auf</strong> <strong>und</strong> ab, offenbar überzeugt, die Geste würde <strong>Harry</strong>s<br />
Un<strong>zur</strong>echnungsfähigkeit beweisen. Hinter sich hörte <strong>Harry</strong> ein leises<br />
Kichern <strong>und</strong> verrenkte sich den Hals. Tonks stand einen Meter hinter ihm<br />
<strong>und</strong> hielt sich vor Lachen den Bauch. Moody allerdings wirkte über die<br />
Verzögerung nicht erfreut <strong>und</strong> schien griesgrämig über eine Lösung<br />
nachzugrübeln. Hermine <strong>und</strong> Ron warteten neben den Besen <strong>und</strong> sahen<br />
ein wenig nervös aus. Was auch kein W<strong>und</strong>er war, schließlich gingen<br />
alle Ordensmitglieder <strong>das</strong> Risiko ein, <strong>das</strong>s einer der Besucher sie<br />
unabsichtlich streifte <strong>und</strong> damit einen Aufstand auslöste.<br />
„Ich muss jetzt wirklich gehen“, presste <strong>Harry</strong> hervor <strong>und</strong> entriss<br />
sich Onkel Vernons Griff.<br />
„Er erscheint mir ganz normal“, meinte der stellvertretende<br />
Bürgermeister <strong>und</strong> ließ sich von Tante Petunia Bier nachfüllen. „Aber <strong>das</strong><br />
ist bei solchen Fällen wohl meistens der Fall“, plapperte er munter weiter<br />
<strong>und</strong> prostete den Kletterosen neben der Veranda zu.<br />
<strong>Harry</strong> war nun von Tonks, die sich unter Moodys Angst<br />
einflößenden Blicken anscheinend von ihrem Lachanfall erholt hatte,<br />
gepackt <strong>und</strong> einige Meter in Richtung Besen gezogen worden.<br />
„Wir sehen uns nächstes Jahr“, rief er in einem weiteren Versuch,<br />
die Dursleys davon zu überzeugen, <strong>das</strong>s er nun ganz un<strong>auf</strong>fällig<br />
verschwinden würde.<br />
„Halt, bleib hier!“, polterte Onkel Vernon so laut, <strong>das</strong>s Mr Mayor<br />
seinen Bierkrug fallen ließ. „Ich werde nicht zulassen, <strong>das</strong>s dieses<br />
33
Ungeziefer in meinem Garten landet, um dich abzuholen. Die Gäste<br />
könnten etwas mitbekommen. Du bleibst bei uns, bis die Feier vorbei ist.<br />
Danach kannst du von mir aus abhauen –“<br />
Onkel Vernon wurde plötzlich von einer merkwürdigen Kraft erfasst<br />
<strong>und</strong> landete in einem weiten Bogen im Wasser seines Swimming-Pools.<br />
Tante Petunia kreischte <strong>auf</strong>, Dudley verschluckte sich an seinen<br />
Wüstchen, die noch nasse Nachbarin von vorhin murmelte eifrig etwas<br />
von herumliegenden Ästen, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> sah sich nun Moody gegenüber,<br />
der eine Handbreit neben der noch immer geschockten Tante Petunia<br />
stand <strong>und</strong> offensichtlich ihrem Gatten einen ordentlichen Stoß gegen<br />
hatte.<br />
„Komm mit“, knurrte er leise. „Wir dürfen nicht mehr Zeit verlieren.<br />
Meine Güte, wenn Todesser hinter uns her wären, könnten Sie uns<br />
schon längst beobachten. Folge mir.“<br />
Er stapfte mit schweren Schritten, <strong>das</strong> lasche Gras unter seinen<br />
Füßen eindrückend (eine der Nachbarinnen stieß einen kleinen spitzen<br />
Schrei aus <strong>und</strong> wurde ohnmächtig) voraus zu dem Rest des Ordens, der,<br />
immer noch nur sichtbar für <strong>Harry</strong>, in der entfernten Gartenecke stand.<br />
Lupin, Tonks, Ron <strong>und</strong> Hermine hatten ihren Besen schon gepackt <strong>und</strong><br />
saßen rittlings über dem Stiel. Jemand hatte sein Gepäck gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
mittels desselben Gestells, <strong>das</strong> letztes Jahr schon bei seiner Abreise<br />
gute Zwecke geleistet hatte, an Lupins Besen befestigt. Tonks strahlte<br />
<strong>Harry</strong> an, dann fiel ihr Blick <strong>auf</strong> Lupin dicht neben sich, der ein wenig<br />
nervös wirkte, <strong>und</strong> seltsamerweise schienen ihre Augen bei seinem<br />
Anblick noch ein Stückchen mehr zu leuchten.<br />
<strong>Harry</strong> hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, weil ihm sein<br />
Feuerblitz in die Hand gedrückt wurde <strong>und</strong> Moody ihn kurz mit seinem<br />
Zauberstab antippte, wor<strong>auf</strong>hin ihn ein kaltes, kitzelndes Gefühl im<br />
Nacken erfasste. <strong>Harry</strong> wusste, <strong>das</strong>s der Desillusionszauber ihn nun<br />
auch unsichtbar gemacht hatte.<br />
„Auf geht’s!“ rief Moody leise, <strong>und</strong> unsichtbar wie lautlos stießen<br />
sich die sechs Zauberer <strong>und</strong> Hexen <strong>auf</strong> ihren Besen vom Boden ab,<br />
stiegen in die Luft <strong>und</strong> ließen den Ligusterweg mit seinem winzig<br />
wirkenden Garten hinter sich <strong>zur</strong>ück. <strong>Harry</strong> hörte noch Onkel Vernons<br />
von unsäglicher Wut zeugenden Schrei mit seinem Namen, <strong>und</strong> war<br />
froh, als sie so hoch gestiegen waren, <strong>das</strong>s selbst Little Whinging unter<br />
den <strong>auf</strong>ziehenden Wolkenfetzen verschwand.<br />
34
KAPITEL DREI<br />
Ein trostloser alter Ort<br />
Der Wind peitschte ins Gesicht, ließ seinen Umhang flattern <strong>und</strong><br />
drückte seinen Besen leicht <strong>zur</strong> Seite. Ein überwältigendes Gefühl von<br />
Leichtigkeit <strong>und</strong> Freude überkam ihn, als wäre er in den letzten<br />
anderthalb Monaten eingesperrt gewesen in beengende Trauer,<br />
Verzweiflung <strong>und</strong> Untätigkeit, welche vom berauschenden Gefühl des<br />
Fliegens weggefegt worden. Glücklich schaute <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die weit unter<br />
ihm vorbeiziehenden Städte, Felder <strong>und</strong> Flüsse.<br />
Die Ordensmitglieder flogen um ihn herum. Moody hinter ihm<br />
überwachte die Formation, Lupin führte sie weiter vorn an, <strong>und</strong> Tonks<br />
kreiselte um sie alle herum, um einen ungestörten Blick in jede Richtung<br />
zu haben. Ron <strong>und</strong> Hermine flogen direkt vor ihm einträchtig<br />
nebeneinander her. Ron hatte dabei ein seliges Lächeln im Gesicht <strong>und</strong><br />
schien den Flug genauso zu genießen wie <strong>Harry</strong>, Hermine dagegen<br />
machte einen recht deplazierten Eindruck. Sie klammerte sich an ihren<br />
Besenstil, <strong>und</strong> auch wenn sie ihr Fluggerät sicher unter Kontrolle hatte,<br />
so vermied sie nach Möglichkeit, allzu oft nach unten zu sehen, wo<br />
Autos wie Spielzeuge <strong>auf</strong> kleinen, grauen, Schlangen ähnelnden<br />
Straßen fuhren. Sie hatte sich <strong>auf</strong> Besen nie wohl gefühlt, war stets<br />
nervös gewesen, als sie zusammen Flugunterricht in ihrem ersten<br />
Hogwarts-Jahr belegt hatten, da ihr Bücher diesmal nicht ausreichend<br />
hatten helfen können, sich <strong>auf</strong> die Anforderungen des Fliegens<br />
vorzubereiten. Aber wie alle Herausforderungen hatte sie auch diese<br />
entschlossen angenommen <strong>und</strong> gemeistert. <strong>Harry</strong> konnte sie dafür nur<br />
bew<strong>und</strong>ern.<br />
Jetzt führte Lupin die Truppe wieder mal in eine völlig andere<br />
Richtung. Schon seit sie <strong>auf</strong>gebrochen waren, hatten sie immer wieder<br />
kurzzeitig ihren Kurs verlassen, um Haken zu schlagen <strong>und</strong> etwaige<br />
Verfolger abzuschütteln.<br />
35
Es kam <strong>Harry</strong> allerdings absurd vor, <strong>das</strong>s etwas Bedrohliches an<br />
diesem sonnigen, warmen Julitag <strong>auf</strong> ihn lauern sollte. Und bisher hatte<br />
es dafür auch keine Anzeichen gegeben. Warum sollten die Todesser<br />
genau jetzt angreifen? Sie wussten <strong>doc</strong>h nicht einmal, <strong>das</strong>s der Orden<br />
ihn heute hatte abholen wollen. Er war sich sicher, <strong>das</strong>s diese<br />
Information geheim gehalten worden war, <strong>und</strong> zwar vor allen Nicht-<br />
Ordensmitgliedern.<br />
Plötzlich tauchte vor ihnen ein riesiger, grauer Flickenteppich <strong>auf</strong><br />
aus verknäulten Straßen, wie hingewürfelt wirkenden Klötzchen, die<br />
Häuser darstellten <strong>und</strong> vereinzelten grünen Pünktchen, hinter denen<br />
<strong>Harry</strong> Parks vermutete.<br />
Bisher hatte er sich keine Gedanken gemacht, wohin sie eigentlich<br />
flogen. Das Wissen, den Ligusterweg endlich verlassen zu haben <strong>und</strong><br />
wieder bei seinen Fre<strong>und</strong>en sein zu können hatte ihn abgelenkt. Aber<br />
nun machte sein Herz einen Sprung <strong>und</strong> fühlte sich an, als seien<br />
Eisenstangen um es gelegt worden.<br />
London! Sie flogen zum Grimmauldplatz Nummer 12.<br />
Zum Haus seines Paten. <strong>Harry</strong> durchfuhr ein schmerzvoller Blitz<br />
voller Schock <strong>und</strong> Trauer. Seines Ex-Paten. Er wollte nicht dorthin, wo<br />
alles ihn an Sirius erinnerte, der Raum mit der Wandtapete seines<br />
Familienstammbaumes, wo er ihm einmal seine Verwandten gezeigt <strong>und</strong><br />
erklärt hatte, der große, höhlenartige Raum mit einer kaum wärmenden<br />
Feuerstelle, der als Küche diente <strong>und</strong> wo der Orden stets seine Treffen<br />
abhielt, sogar <strong>das</strong> alte Schlafzimmer, in dem Sirius seinen Hippogreif<br />
Seidenschnabel gehalten hatte, würde <strong>Harry</strong>s Gedanken nur <strong>auf</strong> den<br />
einzigen Menschen lenken, an den er derzeit überhaupt nicht denken<br />
wollte.<br />
Automatisch wollte er seinen Besen wenden, um woanders<br />
hinzufliegen, irgendwohin, nur nicht in dieses alte, düstere Haus,<br />
welches er so sehr mit Sirius verband …<br />
„<strong>Harry</strong>, was machst du da?“, rief Hermine <strong>und</strong> drehte sich <strong>auf</strong> ihrem<br />
Besen zu ihm um. „Wir sind bald da, ich glaube kaum, <strong>das</strong>s wir noch<br />
eine Finte fliegen!“<br />
Unschlüssig schaute <strong>Harry</strong> in <strong>das</strong> verw<strong>und</strong>erte Gesicht seiner<br />
Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> stellte sich ihre Frage selber, andererseits konnte sie, die<br />
ihr sein Verhalten seltsam vorkam, nicht wissen, wie er sich fühlte.<br />
Niemand konnte <strong>das</strong>. Deshalb konnte auch keiner nachvollziehen, <strong>das</strong>s<br />
er im keinen Preis in dieses Haus <strong>zur</strong>ückkehren würde.<br />
Er setzte schon an, um dies Hermine zu erklären, als er plötzlich<br />
eine kleine Bewegung ein Stück entfernt von ihnen sah. War noch<br />
jemand vom Orden in der Luft? Vielleicht, um sie abzuholen, immerhin<br />
hatten sie den nordwestlichen Teil von London erreicht, in dem sich <strong>das</strong><br />
Haus am Grimmauldplatz Nummer 12 befand. Mit geübtem Auge folgte<br />
36
er der Bewegung wie einem besonders flinken goldenen Schnatz <strong>und</strong><br />
wandte sich an Moody, der direkt hinter ihm flog.<br />
„Professor Moody –“ Zu spät fiel ihm ein, <strong>das</strong>s dieser nie den<br />
Posten eines Lehrers ausgeübt hatte, er überging den Fehler je<strong>doc</strong>h.<br />
„Dort vorn sind Zauberer in der Luft, aber ich kann sie nicht genau<br />
erkennen“, meinte <strong>Harry</strong> etwas ungewollt hastig. „Sicher sind es nur<br />
Ordensmitglieder –“ Er kam gar nicht weiter. Moody sauste <strong>auf</strong> seinem<br />
Besen vor zu Lupin, gab ihm ein Zeichen, <strong>und</strong> die ganze Formation kam<br />
augenblicklich zum Stehen. Offenbar hatten sie <strong>das</strong> Signal vorher<br />
ausgemacht, denn Tonks, Hermine <strong>und</strong> Ron hatten keine Probleme,<br />
Moodys Anweisung zu verstehen <strong>und</strong> stoppten ihr Fluggerät geschickt<br />
innerhalb weniger Sek<strong>und</strong>enbruchteile. <strong>Harry</strong> je<strong>doc</strong>h knallte mit voller<br />
Wucht <strong>auf</strong> Rons Besenschweif <strong>und</strong> stieß seinen Fre<strong>und</strong> fast hinunter.<br />
Sich die schmerzende Nase haltend schaute er vorwurfsvoll zu<br />
Moody, geflissentlich Hermines nur mühsam unterdrücktes nervöses<br />
Kichern ignorierend.<br />
„Das tut uns leid, <strong>Harry</strong>, wir haben vergessen, dir die Zeichen zu<br />
erklären“, meinte Lupin mit einem entschuldigenden <strong>und</strong> besorgten Blick.<br />
„Ist dir was passiert?“<br />
<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf, weiterhin damit beschäftigt, sich <strong>das</strong><br />
Blut von der Nase zu wischen. Dann kamen ihm die unbekannten Flieger<br />
wieder in den Sinn. Er schaute fragend zu Moody.<br />
Der schüttelte den Kopf, wie um seine ungestellte Frage zu<br />
beantworten. „Das sind keine Ordensmitglieder“, knurrte er bissig. „Wir<br />
hatten ausdrücklich ausgemacht, <strong>das</strong>s niemand von uns um <strong>das</strong><br />
Hauptquartier in der Luft ist, um eben solche Zweifelsfälle ausschließen<br />
zu können.“<br />
„Todesser?“ flüsterte <strong>Harry</strong> entsetzt <strong>und</strong> fand seine Befürchtungen<br />
in den angsterfüllten Augen Ron <strong>und</strong> Hermines bestätigt.<br />
„Aber wie kann <strong>das</strong> sein? Ich dachte, <strong>das</strong> Haus ist un<strong>auf</strong>findbar<br />
gemacht worden <strong>und</strong> außerdem mit dem Fidelius-Zauber belegt<br />
worden!“, sprudelte er hervor. „Voldemort kann es unmöglich gef<strong>und</strong>en<br />
haben!“<br />
„Du vergisst, <strong>das</strong>s Sirius` Kusine auch unter den Todessern ist“,<br />
meinte Lupin düster. „Sie kann wie jeder Uneingeweihte <strong>das</strong> Haus nicht<br />
sehen oder gar betreten, aber sie weiß natürlich, wo ihre Tante gelebt<br />
hat … Sie kennt die Straße <strong>und</strong> die Adresse. Nur kann kein Todesser<br />
dorthin gelangen. Und deswegen bewachen sie die Umgebung – denn<br />
sie wissen, wo unser Hauptquartier ist.“<br />
„Woher?“, fragte <strong>Harry</strong>, ein ungutes Gefühl im Magen. Was, wenn<br />
jemand sie verraten hatte? Er wollte sich nicht vorstellen, niemandem<br />
aus dem Orden mehr trauen zu können. Waren dessen Mitglieder <strong>doc</strong>h<br />
die einzigen Menschen, mit denen er offen über Voldemort reden konnte.<br />
37
„Nein, keiner von uns ist zu den Todessern übergel<strong>auf</strong>en, falls du<br />
<strong>das</strong> befürchtest“, antwortete Moody ernst. „Aber es bedarf keinen großen<br />
Verstandes, um am Grimmauldplatz unser Hauptquartier zu vermuten.<br />
Schließlich ist es Sirius` Zuhause gewesen <strong>und</strong> der einzige Ort, wo er<br />
sicher war. Da er ein zumindest unter Todesser bekanntes<br />
Ordensmitglied war, konnten sogar die hirnlosesten unter Voldemorts<br />
Anhängern dahinter kommen.“<br />
Sie verharrten immer noch unbewegt in der Luft. Keiner sprach<br />
mehr, alle beobachteten die Gestalten <strong>auf</strong> Besen, welche über dem<br />
Ligusterweg kreiselten.<br />
„Sie können uns nicht sehen“, erklärte Moody. „Wir werden deshalb<br />
an ihnen vorbeifliegen <strong>und</strong> ein paar h<strong>und</strong>ert Meter vom Haus entfernt<br />
landen. Den Rest l<strong>auf</strong>en wir.“<br />
<strong>Harry</strong> kam <strong>das</strong> dumm vor. Immerhin befähigte ihn die Brille, die<br />
Ron ihm gegeben hatte, auch Unsichtbare zu sehen. Wieso sollten die<br />
Todesser nicht ebenfalls solche haben?<br />
Moody hatte ihm während seiner Gedankenschweifungen ruhig in<br />
die Augen gesehen <strong>und</strong> flüsterte:<br />
„Niemand außer uns hat solche Brillen. Dumbledore hat sie selbst<br />
erf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> dafür gesorgt, <strong>das</strong>s die einzigen vorhandenen Exemplare<br />
stets im Hauptquartier verwahrt wurden. Es würde mich w<strong>und</strong>ern, wenn<br />
Todesser dar<strong>auf</strong> Zugriff hätten. Nun alle mir nach <strong>und</strong> vor allem – macht<br />
keinen Mucks!“<br />
Sich selbst schimpfend lehnte <strong>Harry</strong> sich sacht <strong>auf</strong> seinem Besen<br />
vor, um ihn in Bewegung zu setzen. Natürlich! Wie konnte er <strong>das</strong><br />
vergessen haben. Ein paar Wochen unter Muggeln hatten ihm wieder die<br />
selige Illusion gegeben, <strong>das</strong>s seine Gedanken nur ihm allein gehörten.<br />
Aber unter Zauberern war es nicht unüblich, seine Gegenüber mittels<br />
Legilimentik zu überprüfen. Wieso hatte er auch nie Okklumentik gelernt,<br />
um sich dagegen zu schützen! Nicht <strong>das</strong> erste Mal in seinem Leben<br />
wünschte er sich ernsthaft, mehr Anstrengung in Snapes Unterricht<br />
gezeigt zu haben.<br />
Jetzt hatte er aber keine Zeit, über seine kümmerlichen<br />
Okklumentik-Fähigkeiten nachzudenken, sondern musste sich sehr<br />
konzentrieren, die Flugbahn zu halten <strong>und</strong> dabei kein Geräusch zu<br />
machen. Selbst ihm als talentiertem <strong>und</strong> geübtem Flieger fiel <strong>das</strong><br />
schwer, umso erstaunlicher, <strong>das</strong>s Ron <strong>und</strong> selbst Hermine sich ebenfalls<br />
gut schlugen. Eng nebeneinander herfliegend umr<strong>und</strong>eten sie die<br />
Todesser in einem weiten Bogen. <strong>Harry</strong> konnte nicht erkennen, wer die<br />
beiden waren, denn sie trugen lange, weite Umhänge <strong>und</strong> hatten die<br />
Kapuzen über <strong>das</strong> Gesicht gezogen.<br />
38
„Avery <strong>und</strong> Crabbe“, hörte er Moody dicht neben sich flüstern.<br />
Anscheinend hatte er mittels seines magischen Auges durch die<br />
Umhänge hindurch gesehen.<br />
Die Tatsache, <strong>das</strong>s nur der Orden im Besitz von<br />
Desillusionszaubern umgehenden Brillen war, bestätigte sich, als sie die<br />
Todesser ohne Probleme <strong>und</strong> ohne gesehen worden zu sein hinter sich<br />
gelassen hatten. Schnell steuerten sie <strong>auf</strong> einen verlassenen, dreckigen<br />
Hinterhof zu <strong>und</strong> landeten im Schatten eines kümmerlichen kleinen<br />
Baumes, dem die Hitze schon sehr zu schaffen gemacht hatte.<br />
<strong>Harry</strong> wischte sich den Schweiß von der Stirn <strong>und</strong> schaute<br />
erschöpft zu Hermine <strong>und</strong> Ron. Auch die beiden machten den Anschein,<br />
als hätten sie nun genug von Begegnungen mit Todessern <strong>und</strong> folgten<br />
erleichtert Lupin, Moody <strong>und</strong> Tonks, der Moody vorsichtshalber den<br />
Besen aus der Hand genommen hatte. Den nicht ausbleibenden<br />
empörten Blick hatte er unnachgiebig ignoriert.<br />
<strong>Harry</strong>s Gepäck mittels eines Schwebezaubers vor sich hertragend<br />
schlichen sie zum Grimmauldplatz. Die trostlose Straße mit den<br />
heruntergekommen Häusern <strong>und</strong> allerlei herumliegendem Müll machte<br />
auch an einem sonnigen Julitag keinen einladenden Eindruck. Knarrend<br />
öffnete sich die Tür von Nummer 11, <strong>und</strong> ein alter Mann trat schlurfend<br />
aus dem Dunkel im Inneren, eine Zeitung in der einen <strong>und</strong> einen kleinen<br />
H<strong>und</strong> an der anderen Hand. Gemächlich ging er am Nachbarhaus<br />
vorbei, dessen verfallene Treppenflucht, eingeschlagene Fenster <strong>und</strong><br />
höchst eigenwilligen Türklopfer in Form einer silbernen Schlange er nicht<br />
zu bemerken schien. Tatsächlich wusste <strong>Harry</strong>, <strong>das</strong>s Muggel den<br />
ehemaligen Wohnsitz der Familie Black nicht in der Lage waren zu<br />
sehen. Nur ihm <strong>und</strong> den anderen Zauberern <strong>und</strong> Hexen, die eingeweiht<br />
waren in den Fideliuszauber, bot sich dessen Anblick. Auch wenn er im<br />
Moment gerne dar<strong>auf</strong> verzichten würde.<br />
Doch angesichts der drohenden Gefahr der Todesser, welche<br />
immer noch am Himmel kreiselten wie zwei hässliche, große Raben,<br />
unterdrückte er seinen Unwillen <strong>und</strong> folgte Moody durch die große<br />
Eingangstür in den Grimmauldplatz Nummer 12.<br />
Er schauderte beim Anblick des langen, engen Korridors, der ihm<br />
nie düsterer vorgekommen war als jetzt. Zwar hatten sich vor einem Jahr<br />
hier noch deutlich mehr Spinnenweben bef<strong>und</strong>en, welche nun vermutlich<br />
von Mrs. Weasley ab <strong>und</strong> zu beseitigt wurden. Auch die an vielen Stellen<br />
halbwegs geschickt reparierte Tapete, die nun ein kompliziertes blaugrünes<br />
Muster zeigte, verbesserte eigentlich den Eindruck, <strong>doc</strong>h die mit<br />
etlichen kleinen Schlangen verzierten Gaslampen <strong>und</strong> der große,<br />
überladen wirkende Kronleuchter mit angel<strong>auf</strong>ener Silberfassung ließen<br />
39
nie vergessen, <strong>das</strong>s hier einst eine den dunklen Künsten <strong>und</strong> Voldemorts<br />
Ideen zugeneigte alte Zaubererfamilie gelebt hatte.<br />
Und vor allem hatte <strong>Harry</strong> vor einem Jahr dieses Haus noch nicht<br />
mit der bedrückenden Vorstellung betreten, <strong>das</strong>s hier der Tod seines<br />
Paten den Anfang genommen hatte.<br />
Nachdem Moody sie alle vom Desillusionszauber befreit hatte,<br />
nahm <strong>Harry</strong> seine Brille ab, erleichtert, <strong>das</strong>s er nur noch eine tragen<br />
musste.<br />
Tief <strong>auf</strong>atmend stellte Lupin hinter nun ihm seinen Besen in eine<br />
Ecke <strong>und</strong> lächelte <strong>Harry</strong> an.<br />
„Vorhin war ja nicht viel Zeit für eine Begrüßung“, meinte er <strong>und</strong><br />
legte <strong>Harry</strong> die Hand <strong>auf</strong> die Schulter.<br />
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er etwas unsicher, als <strong>Harry</strong> nicht<br />
antwortete, sondern immer noch abwesend in die dunklen Ecken des<br />
Flurs starrte. Dann zuckte dieser zusammen <strong>und</strong> zwang sich zu lächeln.<br />
„Es ist schon in Ordnung, es war nur ein anstrengender Tag <strong>und</strong><br />
dieses Haus – “ Unbehaglich sah er sich um.<br />
„Es ist kein angenehmer Ort, niemand, der es nicht muss, würde<br />
hier wohnen“, stimmte Lupin zu <strong>und</strong> erinnerte <strong>Harry</strong> damit unabsichtlich<br />
daran, <strong>das</strong>s er selbst kein anderes Zuhause hatte. Sofort ging es ihm<br />
etwas besser. Er war nicht der einzige, dem der Aufenthalt hier zu<br />
schaffen machte.<br />
„Vielleicht wollt ihr <strong>Harry</strong>s Gepäck nach oben schaffen?“, schlug<br />
Lupin vor <strong>und</strong> wandte sich dem Ende des Flurs zu, wo ein paar<br />
Treppenstufen zu dem großen Raum führten, der als Küche <strong>und</strong><br />
Versammlungsort des Ordens diente.<br />
„In einer halben St<strong>und</strong>e ist unser Treffen beendet, erst danach, so<br />
fürchte ich, wird es Abendessen geben. Ihr müsste euch also noch ein<br />
bisschen gedulden.“<br />
<strong>Harry</strong> war es recht, er hatte sowieso keinen Hunger. Ron dagegen<br />
schien diese Nachricht nicht gut <strong>auf</strong>zunehmen, ein Stirnrunzeln wurde<br />
von einem lauten Magenknurren begleitet. Hermine verdrehte die Augen.<br />
„Wie kannst du schon wieder Hunger haben?“, fragte sie<br />
resignierend. „Wir haben <strong>doc</strong>h was für den Flug mitgenommen gehabt!“<br />
Als <strong>Harry</strong> erstaunt die Augenbrauen hob erklärte sie schnell:<br />
„Wir sind hier um 7 los, um einen gewaltigen Umweg zu fliegen. Du<br />
kennst ja Moody. Und wir dachten, du hättest bei deinem Onkel <strong>und</strong><br />
deiner Tante Mittag gegessen.“<br />
<strong>Harry</strong> nickte beipflichtend, obwohl <strong>das</strong> nicht stimmte.<br />
Zufrieden wandte sich Hermine an Ron.<br />
„Dann wirst du es ja auch aushalten“, meinte sie schnippisch <strong>und</strong><br />
schnappte sich <strong>Harry</strong>s Besen <strong>und</strong> Hedwigs Käfig. Mit je einem Koffer in<br />
der Hand folgten ihr <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> der noch murrende Ron die Treppe<br />
40
hin<strong>auf</strong>. Die wenig dekorativen geschrumpften Elfenköpfe, die einst die<br />
Wand geschmückt hatten, waren verschw<strong>und</strong>en, stattdessen zierten<br />
helle Gemälde von Wiesen, Wäldern, Weihern <strong>und</strong> Blumen die Wand.<br />
Zwar waren sie weder von talentierter Hand gemalt noch bewiesen sie<br />
Geschmack, aber zumindest gaben sie dem düsteren Treppengang<br />
einen fre<strong>und</strong>licheren Anstrich.<br />
„Das war Mrs. Weasley“, zeigte Hermine <strong>auf</strong> die Bilder <strong>und</strong><br />
bestätigte <strong>Harry</strong>s Vermutung. Er nickte beiläufig <strong>und</strong> sah einem großen<br />
Feldhasen zu, der sich gerade glücklich über ein sommergrünes<br />
Mohrrübenfeld hermachte. Hermine sagte nichts mehr, sondern<br />
konzentrierte sich dar<strong>auf</strong>, den Eulenkäfig vorbei am ersten<br />
Treppenabsatz in den zweiten Stock zu tragen. Mit leerem Blick streifte<br />
<strong>Harry</strong> die erste Tür, hinter der sich der große Salon mit dem<br />
Familienstammbaum der Blacks befand. Schnell wandte er sich ab <strong>und</strong><br />
lief hinter seinen Fre<strong>und</strong>en her in <strong>das</strong> Zimmer im zweiten Stock, wo er<br />
<strong>und</strong> Ron schon früher geschlafen hatten. Hermine packte den Türknopf,<br />
der wie viele andere im Haus eine Schlangenform hatte, <strong>und</strong> stieß die<br />
knarrende Tür offen. Nachdem sie <strong>Harry</strong>s Käfig <strong>und</strong> seinen Besen in<br />
einer der dunklen Ecken des kleinen Zimmers mit der hohen Decke<br />
verstaut hatten <strong>und</strong> seine Koffer <strong>auf</strong> <strong>das</strong> noch leere schmale Bett<br />
gewuchtet hatten, blickten sie sich schweigend an. Keiner schien <strong>das</strong><br />
erste Wort ergreifen zu wollen.<br />
Hermine begann deswegen, etwas angespannt, beschwingt in<br />
Richtung <strong>Harry</strong> zu fragen:<br />
„Waren deine Ferien so schrecklich wie sonst auch, oder hat sich<br />
dein Cousin inzwischen gebessert?“<br />
Ron starrte sie an, als wäre sie ein dreibeiniger Hippogreif. Seine<br />
Miene ließ <strong>Harry</strong>s Laune wieder steigen, unwillkürlich musste er grinsen.<br />
„Es geht um die Prophezeiung, richtig?“ Zwar hatte er die beiden<br />
bereits im Hogwarts-Zug in deren Wortlaut eingeweiht, aber nur zwei<br />
Minuten später waren sie in London angekommen <strong>und</strong> mussten <strong>das</strong><br />
Gespräch abbrechen.<br />
Hermine nickte.<br />
„Nun ja, im Moment kann ich ja nicht viel machen“, spielte <strong>Harry</strong><br />
die Sache herunter. Eigentlich hatte er keine Lust, über die<br />
Prophezeiung zu reden <strong>und</strong> über die Tatsache, <strong>das</strong>s er vielleicht zum<br />
Mörder werden würde.<br />
„Aber du hast <strong>doc</strong>h in den Ferien darüber nachgedacht?“, hakte<br />
Hermine nach. „Weißt du, ich habe mir Gedanken gemacht <strong>und</strong><br />
herausgef<strong>und</strong>en, <strong>das</strong>s man sie <strong>auf</strong> verschiedene Weise interpretieren<br />
kann. Es könnte sowohl bedeuten, <strong>das</strong>s Voldemort oder du einander<br />
töten müsst, aber eine andere Auslegung würde besagen, <strong>das</strong>s keiner<br />
von euch leben kann. Mir ist auch noch eingefallen, <strong>das</strong>s man <strong>das</strong> Wort<br />
„überleben“ verstehen könnte als –“<br />
41
„Lass ihn <strong>doc</strong>h mal Luft holen“, unterbrach Ron sie <strong>und</strong> verdrehte<br />
die Augen.<br />
Aber <strong>Harry</strong> war <strong>auf</strong> einmal sehr kalt geworden.<br />
„Was meinst du mit: „<strong>das</strong>s keiner von euch leben kann“?“, fragte er<br />
Ron ignorierend, <strong>und</strong> starrte Hermine an.<br />
Sie holte tief Luft <strong>und</strong> begann zögernd, ihre Ergebnisse zu<br />
erklären.<br />
„Nun, ihr wisst ja, <strong>das</strong>s die Prophezeiung besagt, <strong>das</strong>s „keiner<br />
leben kann, während der andere überlebt“. Für mich könnte es so<br />
klingen, <strong>das</strong>s weder <strong>Harry</strong> noch Voldemort leben können, solange der<br />
andere es ebenfalls tut. Was dazu führen könnte, <strong>das</strong>s ihr beide – äh,<br />
sterben müsst“, meinte sie mit zitternder Stimme <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> an wie<br />
einen Todgeweihten.<br />
Ron prustete los. Hermine fuhr herum <strong>und</strong> funkelte ihn wütend an.<br />
„Was ist so witzig an der Vorstellung, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> sterben könnte?“,<br />
fauchte sie.<br />
Ron grinste immer noch.<br />
„Dass du irgendeinen Fehler gemacht hast, Hermine. So wie ich<br />
<strong>das</strong> sehe, sitzt <strong>Harry</strong> uns noch putzmunter gegenüber, <strong>und</strong> Voldemort<br />
wird sicher auch noch am Leben sein, so einfach werden wir ihn sicher<br />
nicht los.“<br />
„Ron hat Recht, Hermine“, mischte sich <strong>Harry</strong> ein. „Voldemort <strong>und</strong><br />
ich haben es geschafft, fast 16 Jahre lang zusammen <strong>auf</strong> dieser Welt zu<br />
verbringen, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s, obwohl er es sich zu einer seiner Lebens<strong>auf</strong>gaben<br />
gemacht hat, mich zu ermorden. Die Prophezeiung sagt nichts anderes<br />
als <strong>das</strong>s einer von uns sterben muss. Abgesehen davon ist es<br />
Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, denn Dumbledore gibt nicht<br />
viel <strong>auf</strong> den Wahrheitsgehalt von Vorhersagen. Er meint, sie werden nur<br />
wahr, wenn man selbst nach ihren Vorgaben handelt.“<br />
Ron sah beeindruckt aus, Hermine je<strong>doc</strong>h schien in altbekannter<br />
Verzweiflung mit sich zu ringen.<br />
„Ich habe über diesen Worten immer <strong>und</strong> immer wieder gesessen,<br />
<strong>und</strong> alle möglichen Interpretationen bedacht. Die Sätze scheinen mir alle<br />
zweideutig, ohne eine klare Information vermitteln zu können. Und –“<br />
Ron unterbrach sie.<br />
„Hermine, du hast <strong>Harry</strong> <strong>doc</strong>h genauso gehört wie ich. Wir alle<br />
schätzen deine Bemühungen, st<strong>und</strong>enlang über drei Sätzen gebrütet zu<br />
haben, die Dumbledore mit einem Wort abtut. Aber ehrlich –“ Er grinste<br />
<strong>Harry</strong> an. „In Sachen Wahrsagen dachte ich nicht, <strong>das</strong>s ausgerechnet du<br />
unsere Expertin bist.“<br />
„Ron, hör <strong>auf</strong> damit!“, kreischte Hermine <strong>auf</strong>gebracht. „Als ob<br />
Trelawneys Gefasel irgendetwas mit echten Prophezeiungen zu tun<br />
hätte! Aber <strong>das</strong> heißt noch lange nicht, <strong>das</strong>s es sie nicht gibt! Schon im<br />
alten Ägypten –“<br />
42
<strong>Harry</strong> fiel ein, <strong>das</strong>s er den beiden noch nicht erzählt hatte, wer die<br />
Prophezeiung gemacht hatte. Aber um Hermines Würde zu bewahren,<br />
unterließ er es.<br />
„Bitte nicht auch noch eine Geschichte der Zauberei-St<strong>und</strong>e“,<br />
stöhnte er zwischen <strong>das</strong> Gekabbel der beiden. Er hatte Kopfschmerzen,<br />
<strong>und</strong> diese vertrugen sich mit düsteren Gedanken über mysteriöse<br />
halbwahre Prophezeiungen nur ganz schlecht.<br />
„Damit ihr es wisst, ich stimme Dumbledore zu. Vorhersagen<br />
haben keine Macht über die Zukunft, es sei denn, man lässt sich von<br />
ihnen beeinflussen. Was, glaubt ihr, ändert die Prophezeiung für mich?<br />
Ich muss Voldemort stoppen, bevor er mich umbringt? Denkt ihr, <strong>das</strong><br />
wäre nicht so gewesen, seit ich 15 Monate alt war? Und damals haben<br />
meine Eltern mir als Gute-Nacht-Geschichte sicher nicht eine alte<br />
Prophezeiung vorgelesen.“<br />
„Genau <strong>das</strong> meine ich, <strong>Harry</strong>“, konterte Hermine. „Ob du von ihr<br />
weißt oder nicht, sie geht in Erfüllung.“<br />
„Ich hätte nie gedacht, <strong>das</strong>s ausgerechnet du einmal zu einem<br />
Wahrsage-Fan wirst“, empörte sich Ron. „Auf einmal sind irgendwelche<br />
nebulösen Tagträume wichtig. Vor zwei Jahren noch hast du gelacht, als<br />
Trelawney <strong>Harry</strong> den Grimm weissagt hat.“<br />
„Weil es Blödsinn war“, schnappte Hermine, die mittlerweile ein<br />
ziemlich Onkel-Vernon-artiges Rot angenommen hatte.<br />
„Und wer ist <strong>Harry</strong> kurz danach über den Weg gel<strong>auf</strong>en?“, knurrte<br />
Ron. „Ein großer, schwarzer H<strong>und</strong>, der ihm fast den Tod gebracht hat!“<br />
„Ja, aber falls du es vergessen hast, die Gefahr ging eher von<br />
deiner Ratte aus“, brüllte Hermine nun <strong>und</strong> erhob sich.<br />
„Soll <strong>das</strong> heißen, ich bin Schuld, weil du kein Wahrsagen<br />
beherrschst?!“, stellte Ron sich Hermine gegenüber.<br />
<strong>Harry</strong> versuchte, einzugreifen <strong>und</strong> die beiden zu beruhigen, aber<br />
Hermine wischte ihn mit einem Schlag ihres Arms beiseite.<br />
„Was bitte schön, hat <strong>Harry</strong>s Schicksal mit meinen<br />
Wahrsagefähigkeiten zu tun?“<br />
„Dass du es nicht verw<strong>und</strong>en hast, einmal die Schlechteste in<br />
etwas zu sein, <strong>und</strong> nun unter Beweis stellen musst, <strong>das</strong>s du <strong>doc</strong>h<br />
Prophezeiungen lesen kannst!“<br />
„Wenigstens erfinde ich keine Vorhersagen für meine<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben!“<br />
<strong>Harry</strong> erhob sich <strong>und</strong> bewegte ich vorsichtig in Richtung Ausgang.<br />
Sollten Ron <strong>und</strong> Hermine <strong>doc</strong>h ihren ewigen Streit alleine fortführen.<br />
Sacht zog er die Tür <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schlüpfte <strong>auf</strong> den Flur hinaus. Während er<br />
langsam nach unten ging, hörte er immer noch <strong>das</strong> Gekeife seiner<br />
beiden Fre<strong>und</strong>e.<br />
43
„Aber du musst ja unbedingt immer Recht haben. Wie damals, als<br />
du nicht an dich halten konntest vor Freude, weil es du warst, die den<br />
Gang zum Stein der Weisen entdeckt hast, <strong>und</strong> –“<br />
„Heute bedauere ich <strong>das</strong> zutiefst, denn ich hätte sonst die<br />
einmalige Chance gehabt, nie wieder etwas mit dir zu tun zu haben –“<br />
Kopfschüttelnd entfernte sich <strong>Harry</strong>. Dass Ron <strong>und</strong> Hermine sich<br />
gerne zofften, war nichts Neues, aber so heftig hatte er es noch nicht<br />
erlebt. Vielleicht machte ihnen die angespannte Situation im Haus <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> ständige Bewusstsein der Gefahr durch Todesser zu schaffen, oder<br />
sie kamen einfach nicht damit <strong>zur</strong>echt, zu lange ohne Ablenkung<br />
miteinander im selben Haus zu wohnen.<br />
Ohne es zu merken, war er wieder in die Eingangshalle getreten.<br />
Gelangweilt schlenderte er in Richtung der Küche <strong>und</strong> passierte<br />
<strong>auf</strong> der einen Seite <strong>das</strong> riesige Portrait von Walburga Black, der<br />
streitsüchtigen Mutter von Sirius, welche in ihrem Rahmen hinter einem<br />
schwarzen Vorhang vor sich hinmurmelte. Schnell trat er ein paar<br />
Schritte beiseite. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, waren einige<br />
hässliche <strong>und</strong> vor allem laute Bemerkungen über seine unreine Herkunft.<br />
Zudem hatte er keine Lust, womöglich Walburga über den Tod Sirius`<br />
<strong>auf</strong>klären zu müssen, er hatte keine Ahnung, ob <strong>das</strong> ein Mitglied des<br />
Ordens bereits getan hatte.<br />
Missmutig trat er gegen den Trollbeinständer, welcher bedenklich<br />
hin- <strong>und</strong> herwackelte, ohne je<strong>doc</strong>h umzukippen. Ein wenig wünschte er<br />
sich, Tumult zu entfachen, um Ron <strong>und</strong> Hermine von ihrem idiotischen<br />
Gestreite abzubringen <strong>und</strong> die Ordensleute endlich aus ihrem<br />
Versammlungsraum zu holen; genauso sehr sehnte er sich aber nach<br />
Einsamkeit. Kurz überlegte er, in <strong>das</strong> Schlafzimmer zu gehen, wo Sirius<br />
Seidenschnabel gehalten hatte <strong>und</strong> nichts als Ruhe <strong>und</strong> Dunkelheit um<br />
sich zu wissen. Als er sich schon der Treppe zuwandte, lief er beinahe<br />
Mrs. Weasley in die Arme.<br />
„<strong>Harry</strong>! Wie ist es schön, dich zu sehen!“, rief sie für <strong>Harry</strong>s<br />
Geschmack ein wenig zu angestrengt fröhlich <strong>und</strong> nahm ihn in die Arme.<br />
„Schon gut“, verteidigte er sich <strong>und</strong> versuchte, sich aus der<br />
Umarmung un<strong>auf</strong>fällig zu lösen. „Danke, <strong>das</strong>s Sie <strong>und</strong> der Orden mich<br />
von den Dursleys geholt haben. Ich hätte es keine Sek<strong>und</strong>e mehr dort<br />
ausgehalten.“ Wie knapp sein Rausflog aus dem Ligusterweg 4<br />
tatsächlich gewesen war, erwähnte er vorsichtshalber nicht. Noch nicht<br />
einmal Ron <strong>und</strong> Hermine hatte er Gelegenheit gehabt, davon zu<br />
erzählen. Seltsamerweise beschlich ihn ein Gefühl von Ärger, als hätten<br />
ihn die beiden im Stich gelassen, indem sie sich alles um sich<br />
vergessend stritten.<br />
„Aber natürlich <strong>doc</strong>h. Du dachtest hoffentlich nicht, <strong>das</strong>s wir dich<br />
den ganzen Sommer dort lassen würden? Nachdem Arthur deine<br />
44
Verwandten vor zwei Jahren kennen gelernt hat, ist er davon überzeugt,<br />
<strong>das</strong>s dir der Aufenthalt dort nicht allzu gut tut. Nein, hier bist du besser<br />
ausgehoben. Aber <strong>das</strong> brauche ich dir wohl nicht zu sagen. Nun sieh zu,<br />
<strong>das</strong>s du Ron <strong>und</strong> Hermine erwischst, es gibt in zehn Minuten<br />
Abendessen.“<br />
Erst da fiel <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>, <strong>das</strong>s die Tür <strong>zur</strong> Küche <strong>auf</strong>gegangen war<br />
<strong>und</strong> die Ordensmitglieder einer nach dem anderen in der Eingangshalle<br />
<strong>auf</strong>tauchten. Er sah Professor McGonagall, seine Lehrerin für<br />
Verwandlung, Tonks, die ungeduldig <strong>auf</strong> jemanden zu warten schien, der<br />
sich dann als Lupin herausstellte, Kingsley Shacklebolt, Arthur <strong>und</strong> Bill<br />
Weasleys, die sich zumindest äußerlich nicht verändert zu haben<br />
schienen, seit er sie <strong>das</strong> letzte Mal gesehen hatte, <strong>und</strong> schließlich<br />
entdeckte er noch Arabella Figg <strong>und</strong> M<strong>und</strong>ungus Fletcher. Moody schien<br />
noch in der Küche zu sein. Als er sich ein weiteres Mal der Treppe<br />
zuwandte, um seine beiden Fre<strong>und</strong>e zu holen, sah er zu seiner<br />
Überraschung Fred <strong>und</strong> George Weasley aus dem<br />
Versammlungszimmer kommen. Entgegen ihres sonst so fröhlichen<br />
Auftretens wirkten sie durch irgendetwas bedrückt, als sie je<strong>doc</strong>h <strong>Harry</strong><br />
sahen, strahlten sie beide gleichzeitig <strong>und</strong> verschwanden augenblicklich<br />
vom Eingang der Küche.<br />
<strong>Harry</strong> hatte gerade Zeit, um zu verstehen, was geschehen war, da<br />
tauchten die Zwillinge mit einem lauten Knall neben ihm wieder <strong>auf</strong>.<br />
„Wie oft habe ich euch gesagt, <strong>das</strong>s ihr in der Eingangshalle nicht<br />
apparieren sollt!“, schimpfte Mrs Weasley <strong>und</strong> lief los, um Walburga<br />
Black <strong>zur</strong> Ruhe zu bringen, die, <strong>auf</strong>geschreckt von dem Krach,<br />
angefangen hatte zu keifen.<br />
„Halbblüter im Haus meiner Ahnen, oh welche Schande muss ich<br />
ertragen! Alle hat mein nichtsnutziger Sohn hineingelassen,<br />
Blutsverräter, Werwölfe <strong>und</strong> Schlammblüter. Wenn mein armer Mann<br />
<strong>das</strong> erfahren hätte … Wo ist diese Missgeburt, die es solchem<br />
Abschaum erlaubt hat, dieses ehrwürdige Haus zu missbrauchen? Ich<br />
habe ihn lange nicht mehr hier herumstolzieren sehen!“<br />
Bei diesen Worten wurde <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> Herz schwer. Sirius` Mutter<br />
wusste tatsächlich nichts über den Tod ihres Sohnes. Nicht, <strong>das</strong>s es sie<br />
schockiert hätte. Im Gegenteil, es war ihr gehässiges Gelache, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong><br />
als Antwort <strong>auf</strong> diese Information fürchtete. Er glaubte nicht, sich dann<br />
noch im Griff haben zu können.<br />
George wandte sich flüsternd an ihn, um Mrs Black nicht wieder zu<br />
erwecken, nachdem sie erneut hinter ihrem Vorhang verschw<strong>und</strong>en war.<br />
„Wir haben ihr noch nicht gesagt, was in der Mysteriumsabteilung<br />
passiert ist. Mum meint, die Freude solle ihr verwehrt bleiben“, als hätte<br />
er <strong>Harry</strong>s Gedanken gelesen (Hat er?, fragte sich <strong>Harry</strong> erschreckt <strong>und</strong><br />
nahm sich vor, womöglich <strong>das</strong> Thema Okklumentik noch einmal<br />
<strong>auf</strong>zugreifen. Dann schalt er sich einen Idioten, es war mehr als<br />
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unwahrscheinlich, <strong>das</strong>s die Zwillinge Legilimentik beherrschten, welche<br />
eine sehr seltene Kunst war.)<br />
„Aber vergessen wir diese alte Schachtel. Was gibt’s Neues <strong>Harry</strong>,<br />
mal wieder eine nette Begegnung mit Dementoren gehabt? Oder waren<br />
es diesmal nur Drachen?“, fragte Fred grinsend.<br />
„Nein“, erwiderte <strong>Harry</strong>. „Aber wisst ihr, die Dursleys sind noch eine<br />
Ecke schlimmer als Drachen. Ihr hättet eure Freude mit Dudley gehabt,<br />
wärt ihr diesen Sommer auch gekommen.“<br />
„Wir hätten ihn unsere neuen Kollektion testen lassen können“,<br />
schlug Fred gespielt bedauernd vor. „’Fat and slim’, lässt jeden dick oder<br />
dünn aussehen, je nachdem, welches Pulver man trinkt. Stell dir vor,<br />
Dudley wäre vor den Spiegel getreten <strong>und</strong> hätte plötzlich 50 Kilo<br />
abgenommen!“<br />
Alle drei grinsten bei der Vorstellung.<br />
„Was habt ihr eigentlich bei der Versammlung verloren?“, wollte<br />
<strong>Harry</strong> dann wissen, während die Zwillinge begannen, einige Pergamente<br />
in Aktenmappen zu verstauen, die sie aus der Küche mitgebracht hatten.<br />
<strong>Harry</strong> konnte nur einen kurzen Blick <strong>auf</strong> sie erhaschen <strong>und</strong> etwas wie ein<br />
Gesprächsprotokoll dar<strong>auf</strong> erkennen, dann verschwanden die Blätter in<br />
der Tasche.<br />
„Wir sind jetzt offiziell Mitglieder des Ordens“, meinte Fred stolz<br />
<strong>und</strong> deutete viel sagend <strong>auf</strong> die Aktenmappen. „Mum war nicht gerade<br />
begeistert <strong>und</strong> wollte Dad überreden, uns den Zutritt zu verbieten, aber<br />
da wir nun volljährig sind, hat keiner der übrigen Mitglieder was dagegen<br />
gehabt, <strong>das</strong>s wir beitreten. Du weißt ja, <strong>das</strong>s wir im letzten Sommer<br />
schon einmal reinschnuppern konnten.“<br />
<strong>Harry</strong> meinte <strong>auf</strong>geregt: „Dann könnt ihr uns alles von den Treffen<br />
berichten!“ Endlich würde er erfahren, was der Orden zu besprechen<br />
hatte, wie es im Kampf gegen Voldemort voranging <strong>und</strong> was dessen<br />
Pläne waren.<br />
„Sorry, <strong>Harry</strong>“, meinte Fred nun bedauernd. „Wir durften nur unter<br />
der Bedingung teilnehmen, euch keine internen Informationen<br />
weiterzugeben. Ron hat schon gedroht, uns zu enterben, aber unsere<br />
Mum würde ausrasten, wenn wir euch mit in die Angelegenheiten<br />
reinziehen.“<br />
„Was heißt reinziehen?“, schrie <strong>Harry</strong> wütend <strong>und</strong> enttäuscht. Er<br />
war fest davon überzeugt gewesen, von den erwachsenen Mitgliedern<br />
endlich vollwertig behandelt zu werden. „Ich bin in meinem zweiten<br />
Lebensjahr in den Kampf gegen Voldemort hineingezogen wurden, ich<br />
habe ein Recht dar<strong>auf</strong>, zu erfahren, was vor sich geht!“<br />
„Ja, lass deinen Zorn nur erklingen, noch etwas lauter wäre nicht<br />
verachtenswert, möglicherweise haben es die Todesser über dem Haus<br />
noch nicht mitbekommen“, grinste Fred. „Unter den Umständen, <strong>das</strong>s du<br />
jedes Detail unserer Unterredung per Schallwellen an deine Umwelt<br />
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weitergibst, ist es ja ganz gut, <strong>das</strong>s wir noch nicht erwähnt haben, <strong>das</strong>s<br />
es dieses Jahr einen neuen Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen<br />
Künste geben wird, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s wir wissen, wer es ist.“<br />
„Oder“, feixte George <strong>und</strong> stieß seinen Zwillingsbruder in die Seite,<br />
„<strong>das</strong>s Voldemort momentan im Ausland vermutet wird,<br />
wahrscheinlich in Mazedonien oder Andorra, um befre<strong>und</strong>ete schwarze<br />
Magier zu überreden, sich ihm anzuschließen.“<br />
„Geschweige denn Dumbledores Quidditch-Pläne für <strong>das</strong><br />
kommende Schuljahr, wonach es keine Hausmannschaften mehr geben<br />
soll, sondern gemixte Teams –“<br />
„Wenn wir dir <strong>das</strong> alles erzählen täten, dann würde uns der Orden<br />
rausschmeißen. Also lassen wir es lieber!“<br />
Die beiden nickten <strong>Harry</strong> noch einmal zu <strong>und</strong> verschwanden dann<br />
die Treppe hin<strong>auf</strong>.<br />
„Hey, was für ein neuer Lehrer?“, rief <strong>Harry</strong> ihnen leise hinterher<br />
<strong>und</strong> riss sich zusammen, als er Mrs Weasley neugierig in seine Richtung<br />
schauen sah. Er wollte den Zwillingen nachl<strong>auf</strong>en, aber diese waren<br />
wohl außerhalb der Hörweite von Mrs Black wieder disappariert,<br />
jedenfalls konnte <strong>Harry</strong> nichts mehr von ihnen sehen.<br />
Mit gemischten Gefühlen begab er sich in den zweiten Stock, um<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine zum Essen zu holen. Einerseits war er wütend <strong>auf</strong> den<br />
Orden, der ihn immer noch nicht als gleichwertiges Mitglied behandeln<br />
wollte, obwohl er über die Ferien zum Ergebnis gekommen war, <strong>das</strong>s<br />
den anderen nun gar nichts anderes mehr übrig blieb, nachdem <strong>Harry</strong> im<br />
Ministerium gegen Voldemort mitgekämpft hatte <strong>und</strong> auch von der<br />
Prophezeiung wusste. Aber anscheinend traute ihm niemand zu, mit der<br />
Situation fertig zu werden. Wenn es nach ihnen ging, sollte er behütet in<br />
die Schule gehen, Arbeiten schreiben <strong>und</strong> Quidditch spielen, als stünde<br />
die Zaubererwelt nicht vor einer großen Bedrohung.<br />
Dann ärgerte er sich auch ein wenig über <strong>das</strong> Verhalten der<br />
Zwillinge, die ihn nicht in interne Ordensgespräche einweihen wollten. Er<br />
hätte es an ihrer Stelle getan, hätte Ron, Hermine <strong>und</strong> die anderen<br />
Weasleys teilhaben lassen, um mit ihnen über die Vorgänge zu<br />
diskutieren. Andererseits verstand er Fred <strong>und</strong> George, würde er wirklich<br />
die Ordensmitgliedschaft <strong>auf</strong>s Spiel setzen, indem er sich über den<br />
Willen von Dumbledore, Moody <strong>und</strong> Co. hinwegsetzte? Er wusste es<br />
nicht. Und immerhin hatten die Zwillinge ihm gegen ihr Versprechen<br />
<strong>doc</strong>h einiges verraten, was der Orden beschlossen oder herausgef<strong>und</strong>en<br />
hatte.<br />
Sogleich spürte er bessere Laune, die sich durch seine Tage alte<br />
Frustration kämpfte, <strong>und</strong> war schon beinahe bei echter Zufriedenheit<br />
angelangt, als er die Tür zu seinem Schlafzimmer <strong>auf</strong>stoßen wollte.<br />
Je<strong>doc</strong>h wurde ihm die Klinke vorher aus der Hand gerissen, <strong>und</strong><br />
Hermine wollte schwungvoll durch die Tür treten.<br />
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„Oh“, machte sie überrascht. „Wir wollte gerade runterkommen,<br />
müsste es nicht bald Abendessen geben?“<br />
„Wie, sagt bloß, ihr seid <strong>doc</strong>h noch fertig geworden mit Streiten?“,<br />
fragte <strong>Harry</strong> bissig. Er konnte Ron sehen, der immer noch <strong>auf</strong> dem Bett<br />
saß <strong>und</strong> offenbar noch keine Anstalten gemacht hatte, sich zu erheben.<br />
„Du hast absolut Recht, wir haben uns schrecklich benommen“,<br />
sagte Hermine kleinlaut. „Wie sinnlos, wegen solchen Kleinigkeiten<br />
aneinander zu geraten.“<br />
Ron wollte ihr offensichtlich widersprechen, blieb nach einem<br />
warnenden Blick von <strong>Harry</strong> aber mit vor Ärger dunklen Augen still.<br />
„Und wieso müsst ihr ständig <strong>auf</strong>einander rumhacken?“, seufzte<br />
<strong>Harry</strong>. „Hat Ron mal wieder Krummbein geärgert, oder willst du ihn nicht<br />
Verwandlung abschreiben lassen –“<br />
„Wir wissen auch nicht, warum. Vielleicht sind wir beide zu<br />
angespannt. Immer in diesem Haus eingesperrt zu sein, niemals an die<br />
frische Luft zu können <strong>und</strong> stets zuzuschauen, wie die Ordensmitglieder<br />
kommen <strong>und</strong> gehen, ohne je<strong>doc</strong>h etwas von ihren Diskussionen zu<br />
erfahren, geht an die Nerven“, meinte Hermine mit einer Spur<br />
Verzweiflung.<br />
„Oh, was <strong>das</strong> angeht, kann ich euch vermutlich helfen“, versuchte<br />
<strong>Harry</strong> die Stimmung <strong>auf</strong>zuheitern. Seine Wut <strong>auf</strong> die beiden hatte sich<br />
verflüchtigt. Wer wusste, wie er nach einigen Wochen an diesem<br />
trostlosen Ort reagieren würde. Wahrscheinlich wie ein zündbereiter<br />
Knallrümpfiger Kröter.<br />
Er gab den beiden weiter, was er von den Zwillingen gehört hatte.<br />
Hermine nahm wissbegierig jede kleine Information <strong>auf</strong>, Ron dagegen,<br />
der vergessen hatte, Hermine böse zu sein, grantelte nun wegen seinen<br />
Geschwistern.<br />
„Dir plaudern sie alles aus, <strong>und</strong> mich haben sie mit der Drohung<br />
weggeschickt, sie würden mein Vertrauensschülerabzeichen verzaubern,<br />
wenn ich sie noch einmal belästigen würde!“, empörte er sich.<br />
„Ron, sie haben mir nur Andeutungen gemacht, richtig gesagt<br />
haben sie auch nichts –“<br />
„Immerhin mehr als mir, <strong>und</strong> dabei bin ich ihr Bruder!“ Er wirkte<br />
allerdings besänftigt, weil wenigstens <strong>Harry</strong> ihn ins Vertrauen gezogen<br />
hatte.<br />
„Wer wohl der Neue in Verteidigung sein wird?“, plapperte Hermine<br />
in der Zwischenzeit <strong>auf</strong>geregt vor sich hin. „Moody wäre zwar Klasse,<br />
überlegt euch nur, was er alles über dem Kampf gegen Todesser weiß.<br />
Sein Doppelgänger kannte die Materie ja eher von der falschen Seite<br />
her. Aber ich fürchte, er wird im Orden gebraucht, immerhin ist er so<br />
etwas wie der Anführer, wenn Dumbledore nicht da ist. Lupin wäre<br />
ebenfalls einsame Spitze, aber nun, da jeder weiß, <strong>das</strong>s er ein Werwolf<br />
ist, würden die Eltern ihn nicht akzeptieren, besonders, da Werwölfe<br />
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derzeit oft mit Voldemort in Verbindung gebracht werden. Genauso<br />
möglich wäre –“<br />
„Snape“, meinte <strong>Harry</strong> düster <strong>und</strong> sprach damit die Befürchtung<br />
aus, die ihn seit einigen Minuten quälte. Jeder wusste, <strong>das</strong>s der<br />
Verteidigungsposten Snapes insgeheimes Ziel war, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Letzte, was<br />
<strong>Harry</strong> sich wünschte, war, <strong>das</strong>s sein Lieblingsfach ihm auch noch<br />
verleidet werden würde.<br />
„Nein, nicht Snape“, meinte Hermine schnell. Als <strong>Harry</strong> sie fragend<br />
ansah, erklärte sie: „Ich habe ihn während der Ferien wegen des Trank<br />
der lebenden Toten gefragt, denn ich habe einfach nicht genügend Saft<br />
aus meiner Schlafbohne herauspressen können <strong>und</strong> dachte, er kenne<br />
womöglich eine effizientere Art, sie zu zerkleinern. Da meinte er, ich<br />
solle mich an <strong>das</strong> Buch halten, aber für <strong>das</strong> nächste Schuljahr habe er<br />
geplant, uns eine bessere Zubereitungsart für den Trank zu zeigen.“<br />
„Und er hat dir nicht den Kopf abgerissen?“, fragte Ron ungläubig.<br />
„Nein“, erwiderte Hermine leicht empört. „Er ist ein Lehrer <strong>und</strong><br />
muss antworten, wenn seine Schüler eine Frage haben!“<br />
„Hermine –“ warf <strong>Harry</strong> ein. „Seit wann benimmt Snape sich<br />
gegenüber Schülern, die nicht aus Slytherin kommen, wie ein normaler<br />
Lehrer?“<br />
„Na ja, wisst ihr, ich habe ihn so abgepasst, <strong>das</strong>s Dumbledore zwei<br />
Schritte neben ihm stand“, meinte sie freudestrahlend. „Da musste er<br />
einfach so tun, als würde er mich ernst nehmen.“<br />
„Snape also nicht“, murmelte <strong>Harry</strong>. „Wer könnte sonst<br />
Verteidigungs-Lehrer werden? Irgendjemand aus dem Orden?“<br />
„Unwahrscheinlich. Alle Mitglieder werden im Kampf gegen<br />
Voldemort gebraucht. Wir haben in den Wochen hier immer wieder<br />
heraushören können, <strong>das</strong>s ohnehin schon großer Personalmangel<br />
herrscht.“<br />
„Dann muss es folgerichtig ein Neuer sein“, stellte <strong>Harry</strong> fest. „Ich<br />
frage mich, ob er wieder vom Ministerium abgesegnet ist –“<br />
„Oder SIE“, warf Hermine ein <strong>und</strong> verzog ein wenig <strong>das</strong> Gesicht.<br />
„Fred <strong>und</strong> George sprachen aber von einem LEHRER, keiner<br />
LEHRERIN!“ Ron schien froh zu sein, Hermine einmal mit Recht<br />
widersprechen zu können.<br />
„Ist <strong>doc</strong>h egal, jetzt sollten wir erst einmal zum Essen. Dabei<br />
können du <strong>und</strong> Hermine eine hitzige Diskussion über den neuen Lehrer<br />
anfangen, vielleicht erbarmt sich einer der Mitglieder <strong>und</strong> sagt uns, wer<br />
es wird.“<br />
„Träum weiter“, knurrte Ron. „Ich befürchte ganz stark, Dad wendet<br />
seit neuestem eine Art von Okklumentik gegen mich an, wann immer ich<br />
ihn nach dem Orden fragen will, zumindest seitdem ich erwähnt habe,<br />
<strong>das</strong>s du mir von Legilimentik erzählt hast. Vermutlich glaubt er, ich würde<br />
versuchen, seine Gedanken zu lesen. Als ob <strong>das</strong> was bringen würde. Er<br />
49
ist manchmal so durcheinander wegen seiner vielen Arbeit, <strong>das</strong>s ich<br />
wohl Kryptologe sein müsste, um in seinen Gedanken etwas Sinnvolles<br />
zu finden.“<br />
„Fred, George!“, rief Molly Weasley, als schon zum wiederholten<br />
Male eine Ansammlung von Besteck durch die dämmrige Küche flog,<br />
den langen, abgenutzten Holztisch überquerte, wobei ein Messer ein<br />
Stückchen der geblümten Tischdecke mitnahm, <strong>und</strong> schließlich mit<br />
Unheil verkündendem Klirren einen Zentimeter neben Lupins Kopf an die<br />
Wand knallte. George hob entschuldigend die Hände <strong>und</strong> lief los, um<br />
Lupin zu helfen, die Messer <strong>und</strong> Gabeln wieder einzusammeln. Seine<br />
Mutter kam mit einem unmissverständlichen Gesicht <strong>auf</strong> ihn zu.<br />
„Was denkt ihr euch nur dabei! Das ist bereits <strong>das</strong> dritte Mal heute<br />
Abend, <strong>das</strong>s ihr eure Zauberkraft nicht unter Kontrolle habt! Wenn <strong>das</strong><br />
noch einmal passiert, verbiete ich euch, im Haus zu zaubern, ich weiß<br />
schon, wieso ich vor einem Jahr dafür gestimmt habe, <strong>das</strong> Verbot der<br />
Zauberei Minderjähriger <strong>auf</strong> 18 Jahre zu erhöhen, aber es wollte<br />
niemand <strong>auf</strong> mich hören. Ja, der Minister hat ja auch keine Kinder in<br />
diesem Alter, da muss er sich schließlich nur Gedanken machen über<br />
die zusätzlichen Galeonen, die eine Ausweitung des Verbots erfordern<br />
würde.“ Sie schnappte Fred die Messer aus der Hand <strong>und</strong> legte sie<br />
unnötig heftig <strong>auf</strong> den Tisch, von welchem sie anschließend mit einem<br />
kurzen Wink ihres Zauberstabes die Krümel wischte.<br />
„Sorry, mir muss der Zauberstab ausgerutscht sein“, flüsterte<br />
George leise genug zu Lupin, so<strong>das</strong>s ihn seine Mutter nicht hören<br />
konnte. „Du hast <strong>doc</strong>h nichts abgekommen, oder?“, wollte er besorgt<br />
wissen.<br />
Lupin schüttelte stumm den Kopf <strong>und</strong> machte ohnehin den<br />
Eindruck, als sei er mit den Gedanken in einer anderen Welt. Seit<br />
einigen Wochen schon zog er sich immer mehr <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> war ständig<br />
damit beschäftig, Aufträge für den Orden zu erledigen oder die<br />
beschafften Informationen auszuwerten. Er bewies zweifellos am besten<br />
von ihnen allen, wie sehr der Kampf gegen Voldemort zu einer<br />
erdrückenden Last werden konnte, von der niemand zu sagen wusste,<br />
wann sie eine Grenze überschreiten würde.<br />
„Du solltest dringend Urlaub machen“, startete George den<br />
halbherzigen Versuch eines Scherzes <strong>und</strong> begab sich nun ans andere<br />
Ende der Küche, wo <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine damit beschäftigt waren,<br />
einen Kartoffel<strong>auf</strong>l<strong>auf</strong> zuzubereiten, natürlich gänzlich ohne Zauberkraft.<br />
Ron fluchte laut, als er sich mit dem Messer in den Finger schnitt,<br />
wor<strong>auf</strong>hin eine etwas gestresst wirkende Tonks, die am Waschbecken<br />
nebenan Tomaten wusch, einen Heilzauber in seine Richtung schickte.<br />
Ihre Miene sagte aus, <strong>das</strong>s sie <strong>das</strong> nicht zum ersten Mal an diesem<br />
Abend tat.<br />
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„Du darfst <strong>das</strong> Messer nicht von dir wegführen, sondern <strong>auf</strong> dich<br />
zu“, wies Hermine Ron ungeduldig an <strong>und</strong> nahm ihm zu<br />
Vorführungszwecken die Kartoffel aus der Hand. „In etwa so“, meinte sie<br />
<strong>und</strong> fabrizierte in sek<strong>und</strong>enschnelle einen erklecklichen H<strong>auf</strong>en Schale.<br />
„Wieso müssen wir alles <strong>auf</strong> Muggelart tun“, murrte Ron <strong>und</strong> sah<br />
neidisch zu Fred <strong>und</strong> George hinüber, die gerade mit Hilfe ihrer<br />
Zauberstäbe den Boden kehrten. „Ein Zauberspruch, <strong>und</strong> sie könnten<br />
uns die Hälfte der Arbeit abnehmen!“<br />
„Und uns dabei wahrscheinlich mit dem Kartoffelmesser töten“,<br />
grinste <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> machte einen waghalsigen Sprung, um dem wie<br />
verrückt herumrasenden Besen zu entkommen, der ihn zu Boden zu<br />
reißen drohte.<br />
„Außerdem“, fügte Hermine mit einem leicht überlegenen Ton an,<br />
„ist es auch für Zauberer wichtig, elementare Dinge des täglichen<br />
Lebens ohne Zauberstab schnell <strong>und</strong> effizient meistern zu können.<br />
Jedenfalls könnte ich mir nicht vorstellen, später mit einem Mann zu<br />
leben, der Dinge wie Kartoffeln schälen, Betten machen oder Knöpfe<br />
annähen nicht selbst beherrscht.“ Sie wandte sich zufrieden ihrem<br />
großen Eimer geschälter Kartoffeln zu <strong>und</strong> griff sich die Möhren.<br />
Ron schien mit dieser Meinung ganz <strong>und</strong> gar nicht einverstanden<br />
zu sein, packte aber wieder sein Messer, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> kam es in den<br />
nächsten Minuten so vor, als wolle er angestrengt beweisen, <strong>das</strong>s er<br />
<strong>doc</strong>h ganz gut im Kartoffelschälen war.<br />
„In Ordnung, ich übernehme <strong>das</strong> jetzt“, rief Mrs. Weasley <strong>und</strong> nahm<br />
<strong>Harry</strong> die Zwiebeln ab. „Vielleicht könnt ihr drei in der Zwischenzeit die<br />
Teller rausstellen, Ron, sie müssten in der zweiten Schublade von links<br />
unten sein … Hermine, die Gläser habe ich zuletzt im dritten Fach neben<br />
der Spüle gesehen, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong>, Mad-Eye hat vor einigen Tagen eine<br />
neue Ladung Butterbier aus der Winkelgasse mitgebracht … wo hat er<br />
<strong>das</strong> gleich hingestellt? Dort hinten im Vorratsschrank? Nein? Dann siehe<br />
bitte an der Kellertreppe nach, gleich die Tür hoch rechts den Gang<br />
entlang. Und Fred, hole <strong>doc</strong>h aus dem Schrank neue Abfalleimer, die<br />
alten sind voll, die kannst du gleich rausbringen, George. Remus,<br />
schaffe bitte die Pergamente von unserer heutigen Besprechung vom<br />
Tisch, Ginny verrenkt sich seit drei Minuten den Hals, um sie lesen zu<br />
können. Und wo wir gleich dabei sind, Ginny, kannst du bitte nachsehen,<br />
wo ich den Wischeimer gelassen habe? Und Tonks, dort hat Ron<br />
Kartoffelschalen fallen gelassen, aber ich muss jetzt den Aufl<strong>auf</strong><br />
zusammenschichten …“<br />
„So geht <strong>das</strong> seit Wochen“, stöhnte Ron leise zu <strong>Harry</strong>, während<br />
die beiden die Teller <strong>auf</strong> den Tisch stellen (sie mussten neu sein, denn<br />
es klebten noch Etiketten dr<strong>auf</strong>, die besagten: Unzerstörbar – fügen sich<br />
nach Zerbrechen selbst wieder zusammen <strong>und</strong> Nicht waschen –<br />
51
eingebauter Selbstreinigungszauber über Nacht). „Ständig verteilt sie<br />
Aufgaben, man möchte gar nicht meinen, <strong>das</strong>s ein Haus wie dieses so<br />
viele Arbeit bereitet … Ich glaube langsam, sie beschäftigt uns nur<br />
deswegen, damit wir nicht so oft nach der Tätigkeit des Ordens fragen.“<br />
<strong>Harry</strong> sah sich in der vollen Küche um <strong>und</strong> bezweifelte, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
Bewirten <strong>und</strong> Beherbergen von bestimmt anderthalb Dutzend zumindest<br />
zeitweise Gäste wenig Arbeit machte.<br />
„Immerhin unterstützt sie den Orden doppelt“, meinte er zu Ron.<br />
„Sie beteiligt sich an der Beschattung der Todesser <strong>und</strong> gleichzeitig hält<br />
sie mit euch <strong>das</strong> Haus in Stand. Kein W<strong>und</strong>er, <strong>das</strong>s sie immer unter<br />
Stress steht.“ Er bew<strong>und</strong>erte Mrs. Weasley dafür, wie selbstverständlich<br />
sie nicht nur ihre Familie, sondern auch den ganzen Orden quasi<br />
versorgte.<br />
„Nein, sicher nicht“, brummte Ron, der anscheinend so noch nicht<br />
über seine Mutter nachgedachte hatte.<br />
„Stell die Malfoys Eltern vor“, überlegte <strong>Harry</strong>. „Sie verbringen<br />
bestimmt den ganzen Tag in ihrem Herrensitz <strong>und</strong> warten dar<strong>auf</strong>, <strong>das</strong>s<br />
einer ihrer Todesserfre<strong>und</strong>e vorbeikommt <strong>und</strong> Nachricht von Voldemort<br />
bringt.“ Wie üblich ignorierte er Rons Zusammenzucken bei der<br />
Erwähnung des Namens des bösesten Zauberers aller Zeiten.<br />
„Ehrlich gesagt könnte ich mir meine Zeit besser damit vertreiben,<br />
als Freudensprünge zu machen, nur weil ich Voldemort Pläne ausführen<br />
darf. Ich für meinen Teil bin eher dafür, sie zu vereiteln.“<br />
„Wer redet hier von Vereiteln?“, fragte Tonks <strong>und</strong> klemmte sich<br />
zwischen Ron <strong>und</strong> <strong>Harry</strong>. „So schwierig kann es <strong>doc</strong>h nicht sein, ein paar<br />
Teller hinzustellen, oder?“, grinste sie die beiden an <strong>und</strong> ging nun <strong>das</strong><br />
Butterbier holen, da <strong>Harry</strong> keine Anstalten dazu gemacht hatte.<br />
Ein paar Minuten später saßen alle zu Tisch (der Aufl<strong>auf</strong> hatte sich<br />
per Handumdrehen selbst gekocht, nachdem Mrs. Weasley in einem<br />
dicken, gebrauchten Buch namens Kleine <strong>und</strong> Große Zauber für kleine<br />
<strong>und</strong> große Mahlzeiten einen Zauberspruch nachgeschlagen hatte) <strong>und</strong><br />
sch<strong>auf</strong>elten sich Berge von Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln <strong>und</strong><br />
Hackfleisch <strong>auf</strong> ihre Teller. Ron war eifrig dabei, seine erste Portion zu<br />
vernichten, kopfschüttelnd betrachtet von Hermine, welche gerade erst<br />
ihre erste Gabel nahm.<br />
„Ah, tut <strong>das</strong> gut“, seufzte Mr. Weasley zwischen zwei Bissen. Er<br />
war erst vor wenigen Augeblicken in die Küche gekommen, ins Haus<br />
gelassen von Tonks, die vor lauter Hilfsbereitschaft mal wieder den<br />
Trollfußständer umgestoßen hatte <strong>und</strong> damit Mrs. Black zu neuen<br />
Schimpftiraden eingeladen hatte. Inmitten von schmeichelnden<br />
Ausdrücken wie „Blutsverräter im Haus meiner Ahnen, welchen Anblick<br />
muss ich ertragen …“ war er freudestrahlend in die Küche geplatzt <strong>und</strong><br />
war seiner Frau in die Arme gefallen.<br />
52
„Wir haben ihn, wir haben ihn ertappt“, hatte er einige Male in jede<br />
Richtung gerufen, bis er <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine erblickt hatte, die vor<br />
Neugier keine Bewegung mehr getan hatten. Ron hätte beinahe die<br />
Aufl<strong>auf</strong>form fallen gelassen, nur ein vorwurfsvoll gemurmelter<br />
Schwebezauber Hermines hatte Mrs. Weasleys Werk vor einem<br />
unfreiwilligen Ausflug <strong>auf</strong> den Küchenboden bewahrt.<br />
„Oh“, hatte sich Mrs. Weasley dar<strong>auf</strong>hin überrascht <strong>auf</strong> einen Stuhl<br />
gesetzt. „Ich wusste nicht, <strong>das</strong>s ihr auch im Raum seid.“ Er hatte sich<br />
einen Teller <strong>und</strong> von Ron die Aufl<strong>auf</strong>form gepackt <strong>und</strong> füllte sich nun<br />
auch Essen <strong>auf</strong>.<br />
Nun wandte er sich nach dem ersten gestillten Hunger an <strong>Harry</strong>.<br />
„Hallo <strong>Harry</strong>, schön, dich auch endlich hier zu haben. Molly hat mich die<br />
letzten Tage gar nicht mehr losgelassen mit ihren Befürchtungen, wie<br />
wenig du bei den Muggeln zu Essen bekommst.“ Er zwinkerte <strong>Harry</strong> zu.<br />
„Wo wir schon beim Thema sind, du musste mir bei etwas wirklich<br />
Verzwicktem helfen. Ich bin vor einiger Zeit in einem Muggelhaushalt <strong>auf</strong><br />
<strong>das</strong> hier gestoßen –“ Er wühlte für ein paar Minuten in seiner Tasche <strong>und</strong><br />
beförderte eine CD <strong>auf</strong> den Tisch. „Mein Kollege <strong>und</strong> ich grübeln seit<br />
Tagen nach, womit wir es hiermit zu tun haben. Womöglich sind<br />
irgendwelche komplizierten Mechanismen damit verb<strong>und</strong>en, die diese<br />
Scheibe zum Leben erwecken, die Muggel haben ja einiger erstaunliche<br />
Dinge erf<strong>und</strong>en. Weißt du, was <strong>das</strong> ist?“, fragte er <strong>Harry</strong> nun<br />
erwartungsfroh.<br />
„Das ist eine CD“, sagte <strong>Harry</strong> schnell, als er Mrs. Weasleys<br />
unheilvollen Blick <strong>auf</strong> sich spürte. Die Vernarrtheit ihres Mannes in<br />
Muggelsachen stieß bei ihr <strong>auf</strong> wenig Gegenliebe.<br />
„Eine CD!“, rief Mr. Weasley verzückt <strong>und</strong> strahlte die kleine<br />
Silberscheibe an. „Davon habe ich schon einmal gehört! Molly, <strong>das</strong> sind<br />
diese Dinger, die Muggel in ihre Pomcuter tun, um ihre Gedanken darin<br />
zu speichern. Wie eine Art Denkarium!“<br />
„Sehr schön, <strong>und</strong> nun tu <strong>das</strong> platte Denkarium weg“, knurrte Moody<br />
vom anderen Tischende aus. „Erzähle uns von Fudge.“<br />
Stille trat am Tisch ein.<br />
„Fudge?“, presste <strong>Harry</strong> perplex heraus <strong>und</strong> würgte einen Bissen<br />
Kartoffeln herunter.<br />
„Mad-Eye, nicht jetzt“, zischte Mrs. Weasley <strong>und</strong> sah zu <strong>Harry</strong>, Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine. Aber <strong>Harry</strong> hatte genug.<br />
„Was den Orden angeht, wollte ich sowieso mit euch reden“,<br />
meinte er <strong>auf</strong>geregt. „Ich bin mittlerweile alt genug, um zu entscheiden,<br />
was ich tun will <strong>und</strong> wem ich angehören will. Und Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
ebenfalls“, fügte er an.<br />
„Nein, seid ihr nicht“, entgegnete Mrs. Weasley entschlossen <strong>und</strong><br />
knallte ihr Besteck <strong>auf</strong> die Tischdecke, <strong>das</strong>s Hackfleischbrocken hinüber<br />
53
zu Lupin flogen. Anscheinend gab es die Diskussion nicht zum ersten<br />
Mal.<br />
„Molly“, warf Mr. Weasley ein, duckte sich aber schnell unter einer<br />
weiteren Attacke von Kartoffel<strong>auf</strong>l<strong>auf</strong>, als seine Frau demonstrativ mit<br />
ihrer Gabel <strong>auf</strong> ihn zeigte.<br />
„Fang nicht wieder mit deinen Argumenten an, die drei wüssten,<br />
<strong>auf</strong> was sie sich einlassen! Darüber waren wir uns einig, also lasst uns<br />
<strong>das</strong> Thema vergessen <strong>und</strong> <strong>auf</strong>essen!“ Erregt ließ sie sich in ihren Stuhl<br />
<strong>zur</strong>ückfallen.<br />
„Wir waren übereingekommen, die drei ihre eigene Meinung<br />
verlauten zu lassen <strong>und</strong> dann im Orden zu diskutieren, wie wir weiter<br />
vorgehen“, erinnerte sie Moody vorsichtig.<br />
„Das kann nicht euer Ernst sein!“ Mrs. Weasley sprang nun von<br />
ihrem Stuhl <strong>auf</strong> <strong>und</strong> konnte nur durch ihren Mann dazu bewegt werden,<br />
sich wieder zu setzen.<br />
„Es wäre <strong>das</strong> Beste, erst einmal zu schauen, was sie von der<br />
Sache halten, Molly“, erklärte Lupin <strong>und</strong> wandte sich an <strong>Harry</strong>.<br />
„Ich wisst sicherlich, was die Aufgaben des Ordens sind <strong>und</strong><br />
welche Ziele er verfolgt?“, fragte er mit angespannter Miene.<br />
„Voldemort <strong>und</strong> seine Todesser beschatten <strong>und</strong> ihre Pläne<br />
ausspionieren“, antwortete <strong>Harry</strong> prompt.<br />
„Oh, <strong>das</strong> ist richtig, nur leider bloß ein Teil der gesamten Arbeit“,<br />
meinte Lupin <strong>und</strong> klang wie damals, als er noch Lehrer war – als hätte<br />
<strong>Harry</strong> eine Haus<strong>auf</strong>gabenfrage nur zum Teil lösen können.<br />
Ron starrte ihn mit offenen Augen an, entschlossen, sich kein Wort<br />
entgehen zu lassen. Hermines Ausdruck ließ eher dr<strong>auf</strong> schließen, <strong>das</strong>s<br />
sie sich schon selbst alles erklärt hätte.<br />
„Nun, natürlich gehört es zu den gr<strong>und</strong>legenden Dingen des<br />
Phönixordens, die schwarzen Magier r<strong>und</strong> um den dunklen Lord zu<br />
beobachten <strong>und</strong> stets über ihre Vorhaben informiert zu sein. Obwohl <strong>das</strong><br />
Zaubereiministerium nach den Vorfällen in der Mysteriumsabteilung wohl<br />
informiert ist von der Rückkehr Voldemorts, macht es keine Anstalten,<br />
etwas gegen ihn zu unternehmen. Vielmehr diskutiert es seit Monaten,<br />
wer Schuld an dem Desaster in seinem Gebäude hat. Deswegen sind<br />
wir Ordensleute momentan die einzigen, die tatsächlich Zauberer in der<br />
Nähe Voldemorts haben – <strong>und</strong> wir sind <strong>auf</strong> uns allein gestellt, auch wenn<br />
<strong>das</strong> Ministerium uns keine Schwierigkeiten bereitet. Wir arbeiten mit<br />
einigen seiner Auroren zusammen <strong>und</strong> nutzen seine Sicherheitssysteme<br />
sowie die Überwachungsmöglichkeiten. Nicht, <strong>das</strong>s uns <strong>das</strong> viel bringen<br />
täte. Wenn <strong>das</strong> Ministerium mittels seiner Techniken schwarzmagische<br />
Tätigkeiten <strong>auf</strong>spüren könnte, hätte es nicht ein Jahr gebraucht, um von<br />
Voldemorts Rückkehr zu erfahren“, stieß er bitter hervor.<br />
„Der Orden kümmert sich aber auch um potentielle Todesser-<br />
Opfer. Ihr müsst wissen, <strong>das</strong>s Voldemort seinen Gefolgsleuten die<br />
54
Anweisung gegeben hat, möglichst viele Ministeriumsmitarbeiter mittels<br />
des Imperius-Fluches gefügig zu machen. Sie fangen Zauberer <strong>und</strong><br />
Hexen einfach <strong>auf</strong> dem Weg <strong>zur</strong> Arbeit ab <strong>und</strong> belegen sie mit dem<br />
Fluch. Auf die Art <strong>und</strong> Weise möchte Voldemort <strong>das</strong> Ministerium<br />
unterwandern. Stellt euch nur vor, der Zaubereiminister lässt verlauten,<br />
Voldemort sei in einem fernen Land <strong>und</strong> die Lage sei unter Kontrolle –<br />
während er in Wirklichkeit bereits an eure Tür klopft <strong>und</strong> eure Treue<br />
verlangt, weil der Minister eine seiner Marionetten ist. Das wollen wir<br />
verhindern.“<br />
„Und Fudge ist unter den Befehl Voldemorts gefallen“, meinte<br />
Hermine leise <strong>und</strong> sah Lupin angsterfüllt an.<br />
„Ja. Wir befürchten es seit einigen Tagen, aber erst heute ist es<br />
Arthur anscheinend gelungen, einen Beweis zu erbringen.“ Fragend<br />
schaute Lupin zu Mr. Weasley.<br />
„Habe ihn beobachtet, wie er sich mit Dawlish getroffen hat“,<br />
meinte Mr. Weasley beschwingt <strong>und</strong> nahm sein Butterbier in die Hand.<br />
„Bin sogleich <strong>zur</strong> Aufsichtsbehörde gegangen, die haben es nach einer<br />
Untersuchung von Fudge bestätigt: Er steht unter dem Fluch. Die<br />
Todesser wissen nichts von unserer Entdeckung, <strong>und</strong> ich habe<br />
Scrimgeour dazu bringen können, selbst einen Imperius über Fudge zu<br />
sprechen. In den nächsten Tagen sind interessante Informationen von<br />
Treffen zwischen Fudge mit Todessern zu erwarten. Nun sind wir am<br />
Drücker!“<br />
„Das sind mal gute Nachrichten“, rief Moody, <strong>und</strong> plötzlich um<br />
einiges fröhlicher als zuvor. „Ein echter Erfolg!“<br />
„Schon“, meinte Lupin, sah aber nicht sehr begeistert aus. „Doch<br />
Voldemorts Leute haben noch viel mehr Ministeriumsarbeiter unter<br />
Kontrolle. Fudge war nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt Gerüchte, <strong>das</strong>s<br />
die Leiterin des Transportwesens vorgestern von Crabbe verhext worden<br />
ist. Damit müssen wir ab jetzt alle öffentlichen Kommunikationswege<br />
meiden.“<br />
„Das heißt dann also weiter mit den Patroni-Nachrichten“, seufzte<br />
Mrs. Weasley.<br />
„Was für Patroni?“, wollte <strong>Harry</strong> atemlos wissen. Was hatten die<br />
Schutzzauber, welche die Form von Tieren annahmen, mit dem<br />
Phönixorden zu tun?<br />
„Wir verwenden den Patronuszauber, um miteinander zu<br />
kommunizieren“, erklärte Lupin. „Jeder Patronus ist einzigartig <strong>und</strong> kann<br />
nicht imitiert werden. So entgehen wir der Gefahr, <strong>das</strong>s jemand uns eine<br />
gefälschte Nachricht übermitteln möchte – zum Beispiel Todesser. Die<br />
meisten von ihnen beherrschen den Zauber gar nicht, wozu auch? Vor<br />
Dementoren müssen sie sich nicht fürchten, wo sie <strong>doc</strong>h ihren Herren<br />
bereitwillig folgen. Arthur hier – sein Tier ist ein Wiesel. Und Moody<br />
erkennen wir an seinem Adler – ich selbst erschaffe eine Hyäne.“<br />
55
„Cool“, ließ Ron beeindruckt hören. „Ich habe nie überhaupt einen<br />
gestaltlichen Patronus hinbekommen – na ja, während der DA-<br />
Übungsst<strong>und</strong>en ist da einmal etwas Haariges mit vier Beinen<br />
herumgesprungen, aber einer bestimmten Tierart konnte ich es nicht<br />
zuordnen.“<br />
„Keine Angst, keiner hier verlangt von euch, <strong>das</strong>s ihr euch durch<br />
euren Patronus ausweist“, lachte Lupin. Hermine verzog <strong>das</strong> Gesicht,<br />
wahrscheinlich wäre sie ganz wild dar<strong>auf</strong> gewesen, ihren vorzüglichen<br />
Otter präsentieren zu dürfen, <strong>und</strong> auch Ginny mit ihrem Einhorn musste<br />
sich nicht verstecken. Die Zwillinge hatten zwar in der DA einige<br />
Probleme mit ihrem Delfinpaar offenbart, aber <strong>zur</strong> Not hielt <strong>Harry</strong> sie<br />
dazu in der Lage, mit ihren Patroni zu arbeiten.<br />
Halt, was machst du da, schimpfte er sich. Du bist jetzt nicht in der<br />
DA, <strong>und</strong> was soll <strong>das</strong> ganze Gerede von Patroni überhaupt, der Orden<br />
denkt <strong>doc</strong>h gar nicht daran, dich <strong>auf</strong>zunehmen … Oder?<br />
„Aber wenn ihr im Orden mitmachen wollt“ – Lupin überging<br />
geflissentlich ein empörtes Schnauben von Mrs. Weasley – „so würdet<br />
ihr ohnehin nur an den Sitzungen teilnehmen, <strong>und</strong> keine Aufträge<br />
übernehmen. Demnach bräuchtet ihr keine Patroni zu verwenden.“<br />
„Im Orden mitmachen?“, fragte Ron ungläubig.<br />
Lupin nickte. „Wir alle“ – ein kurzer Blick <strong>auf</strong> Mrs. Weasley, die<br />
heftig den Kopf schüttelte – „denken, <strong>das</strong>s ihr alt genug seid, um zu<br />
erfahren, was vor sich geht. Immerhin habt ihr schon mehrere Male<br />
gegen Voldemort gekämpft, vermutlich öfter als wir, so wie ich <strong>das</strong> sehe.<br />
In meinen Augen gibt es keinen Gr<strong>und</strong>, vor euch Geheimnisse haben zu<br />
müssen. Womöglich bringen wir euch <strong>und</strong> besonders <strong>Harry</strong> noch mehr in<br />
Gefahr, wenn ihr unwissend bleibt.“<br />
Der letzte Satz war nicht zum geringen Teil an Mrs. Weasley<br />
gerichtet.<br />
„Aber sie sind noch Kinder!“, rief sie <strong>und</strong> sah Lupin flehend an. „Es<br />
ist noch zu früh, sie in einen Kampf hineinzuziehen –“<br />
„Wir sind längst ein Teil des Kampfes, ob es uns oder Ihnen gefällt<br />
oder nicht“, fiel ihr <strong>Harry</strong> ins Wort. Vermutlich widersprach er Mrs.<br />
Weasley <strong>das</strong> erste Mal in seinem Leben, aber ihre überzogene Vorsicht<br />
ging ihm ein wenig <strong>auf</strong> die Nerven. Wie konnte sie nur annehmen, <strong>das</strong>s<br />
der Beschluss, ihn, Ron, Hermine <strong>und</strong> die anderen Weasleys aus dem<br />
Orden auszuschließen auch bedeuten würde, sie vor der Gefahr zu<br />
beschützen, welche von den Todessern <strong>und</strong> Voldemort ausging wie eine<br />
dunkle Wolke, die <strong>das</strong> ganze Land verpestete? Es war längst zu spät für<br />
sie <strong>und</strong> alle anderen Zauberer, um sich in eine stille Ecke<br />
<strong>zur</strong>ückzuziehen <strong>und</strong> dar<strong>auf</strong> zu warten, <strong>das</strong>s alles sich von alleine lösen<br />
würde. Denn soviel zumindest hatte <strong>Harry</strong> in den vergangenen Jahren<br />
gelernt: Man musste für sein Leben kämpfen, nicht anderen die Schlacht<br />
überlasen.<br />
56
„Ihr könnt <strong>doc</strong>h gar nicht wissen, <strong>auf</strong> was ihr euch einlasst“,<br />
flüsterte sie nun <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> eindringlich an. „Das ist kein Spiel,<br />
sondern bitterer Ernst! Viele vom Orden haben ihr Leben verloren, als<br />
sie gegen Todesser gekämpft haben, niemand kann von euch erwarten,<br />
<strong>das</strong>s ihr versteht, welche Verantwortung <strong>und</strong> Wagnisse ihr eingeht, wenn<br />
ihr euch dem Orden anschließt!“<br />
„Mum, wir wissen sehr wohl, <strong>das</strong>s Du-Weißt-Schon-Wer uns töten<br />
würde, wenn er die Möglichkeit dazu hätte, <strong>das</strong> hat er uns zusammen mit<br />
seinen Ergebenen im Ministerium zu deutlich gemacht! Und auch, als er<br />
<strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> diesem Friedhof ermorden wollte, oder als er Ginny in die<br />
Kammer des Schreckens gelockt hat, oder als er Quirrell <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong><br />
angesetzt hat, oder … Nein, wir wissen GANZ GENAU, was uns<br />
erwartet!“, startete Ron den ersten Versuch einer kleinen Rede, während<br />
derer er immer lauter wurde. „Erzähl du uns nichts von Spiel!“<br />
Mrs. Weasley sah eine Weile lang so aus, als würde sie Ron für<br />
seine Aufmüpfigkeit anfahren wollen, dann aber sank sie in ihrem Stuhl<br />
zusammen.<br />
„Nein, du hast Recht“, flüsterte sie mit einem geschlagenen<br />
Ausdruck <strong>auf</strong> dem Gesicht so verloren, <strong>das</strong>s sie <strong>Harry</strong> sofort wieder leid<br />
tat, genauso anscheinend wie Hermine, die wohl am liebsten zu ihr<br />
hinüber gel<strong>auf</strong>en wäre <strong>und</strong> sie getröstet hätte.<br />
„Ihr seid schon so lange <strong>das</strong> Ziel der Todesser, <strong>das</strong>s ich es wohl<br />
einfach nicht wahrhaben wollte.“<br />
„Dann ist es also beschlossen“, erklang Moodys tiefe Stimme nun<br />
in der großen Küche. „Die vier sind offiziell Mitglieder des Ordens.“<br />
„Endkrass“, hauchte Ron <strong>und</strong> tunkte seine Gabel verzückt in sein<br />
Butterbier. Hermine strahlte über <strong>das</strong> ganze Gesicht, nicht ohne eine<br />
Spur Tatendrang bemerken zu lassen, Ginny am anderen Ende des<br />
Tisches anlächelnd. <strong>Harry</strong> war einfach dankbar, <strong>das</strong>s der Orden ihn <strong>und</strong><br />
die anderen endlich als vollwertig akzeptiert hatte, ihnen erlaubte, auch<br />
offiziell <strong>das</strong> zu tun, was sie ohnehin, aber mit mehr Schwierigkeiten<br />
getan hatten: Gegen Voldemort kämpfen.<br />
57
KAPITEL VIER<br />
Hermines Paradies<br />
Glücklich ging <strong>Harry</strong> hinter Ron <strong>und</strong> Hermine die Treppe hin<strong>auf</strong> in<br />
<strong>das</strong> Schlafzimmer. Er war satt <strong>und</strong> außerordentlich zufrieden, endlich<br />
wieder in der Zaubererwelt zu sein. Nicht einmal der trotz der neuen,<br />
fre<strong>und</strong>lichen Bilder immer noch düstere Treppen<strong>auf</strong>gang, noch <strong>das</strong><br />
unheilvolle Schweigen des alten Hauses, welches lauernde mögliche<br />
Gefahren in bisher vom Orden unerforschten Ecken androhte, oder Ron<br />
<strong>und</strong> Hermines neuerliches Gekabbel (er hatte beleidigt reagiert, als sie<br />
nicht eingewilligt hatte, ihn ihre Verwandlungshaus<strong>auf</strong>gaben anschauen<br />
zu lassen) hielten ihn davon ab, <strong>das</strong> erste Mal seit Wochen so etwas wie<br />
andauerndes Glück zu empfinden.<br />
Leise schloss er die Tür hinter ihnen, von weitem <strong>das</strong> geschäftige<br />
Tun derjenigen Ordensmitglieder im Ohr, welche im Haus übernachteten<br />
<strong>und</strong> sich nun von der Küche in ihre Zimmer <strong>zur</strong>ückzogen. Zusammen mit<br />
Ron, der sein Streitgespräch mit Hermine dermaßen beendet hatte, <strong>das</strong>s<br />
sie ihm bei einigen Verwandlungsfragen Rat geben würde, setzte er sich<br />
<strong>auf</strong> eines der Betten, Hermine nahm ihnen gegenüber Platz.<br />
„Das war ziemlich cool heute“, strahlte Ron <strong>und</strong> lenkte damit die<br />
Aufmerksamkeit wieder <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Thema, <strong>das</strong> sie alle während des<br />
restlichen Abendessens nicht mehr losgelassen hatte. „Unser erster<br />
Ordens<strong>auf</strong>trag wurde mit Bravour abgeschlossen (dabei schaute er so<br />
stolz in die Gegend, als hätte er <strong>Harry</strong> ganz allein vom Ligusterweg<br />
abgeholt), <strong>und</strong> kurz dar<strong>auf</strong> sind wir zu Mitgliedern erklärt worden“, sagte<br />
er in andächtigem, feierlichem Ton. „Ich frage mich, wieso sie Ginny<br />
ebenfalls zugelassen haben, schließlich ist sie ein Jahr jünger als wir.“<br />
„Weil deine Mum ganz genau weiß, <strong>das</strong>s wir ihr ohnehin alles<br />
erzählen“, gähnte Hermine. Sie wollte Rons Begeisterung für die<br />
Aufnahme in den Orden nicht ganz teilen, sondern machte eher ein<br />
skeptisches Gesicht, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> nichts Gutes verhieß.<br />
58
„Was hast du, Hermine?“, fragte er. „Freut es dich nicht, im Orden<br />
zu sein?“<br />
„Oh <strong>doc</strong>h“, meinte sie hastig. „So kommen wir problemlos an die<br />
Informationen, die wir sonst mit Mühe oder gar nicht herausgef<strong>und</strong>en<br />
hätten. Ich schätze, Rons Eltern, Lupin <strong>und</strong> Moody wissen nur zu gut,<br />
<strong>das</strong>s wir ihnen keine Ruhe lassen, wenn sie uns nicht mit zu den Treffen<br />
nehmen. Und es stimmt auch, <strong>das</strong>s wir womöglich geschützter sind,<br />
wenn wir wissen, was Voldemort plant. Schon beim dem Ausbruch<br />
Sirius` war ersichtlich, <strong>das</strong>s es uns in Gefahr gebracht hat, <strong>das</strong>s sie uns<br />
wesentliche Informationen verheimlicht haben. Aber bei der ganzen<br />
Euphorie“ – sie warf einen strengen Blick in Richtung Ron, der selig sein<br />
Vertrauensschülerabzeichen betrachtete <strong>und</strong> offensichtlich darüber<br />
nachzudenken schien, ob <strong>das</strong> Wort „Ordensmitglied“ noch dar<strong>auf</strong> passte<br />
– „dürfen wir nicht so töricht sein <strong>und</strong> annehmen, <strong>das</strong>s wir nun behandelt<br />
werden wie die anderen vom Orden. Dumbledore hat uns nur<br />
hineingelassen, um uns ein kleines Zugeständnis zu machen, nicht, um<br />
Unterstützung für die Ordensarbeit zu bekommen.“<br />
„Was meinst du damit?“, empörte sich Ron.<br />
„Zum Beispiel, <strong>das</strong>s du mit Sicherheit nicht mit <strong>auf</strong> eine Todesser-<br />
Beschattungsaktion mitgenommen wirst“, stichelte Hermine <strong>und</strong> blickte<br />
<strong>auf</strong> sein Vertrauensschülerabzeichen. „Es sei denn, sie brauchen<br />
jemanden, der Voldemort Hauspunkte abzieht –“<br />
„Jetzt fangt nicht schon wieder an zu streiten“, rief <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
würgte Ron ab, der sich anschickte, Hermine eine wüste Antwort zu<br />
geben. „Ich denke auch, <strong>das</strong>s sie uns nur zu den Treffen lassen, aber<br />
nicht zu Aufgaben mitnehmen.“ Das Bedauern, welches er bei diesem<br />
Gedanken empfand, stand ihm wohl zu deutlich im Gesicht geschrieben,<br />
denn Hermine entgegnete:<br />
„Und damit haben sie Recht. Ihr habt euch darüber sicher nicht<br />
informiert, aber ich habe mir in den Ferien einmal die Anforderungen <strong>zur</strong><br />
Aurorenabschlussprüfung durchgelesen, <strong>und</strong> was dort für Zauber <strong>und</strong><br />
Flüche gefordert werden, ganz zu schweigen von Verwandlungen, ist<br />
enorm. Wir wissen davon nicht ein Zehntel, <strong>und</strong> <strong>das</strong> meiste davon auch<br />
nur, weil wir in der DA waren. Momentan ist <strong>das</strong> zu groß für uns. Es<br />
würde den Orden nur behindern, wenn wir ihn zu Einsätzen begleiten<br />
würden, <strong>und</strong> uns wahrscheinlich alle drei Minuten jemand <strong>das</strong> Leben<br />
retten müsste.“<br />
<strong>Harry</strong> wollte ihr widersprechen, aber sie fuhr fort. „Nein, <strong>Harry</strong>, ich<br />
weiß, was du sagen willst – <strong>und</strong> du hast Recht, <strong>das</strong>s wir etwas gegen<br />
Voldemort unternehmen müssen <strong>und</strong> du daran teilhaben möchtest, aber<br />
glaube mir: Es hilft niemandem, wenn wir dabei sterben, Dawlish davon<br />
abzuhalten, Fudge zu verzaubern.“ Sie sah ihn ernst an <strong>und</strong><br />
verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir sollten froh sein, wenigstens<br />
<strong>auf</strong> dem L<strong>auf</strong>enden gehalten zu werden. Überlegt <strong>doc</strong>h mal, wir könnten<br />
59
anderen Ordensmitgliedern nicht einmal Nachrichten übermitteln –<br />
unsere Patroni kommen nicht zuverlässig.“<br />
„Meiner nicht, deiner schon“, murrte Ron, der diesen Aspekt in<br />
seiner Freude, Mitglied des Ordens zu sein, ganz vergessen zu haben<br />
schien. „<strong>Harry</strong>, du musst allen DA-Leuten nächstes Schuljahr unbedingt<br />
einen gestaltlichen Patronus beibringen, sonst werden wir nie richtige<br />
Ordensmitglieder.“<br />
„Wieso benutzt der Orden eigentlich Patroni?“, fragte sich <strong>Harry</strong><br />
mehr für sich. „Ist es nicht riskant, <strong>das</strong>s jemand sie kopieren kann – “<br />
„Du hast Lupin gehört – sie können nicht imitiert werden“,<br />
entgegnete Hermine <strong>und</strong> lehnte sich vor. „Tatsächlich können Patroni<br />
nicht einmal von ihrem Erzeuger gefälscht werden. Niemand kann sich<br />
aussuchen, welche Gestalt sein Patronus annimmt. Er sagt etwas<br />
absolut Ehrliches <strong>und</strong> Wahres über seinen Zauberer aus. Entweder<br />
symbolisiert er eine Person, einen Gegenstand, einen Ort oder eine<br />
Fähigkeit, durch die sich der Zauberer besonders geschützt <strong>und</strong><br />
geborgen fühlt, oder er steht für etwas, bei dessen bloßen Gedanken der<br />
Zauberer Glück empfindet. Beides hilft gegen Dementoren, denn sowohl<br />
Sicherheit als auch Glück sind positive Gefühle.“<br />
„Du klingst, als hättest du ein Tonband in dir, <strong>das</strong> Lehrbücher<br />
gespeichert hat“, seufzte <strong>Harry</strong>, obwohl er diese Informationen über<br />
Patroni durchaus interessant fand.<br />
„Es ist aus einem Lehrbuch“, meinte Hermine leicht errötend. „Wir<br />
mussten <strong>doc</strong>h letztes Jahr in Verwandlung alles über Patroni auswendig<br />
lernen, wisst ihr noch?“<br />
„Hermine, wer von uns hat bei Umbridge irgendwas für den<br />
Unterricht getan“, grunzte Ron wohlig, während er sich <strong>auf</strong> dem Bett<br />
ausstreckte. Obwohl nach ihrer Aufnahme in den Orden keine weiteren<br />
Gespräche mehr geführt worden waren mit dem Verweis <strong>auf</strong> die nächste<br />
Versammlung in zwei oder drei Tagen, an der sie erstmals teilnehmen<br />
sollten, war es am Ende schon recht spät geworden.<br />
„Was machen eigentlich Slytherins, sie können <strong>doc</strong>h sicher gar<br />
keinen Patronus ausführen“, murmelte er schon halb schlafend.<br />
„Eben“, rief <strong>Harry</strong>. Natürlich war kein Slytherin Ordensmitglied –<br />
außer einem. „Was macht Snape?“<br />
„Auch er kann einen Patronus herbeizaubern“, stöhnte Hermine.<br />
„Hört <strong>doc</strong>h <strong>auf</strong> mit diesem Häuserquatsch. Wieso sollten Slytherins <strong>das</strong><br />
nicht können? Nicht alle von ihnen sind Todesser <strong>und</strong> müssen sich auch<br />
gegen Dementoren wehren können.“<br />
„He, woher weißt du, ob er einen Patronus kann?“, fragte <strong>Harry</strong>,<br />
der Rons nun einsetzendes leises Schnarchen ignorierte.<br />
„Weil ich ihn gesehen habe“, meinte Hermine. „Ron mag ja mehr<br />
damit beschäftigt sein, meine Verwandlungshaus<strong>auf</strong>gaben zu suchen,<br />
60
wenn ich nicht in meinem Zimmer bin, aber ich habe in den letzten<br />
Wochen den Orden sehr genau beobachtet – soweit <strong>das</strong> ging natürlich.“<br />
„Und?“, fragte <strong>Harry</strong> widerstrebend, konnte aber seine Neugier<br />
nicht ganz bezwingen. „Wie sieht Snapes Patronus aus?“<br />
„Na ja“, druckste Hermine rum. „Ich bin mir nicht ganz sicher, was<br />
es zu bedeuten hat.“<br />
„Ich auch nicht, solange du mir nichts sagst“, drängte sie <strong>Harry</strong>.<br />
„<strong>Harry</strong>, er ruft eine Hirschkuh herbei“, sagte Hermine <strong>und</strong> hatte<br />
einen etwas seltsamen Ausdruck <strong>auf</strong> ihrem Gesicht.<br />
„Eine Hirschkuh?“ <strong>Harry</strong> war so perplex, <strong>das</strong>s er zunächst nicht<br />
bemerkte, wie etwas gegen <strong>das</strong> Fenster klapperte.<br />
Erschrocken sprangen die beiden <strong>auf</strong> (Ron drehte sich <strong>auf</strong> dem<br />
Bett nur um <strong>und</strong> schnarchte weiter) <strong>und</strong> sahen angsterfüllt zu dem<br />
kleinen, von hölzernen Läden umrahmten Fenster, <strong>das</strong> trotz der Hitze<br />
geschlossen war.<br />
„Da ist jemand“, flüsterte Hermine <strong>und</strong> ging einen Schritt <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />
Fenster zu. <strong>Harry</strong> zog sie <strong>zur</strong>ück. „Nicht“, meinte er leise. „Was, wenn<br />
die Todesser <strong>das</strong> Haus gef<strong>und</strong>en haben?“<br />
„Niemand kann einen unter einem Fidelius-Zauber stehenden Ort<br />
finden“, beharrte Hermine. „Aber lass uns trotzdem Moody oder Lupin<br />
suchen –“ Sie wurden von einem leisen, aber empörten Schrei<br />
unterbrochen. Nach einem kurzen, unwillkürlichen Zusammenzucken<br />
lachte <strong>Harry</strong> laut <strong>auf</strong>.<br />
„Das ist Hedwig“, rief er <strong>und</strong> lief zu dem Fenster, um es zu öffnen<br />
<strong>und</strong> seine Schneeeule hineinzulassen. Sie machte einen leicht<br />
zerzausten Eindruck, als wäre sie weit geflogen, <strong>und</strong> flatterte nach einem<br />
fre<strong>und</strong>schaftlichen Biss in seinen Finger zu ihrem Käfig, den <strong>Harry</strong> schon<br />
bereit gestellt hatte, um ein wenig Wasser zu trinken.<br />
Hermine atmete aus <strong>und</strong> ließ sich wieder <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Bett sinken. „Das<br />
meine ich mit zu lange in diesem Haus eingesperrt zu sein“, stellte sie<br />
müde fest.<br />
Nach der ersten Freude, seine Eule wieder bei sich zu haben,<br />
verdüsterte <strong>Harry</strong>s Gesichtsausdruck erneut.<br />
„Wieso hat Snape einen Hirschkuh-Patronus?“, wollte er wissen.<br />
„Es beruhigt mich nicht, beinahe dieselbe Patronusgestalt zu besitzen<br />
wir Snape!“<br />
„Keine Ahnung, <strong>Harry</strong>“, meinte Hermine schulterzuckend, aber<br />
etwas in ihrer Stimme ließ <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>horchen.<br />
„Warte mal. Du weißt etwas darüber!“<br />
„Nichts, was viel aussagen muss“, entgegnete sie, wurde durch<br />
ihren Blick aber Lügen gestraft. „Weißt du, ich habe mich vor ein paar<br />
Tagen mit Lupin unterhalten. Er kann nicht so oft raus <strong>und</strong> Aufträge<br />
übernehmen, da die Leute Angst vor Werwölfen haben <strong>und</strong> bekannt ist,<br />
<strong>das</strong>s er einer ist. Deswegen ist er häufig in <strong>das</strong> Haus eingesperrt <strong>und</strong><br />
61
hatte Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten. Wir sind auch <strong>auf</strong> die<br />
Patroni gekommen, <strong>und</strong> er hat mir erzählt, welche Mitglieder welche<br />
Gestalten hervorbringen. <strong>Harry</strong>, die Hirschkuh hat schon einmal jemand<br />
im Orden benutzt. Deine Mutter.“<br />
„Meine – was?“, keuchte <strong>Harry</strong>.<br />
„Was natürlich Sinn macht“, klang Hermine nun sicherer, wie<br />
immer, wenn sie eigene Erkenntnisse anderen näher bringen wollte.<br />
„Deine Mutter fühlte sich durch deinen Vater geschützt <strong>und</strong> hat wohl<br />
auch Glück empf<strong>und</strong>en, wenn sie an ihn dachte – beide waren seit ihrem<br />
letzten Schuljahr ineinander verliebt. Da er einen Hirsch als Patronus<br />
<strong>und</strong> auch als Animagusform besaß, nahm ihrer den einer Hirschkuh an.<br />
Sie stand für deinen Vater. Oder, was auch möglich ist, der Patronus<br />
deines Vaters hat sich ihrem angepasst. Und dein Hirsch steht auch für<br />
ihn.“<br />
Das zumindest wusste <strong>Harry</strong>. Aber eines verstand er nicht.<br />
„Lupin sagt <strong>doc</strong>h, Patroni sind einzigartig“, meinte er verwirrt. „Aber<br />
dann hat es <strong>doc</strong>h zwei Mal denselben gegeben – von meiner Mutter <strong>und</strong><br />
Snape.“<br />
„Patroni SIND einzigartig“, meinte Hermine leise. „Snapes nahm<br />
erst die Gestalt einer Hirschkuh an, nachdem deine Eltern gestorben<br />
sind. Das hat zumindest Lupin gemeint. Vorher war es ein Rabe.“<br />
„Oh ja“, lachte <strong>Harry</strong> bitte bei dem Gedanken an seinen verhassten<br />
Lehrer. „Das passt eher zu ihm. Ein großer, hässlicher, gemeiner Rabe.“<br />
Hermine sah ihn gutmütig an.<br />
„Raben gelten als sehr intelligente Tiere, in der nordischen<br />
Mythologie symbolisieren sie die Weisheit“, erstaunte sie ihn wieder mal<br />
mit ihrem enormen Wissen. „Sie sind sehr gelehrig <strong>und</strong> außerdem dazu<br />
in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen. Es gibt auch ein Sternbild<br />
namens Rabe bestehend aus vier Sternen, welches sich <strong>auf</strong> die Sage<br />
des Raben bezieht, der einst von den Göttern für ein Vergehen<br />
zusammen mit der Wasserschlange für immer an den Himmel verbannt<br />
worden war.“<br />
„Mit einer Schlange? Für ein Vergehen?“, lachte <strong>Harry</strong>. „Hermine,<br />
du denkst zu viel nach.“<br />
„Tue ich nicht, es ist nur eine Sage“, rief sie beleidigt. „Außerdem<br />
ging es <strong>doc</strong>h um die Hirschkuh, nicht?“<br />
„Ja, aber für was sollte die Hirschkuh stehen?“ <strong>Harry</strong> wurde nicht<br />
schlau aus dem Ganzen, so lange er auch darüber nachdachte.<br />
„Nun, die einzige Erklärung wäre, <strong>das</strong>s sie für deine Mutter steht“,<br />
meinte Hermine behutsam <strong>und</strong> klang, als bringe sie einem Kind bei, <strong>das</strong>s<br />
der Weihnachtsmann nicht existiert.<br />
„Als Andenken an eine von Voldemorts größten Taten?“, fauchte<br />
<strong>Harry</strong>.<br />
62
„Patroni stehen NICHT für schlechte Dinge!“, schnaubte Hermine<br />
<strong>zur</strong>ück. „Wann verwendest du endlich deinen Kopf so, wie er gedacht<br />
ist? Du weißt <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s Patroni Glück symbolisieren!“<br />
„Hermine, dann muss es eben einen Fehler in deiner tollen<br />
Patronus-Theorie geben“, wurde <strong>Harry</strong> langsam wütend. Er wollte nicht<br />
darüber nachdenken, was die Hirschkuh bedeuten könnte. „Vielleicht war<br />
er mit seinem Dad früher <strong>auf</strong> der Jagd <strong>und</strong> erinnert sich an <strong>das</strong><br />
berauschende Gefühl, eine Hirschkuh getötet zu haben –“<br />
„So funktionieren Patroni aber nicht! Sie erscheinen nicht in<br />
Erinnerung an eine schlechte, schändliche Tat.“<br />
„Und? Was willst du mir eigentlich sagen?“, brodelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> sah<br />
sie unheilvoll an, <strong>auf</strong> <strong>das</strong> wartend, was nun kommen musste, was er<br />
aber nicht ausgesprochen hören wollte, weder heute noch irgendwann.<br />
„Ich denke, <strong>das</strong>s Snape in deine Mutter verliebt war <strong>und</strong> ist“, sagte<br />
Hermine sehr leise <strong>und</strong> zuckte zusammen, als <strong>Harry</strong> wie angestochen<br />
vom Bett <strong>auf</strong>sprang, die Tür <strong>auf</strong>riss <strong>und</strong> im Dunkel verschwand.<br />
Rasend vor Wut <strong>und</strong> wie ins Gesicht geschlagen von dem, was er<br />
gerade von Hermine gehört hatte, hastete <strong>Harry</strong> durch die düsteren<br />
Gänge vom Grimmauldplatz Nummer 12. Ohne zu merken wo er hinlief,<br />
rannte er Treppen hin<strong>auf</strong> <strong>und</strong> wieder hinab, ging zwei Korridore entlang,<br />
von denen er von wenigstens einem nicht wusste, wo er hinführte, aber<br />
er achtete nicht <strong>auf</strong> seine Umgebung. Unterwegs traf er niemand vom<br />
Orden, <strong>und</strong> <strong>das</strong> obwohl er sicher fünf Minuten im Haus umherirrte, bevor<br />
er endlich keuchend stehen blieb.<br />
Wie konnte Hermine nur <strong>auf</strong> so einen Gedanken kommen? Allein<br />
die Vorstellung, <strong>das</strong>s Snape in der Lage sein sollte, jemanden zu lieben,<br />
kam <strong>Harry</strong> vollkommen irrwitzig vor. Und dann auch noch seine Mutter<br />
… welche von der Hand Voldemorts gestorben war, dem Snape nach<br />
<strong>Harry</strong>s Meinung vielleicht immer noch gehorchte. Nein, <strong>das</strong> konnte nicht<br />
sein, beruhigte sich <strong>Harry</strong>. Die Patronusform war seltsam, sicher, aber<br />
dafür gab es eine andere Erklärung. MUSSTE es eine andere Erklärung<br />
geben. Mit einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung fiel <strong>Harry</strong> die<br />
Szene ein, die er einst in Snapes Büro gesehen hatte, Snape, wie er<br />
seine Mutter übel beschimpft hatte. „Schlammblut“ hatte er sie genannt,<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> zeugte nun wahrlich nicht von wohl gesinnten Gefühlen.<br />
Hermine war nicht dabei gewesen, <strong>und</strong> soweit er sich erinnerte hatte er<br />
ihr <strong>und</strong> Ron nie erzählt, was genau er im Denkarium gesehen hatte.<br />
Deswegen ging sie von falschen Voraussetzungen aus, ließ sich zu sehr<br />
leiten von ihren Theorien, von denen sie so schwer abzubringen war,<br />
sobald sie eine entwickelt hatte. Nein, wirklich nicht, dachte <strong>Harry</strong>, wer<br />
sich so gegenüber einer Person benimmt, kann sie nicht lieben.<br />
Das Wort „Oder?“ verkniff er sich, als er urplötzlich eine Wand im<br />
fast völligen Dunkel eines abgelegenen Ganges übersah <strong>und</strong> prompt<br />
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einen Schritt zuviel <strong>auf</strong> sie zuging. Instinktiv hob er die Hände, um den<br />
Aufprall abzumindern, aber zu seiner Überraschung gab die Wand nach,<br />
<strong>und</strong> er stolperte vorwärts in einen Korridor, der schien, als habe ihn seit<br />
langer Zeit niemand mehr betreten. Staunend schaute er <strong>zur</strong>ück zu dem<br />
Wandteppich, der sich vom Muster her so täuschend echt an die feste<br />
Wand anschloss, <strong>das</strong>s er nur zufällig entdeckt werden konnte. Neugierig<br />
schaute <strong>Harry</strong> den Gang entlang, war aber nicht in der Lage, viel zu<br />
entdecken. Es war so dunkel, <strong>das</strong>s er die unangezündeten Gaslampen<br />
<strong>und</strong> Kerzenhalter an der Decke nur vermuten konnte. Kurzerhand zog er<br />
seinen Zauberstab, den er nunmehr stets bei sich trug, <strong>und</strong> sprach den<br />
Lumos-Zauber. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, wegen der<br />
Zauberei Minderjähriger angezeigt zu werden, er befand sich in einem<br />
Haus voller erwachsener Zauberer, <strong>und</strong> bekanntlich konnte <strong>das</strong><br />
Ministerium nur feststellen, DASS ein Zauber gesprochen wurde, nicht,<br />
WER ihn sprach. Im Ligusterweg war er der einzige Zauberer gewesen,<br />
so war es leicht, einen Zauber zu ihm <strong>zur</strong>ückzuverfolgen. Nicht aber hier.<br />
Das Licht erschien an der Spitze seines Zauberstabes <strong>und</strong> erhellte<br />
nicht wirklich stark, aber ausreichend seine Umgebung. Zögernd ging er<br />
einige Schritte vorwärts. Dies schien ein Korridor zu sein wie jeder<br />
andere, er hatte einen dunklen, zerschlissenen Teppich, eine völlig<br />
zerstörte Tapete an den Wänden, die in Streifen herabhing, mit<br />
Spinnenweben verzierte Leuchter hoch oben an der Decke <strong>und</strong> zwei<br />
Türen, die links <strong>und</strong> rechts abgingen. Ansonsten war er enttäuschend<br />
kurz, höchstens fünf Meter lang.<br />
<strong>Harry</strong> richtete seinen Zauberstab <strong>auf</strong> die rechte Tür. Sie war<br />
ziemlich groß, aus altem, dunklem Eichenholz gefertigt <strong>und</strong> mit einem<br />
Türkn<strong>auf</strong> von der Form einer Schlange aus angel<strong>auf</strong>enem Silber<br />
versehen. Ohne große Erwartungen, sie öffnen zu können, griff <strong>Harry</strong><br />
nach dem Kn<strong>auf</strong>, wobei sein Zauberstab die andere, gegenüber liegende<br />
Tür flüchtig streifte, als er ihn in die linke Hand nahm. Unwillkürlich warf<br />
er einen Blick dar<strong>auf</strong> <strong>und</strong> schrak zusammen.<br />
Nicht, <strong>das</strong>s sie Furcht einflößend aussah. Im Gegenteil, anders als<br />
ihr Gegenüber ließ sie keine Anzeichen schwarzmagischer Gesinnung<br />
erkennen, sie war vielmehr aus weitaus hellerem Holz gefertigt <strong>und</strong><br />
besaß zum Öffnen eine normale Türklinke. Was ihn an ihr so verstört<br />
hatte, war ihre Aufschrift. In rotgoldenen, verschnörkelten Buchstaben<br />
konnte er einen Namen lesen, der in ihm nur abgr<strong>und</strong>tiefe Trauer<br />
hervorrief.<br />
Sirius Black.<br />
Er hatte Sirius` Zimmer gef<strong>und</strong>en. Warum es in einem geheimen<br />
Gang verborgen war, wusste er momentan nicht, aber nun stand er<br />
davor, bereit, die Tür <strong>auf</strong>zumachen. Was er wohl darin finden würde?<br />
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Nichts, schalt er sich, nichts als Erinnerungen oder Verzweiflung, denn<br />
was mache es für einen Unterschied, ob er eintrat oder nicht?<br />
Er tat es dennoch.<br />
Knarrend schwang die Tür <strong>auf</strong> <strong>und</strong> enthüllte staubige Dunkelheit.<br />
Stockend hob <strong>Harry</strong> seinen Zauberstab. Er war sich nicht sicher, was er<br />
erwartete zu sehen, oder gar, was er erhoffte zu sehen, aber er war sich<br />
mittlerweile bewusste, <strong>das</strong>s Sirius <strong>das</strong> letzte Mal vor seinem Askaban-<br />
Aufenthalt diesen Ort betreten hatte. Auf dem ehemals wohl leuchtend<br />
roten Teppich lag so viel Staub, <strong>das</strong>s sich gar kein anderer Schluss<br />
ergab.<br />
Auf den ersten Blick erkannte <strong>Harry</strong> nicht viel. Die Dunkelheit gab<br />
nacheinander ein großes, mit einem eisernen Gestell versehenes Bett,<br />
einen ebenso großen wie breiten, klobigen Schrank <strong>und</strong> einen<br />
Schreibtisch von bestimmt zwei Quadratmeter Fläche preis. Leise, als ob<br />
er jemanden in dem verlassenen Raum erschrecken könnte, setzte<br />
<strong>Harry</strong> einen Fuß vor den anderen <strong>und</strong> näherte sich dem Schreibtisch. Er<br />
schien leer, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> verfluchte sich, überhaupt hierher gekommen zu<br />
sein – natürlich war alles leer, schließlich hatte sich Sirius hier <strong>das</strong> letzte<br />
Mal vor vielen Jahren <strong>auf</strong>gehalten, <strong>und</strong> nach seinem Auszug aus dem<br />
Elternhaus hatte die Familie Black wohl alle Erinnerungen an ihn<br />
ausgelöscht.<br />
Er wollte sich schon von dem Schreibtisch abwenden, als der<br />
Schein seines Zauberstabes <strong>auf</strong> die Wand vor sich fiel. Zuerst dachte er<br />
erschrocken, es befinde sich noch jemand im Raum, was nach allen<br />
Regeln der Logik schlicht unmöglich gewesen wäre, dann aber erkannte<br />
er, <strong>das</strong>s die Bewegungen, die ihn hatten erschaudern lassen, von Fotos<br />
kamen, die sich wie üblich in der Zaubererwelt bewegten.<br />
Neugierig beugte er sich über die riesige Schreibtischfläche <strong>und</strong><br />
erblickte etwa ein halbes Dutzend kleiner Fotos, die ein großes<br />
Hogwarts-Wappen aus Stoff umrahmten, <strong>auf</strong> dem ein goldener Löwe, ein<br />
brauner Dachs, ein bronzener Adler <strong>und</strong> eine silberne Schlange einem<br />
großen H in ihrer Mitte zugewandt waren. Die Fotos zeigten alle Sirius`<br />
damalige Fre<strong>und</strong>e, die zu ihrer Zeit als die so genannten Rumtreiber von<br />
Lehrern im ganzen Schloss gefürchtet worden waren. Schwitzend in der<br />
warmen, stickigen Luft des über einem Jahrzehnt ungelüfteten Zimmers<br />
sah <strong>Harry</strong> seinen Vater, wie er mit Lupin <strong>und</strong> dem Verräter Pettigrew<br />
unter den Bäumen am Seeufer Hogwarts saß, die auch <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong><br />
Hermine oft an heißen Sommertagen <strong>auf</strong>suchten. Ein weiteres Bild<br />
zeigte einen großen Hirsch mit einem gewaltigen Geweih, der stolz <strong>und</strong><br />
kraftvoll ungeduldig <strong>auf</strong> der Stelle trat, <strong>auf</strong> seinem Rücken einen großen,<br />
schwarzen, zottigen H<strong>und</strong>, der die Vorderpfoten um den Hals des<br />
Hirsches gelegt hatte, <strong>und</strong> ganz oben <strong>auf</strong> dem H<strong>und</strong> turnte eine kleine,<br />
fette, graue Ratte, die ängstlich quiekte, wenn sie <strong>auf</strong> den fast zwei<br />
Meter entfernten Boden blickte. <strong>Harry</strong> musste beim Anblick der drei Tiere<br />
65
lachen, wurde dann aber von jäher Trauer <strong>und</strong> Wehmut erfüllt, denn zwei<br />
von diesen Zauberern lebten nicht mehr, <strong>und</strong> der dritte war als Verräter<br />
bei Voldemort untergekrochen. Lupin hatte <strong>das</strong> Bild wohl geschossen,<br />
denn als Werwolf konnte er natürlich nicht auch in seiner Tierform<br />
erscheinen <strong>und</strong> auch noch <strong>das</strong> Bild machen. Andere Fotos waren im<br />
Schloss gemacht worden <strong>und</strong> zeigten die vier in einem Klassenraum<br />
wohl kurz vor dem Unterricht, im Gryffindor-Gemeinschaftsraum <strong>und</strong> <strong>auf</strong><br />
dem Quidditchfeld.<br />
Bedächtig wandte <strong>Harry</strong> sich nun den Schubladen des<br />
Schreibtisches zu <strong>und</strong> öffnete sie nacheinander. Er hatte erwartet, <strong>das</strong>s<br />
sie leer seien, aber zu seiner Überraschung fand er eine Unmenge an<br />
vergilbten Pergamenten, alten Schreibfedern, ausgel<strong>auf</strong>enen<br />
Tintenfässern <strong>und</strong> einige alte Schulbücher, die, wie er erkannte, für<br />
Schüler der ersten vier Klassen bestimmt waren. Die Bücher aus<br />
höheren Klassen hatte Sirius wohl mitgenommen, als er von zu Hause<br />
weggel<strong>auf</strong>en war. Grinsend stieß <strong>Harry</strong> ganz unten in dem Gerümpel <strong>auf</strong><br />
alte Arbeiten von Sirius, eine aus Zaubertränke (welchen Lehrer er wohl<br />
gehabt hatte, fragte er sich, bestimmt einen besseren als Snape), zwei<br />
von Verwandlung <strong>und</strong> eine aus Geschichte der Zauberei. In den ersten<br />
beiden Fächern war Sirius anscheinend einer der Klassenbesten<br />
gewesen, jedenfalls hatte er bei jeder Aufgabe volle Punktzahl, <strong>und</strong> unter<br />
der Zaubertränke-Arbeit war in krakeliger Schrift, wahrscheinlich vom<br />
damaligen Lehrer, geschrieben worden: „Wie üblich perfekt, aber<br />
dennoch nicht ganz so gut wie unsere Klassenbeste“. <strong>Harry</strong> fragte sich,<br />
wer die Beste wohl gewesen war <strong>und</strong> stellte sich in Gedanken ein<br />
Mädchen ganz wie Hermine vor, <strong>das</strong> hinter einem großen Bücherstapel<br />
<strong>auf</strong> ihrem Platz fast verschwand.<br />
Nur in Geschichte der Zauberei verspürte Sirius augenscheinlich<br />
keine große Lust, für Arbeiten zu lernen, denn dort hatte er nur eine<br />
durchschnittliche Note. „Ohne deine Faulheit könntest du leicht der Beste<br />
sein“, stand darunter in einer kleinen, säuberlichen Schrift, die <strong>Harry</strong> als<br />
diejenige von Binns erkannte. „Und <strong>das</strong> ohne ein Wort zu lernen oder<br />
länger als fünf Minuten im Unterricht wach zu bleiben“, folgte darunter in<br />
Sirius` Schrift, wohl für seinen Banknachbarn gedacht, der auch gleich<br />
daneben geschrieben hatte: „Ohne mich wärst du schon in der ersten<br />
Klasse durchgefallen!“ <strong>Harry</strong> erkannte diese Schrift nicht, vermutet aber,<br />
<strong>das</strong>s sie dem Mädchen gehörte, <strong>das</strong> schon in Zaubertränke so gut<br />
gewesen war.<br />
Andere interessante Dinge fand er nicht im Schreibtisch, deswegen<br />
schaute er zu dem Bett. Er musste in der Dunkelheit einige Schritte<br />
vorwärts gehen, um überhaupt im schwachen Licht seines Zauberstabes<br />
etwas zu erkennen, <strong>und</strong> sah dann eine alte, zerschlissene Decke aus<br />
dem Dunkel erscheinen, die ganz in den Gryffindor-Farben Rot <strong>und</strong> Gold<br />
gehalten war, <strong>und</strong> eine ungeheuer große Gryffindor-Fahne, die die<br />
66
gesamte Wand über dem Bett bedeckte. Unter ihr war ein kleiner Phönix<br />
<strong>auf</strong> die Wand gemalt, hinter dem <strong>Harry</strong> Sirius` Unterstützung für den<br />
Orden vermutete, auch wenn er damals ganz gewiss noch kein Mitglied<br />
gewesen war. Ob die Blacks in ihrem Haus diese Symbole des<br />
Widerstandes gegen die Todesser <strong>und</strong> Voldemort geduldet hätten?<br />
<strong>Harry</strong> konnte es sich nicht vorstellen, andererseits hatte sie niemand<br />
nach Sirius` Abgang entfernt. Hatten ihn seine Eltern <strong>doc</strong>h ein wenig<br />
vermisst? Aber <strong>das</strong> schien ihm absolut unmöglich, wenn er an Mrs.<br />
Blacks Gezeter in der Eingangshalle dachte.<br />
Die Antwort fand er, als er sich wieder anschickte, <strong>das</strong> Zimmer zu<br />
verlassen. Er wollte gerade die Tür schließen, als <strong>das</strong> Licht über der Tür<br />
<strong>auf</strong> der Flurseite einen kleinen Spruch erleuchtete, der ebenfalls in Rot-<br />
Gold geschrieben war.<br />
„Es trete nur durch dieses <strong>Tor</strong>, wer ist ein wahrer Gryffindor“<br />
Ohne es zu merken, war <strong>Harry</strong> durch einen Zauber gegangen, den<br />
Sirius vor vielen Jahren <strong>auf</strong> seine Tür gelegt hatte. Nur wer dem Haus<br />
Gryffindor angehörte, konnte sein Zimmer betreten, was die beste<br />
Schutzmaßnahme gegen seine unerwünschten Familienmitglieder war,<br />
da diese alle nach Slytherin gekommen waren. Deswegen hatte auch<br />
niemand Sirius` alte Sachen weggeräumt; die Blacks hatten vermutlich<br />
einige frustrierende St<strong>und</strong>en vor der Tür verbracht <strong>und</strong> vergeblich<br />
versucht, einen Gegenzauber zu finden; <strong>und</strong> der Phönixorden hatte den<br />
versteckten Korridor nie gef<strong>und</strong>en.<br />
Bei der Vorstellung, in diesem Zimmer Sachen verstecken zu<br />
können, an die z.B. Snape nie herankam, schlug <strong>Harry</strong>s Herz höher. Er<br />
wünschte, den Zauberspruch auch zu kennen. Obwohl er sich nicht<br />
sicher war, diesen auch anwenden zu können, denn es war sicher ein<br />
sehr schwerer <strong>und</strong> seltener. Sirius musste tatsächlich einer der besten<br />
Schüler seiner Zeit gewesen sein.<br />
Bei der Vergangenheitsform, die er bei Gedanken an Sirius<br />
verwenden musste, krampfte sich in <strong>Harry</strong> wieder alles zusammen.<br />
Langsam stürzten die Ereignisse aus dem Ministerium, die er in den<br />
Ferien verzweifelt hatte verdrängen wollen, über ihm zusammen. Die<br />
Trauer schnürte ihm die Luft ab, <strong>und</strong> er hatte <strong>das</strong> Verlangen, sich einfach<br />
in den dunklen Korridor zu setzen <strong>und</strong> nie wieder <strong>auf</strong>zustehen.<br />
Müde lehnte er sich gegen den Schlangengriff der zweiten Tür<br />
gegenüber von Sirius` Zimmer <strong>und</strong> drehte sich dann um, kraftlos <strong>und</strong><br />
gleichgültig den Raum dahinter betretend.<br />
Was er sah, besser, was sein erleuchteter Zauberstab der<br />
drückenden, schwülen Dunkelheit seiner allernächsten Umgebung<br />
entreißen konnte, ließ ihn seinen Schmerz für ein paar Augenblicke<br />
zumindest teilweise vergessen.<br />
67
Um ihn herum ragten Regale über Regale scheinbar in den<br />
Himmel. Es waren massenweise Regale, so viele, <strong>das</strong>s er selbst die<br />
paar in seiner Nähe kaum zu zählen in der Lage war. Und in diesen<br />
Regalen befanden sich tausende von Büchern.<br />
Er hatte die Privatbibliothek der Blacks gef<strong>und</strong>en.<br />
Staunend ging er einige Schritte vorwärts, unfähig, die schiere<br />
Menge an Büchern zu verarbeiten, die er erblickte. An den Wänden <strong>und</strong><br />
in engen Reihen, die den Raum des ohnehin riesigen Zimmers<br />
bestmöglich ausnutzen wollten, mussten sich insgesamt um die h<strong>und</strong>ert<br />
Regale befinden. An etlichen Stellen waren kleine Sitzgruppen<br />
eingerichtet mit gemütlichen Sesseln, kleinen Ablagetischen <strong>und</strong><br />
mindestens einem großen Schreibtisch. Alle paar Schritte war die Wand<br />
durch einen Ofen unterbrochen, auch wenn diese allesamt so aussahen,<br />
als wären sie viele Jahre nicht mehr benutzt worden. Überhaupt lagen<br />
<strong>auf</strong> dem Boden, der aus einer alten, w<strong>und</strong>erschön gemusterten Dielung<br />
aus dunklem Holz bestand, sowie <strong>auf</strong> den Sesseln <strong>und</strong> Tischen mehrere<br />
Zentimeter Staub. <strong>Harry</strong> musste nicht raten, um sicher zu sein, <strong>das</strong>s hier<br />
seit dem Tod von Mrs. Black niemand mehr gewesen war.<br />
Vorsichtig näherte er sich mit seinem Zauberstab den Regalen.<br />
Sie bestanden aus vielen Reihen Büchern, Bücher, wie er sie noch nie<br />
gesehen hatte. Es waren riesige, alte Bände, so dick, <strong>das</strong>s man drei von<br />
ihnen übereinander gestapelt als Stuhl verwenden könnte. Neugierig<br />
nahm <strong>Harry</strong> einen in die Hand. Es war blutrot, groß wie eine kleine<br />
Herdplatte <strong>und</strong> wog bestimmt zehn Kilo. Sein Titel <strong>auf</strong> dem Einband war<br />
nicht mehr zu lesen, aber innen stand <strong>auf</strong> der ersten Seite: „Die<br />
Gr<strong>und</strong>lagen der schwarzen Magie – was sie wissen müssen, um wirklich<br />
böse zu sein“. Die Texte waren in alter Schrift verfasst, <strong>und</strong> einige der<br />
Abbildungen ließen <strong>Harry</strong> erschaudern. Schnell steckte er <strong>das</strong> Buch<br />
<strong>zur</strong>ück.<br />
Die anderen Bücher in diesem Regal trugen alle ähnliche Titel.<br />
„Schwarze Magie <strong>und</strong> Sie – mit diesem Buch werden Sie Profi“<br />
„Dunkle Zauber <strong>und</strong> Hexereien des Mittelalters“<br />
„Das Einmaleins der bösen Zauberer – ihr Leben, ihre<br />
Entdeckungen, ihre Leistungen“<br />
Zuletzt staunte er über ein Buch mit dem Titel „Geheime Flüche –<br />
so geheim, <strong>das</strong>s sie nicht in einem Buch stehen dürfen“.<br />
Angewidert wandte <strong>Harry</strong> sich ab <strong>und</strong> untersuchte die anderen<br />
Regale. Scheinbar war dieser Teil des Zimmers nur den dunklen<br />
Mächten gewidmet, denn viele Regale trugen Hinweise <strong>auf</strong> Flüche,<br />
tödliche Zaubertränke, Willensmanipulation, Foltermethoden <strong>und</strong><br />
geschichtliche Werke über dunkle Magier.<br />
Dann aber trat er an Regale heran, die andere Bücher enthielten,<br />
Bücher in vielen verschiedenen Farben <strong>und</strong> Größen, <strong>und</strong> überrascht<br />
68
erkannte er einige seiner Schulbücher wieder. Er fand allein zwei Regale<br />
voller Werke über Verwandlung, drei über Zaubertränke, vier über<br />
Verteidigung gegen die dunklen Künste <strong>und</strong> viele andere, die sämtliche<br />
Gebiete der Zauberei abdeckten, darunter einige, die er aus der Schule<br />
gar nicht kannte. Er wollte gerade ein Buch mit dem Titel „Tarnen <strong>und</strong><br />
getarnt – wie Sie sich mit einfachen Zaubern unsichtbar machen können“<br />
ansehen, als sein Blick <strong>auf</strong> eine kleine Ecke am anderen Ende des<br />
Zimmers fiel. Dort stand ein sehr kleines Regal, kaum einen Meter breit<br />
<strong>und</strong> zwei Meter hoch, aber im Gegensatz zu allen anderen in der<br />
Bibliothek war es durch eine Glasscheibe geschützt, <strong>und</strong> die Bücher<br />
darin waren nicht in Reihen gestapelt, sondern lagen mit der Vorderseite<br />
nach oben nebeneinander. Eine fast spürbare Präsenz schien von ihren<br />
Umschlägen aus dunklem Pergament, Leder oder Haut auszugehen, als<br />
flüsterten sie seit Urzeiten in der verlassenen Bibliothek miteinander.<br />
<strong>Harry</strong> legte „Tarnen <strong>und</strong> getarnt“ <strong>auf</strong> einen der kleinen<br />
Beistelltische zwischen den Regalreihen <strong>und</strong> näherte sich dem<br />
unscheinbaren Schränkchen. Ehrfürchtig starrte er <strong>auf</strong> dessen hinter der<br />
Scheibe aus Glas gefangene Bücher, <strong>auf</strong> dicke, große mit Umschlägen<br />
aus Tierhaut, <strong>und</strong> <strong>auf</strong> kleine mit ausgefransten Ledereinschlägen.<br />
Allesamt waren sie in dunklen Farben gehalten <strong>und</strong> trugen Titel in<br />
kleinen Buchstaben, die <strong>Harry</strong> von außen nicht entziffern konnte.<br />
Prüfend schaute er den Griff an, mit dem man die Glasscheibe öffnen<br />
konnte. Er hatte in seinem Leben zu oft Bekanntschaft mit gefährlichen<br />
Büchern gemacht, um nicht argwöhnisch eine Falle zu erwarten, wenn er<br />
eines der unheimlichen Werke von seinem Lagerort entfernen würde.<br />
Schließlich, als er keine Hinweise <strong>auf</strong> etwaige schützende Flüche oder<br />
sonstige Hindernisse ausmachen konnte, schob er langsam <strong>und</strong><br />
<strong>auf</strong>merksam <strong>auf</strong> sonderbare Bewegungen oder Geräusche achtend die<br />
Glasplatte beiseite.<br />
Nichts geschah. Aufatmend ließ <strong>Harry</strong> die Augen über die etwa<br />
zwei Dutzend Bücher gleiten. Die meisten Titel waren in Sprachen<br />
geschrieben, die er nicht verstand, teils sogar in Schriften, die er nicht<br />
einordnen konnte. Eine sah verdächtig arabisch aus, so<strong>das</strong>s er<br />
vermutete, <strong>das</strong>s sie womöglich alte alchemistische Schriften enthielt.<br />
Binns hatte in einer der wenigen St<strong>und</strong>en, in denen <strong>Harry</strong> nicht nach ein<br />
paar Minuten weggenickt war, über die Arbeit der Alchemisten aus dem<br />
Mittelalter oder noch früheren Zeiten erzählt; dabei hatte er erwähnt,<br />
<strong>das</strong>s es einige uralte Werke mit dem gesammelten bekannten<br />
alchemistischen Wissen gab, <strong>das</strong>s diese heute aber als verschollen<br />
galten. Obendrein sollten früher auch ein oder zwei Ausgaben mit<br />
vergessenen Erkenntnissen sehr alter Kulturen existiert haben, deren<br />
Inhalt nur als verschwommene Legende bis in die Gegenwart überlebt<br />
hatte. Und <strong>das</strong>s es von ihnen seit Jahrh<strong>und</strong>erten keine Kopie mehr<br />
gegeben hatte. Aber <strong>Harry</strong> hätte es nicht verw<strong>und</strong>ert, wenn er gerade<br />
69
eine davon anschaute. Die Blacks als eine der ältesten reinblütigen<br />
Zaubererfamilien hatten mit Sicherheit Interesse daran gehabt, <strong>das</strong><br />
jahrtausende Jahre alte Erbe der Zauberei zu sammeln. Nur ihre<br />
Motivation, dieses Wissen mit anderen Zauberern zu teilen, schien sich<br />
in Grenzen gehalten zu haben.<br />
Enttäuscht ging <strong>Harry</strong> von einem für ihn nicht entzifferbaren Buch<br />
zum nächsten <strong>und</strong> wollte schon die Glasplatte wieder schließen, als sein<br />
Blick bekannte Buchstaben streifte. Genau in der Mitte der uralten<br />
Bücher lag ein großes, aber handhabbares Werk mit einem Umschlag<br />
aus Drachenhaut <strong>und</strong> silbernen kleinen Kordeln aus etwas, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong><br />
verdächtig wie Einhornhaar vorkam, welche offenbar als Lesezeichen<br />
dienten. Der Titel war in goldenen, großen, verschnörkelten Lettern in die<br />
Haut gestanzt worden:<br />
„Die Mysterien des Lebens“<br />
Zuerst klangen die Worte für <strong>Harry</strong> wie einige der zu Tode<br />
langweiligen, abgegriffenen Heftchen, die er früher im Ethikunterricht<br />
seiner alten Schule hatte lesen müssen, in denen die ausschweifenden<br />
Gedankengänge längst verstorbener Männer über den ihrer Meinung<br />
nach so <strong>und</strong> so aussehenden Sinn des Lebens gestanden hatten; dann<br />
aber schien es ihm ausgeschlossen, <strong>das</strong>s die Blacks solche<br />
Groschenromane mitten in ihre Sammlung uralter <strong>und</strong> geheimer Bücher<br />
der Zauberei stellen würden. Vorsichtig nahm er den Wälzer in die Hand,<br />
er fühlte sich staubig, ansonsten aber recht gut erhalten an, obwohl er<br />
sicher schon viele Jahre alt war. Ein wenig Staub rieselte <strong>auf</strong> den Boden,<br />
als er den schweren Drachenhautdeckel umschlug <strong>und</strong> durch die ersten<br />
Seiten blätterte. Furchtbar komplizierte Formeln, Ausdrücke <strong>und</strong> Sätze<br />
folgten Überschriften wie Die Existenz der Nichtexistenz oder Die<br />
Anatomie der Wut.<br />
Verwirrt schlug <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> Buch wieder zu, sein Arm tat weh vom<br />
Gewicht des Buches, während er mit dem anderen seinen Zauberstab<br />
halten musste. Er beschloss, morgen einen intensiven Blick <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />
Buch zu werfen; sicher konnte Hermine auch mehr damit anfangen als<br />
er. Beim Gedanken daran, ihr die Bibliothek zu zeigen, musste er<br />
unwillkürlich kurz <strong>auf</strong>lachen, sie würde bestimmt den Rest der Ferien in<br />
diesem Raum verbringen, hinter Stapeln von steinalten Büchern. Er<br />
fühlte sich durch seine Entdeckung so beschwingt, <strong>das</strong>s er ihr den<br />
Fehler ihrer Patronus-Theorie gern verzieh.<br />
Zögernd nahm er „Mysterien des Lebens“ aus dem Schrank,<br />
kaschierte die entstandene Lücke, indem er die übrigen Bücher mit ihren<br />
fremdländischen Titeln ein wenig näher zusammenrückte <strong>und</strong> schloss<br />
die Glasscheibe über dem Regal. Er konnte nicht ganz erklären, wieso er<br />
es mitnahm, aber diese dunkle Bibliothek machte ihm etwas Angst,<br />
70
vielleicht auch nur, weil es dunkel war <strong>und</strong> <strong>das</strong> Licht seines<br />
Zauberstabes nicht annähernd ausreichte, um alle Ecken des gewaltigen<br />
Zimmers <strong>auf</strong> einmal zu erleuchten. Jedenfalls gefiel ihm die Aussicht, bei<br />
hellerem Tageslicht <strong>und</strong> in einem gemütlicheren Raum die mysteriösen<br />
Seiten seines Buches zu lesen, besser. Er lief <strong>zur</strong>ück <strong>zur</strong> Tür, zog sie an<br />
ihrem Schlangenkn<strong>auf</strong> hinter sich zu <strong>und</strong> trat noch einmal durch die Tür<br />
zu Sirius` Zimmer, bestand als Gryffindor den Zauber <strong>und</strong> versteckte <strong>das</strong><br />
Buch in einem der unteren Schubladen des Schreibtisches. Erst dann<br />
schlich er den Korridor entlang zum Wandvorhang, lauschte, <strong>und</strong><br />
schlüpfte, als er keinen Laut hörte, wieder <strong>auf</strong> den bekannten Gang. Er<br />
hatte keine Lust, Mrs. Weasley oder den anderen erklären zu müssen,<br />
wieso er sich nachts in verborgenen Gängen des Black-Hauses<br />
herumschlich. Schnell fand er den Weg zu seinem <strong>und</strong> Rons<br />
Schlafzimmer <strong>und</strong> ging hinein. Hermine war nicht mehr da, sie hatte sich<br />
vermutlich schon vor einiger Zeit in ihr Zimmer begeben, um sich <strong>und</strong><br />
ihm die nötige Ruhe zu verschaffen, nachzudenken. Ron schnarchte<br />
nach wie vor in Klamotten <strong>auf</strong> seinem Bett, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> legte sich,<br />
nachdem er sich umgezogen hatte, <strong>auf</strong> sein eigenes. Und auch wenn er<br />
es nicht für möglich gehalten hätte bei allem, was ihm noch im Kopf<br />
herumging, schlief er <strong>auf</strong> der Stelle ein.<br />
Nach einer scheinbar recht kurzen Nacht mit einigen wilden<br />
Träumen über Drachen fressende Bücher <strong>und</strong> sprechende Türen wurde<br />
<strong>Harry</strong> am nächsten Morgen mit einem Ruck wach, als etwas Schweres<br />
<strong>und</strong> Schnelles sein Bett attackierte. Mit klopfendem Herzen blinzelte er<br />
ohne seine Brille in <strong>das</strong> helle Tageslicht, welches durch <strong>das</strong> nun offene<br />
Fenster herein schien.<br />
„Das tut mir Leid, <strong>Harry</strong>!“, hörte er in seine Verwirrung hinein<br />
Hermines hektische Stimme. „Er rennt mir ständig nach, ich glaube, er<br />
mag in diesem Haus nicht allein bleiben.“<br />
Als er eine Masse aus weichem Fell in seinem Gesicht spürte <strong>und</strong><br />
sein Blickfeld von einem Meer aus Rostrot blockiert wurde, wurde ihm<br />
bewusst, <strong>das</strong>s Hermines Kater Krummbein beschlossen hatte, mit unter<br />
seine Decke zu kommen. Schnell sprang er <strong>auf</strong>.<br />
„Ich wollte dich wirklich nicht wecken“, meinte Hermine mit einem<br />
angemessen schuldbewussten Gesicht.<br />
„Schon in Ordnung, es gibt sicherlich bald Frühstück“, nuschelte<br />
<strong>Harry</strong> noch schlaftrunken. Ron war anscheinend schon <strong>auf</strong>, jedenfalls<br />
konnte <strong>Harry</strong> ihn nirgendwo entdecken. Dafür war reichlich Krach aus<br />
den unteren Etagen des Grimmauldplatz zu vernehmen, der Orden war<br />
also bereits voll<strong>auf</strong> beschäftigt.<br />
Hermine zuckte angesichts der geschäftigen Geräusche die<br />
Schultern.<br />
71
„Das geht schon so, seit wir hier eingetroffen sind. Ab<br />
Morgengrauen beginnt die Tagesschicht des Ordens. Im Schnitt gehen<br />
hier pro St<strong>und</strong>e zwei Mitglieder <strong>und</strong> drei Patroni ein <strong>und</strong> aus.“<br />
<strong>Harry</strong> fragte lieber nicht, woher sie <strong>das</strong> so genau wusste, was<br />
Hermine als verstocktes Schweigen <strong>auf</strong>fasste <strong>und</strong> hastig sagte:<br />
„Was ich gestern Abend erzählt habe – weißt du, ich habe darüber<br />
noch einmal nachgedacht <strong>und</strong> bin zu dem Schluss gekommen, <strong>das</strong>s ich<br />
womöglich <strong>doc</strong>h Unrecht habe. Bitte trage mir diese Patronus-Sache<br />
nicht ewig nach. Es war nur eine Idee.“<br />
An ihren Streit gestern Abend hatte <strong>Harry</strong> nun gar nicht gedacht,<br />
aber nun, da sie ihn erwähnte, fiel ihm mit einem Paukenschlag sein<br />
nächtlicher Ausflug ein.<br />
„Hermine“, flüsterte er <strong>auf</strong>geregt, er wollte nicht, <strong>das</strong>s ein<br />
eventueller Besucher <strong>auf</strong> der Treppe zufällig seine Worte mitbekam.<br />
Leicht fröstelnd in seinem Schlafanzug setzte er sich <strong>auf</strong> sein Bett.<br />
„Als ich gestern – äh, weggel<strong>auf</strong>en bin, habe ich einen neuen<br />
Korridor gef<strong>und</strong>en, wo bisher noch keiner von uns war.“<br />
Seine Eröffnung schien keinen Eindruck zu machen.<br />
„Ich weiß“, meinte Hermine gleichmütig. „Das Haus ist weitaus<br />
größer, als es von außen wirkt, Lupin meint, die Blacks hätten es mit<br />
einem Zauber magisch vergrößert. Überall zweigen Gänge, Treppen <strong>und</strong><br />
Korridore ab, den Teil des Hauses, den wir letzten Sommer sauber <strong>und</strong><br />
bewohnbar gemacht haben, war nur <strong>das</strong> Kernstück des Gebäudes <strong>und</strong><br />
längst nicht alles an Zimmern, die die Blacks benutzt haben. Für uns<br />
würde es aber viel zu viel Arbeit machen, <strong>das</strong> ganze Haus zu<br />
unterhalten, deswegen beschränken wir uns <strong>auf</strong> einige Zimmer.“<br />
Das hatte <strong>Harry</strong> zwar nicht gewusst, aber nun, da er darüber<br />
nachdachte, schien es ihm absurd, in einem von außen so klein<br />
wirkenden Haus derartig viel Platz zu finden. Natürlich, hier war Magie<br />
am Werk. Doch <strong>das</strong> war nicht die jetzige Frage.<br />
„Aber in meinem Korridor war tatsächlich seit den Blacks keiner<br />
mehr gewesen“, meinte er <strong>auf</strong>geregt. „Du <strong>und</strong> Ron müsst euch <strong>das</strong><br />
unbedingt nach dem Frühstück ansehen –"<br />
„Was ansehen?“, begrüßte ihn Mrs. Weasley, die, verborgen hinter<br />
einem großen Korb mit Wäsche ins Zimmer trat.<br />
„Meine – äh, Zaubertrankhaus<strong>auf</strong>gaben“, log <strong>Harry</strong> rasch. Ohne<br />
eine bestimmte Absicht zu haben, fand er es besser, von der<br />
Entdeckung der Bibliothek erst einmal nur Ron <strong>und</strong> Hermine zu erzählen.<br />
Zu oft hatte er die Erfahrung gemacht, <strong>das</strong>s Erwachsene ein Talent dafür<br />
hatten, ihm all <strong>das</strong> zu verbieten, was er wollte. Nein, zuerst wollte er sie<br />
sich mit den beiden genau ansehen, bevor sie entschieden, wie sie<br />
vorgehen wollten.<br />
„Du willst mit diesem Unsinns-Fach weitermachen?“, platzte Ron<br />
mit <strong>auf</strong>gerissenen Augen hinter seiner Mutter ins Zimmer. „Ich dachte,<br />
72
mit unserer Snape-Abschieds-Party im Zug hat sich dieses Kapitel<br />
endgültig erledigt.“<br />
„<strong>Harry</strong> ist eben nicht so kindisch wie du“, setzte Hermine ihm<br />
entgegen. Seine Mutter machte auch den Eindruck, einen ganz<br />
ähnlichen Satz parat zu haben. Ron warf ihr einen beleidigten Blick zu<br />
<strong>und</strong> ließ sich <strong>auf</strong> sein noch ungemachtes Bett fallen.<br />
„Weißt du, um Auror zu werden, muss ich einen UTZ in<br />
Zaubertränke haben, deswegen habe ich mich entschlossen, wenigstens<br />
die Haus<strong>auf</strong>gaben vorzubereiten, auch wenn ich nur dann durch die<br />
Prüfung komme, wenn Snape vorhat, mir einen Ordens-Bonus zu geben,<br />
wor<strong>auf</strong> ich ewig warten kann“, meinte <strong>Harry</strong> mit schlechtem Gewissen,<br />
weil seine Notlüge Ron in Ungnade gebracht hatte.<br />
„Und deswegen musst du gleich mit deinen Haus<strong>auf</strong>gaben<br />
hausieren gehen?“, murrte Ron <strong>und</strong> schaute <strong>Harry</strong> an, als wäre der nicht<br />
ganz dicht.<br />
„Gut, du musst ja nicht dabei sein“, wollte <strong>Harry</strong> die Angelegenheit<br />
schnell beenden.<br />
„Vergesst nicht, zum Frühstück zu kommen, in zehn Minuten geht<br />
es los“, rief Mrs. Weasley ihnen von der Treppe aus zu, bevor sie,<br />
beladen mit neuer dreckiger Wäsche, verschwand.<br />
<strong>Harry</strong> beugte sich vor. „Ron, was ich wirklich sagen wollte, war,<br />
<strong>das</strong>s ich einen geheimen Gang gef<strong>und</strong>en habe…“<br />
Das Frühstück, so lecker es auch war, zog sich nach <strong>Harry</strong>s<br />
Empfinden viel zu sehr in die Länge. Auch <strong>das</strong>s Ron seine üblichen zwei<br />
Teller voll Toast, Würstchen, Ei, Speck <strong>und</strong> Brötchen noch hastiger als<br />
sonst in sich hineinsch<strong>auf</strong>elte, trug nicht dazu bei, <strong>das</strong>s Mrs. Weasley<br />
den vor einigen Minuten geschöpften Verdacht, die drei würden etwas<br />
aushecken, vergaß. Hermine warf Ron ein ums andere Mal einen<br />
vorwurfsvollen Blick zu, allerdings schien <strong>das</strong> zu ihrem Morgenritual zu<br />
gehören, so<strong>das</strong>s Mrs. Weasley schließlich erschöpft <strong>auf</strong> einen Stuhl<br />
sank <strong>und</strong> auch zu essen begann.<br />
Mit dem Versprechen, am späteren Vormittag <strong>das</strong> Mittagessen mit<br />
vorzubereiten, stolperten die drei förmlich aus der Küche.<br />
„Wo geht es denn nun hin?“, keuchte Ron nach einem Sprint über<br />
die Treppen.<br />
„Wartet, gestern bin ich diesen Korridor lang <strong>und</strong> dann die Treppe<br />
an der rechten Seite hoch, dann an diesem hässlichen Bild einer<br />
Wasserschlange vorbei <strong>und</strong> dann …“<br />
<strong>Harry</strong> fürchtete, nicht mehr <strong>zur</strong>ück zu dem verborgenen Korridor zu<br />
finden, dann aber erkannte er <strong>das</strong> Tapetenmuster, hinter welchem sich<br />
an einer Stelle der Zugang befand. Mühelos schob er den Wandvorhang<br />
73
eiseite <strong>und</strong> führte seine staunenden Fre<strong>und</strong>e durch die rechte Tür in die<br />
Bibliothek.<br />
Leicht knarrend öffnete sich die alte Tür <strong>und</strong> gab den Blick frei <strong>auf</strong><br />
die nun im Tageslicht noch beeindruckender wirkenden, unendlichen<br />
Regalreihen voller Bücher. Selbst <strong>Harry</strong> erkannte, <strong>das</strong>s er die Größe der<br />
Bibliothek in der Nacht noch unterschätzt hatte.<br />
Hermine stand wie angewurzelt <strong>auf</strong> der Türschwelle <strong>und</strong> sagte<br />
minutenlang nichts, aber ein zunehmendes Leuchten in ihren Augen <strong>und</strong><br />
ein leicht stupider Ausdruck <strong>auf</strong> ihrem Gesicht, der wohl Glücksseligkeit<br />
darstellen sollte, verrieten ihre Gefühle. Als sie begann, Regal für Regal<br />
abzul<strong>auf</strong>en, wobei sie mit dem Finger über die Buchrücken fuhr <strong>und</strong> die<br />
Titel leise vor sich hinmurmelte, <strong>und</strong> dabei alle paar Sek<strong>und</strong>en scharf<br />
Luft holte oder seufzte, wurde Rons Miene kontinuierlich säuerlicher.<br />
Dann schlug Hermine beim Anblick eines besonders großen<br />
Wälzers die Hände vor den M<strong>und</strong>, <strong>und</strong> Ron platzte heraus: „Lass mal gut<br />
sein, <strong>das</strong> sind <strong>doc</strong>h nur Bücher! Du tust so, als hättest du noch nie eins<br />
gesehen!“<br />
Mit einer überlegenen Haltung drehte sich Hermine langsam zu<br />
ihm um, bevor sie in etwas hochmütigem Ton meinte: „Nur Bücher? Das<br />
ist die größte Bibliothek, in der ich je war, <strong>und</strong> es ist keine gewöhnliche!<br />
Die Blacks haben wahrscheinlich eine der besten Sammlungen alter <strong>und</strong><br />
seltener Bücher der ganzen Welt – abgesehen vom Vereinten Archiv der<br />
Zaubereiministerien in Memphis – schau dir nur diese Ausgabe von<br />
„Verwandlung – die Lehre der Vielfältigkeit“ an, <strong>das</strong> erste Buch, was ja<br />
über Verwandlung geschrieben wurde, mit Originaltexten ganz früher<br />
Verwandlungszauber. Oder die „Zauberkunst Tasmaniens“, die als<br />
verschollen gilt <strong>und</strong> vergessene Zaubersprüche beinhaltet. Ganz zu<br />
schweigen von der Abteilung über schwarze Magie – natürlich alles<br />
verbotene Exemplare, aber nichtsdestotrotz enorm wertvolle<br />
Manuskripte.“ Hermine schien sich in einen Wahn zu steigern, es türmte<br />
sich bereits ein wackeliger Stapel von etwa einem Dutzend Büchern in<br />
ihren Armen <strong>auf</strong>, dem sie nun „Anfänge der Arithmantik in Ägypten“<br />
hinzufügte.<br />
Ron dagegen machte immer noch ein verbissenes Gesicht.<br />
„Dennoch kein Gr<strong>und</strong>, gleich auszuticken“, murrte er. „Bücher sind<br />
zum Haus<strong>auf</strong>gabenerledigen da, nicht, um wegen ihnen in Ekstase<br />
auszubrechen.“ Ein klein wenig Bew<strong>und</strong>erung konnte allerdings auch er<br />
nicht verbergen, als er die Regalwände in ihrer schieren Größe<br />
betrachtete. „Vielleicht finde ich hier etwas zu den Singzaubern von<br />
Flitwick“, murmelte er vor sich hin <strong>und</strong> ging zum Zauberkunst-Regal.<br />
„Hier“, rief Hermine leicht spöttisch <strong>und</strong> warf ihm ein dickes, grünes<br />
Buch zu.<br />
74
„Danke!“, meinte Ron erfreut. Hermine schüttelte nur den Kopf,<br />
immer noch besonders interessante Bücher suchend, die sie mittlerweile<br />
<strong>auf</strong> einen der Tische gestapelt hatte, weil sie ihr zu schwer wurden.<br />
<strong>Harry</strong> amüsierte sich über Hermines Begeisterung <strong>und</strong> war froh<br />
über <strong>das</strong> Zauberkunst-Buch, denn damit konnte er seine Aufgaben hier<br />
in der Bibliothek erledigen <strong>und</strong> später die ersten, damit arbeitsfreien<br />
Tage in Hogwarts genießen. Langsam ging er zu dem kleinen Regal mit<br />
der Glaswand.<br />
„Schaut mal her“, grinste er vor allem Hermine an. „Der<br />
Familienschatz der Blacks.“<br />
Hermines Entzücken erreichte neue Ebenen, als sie vor den<br />
wertvollsten Büchern des Black-Hauses stand.<br />
„Viele davon handeln von alter Alchemie“, bestätigte sie <strong>Harry</strong>s<br />
Vermutungen von letzter Nacht, „einige auch von alten Druidenzaubern<br />
oder altägyptischer <strong>und</strong> sogar babylonischer Zauberkunst, es ist<br />
unglaublich, fast alle dieser Bücher gelten seit Jahrh<strong>und</strong>erten als<br />
verschollen!“<br />
„Jetzt weiß man wenigstens, wohin sie verschollen sind“, feixte<br />
<strong>Harry</strong>.<br />
„Woher weißt du eigentlich, welche Bücher <strong>das</strong> sind, ich kann nicht<br />
mal die Buchstaben lesen, oder hast du in den letzten zwei Wochen<br />
auch noch Aramäisch, Arabisch <strong>und</strong> Hieroglyphenschrift gelernt?“, fragte<br />
Ron sarkastisch.<br />
„Natürlich nicht“, fauchte Hermine. „Aber in Hogwarts gibt es ein<br />
Buch über seltene Bücher – lach nicht so dumm –, <strong>und</strong> darin kann man<br />
Abbildungen <strong>und</strong> Übersetzungen der berühmten Buchdeckel<br />
nachschlagen.“<br />
„Na dann“, grummelte Ron <strong>und</strong> schlenderte zwischen den<br />
turmhohen Regalen umher.<br />
„Schade, <strong>das</strong>s ich sie nicht lesen kann“, bedauerte Hermine mit<br />
einem sehnsüchtigen Blick <strong>auf</strong> die verstaubten Umschläge. Plötzlich fuhr<br />
sie herum, als sich ein Gesicht in dem Glasschrank spiegelte.<br />
„Was macht ihr hier?“, fragte Lupin, der <strong>auf</strong> die drei zukam <strong>und</strong><br />
ungläubig <strong>auf</strong> die Bücher starrte. „Wie es aussieht, habt ihr die berühmte<br />
Bibliothek der Blacks entdeckt.“<br />
„Jaaa“, meinte <strong>Harry</strong> gedehnt. Er wollte die Wahrheit für sich<br />
behalten <strong>und</strong> antwortete stattdessen: „Wir sind ein wenig durch die<br />
Gänge gel<strong>auf</strong>en, wissen Sie, uns die Füße vertreten, weil wir nicht vor<br />
die Tür können. Und dabei sind wir durch den Wandbehang gestolpert.“<br />
Lupin sah ihn mit beunruhigendem Zweifel an, sagte aber nichts.<br />
Er wandte sich dem kleinen Regal zu.<br />
„Wisst ihr, was diese Bücher wert sind?“, fragte er. „Zwar bin ich<br />
noch nie hier gewesen, aber über die Bibliothek der Blacks sind etliche<br />
Gerüchte im Uml<strong>auf</strong> gewesen. Die größte Englands soll es sein, mit<br />
75
Exemplaren der seltensten Bücher der Zauberergemeinde. Die Blacks<br />
haben sie schon vor Jahrh<strong>und</strong>erten gesammelt, <strong>auf</strong> diese Art kamen sie<br />
an uralte Ausgaben heran. Heute findet man einige dieser Bücher<br />
nirgendwo mehr.“ Stirnrunzelnd näherte er sich der Abteilung für dunkle<br />
Magie. „Das Ministerium wäre sehr interessiert an einigen dieser<br />
Sachen“, murmelte er leise. „So etwas dürfte nicht im Uml<strong>auf</strong> sein.“<br />
„Sie wollen <strong>das</strong> Ministerium herkommen lassen?“, japste <strong>Harry</strong>.<br />
„Natürlich nicht“, lächelte Lupin. „Zwar sind einige dieser Bände<br />
illegal, aber wenn wir sie jetzt dem Ministerium überlassen, dann gehen<br />
wir große Gefahr ein, <strong>das</strong>s Todesser sie in die Hände bekommen. Ich<br />
habe keinen Zweifel, <strong>das</strong>s es Voldemort leicht fallen würde, jemanden<br />
einzuschleusen, der sie ihm besorgt. Und von diesem Bestand an<br />
Abscheulichkeiten“ – er fuhr mit der Hand über einen Buchrücken, der<br />
verdächtig danach aussah, aus Menschenhaut gefertigt zu sein –<br />
„könnte sogar Voldemort noch etwas lernen.“<br />
„Denken Sie, die Blacks haben die Bücher für schwarze Magie<br />
benutzt?“, fragte Hermine erschaudernd.<br />
„Nein. Sie gehörten nicht zu den Leuten, denen viel daran lag, aktiv<br />
zu sein. Es hat ihnen gefallen, eine exquisite Sammlung sehr wertvoller<br />
Sachen zusammenzuschaffen – die Bücher sind nur ein Teil davon –<br />
aber sie hatten es nicht nötig, Geld zu verdienen, <strong>und</strong> sie hatten nicht<br />
genug Mut, um sich der Ehre willen den Todessern anzuschließen. Die<br />
Blacks sind eine Familie der alten Art: Sie sind damit zufrieden, zu sein,<br />
wer sie sind, <strong>und</strong> in ihren Augen war <strong>das</strong> eine, wenn nicht die am<br />
meisten geachtete Zaubererfamilie Englands.“<br />
Er ging zu der Tür <strong>zur</strong>ück. „Beim heutigen Treffen werden wir<br />
diskutieren, wie wir mit der Bibliothek verfahren“, sagte er im Weggehen<br />
<strong>und</strong> verschwand durch den Wandvorhang.<br />
Erschöpft von ihrer intensiven Suche ließ Hermine sich <strong>auf</strong> den<br />
nächsten Stuhl fallen <strong>und</strong> strich einem in Samt geb<strong>und</strong>enen, roten Buch<br />
über die Seiten, bevor sie es <strong>auf</strong>schlug.<br />
„Wir werden sie vor Schulbeginn nicht mehr hier wegkriegen“,<br />
flüsterte Ron zu <strong>Harry</strong>. „Und auch nur, wenn sie einen Waggon des<br />
Hogwartsexpresses für ihre Bücher beschlagnahmen kann.“<br />
76
KAPITEL FÜNF<br />
Das verbotene Buch<br />
Später am Abend, Ron <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> hatten gerade mit gutem Gefühl<br />
ihre Aufsätze über Singzauber beendet, nahmen sie am ersten richtigen<br />
Ordenstreffen teil. Entgegen ihrer Annahmen war es allerdings wenig<br />
spannend, es ging die meiste Zeit um Wacheinteilungen für<br />
verschiedene Orte, z.B. für die Mysteriumsabteilung, für St. Mungo, wo<br />
einige von Todessern verletzte Zauberer <strong>und</strong> Hexen lagen, von denen<br />
man annahm, <strong>das</strong>s sie sich noch im Visier von Voldemort befanden, <strong>und</strong><br />
für Hogsmeade, dem einzigen nur von Hexen <strong>und</strong> Zauberern bewohnten<br />
Dorf Großbritanniens. Nach der fünften Diskussion, wer am nächsten<br />
Abend Zeit hätte, in den Straßen Hogsmeades für Sicherheit zu sorgen,<br />
gähnte Ron verstohlen, <strong>und</strong> auch <strong>Harry</strong> ertappte sich dabei, <strong>das</strong>s er sich<br />
<strong>zur</strong>ück in sein Zimmer sehnte, wo er <strong>und</strong> Ron nach dem Essen eine<br />
Partie Zauberschach spielen wollten.<br />
„Warum übernimmt <strong>das</strong> Ministerium nicht die Wachen für diese<br />
Orte?“, fragte Hermine, die als Einzige von ihnen jedes Wort interessiert<br />
<strong>auf</strong>nahm.<br />
„Weil wir dem Ministerium nicht trauen“, meinte Moody, der nach<br />
einem langen Arbeitstag erst vor einer St<strong>und</strong>e erschöpft am<br />
Grimmauldplatz angekommen war. Ron schnaubte leise neben <strong>Harry</strong>.<br />
Moody traute niemandem.<br />
„Keiner weiß, wen die Todesser bereits unter Kontrolle haben oder<br />
wen sie in zwei Tagen unter Kontrolle haben werden. Deswegen<br />
verlassen wir uns bei den wichtigsten Aufgaben nur <strong>auf</strong> unsere eigenen<br />
Leute.“<br />
„Und wieso ist die Mysteriumsabteilung so wichtig?“, schaltete sich<br />
<strong>Harry</strong> ein. Es war ihm schleierhaft, was dort nach dem Verlust der<br />
Prophezeiung noch von Interesse der Todesser sein konnte.<br />
77
„Im Ministerium gibt es noch ältere <strong>und</strong> gefährlichere Dinge als<br />
Prophezeiungen“, meinte Lupin, der auch zwei Jahre nach seiner<br />
Kündigung immer noch ein wenig wie ein Lehrer klingen konnte. „In der<br />
Mysteriumsabteilung werden seit Jahrh<strong>und</strong>erten die größten<br />
Geheimnisse der Welt untersucht. Sie ist in 12 Themengebiete<br />
untergeteilt – ihr habt die 12 Türen gesehen – <strong>und</strong> in jedem davon<br />
arbeiten etliche Zauberer daran, Dinge wie den Tod, <strong>das</strong> Leben oder die<br />
Zeit zu enträtseln. Wer diese Mysterien versteht <strong>und</strong> nutzen kann, kann<br />
Sachen vollbringen, die über unser derzeitiges Verständnis von Zauberei<br />
weit hinausgehen. Sollten die Todesser über die Informationen der<br />
Unsäglichen verfügen, so wären sie uns hoffnungslos überlegen.“<br />
„Aber jedem der Mysteriums-Mitarbeiter ist es verboten, auch nur<br />
einen Satz ihrer Erkenntnisse <strong>auf</strong>zuschreiben oder in einem Denkarium<br />
zu speichern“, warf Hermine ein. „Jedes Jahr wird eine bestimmte<br />
Anzahl von Auszubildenden in die Arbeit eingewiesen, <strong>und</strong> die älteren<br />
Zauberer geben ihr Wissen an sie weiter. Sie werden auch mit einem<br />
Zauber belegt, der angeblich vor Imperius-Flüchen schützt.“<br />
„Ob es einen derartigen Zauber gibt, wage ich zu bezweifeln“,<br />
entgegnete Mr. Weasley. „Es ist nicht viel bekannt über die<br />
Arbeitsbedingungen der Unsäglichen, <strong>und</strong> über ihre Arbeit schon gar<br />
nicht. Niemand hat zu keinem Zeitpunkt auch nur ein Wort<br />
<strong>auf</strong>geschrieben über <strong>das</strong>, was im Keller des Ministeriums erforscht wird.“<br />
„Außer Rosier“, flüsterten George <strong>und</strong> Fred im Einklang.<br />
„Wer?“, fragte <strong>Harry</strong> unwillkürlich, als sich Stille über die Küche<br />
senkte. Selbst Ron schien wieder <strong>auf</strong>merksam.<br />
„Es gibt Gerüchte – nur Gerüchte, also nehmt nicht zu ernst, was<br />
ich nun sage“, meinte Lupin vorsichtig <strong>und</strong> sah die drei warnend an.<br />
„Vor etwa 30 Jahren lebte ein Unsäglicher namens Rosier, der<br />
unzufrieden war mit dem Schreibverbot, weil er kein so gutes Gedächtnis<br />
hatte <strong>und</strong> immer seine Angestellten fragen musste, wenn er etwas<br />
vergessen hatte – er war der Leiter der Mysteriumsabteilung,<br />
offensichtlich nicht wegen seiner Befähigung, sondern, weil er der Sohn<br />
des Ministers war. Um sich nicht jeden Tag blamieren zu müssen,<br />
fertigte er ein geheimes Buch über <strong>das</strong> bis zu dem damaligen Zeitpunkt<br />
gesammelte Wissen seiner Abteilung an <strong>und</strong> versteckte es. Da er damit<br />
gegen ein Gesetz verstieß, behielt er <strong>das</strong> Buch für sich <strong>und</strong> erzählte nie<br />
jemandem davon. Dennoch entstand nach seinem Tod hartnäckiges<br />
Gerede über die Existenz eines solchen Werks. Bis heute ist es aber<br />
nicht gef<strong>und</strong>en worden“, meinte er enttäuscht. „Ich hatte ein klein wenig<br />
gehofft, es in der Bibliothek zu entdecken, denn Rosier war ein<br />
Verwandter von Druella Rosier, die Walburga Blacks Bruder Cygnus<br />
geheiratet hat. Hätten die Blacks Wind von so einem Buch bekommen,<br />
hätten sie es sicher in ihren Besitz gebracht.“ Er lehnte sich <strong>zur</strong>ück.<br />
78
„Lassen wir den Quatsch“, fuhr Moody dazwischen. „Es gibt <strong>das</strong><br />
Rosier-Buch nicht, <strong>das</strong> ist nur eine Legende. Reden wir lieber über die<br />
Bibliothek der Blacks.“<br />
Aber <strong>Harry</strong> war gerade etwas eingefallen, was ihm einen heißen<br />
Blitz durch den Körper fahren ließ.<br />
„Wie soll <strong>das</strong> Buch geheißen haben?“, fragte er <strong>und</strong> hoffe, <strong>das</strong>s<br />
niemand sein Herz klopfen hörte. Doch keiner schien seine Aufregung zu<br />
bemerken, außer Hermine, die ihm einen prüfenden Blick zuwarf.<br />
„Mysterien des Lebens“, mampfte Mr. Weasley unter den<br />
missbilligenden Augen seiner Frau mit einem großen Löffel Kartoffelbrei<br />
im M<strong>und</strong>.<br />
<strong>Harry</strong> schluckte, sagte aber nichts. Irgendwie wollte er nicht, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> Buch dem Orden in die Hände geriet, jedenfalls noch nicht jetzt.<br />
„Und kommt nicht <strong>auf</strong> die Idee, es suchen zu wollen“, warnte Mrs.<br />
Weasley, die <strong>Harry</strong>s Schweigen falsch interpretierte. „Erstens gibt es <strong>das</strong><br />
Buch nicht, zweitens ist es für den äußerst unwahrscheinlichen anderen<br />
Fall mit Sicherheit nicht hier, <strong>und</strong> drittens“ – sie machte eine Pause, um<br />
den ihrer Meinung nach wichtigsten Punkt anzukündigen – „ist <strong>das</strong> kein<br />
Buch für Kinder.“<br />
„Ganz recht, <strong>und</strong> nun lasst uns über die Bibliothek reden“, knurrte<br />
Moody <strong>und</strong> ließ die Pergamentblätter mit den Ergebnissen der heutigen<br />
Diskussion <strong>und</strong> der Arbeits<strong>auf</strong>teilung in einer Schublade verschwinden.<br />
„Also ich denke, die Kinder sollten nicht dorthin <strong>zur</strong>ück“, machte<br />
Mrs. Weasley ihren Standpunkt mit störrischem Gesicht klar. „Die<br />
Abteilung für schwarze Magie ist nicht jugendfrei!“<br />
„Und du glaubst, wir würden die Bücher nutzen, um aus Spaß<br />
Eingeweide-Ausweide-Flüche zu üben?“, empörte sich Ron. <strong>Harry</strong><br />
schnaubte in seine Hackfleischpastete.<br />
„Nein, natürlich nicht“, kam es etwas verlegen von Mrs. Weasley.<br />
„Ob es uns passt oder nicht, Molly, die drei haben schlimmere<br />
Dinge erlebt <strong>und</strong> gesehen, als sie in diesen Büchern finden können“,<br />
beruhigte sie Lupin. „Ohnehin denke ich, <strong>das</strong>s sie sich eher für<br />
Verteidigung interessieren als für Schwarze Magie.“ Er zwinkerte <strong>Harry</strong><br />
zu, offensichtlich an die DA denkend. „Außerdem dürfen Schüler der<br />
UTZ-Klassen zu Studienzwecken in die verbotene Abteilung der<br />
Hogwarts-Bibliothek, in der sich, wie ich versichern kann, auch einige der<br />
Bücher befinden, die die Blacks gesammelt haben.“<br />
So wurde beschlossen, die Bibliothek für jedes Ordensmitglied<br />
zugänglich zu machen, ihre Existenz aber vor dem Ministerium zu<br />
verschweigen – genau aus dem Gr<strong>und</strong>, den Lupin genannt hatte,<br />
nämlich, um sie vor den Todessern geheim zu halten.<br />
Eine halbe St<strong>und</strong>e später waren alle satt <strong>und</strong> zufrieden, die<br />
Tagespunkte waren besprochen, <strong>und</strong> einige der Mitglieder machten sich<br />
79
<strong>auf</strong> den Weg zu einer Nachtwache, so z.B. Lupin <strong>und</strong> Mrs. Weasley, die<br />
sich je einen Besen schnappten <strong>und</strong> durch die Haustür verschwanden.<br />
Moody <strong>und</strong> die Zwillinge räumten mit ein paar schnellen Zaubern<br />
die Küche <strong>auf</strong>, während <strong>Harry</strong> sich anschickte, Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
nachzugehen, die bereits <strong>auf</strong> der Treppe standen. In diesem Moment<br />
wurde die düstere Eingangshalle der Blacks so hell erleuchtet, als hätte<br />
die Sonne nach etlichen Regentagen die sie verbergenden Wolken<br />
durchbrochen, <strong>und</strong> ein fast unnatürliches Strahlen breitete sich in dem<br />
Raum aus, nur <strong>das</strong>s es gleichzeitig natürlicher wirkte als alles andere in<br />
dem Haus.<br />
Überrascht fuhr <strong>Harry</strong> herum <strong>und</strong> spürte fast sofort ein<br />
überwältigendes Gefühl von Hoffnung <strong>und</strong> Glück, <strong>das</strong> ihm nicht<br />
unbekannt war. Zu oft hatte er es in den DA-St<strong>und</strong>en mit Patroni zu tun<br />
bekommen, um nicht zu erkennen, wenn sich einer in seiner Nähe<br />
befand.<br />
Neugierig, wer dem Orden eine Nachricht schicken wollte, schaute<br />
er <strong>das</strong> Tier an, welches sich seinen Weg von der Haustür zu der Küche<br />
im unteren Teil des Hauses bahnte. Zuerst dachte er erschrocken,<br />
seinen eigenen Patronus zu sehen, so bekannt erschien ihm <strong>das</strong> große,<br />
silberne, vierbeinige Tier, <strong>das</strong> anmutig im Raum umherhüpfte <strong>und</strong><br />
innehielt, als es ihn bemerkte. Obwohl ihm bewusst war, <strong>das</strong>s Patroni<br />
nicht selbst lebten oder handelten, hätte <strong>Harry</strong> schören können, <strong>das</strong>s<br />
dieser ihn ansah <strong>und</strong> nach kurzem Warten langsam, aber nicht<br />
unentschlossen <strong>auf</strong> ihn zuging. Es war ein schönes, großes Tier, dem zu<br />
<strong>Harry</strong>s Patronusform bloß eins fehlte, nämlich <strong>das</strong> Geweih. Es hielt nur<br />
eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt an <strong>und</strong> schaute aus ruhigen,<br />
sanften Augen <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>, der stocksteif <strong>das</strong>tand <strong>und</strong> sich nicht rühren<br />
konnte. Durchdrungen von der Sicherheit <strong>und</strong> Mut, die jeder Patronus<br />
ausstrahlt, stellte er irritiert einen Anflug von Vertrautheit fest, den er<br />
nicht erklären konnte. Das Tier senkte langsam seine schmale Schnauze<br />
<strong>und</strong> sah ihn mit silbernen Augen, die einen Stich ins Grüne zu haben<br />
schienen, einige Sek<strong>und</strong>en direkt an. Auch wenn <strong>Harry</strong> nie einen<br />
Patronus so etwas hatte tun sehen, empfand er keine Angst oder<br />
Bedrohung, sondern nur ein unendliches Verlangen, die Hand<br />
auszustrecken <strong>und</strong> <strong>das</strong> Tier zu berühren, eine Sehnsucht, die ihn fast<br />
zerriss. Bevor er je<strong>doc</strong>h den Arm heben konnte, sprang die Hirschkuh<br />
mit einem eleganten Satz davon <strong>und</strong> entschwand in die Küche, Kälte<br />
<strong>und</strong> Finsternis <strong>zur</strong>ücklassend.<br />
Völlig durcheinander wandte sich <strong>Harry</strong> um <strong>und</strong> sah Hermine, die<br />
hinter ihm stand, einen <strong>und</strong>efinierbaren Ausdruck im Gesicht. Ron starrte<br />
den silbernen Wirbeln immer noch nach.<br />
„Was zum Teufel war <strong>das</strong>?“, presste er hinaus. „Ich habe noch nie<br />
einen Patronus gesehen, der so – äh –“ Ihm schienen die Worte zu<br />
fehlen.<br />
80
„Präsent war“, brachte <strong>Harry</strong> den Satz zu Ende.<br />
„Ja man, <strong>das</strong> war unheimlich“, schüttelte sich Ron.<br />
„Fand ich nicht“, widersprach <strong>Harry</strong>. „Nur eigenartig.“<br />
„Wem gehört er?“, wollte Ron wissen, anscheinend voller<br />
Bew<strong>und</strong>erung angesichts eines so gelungenen Patronus`.<br />
„Snape“, meinte <strong>Harry</strong> widerwillig, auch wenn dieser der letzte war,<br />
an den er jetzt denken wollte. Hermines Behauptung, die Hirschkuh<br />
stehe für seine Mutter, erschien ihm nun nicht mehr so abwegig, zu sehr<br />
war ihm der Patronus vertraut gewesen, obwohl er ihn noch nie gesehen<br />
hatte. Dennoch bannte er weitergehende Überlegungen in einen<br />
entfernten Teil seines Gehirns, den er nie wieder <strong>auf</strong>suchen wollte.<br />
„Hätte nicht gedacht, <strong>das</strong>s der Schleimbeutel so einen Zauber<br />
hinkriegt“, murrte Ron neidisch. „Klar, er ist ein guter Zauberer, aber der<br />
Patronus passt nicht zu ihm. Ich hätte eher eine Kellerassel erwartet<br />
oder eine richtig eklige schleimige Schnecke …“<br />
Hermine verdrehte die Augen, wor<strong>auf</strong>hin Ron schwieg. Die beiden<br />
hatten dem Anschein nach nach ihrem letzten Streit Waffenstillstand<br />
geschlossen <strong>und</strong> versuchten zumindest, sich gegenseitig nicht zu sehr<br />
zu reizen. <strong>Harry</strong> war es recht, auch wenn es ihm derzeit so vorkam, mit<br />
einem H<strong>auf</strong>en hoch explosivem Zündstoff unterwegs zu sein, wenn Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine in der Nähe waren – stets fiel ihm ein Naserümpfen<br />
Hermines über Rons Naivität oder ein Schnauben Rons über Hermines<br />
Hochnäsigkeit <strong>auf</strong>, die beide auch nur deswegen an den Tag zu legen<br />
schienen, um den anderen versteckt <strong>auf</strong>zustacheln.<br />
Der Patronus kam nicht mehr <strong>zur</strong> Sprache, was <strong>Harry</strong> ungemein<br />
erleichterte, <strong>das</strong> letzte, was er brauchte, war eine Diskussion mit<br />
Hermine über Snape <strong>und</strong> <strong>das</strong>s vielleicht sie Recht gehabt hatte.<br />
Dafür sprang sie ihn beinahe an, sobald sie die Zimmertür hinter<br />
sich geschlossen hatte.<br />
„Du hast <strong>das</strong> Buch.“ Das war keine Frage, sondern eine trockene,<br />
unbeirrbare Feststellung.<br />
<strong>Harry</strong> nickte, während Ron „Welches Buch?“, fragte.<br />
„Es ist oben in Sirius` Zimmer“, meinte er <strong>und</strong> wusste, was nun<br />
kam. Hermine war in der Tat schon aus dem Zimmer gerannt.<br />
„Sie wird mir Tag <strong>und</strong> Tag mehr zu einem Rätsel“, schüttelte Ron<br />
den Kopf <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> ratlos an. „Dass sie in anderen Sphären denkt<br />
wie wir, gut, aber wenigstens könnte sie sich zwingen, wie ein normaler<br />
Mensch zu reden.“<br />
Sie liefen Hermine nach <strong>und</strong> holten sie im verborgenen Korridor<br />
ein. Dort stand sie vor Sirius` Zimmertür <strong>und</strong> blickte sie ehrfürchtig an.<br />
<strong>Harry</strong> hatte gerade Zeit, sich zu fragen, wieso sie solch einen Respekt<br />
hatte, in <strong>das</strong> Zimmer zu gehen, sicher hatte sie Sirius gekannt <strong>und</strong><br />
81
gemocht, aber war es nicht etwas anderes, wenn er, dessen Patensohn,<br />
ihm gedachte?, als sie flüsterte:<br />
„Selektionszauber.“ Es war kaum der Hauch eines Flüsterns, <strong>und</strong><br />
Rons Miene wandelte sich von Irritiertheit über völlige Ahnungslosigkeit<br />
zu Sorge, während er Hermine fast genauso ehrfürchtig ansah wie sie<br />
die Tür.<br />
„Irgendwas stimmt nicht mit dir“, zweifelte er <strong>und</strong> wedelte mit der<br />
Hand vor ihrem Gesicht. Sie sah ihn beleidigt an.<br />
„Das ist ein Selektionszauber, du Ignorant. Die sind wahnsinnig<br />
selten, kaum einer kennt sie oder beherrscht sie gar. Weil sie so<br />
unglaublich schwer sind, kommen sie weder in den UTZ noch in den<br />
meisten Ausbildungslehrgängen dran.“<br />
„Was faselst du da?“ Ron trat beschwingt durch die Tür. „Ist <strong>doc</strong>h<br />
nichts dabei! Dein Selektionszauber scheint sich <strong>auf</strong>gelöst zu haben.“<br />
Hermine zwang sich, ihre Wut zu schlucken.<br />
„Das würdest du jetzt nicht sagen, wenn du ein Slytherin oder<br />
Ravenclaw wärst“, meinte sie bissig.<br />
Ein etwas dümmlicher Ausdruck trat in Rons Augen, bevor er<br />
bew<strong>und</strong>ernd sagte: „Clever, clever, <strong>das</strong>s er so etwas konnte …“ Hermine<br />
beachtete ihn nicht weiter.<br />
Zielstrebig ging sie <strong>auf</strong> den Schreibtisch zu <strong>und</strong> durchsuchte die<br />
Schubladen, <strong>und</strong> bevor <strong>Harry</strong> ihr helfen konnte, hielt sie „Mysterien des<br />
Lebens“ in der Hand.<br />
Ron starrte es an. „Sirius hatte <strong>das</strong> Rosier-Buch?“, fragte er<br />
ungläubig.<br />
„Nein, ich habe es gestern aus der Bibliothek genommen“,<br />
berichtigte ihn <strong>Harry</strong>. „Wollte es eigentlich nur mal anschauen, immerhin<br />
war es <strong>das</strong> einzige aus dem Glasschrank, was ich lesen konnte.“<br />
„Ist euch klar, <strong>das</strong>s wir gerade eines der verbotensten Bücher der<br />
Welt in der Hand halten?“, wisperte Hermine <strong>und</strong> schaute unbehaglich<br />
<strong>auf</strong> den Drachenhautledereinband. Sie schien einen Kampf mit sich<br />
selbst auszutragen, ihre nie versiegende Neugier <strong>auf</strong> neue, interessante<br />
Bücher triumphierte je<strong>doc</strong>h nach ein paar Sek<strong>und</strong>en über ihre Ordnungs-<br />
<strong>und</strong> Regelliebe <strong>und</strong> sie schlug <strong>das</strong> Buch <strong>auf</strong>.<br />
„Und überlege erst, was es wert ist!“ Ron sah mit einer anders<br />
begründeten Sehnsucht <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Buch, in dessen Seiten Hermine nun mit<br />
leuchtenden Augen blätterte.<br />
„Du wirst darin vermutlich nicht viel finden“, warnte <strong>Harry</strong> sie in<br />
ihrem Eifer vor. „Es ist voll von Formeln <strong>und</strong> seltsamen Sätzen.“<br />
„Nun, es behandelt eben keinen einfachen Inhalt, sondern die<br />
kompliziertesten Gesetze <strong>und</strong> Phänomene des Lebens“, meinte Hermine<br />
mit begeisterter Stimme, während sie ihren Blick nicht von dem Buch<br />
lassen konnte.<br />
82
„Lass dich bloß nicht beim Orden damit erwischen“, grinste <strong>Harry</strong>.<br />
„Rons Mum würde es dir sofort wegnehmen.“<br />
„Ich würde es mir <strong>auf</strong> der Stelle selbst wegnehmen, wenn … nun,<br />
wenn nicht mein –“<br />
„Verstand aussetzten würde, sobald ein Buch in deiner Nähe ist?“,<br />
schlug Ron vor.<br />
„Jaaaa …“ Entschlossen schlug Hermine <strong>das</strong> Buch zu. „Ich werde<br />
es einen Abend behalten, <strong>und</strong> gleich morgen früh geben wir es dem<br />
Orden. Es ist zu brisant, als <strong>das</strong>s wir es <strong>auf</strong>bewahren könnten. Allein für<br />
den Besitz könnten wir nach Askaban gebracht werden, <strong>das</strong> Absolute<br />
Verbot der Niederschrift der Mysterien von 156 n. Ch. schreibt bei<br />
Zuwiderhandeln eine lebenslängliche Haftstrafe vor. Aber eine Nacht –“<br />
liebevoll sah sie <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Buch – „wird es schon gehen.“<br />
„Und wir sind dir zu schade, um uns in solch eine Gefahr zu<br />
bringen?“, entrüstete sich Ron. „Ich will auch von den Mysterien lesen!“<br />
„Du würdest keine einzige Seite von dem verstehen, was hier<br />
geschrieben steht“, konterte Hermine gehässig.<br />
„Ah, <strong>und</strong> du natürlich schon?“<br />
„Ja, in der Tat!“<br />
„Schluss jetzt“, kam <strong>Harry</strong> einem neuerlichen Streit zuvor.<br />
„Hermine liest von uns am schnellsten, deshalb ist es besser, sie behält<br />
es <strong>und</strong> erzählt uns morgen alles, was sie herausgef<strong>und</strong>en hat.“ Rons<br />
grimmige Miene zeigte sein Missfallen, er schwieg aber. Vermutlich<br />
ahnte er, <strong>das</strong>s er nach einer Seite mit langen, schweren Sätzen ohnehin<br />
<strong>das</strong> Interesse verlieren würde.<br />
So begaben sich die drei, nachdem Ron <strong>und</strong> Hermine noch schnell<br />
Sirius` Zimmer begutachtet hatten, nach unten in ihr Zimmer, wo<br />
Hermine dem Rosier-Buch per Tarnzauber ein neues Aussehen inklusive<br />
Einband gab, so<strong>das</strong>s es für den Rest des Tages aussah, als könne sie<br />
sich nicht von ihrem neuen „Runen für Profis – wenn sie besser sind als<br />
andere“ trennen – was sie auch tatsächlich nicht tat. Während sie<br />
buchstäblich jede Minute in dem Buch las <strong>und</strong> vor Anstrengung die Stirn<br />
mehr <strong>und</strong> mehr runzelte, spielten <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron etliche Partien<br />
Zauberschach, bevor sie sich in eine wilde Diskussion über Quidditch<br />
verloren, <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> derer Hermine entnervt <strong>das</strong> Zimmer verließ <strong>und</strong> in die<br />
Bibliothek ging.<br />
Nach einem sehr faulen Abend gingen Ron <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> spät ins Bett,<br />
letzterer allerdings hatte Schwierigkeiten, einzuschlafen, <strong>und</strong> begab sich<br />
statt dessen vor die Tür, um Hermine noch einen Besuch abzustatten.<br />
Wie erwartet fand er sie in der Bibliothek, obwohl es schon nach<br />
Mitternacht war. Noch immer hing sie über „Mysterien des Lebens“<br />
gebeugt, den Kopf schwer <strong>auf</strong> die Arme gestützt. Als <strong>Harry</strong> sich ihr im<br />
warmen Feuerschein einiger Kerzen, die sie <strong>auf</strong> ihren kleinen Tisch<br />
83
gestellt hatte, näherte, blinzelte sie ihn an, als bräuchten ihre Augen Zeit,<br />
sich an Dinge zu gewöhnen, die weiter als 15 Zentimeter von ihr entfernt<br />
waren.<br />
„Hast du immer noch nicht genug?“, wies <strong>Harry</strong> fragend <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />
Buch.<br />
„Doch, ich bin am Ende“, gab sie erschöpft zu. „Sieben St<strong>und</strong>en<br />
ohne Pause zu lesen strengt sogar mich an.“ Sie schlug <strong>das</strong> Buch zu<br />
<strong>und</strong> streckte ihre Beine, um sie nach dem langen Sitzen zu dehnen.<br />
„Kann ich noch einen Blick hineinwerfen?“, fragte <strong>Harry</strong>.<br />
„Klar“, gähnte sie <strong>und</strong> gab ihm den schweren Wälzer. „Aber<br />
erwarte keine Abenteuergeschichte“, grinste sie schwach. „Das Meiste<br />
ist reine Wissenschaft in entsprechender Sprache. Ich erzähle euch<br />
morgen, was ich gelesen habe, sonst beschwert Ron sich wieder, <strong>das</strong>s<br />
ich ihn außen vorgelassen hätte. Allerdings habe ich nicht wirklich viel<br />
Verständliches herausfiltern können.“<br />
<strong>Harry</strong> fand es schon erstaunlich, <strong>das</strong>s sie es so lange ausgehalten<br />
hatte, in so anspruchsvollen Seiten zu lesen, ein Gefühl, <strong>das</strong> er,<br />
nachdem er Hermine gute Nacht gewünscht hatte <strong>und</strong> alleine in der<br />
riesigen, einsamen Bibliothek saß, bestätigt fand.<br />
Lange, unverständliche Sätze füllten Seiten über Seiten ohne<br />
Abbildungen, allesamt in einer Handschrift verfasst, die nur schwer<br />
lesbar war. Für den Anspruch, <strong>das</strong> geheimste, verbotenste Buch der<br />
Welt zu sein, <strong>das</strong> die größten <strong>und</strong> essentiellsten Rätsel der Welt<br />
behandelte, war es erstaunlich langweilig.<br />
„Die Zeit. Was sagen wir zu dem Medium, <strong>das</strong> uns alle erst von<br />
dem, was wir sind werden lässt zu dem, was wir sein werden, die<br />
Gr<strong>und</strong>substanz, welche die Bewegung der Materie im Gefüge des Seins<br />
ermöglicht <strong>und</strong> den Bestand des Momentanzustandes verhindert …“<br />
Gefüge des Seins ... Momentanzustand …<br />
<strong>Harry</strong> verschwammen die Buchstaben vor den Augen, welche<br />
durch <strong>das</strong> trübe Licht der Kerzen angefangen hatten zu brennen. Er<br />
blätterte durch die 12 Kapitel des Buches, las da einen Satz über die<br />
Lageranordnung der verschiedenen Prophezeiungen in der großen<br />
Halle, die er vor einigen Wochen betreten hatte, dort eine Formel <strong>zur</strong><br />
Berechnung der Gehirnaktivitäten beim Ausführen eines Accio-Zaubers,<br />
<strong>und</strong> ab <strong>und</strong> zu sah er Diagramme <strong>und</strong> Tabellen, die mit unendlichen<br />
Zahlenreihen mehrere Seiten Papier in Anspruch nahmen.<br />
Er beschloss, zu Bett zu gehen, sollten die Mysterien welche für<br />
ihn bleiben, er wurde aus dem Gekritzel einfach nicht schlau. Gähnend<br />
wollte er <strong>das</strong> Buch zuschlagen, da erblickte er etwas, <strong>das</strong> ihm eine<br />
Gänsehaut über den Rücken jagte <strong>und</strong> die Bibliothek <strong>auf</strong> einmal viel<br />
kälter <strong>und</strong> düsterer erschienen ließ. Auf der nächsten Seite war ein Bild<br />
zu sehen, ein Bild von einem <strong>Tor</strong>bogen, den er nur zu gut kannte,<br />
begegnete er ihm <strong>doc</strong>h fast jede Nacht in seinen Albträumen – der alte,<br />
84
schwarze Bogen mit dem sich ohne jeden Wind bewegenden,<br />
abschreckenden Vorhang, den er nur vor sich sehen musste, um ein<br />
Gefühl der Angst <strong>und</strong> des Horrors zu empfinden, <strong>das</strong> nicht nur durch den<br />
Tod von Sirius verursacht wurde.<br />
Die Kapitelüberschrift lautete „Der Tod“, ein kurzer, trockener Text,<br />
der es nicht annähernd schaffte, den Schrecken <strong>und</strong> die Unsicherheit,<br />
die Hilflosigkeit <strong>und</strong> den Verlust zu beschreiben, die mit ihm<br />
einhergingen. <strong>Harry</strong> fing leicht an zu zittern, als er wieder <strong>und</strong> stärker als<br />
in den letzten paar Tagen die alles auslöschende Trauer in sich<br />
<strong>auf</strong>kommen fühlte, die als ein ihn von innen her taub machender Ersatz<br />
für die Leere zu dienen schien, die Sirius hinterlassen hatte.<br />
Beklemmt überflog er die folgenden Sätze, sie sagten ihm nichts,<br />
nichts, was seine Stumpfheit zu überwinden vermochte.<br />
„Wer zu den anderen geht, kommt nicht <strong>zur</strong>ück … die Verbindung<br />
zwischen ihnen <strong>und</strong> uns ist unerforscht. Nie sah jemand je einen durch<br />
den Durchgang <strong>zur</strong>ückkehren, der ihn zuvor durchschritten hatte, nicht<br />
außer am Totentag, nicht für immer. Überlieferte Gerüchte aus dem<br />
zwölften Jahrh<strong>und</strong>ert nach Christus berichten natürlich vom Hexer aus<br />
Hexham. Dokument in der zweiten Schublade des Sperrschrankes, in<br />
dem Aussage von Augenzeugen enthalten ist. Besagt: „Tot ist nicht<br />
immer tot – Person trat unbeschadet aus der Welt der Anderen <strong>und</strong> lebte<br />
noch etliche Jahre.“ An Augenzeugen wurde allerdings später ein<br />
Verwirrungszauber nachgewiesen.“<br />
Ein dumpfer Schlag hallte durch die Bibliothek, als der mit<br />
Drachenhaut bezogene Einband des Buches <strong>auf</strong> den weichen, mit Staub<br />
bedeckten Boden fiel, eine Wolke aus feinen Staubpartikeln um sich<br />
<strong>auf</strong>wirbelnd. Ein einzelnes Einhornhaar, silbrig glänzend im flackernden<br />
Kerzenlicht, war von der Kordel abgerissen worden <strong>und</strong> hing noch in<br />
<strong>Harry</strong>s Faust, die <strong>das</strong> Buch fallen gelassen hatte. Er kümmerte sich nicht<br />
darum, sondern versuchte, mit wild klopfendem Herzen seiner rasenden<br />
Gedanken Herr zu werden.<br />
Zurück? Konnte <strong>das</strong>, was er gerade gelesen hatte, wahr sein?<br />
Oder hatte er Dinge in den Text hineininterpretiert, die ihm seine<br />
verzweifelten Wünsche <strong>auf</strong>gedrängt hatten? Hastig hob er „Mysterien<br />
des Lebens“ vom Boden <strong>auf</strong> <strong>und</strong> überflog die Stelle fieberhaft noch<br />
einmal. Dort stand es, tintenblau <strong>auf</strong> pergamentbeige: „Tot ist nicht tot.“<br />
Unwillkürlich wanderten <strong>Harry</strong>s Augen zum Ausgang der Bibliothek,<br />
hinter der sich Sirius` Zimmer befand.<br />
Tot ist nicht tot.<br />
Sollte <strong>das</strong> stimmen? Es war unglaublich, aber <strong>Harry</strong> hatte in den<br />
fünf Jahren, die er nun schon in der Zaubererwelt verbrachte, gelernt,<br />
<strong>das</strong>s es Dinge gab, die über seinen Verstand hinausgingen. Mit<br />
85
Zauberkraft konnte soviel bewerkstelligt werden, warum sollte man mit<br />
ihr nicht auch gegen den Tod kämpfen können? Dennoch versuchte er,<br />
seine durchbrechende Hoffnung zu unterdrücken. Tote kamen nicht<br />
<strong>zur</strong>ück. Ernüchtert <strong>und</strong> von Schmerz geplagt dachte er an all die<br />
Zauberer <strong>und</strong> Hexen, die er gekannt hatte <strong>und</strong> die gestorben waren. Und<br />
wie unendlich viele musste es geben, denen er nie begegnen würde, <strong>und</strong><br />
die trotzdem jeden Tag irgendwo den Weg in die „andere Welt“, wie sie<br />
im Buch genannt wurde, antreten mussten. Und noch nie hatte er gehört,<br />
gelesen oder gar gesehen, <strong>das</strong>s einer davon ins Leben <strong>zur</strong>ückgekehrt<br />
war. Die Mysterien logen.<br />
Anders konnte es nicht sein.<br />
Nie kehrte jemand <strong>zur</strong>ück.<br />
Entmutigt <strong>und</strong> wütend <strong>auf</strong> sich selbst, <strong>das</strong>s er der Versuchung<br />
erlegen war, Wege <strong>und</strong> Mittel zu suchen, mit denen er wieder in<br />
Verbindung mit Sirius treten konnte, schlug er <strong>das</strong> Buch zu <strong>und</strong> blies die<br />
Kerzen aus, ging aus dem Raum mit der betonten Überzeugung,<br />
vergessen zu können, was er gerade gelesen hatte. Er ignorierte die<br />
helle Holztür mit dem Gryffindor-Spruch <strong>und</strong> lief stattdessen <strong>auf</strong> direktem<br />
Weg in sein Zimmer, wo Ron friedlich <strong>und</strong> ohne Zweifel oder Hader<br />
schlief, ein Bein aus dem Bett baumelnd. Ohne Zeit zu verlieren<br />
verstaute <strong>Harry</strong> „Mysterien des Lebens“ unter seinem Bett <strong>und</strong> zog sich<br />
die Decke über den Kopf, versuchte, nicht an <strong>das</strong> Buch, den Tod oder<br />
Sirius zu denken, ja, er startete sogar einen kläglichen Versuch,<br />
Okklumentik anzuwenden, bis er aus lauter Verbissenheit, seine<br />
Gedanken <strong>und</strong> Gefühle aus seinem Kopf zu bekommen, einschlief.<br />
Am nächsten Morgen erwachte <strong>Harry</strong> nach einer unruhigen <strong>und</strong><br />
kurzen Nacht unausgeschlafen, zwang sich aber dennoch, <strong>auf</strong>zustehen<br />
<strong>und</strong> mit Ron zu plaudern. Kurz dar<strong>auf</strong> stürmte Hermine fröhlich ins<br />
Zimmer, <strong>Harry</strong> fragend ansehend, wor<strong>auf</strong>hin er ihr wortlos „Mysterien<br />
des Lebens“ reichte.<br />
Seufzend strich sie noch einmal über den Drachenhauteinband <strong>und</strong><br />
nahm den Tarnzauber von ihm, bevor die drei sich <strong>auf</strong> den Weg <strong>zur</strong><br />
Treppe machten, um dem Orden <strong>das</strong> Buch zu übergeben.<br />
Eine Stufe. <strong>Harry</strong> bekam den Hexer von Hexham nicht aus seinem<br />
Kopf. Die nächste Stufe. Aber <strong>das</strong> war alles gelogen, war <strong>das</strong> Werk<br />
eines gestörten, von einem Verwirrungszauber getroffenen Zeugens. Die<br />
dritte Stufe. Dennoch: er wurde den Mysteriumstext nicht los, der ihm im<br />
Kopf umherschwirrte wie eine lästige Fliege.<br />
„Ron, Hermine.“<br />
Er stoppte <strong>auf</strong> der Treppe, direkt neben dem Bild eines schattigen<br />
Weihers, an dessen Ufer eine Herde Rehe graste. Eine Ricke wandte<br />
ihm neugierig den Kopf zu. Ich sehe nur noch die Toten, dachte <strong>Harry</strong><br />
betrübt.<br />
86
„Was?“ Hermine sah ihn forschend an.<br />
„In dem Buch“, begann <strong>Harry</strong> langsam, nicht sicher, wie er <strong>das</strong> in<br />
Worte fassen konnte, welche nicht allzu verrückt klangen, „gibt es ein<br />
Kapitel über den Tod.“<br />
„Ja?“, runzelte Hermine die Stirn. „Nun, muss es wohl, da wir selbst<br />
im Raum des Todes gewesen sind. Aber ich bin bis zu dem Teil des<br />
Buches nicht mehr gekommen.“<br />
„Dieses Kapitel berichtet über den <strong>Tor</strong>bogen mit dem Vorhang, ihr<br />
wisst schon, der mit den unheimlichen Stimmen.“<br />
„<strong>Harry</strong>, wir beide haben nie Stimmen gehört“, klang Hermine nun<br />
ein wenig vorsichtig, als nähere sich <strong>das</strong> Gespräch einem Terrain, <strong>auf</strong><br />
dem die von ihr geliebte Logik einen schweren Stand hatte.<br />
Jetzt fiel es ihm wieder ein, nur er <strong>und</strong> Luna hatten die leisen,<br />
flüsternden Stimmen hören können, die scheinbar von jenseits des<br />
<strong>Tor</strong>bogens kamen.<br />
„Jedenfalls waren da Stimmen“, entgegnete er trotzig.<br />
„OK, wir nehmen für den Augenblick an, <strong>das</strong>s da tatsächlich<br />
Stimmen waren“, stöhnte Hermine. „Egal, ich denke, wir alle wissen,<br />
welchen Bogen du meinst.“ <strong>Harry</strong> ignorierte ihre schnippische Art, viel zu<br />
<strong>auf</strong>gewühlt von dem, was er über den Hexer gelesen hatte.<br />
Er schaute sich nach allen Seiten um <strong>und</strong> entdeckte im ersten<br />
Stock eine Tür, <strong>auf</strong> die er wies <strong>und</strong> den anderen bedeutete,<br />
mitzukommen.<br />
Der Raum dahinter stelle sich als eine Art kleines<br />
Aufenthaltszimmer heraus, von dem es anscheinend ungezählte im<br />
Black-Haus gab. <strong>Harry</strong> knallte „Mysterien des Lebens“ <strong>auf</strong> den Tisch <strong>und</strong><br />
blätterte bis zu dem ominösen Kapitel, <strong>das</strong> er Ron <strong>und</strong> Hermine zum<br />
Lesen gab.<br />
Als die beiden fertig waren, schaute Hermine nachdenklich in die<br />
Luft, Ron hatte einen fast ehrfurchtsvollen Ausdruck <strong>auf</strong> dem Gesicht.<br />
„Soll <strong>das</strong> heißen, <strong>das</strong>s Tote <strong>zur</strong>ückkehren können?“, fragte er mit großen<br />
Augen. „Aber wieso hat es dann noch niemand getan – außer diesem<br />
Hexer, <strong>und</strong> <strong>das</strong> ist über zwei Jahrtausende her.“<br />
„Eben“, warf Hermine ein. „Es scheint nur dieses eine Beispiel zu<br />
geben, <strong>das</strong> die These untermauert. Und derjenige, der <strong>das</strong> Beispiel<br />
bezeugt, ist verwirrt. Ehrlich gesagt, von allen Standpunkten aus, dem<br />
logischen, rechtlichen <strong>und</strong> magischen, kann man dem Kapitel keinen<br />
Glauben schenken. Überhaupt, ich habe aus dem ganzen Buch nichts<br />
Verständliches herauslesen können.“<br />
<strong>Harry</strong> hatte eine solche Reaktion erwartet, wiederholte Hermine<br />
<strong>doc</strong>h eben die Argumente, mit denen er sich die halbe Nacht versucht<br />
hatte, ein<strong>zur</strong>eden, <strong>das</strong>s alles, was dort stand, eine Lüge war.<br />
„OK“, brachte er die Idee ein, die er sich dar<strong>auf</strong>hin <strong>zur</strong>echtgelegt<br />
hatte, „<strong>das</strong> hört sich zwar vernünftig an, aber was ist, wenn der Zeuge<br />
87
erst nachdem er den Hexer <strong>zur</strong>ückkehren sah, verzaubert wurde?“ Eifrig<br />
schaute er seine Fre<strong>und</strong>e an.<br />
„Wieso <strong>das</strong>?“ w<strong>und</strong>erte sich Ron.<br />
„Vielleicht war es der Hexer selbst, der nicht wollte, <strong>das</strong>s jemand<br />
wusste, <strong>das</strong>s er wieder am Leben war. Oder andere Unsägliche haben<br />
ihn verwirrt, um zu verhindern, <strong>das</strong>s er etwas ausplaudert, um die Sache<br />
zu vertuschen <strong>und</strong> selbst Profit daraus zu schlagen.“<br />
„Zu vertuschen, <strong>das</strong>s Tote <strong>zur</strong>ückkommen können?“, staunte Ron.<br />
„Das wäre die Mysteriumsabteilungsentdeckung des Jahrtausends, noch<br />
spektakulärer als die Entwicklung des Patronus-Zaubers!“<br />
Beide, <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine sahen ihn perplex an.<br />
„Hat Dad mal erzählt“, wurde Ron rot.<br />
Hermine nickte anerkennend <strong>und</strong> wandte sich <strong>Harry</strong> zu. „So dumm<br />
wie die Theorie <strong>auf</strong> den ersten Blick klingt, ist sie nicht. Nein, hört zu“,<br />
beharrte sie, als Ron sie unterbrechen wollte, „natürlich wäre es eine<br />
wissenschaftliche Revolution, wenn ein Weg zwischen den Welten<br />
gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> genutzt werden könnte. Niemand müsste mehr sterben.<br />
Aber genau <strong>das</strong> liegt <strong>doc</strong>h <strong>das</strong> Problem.“ Ihre Stimme klang seltsam<br />
belegt. „Der Tod ist notwendig. Menschen müssen schlicht <strong>und</strong><br />
ergreifend sterben.“<br />
„So ein Unsinn“, herrschte <strong>Harry</strong> sie an. „Das kannst du nur sagen,<br />
weil du noch nie jemanden richtig gekannt <strong>und</strong> gemocht hast, der<br />
sterben musste! Du weißt nicht, wie <strong>das</strong> ist, wenn du einen Fre<strong>und</strong> oder<br />
Verwandten für immer verloren hast, genau weißt, <strong>das</strong>s du nie wieder<br />
mit ihm wirst sprechen können, <strong>und</strong> die Trauer <strong>und</strong> Verzweiflung dir den<br />
Verstand nehmen, so<strong>das</strong>s du nach jedem kleinen Strohhalm suchst, um<br />
einen Ausweg zu finden, um <strong>das</strong> Geschehene ungeschehen zu machen,<br />
<strong>und</strong> sei es, in einem alten, dummen Buch irgendwelche Geschichten von<br />
verzauberten, verwirrten Leuten zu lesen <strong>und</strong> sich daran zu klammern!“<br />
Wutentbrannt schnaubte er sie an, sie wusste gar nichts, wusste<br />
nicht, von was sie da erzählte. Er hatte gehofft, die beiden würden ihn<br />
verstehen, sich zumindest vernünftig mit dem Hexer von Hexham<br />
auseinander setzen <strong>und</strong> diskutieren, ob es vielleicht <strong>doc</strong>h eine winzig<br />
kleine Chance gab, Sirius <strong>zur</strong>ückzuholen. Stattdessen wollte Hermine<br />
ihm weismachen, <strong>das</strong>s der Tod unabänderlich <strong>und</strong> sogar unentbehrlich<br />
war.<br />
Sie schien <strong>auf</strong> ihrem Stuhl immer kleiner zu werden, hatte aber<br />
trotzdem einen trotzigen Blick <strong>auf</strong>gesetzt.<br />
„Eben“, versuchte sie langsam <strong>und</strong> sanft zu erklären, „der Tod ist<br />
ein Thema, <strong>das</strong> von Menschen, die ihn fürchten oder unter ihm leiden,<br />
nicht objektiv beurteilt werden kann.“<br />
<strong>Harry</strong> sah sie mordlüstern an.<br />
„Stellt euch <strong>doc</strong>h mal vor, keiner würde mehr endgültig sterben. Es<br />
werden Menschen geboren, jeden Tag, aber keiner würde für sie<br />
88
weichen müssen. Das würde zu Überbevölkerung, Entwicklungsstillstand<br />
<strong>und</strong> einer Unmenge an Konflikten führen. Der Tod ist ein natürlicher<br />
Katalysator, der für <strong>das</strong> Bestehen der Menschen notwendig ist.“<br />
Ron schwante wohl Übles, denn er sprang vor, um <strong>Harry</strong><br />
festzuhalten, aber der stürzte bereits zu Hermine hin <strong>und</strong> schrie sie an,<br />
nun außer sich vor Wut.<br />
„Du musst immer mit deiner Logik, mit deiner Objektivität kommen!<br />
Soll ich dir was sagen? Es gibt keine Objektivität, sondern nur jeden<br />
einzelnen von uns, der sein eigenes Leben sieht <strong>und</strong> danach urteilt!“<br />
„Genau deswegen –“, versuchte Hermine anzusetzen, nun Tränen<br />
in den Augen, aber <strong>Harry</strong> ließ ihr keine Chance.<br />
„Ich glaube du hast gar nicht die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden,<br />
weil du zu sehr durchdrungen bist von deiner alles bestechenden, über<br />
jedem stehenden Logik!“<br />
„<strong>Harry</strong> James <strong>Potter</strong>!“, kreischte Hermine <strong>und</strong> sprang ebenfalls <strong>auf</strong>,<br />
wischte sich die Tränen weg.<br />
„Jetzt fängst du schon an wie meine Mutter“, setzte <strong>Harry</strong> einen<br />
reflexartigen Satz gehässig dagegen.<br />
„Ach, woher willst du <strong>das</strong> wissen?“, zischte Hermine, während Ron<br />
immer noch mit der erfolglosen Aufgabe beschäftigt war, die beiden<br />
auseinander zu halten.<br />
„Gar nicht, <strong>und</strong> zwar genau wegen solchen Leuten wie dir“, sagte<br />
<strong>Harry</strong> kalt <strong>und</strong> hart.<br />
Hermine sank in sich zusammen, schaute ihn abgr<strong>und</strong>tief entsetzt<br />
an <strong>und</strong> rannte schluchzend aus dem Zimmer.<br />
Ron gelang es endlich, <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> einen Stuhl zu drängen. Einige<br />
Minuten herrschte Stille.<br />
„Ich hasse ihre Art manchmal“, knurrte <strong>Harry</strong> unnötig heftig. Ihm<br />
selbst tat der Streit schon wieder leid. Er hatte Hermine nicht verletzen<br />
wollen, aber emotionale Überreaktionen waren leider immer noch seine<br />
Schwäche.<br />
„Klar, aber deswegen lohnt es sich nicht zu streiten“, wiegelte Ron<br />
ab. Ihn als vernünftigen Schlichter zu erleben, ließ <strong>Harry</strong> nun fast<br />
grinsen. „Vermutlich war der Hexer-Zeuge sowieso ein Spinner <strong>und</strong><br />
niemand ist von den Toten <strong>zur</strong>ückgekehrt. Ihr habt also beide Unrecht.“<br />
„Danke für die Aufmunterung“, seufzte <strong>Harry</strong>.<br />
Ron meinte neugierig: „Ich wusste gar nicht, <strong>das</strong>s du einen zweiten<br />
Vornamen hast.“<br />
„Ich auch nicht.“<br />
„Es ist richtig gehend unheimlich, was sie alles weiß <strong>und</strong> wir nicht.<br />
Soll ich dir was sagen – sie ist uns unerreichbar weit voraus <strong>und</strong> wird<br />
<strong>das</strong> immer sein.“<br />
89
Entgegen ihrer beider Befürchtungen gestaltete sich <strong>das</strong> Verhältnis<br />
mit Hermine nicht so schwierig wie nach dem Streit erwartet; sie schien<br />
genauso wenig Interesse an gegenseitigem Anschweigen zu haben wie<br />
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron, so<strong>das</strong>s sie sich bei <strong>Harry</strong> entschuldigte <strong>und</strong> zusetzte:<br />
„Der Hexer hat wahrscheinlich ohnehin nicht existiert“, <strong>und</strong> da er<br />
ebenfalls seinen Fehler eingestand, zu heftig <strong>und</strong> <strong>auf</strong>brausend reagiert<br />
zu haben, war die Auseinandersetzung für sie erledigt.<br />
Was <strong>Harry</strong> allerdings um einiges weniger einfach fiel, war,<br />
„Mysterien des Lebens“ zu vergessen. Der Orden hatte <strong>das</strong> Buch mit<br />
großer Überraschung <strong>und</strong> Freude <strong>auf</strong>genommen, sogar misstrauische<br />
Fragen, wo es denn plötzlich <strong>auf</strong>getaucht sei, blieben aus. Es wurde<br />
beschlossen, <strong>das</strong> Buch vor dem Ministerium <strong>auf</strong> jeden Fall geheim zu<br />
behalten, <strong>und</strong> es in den nächsten Monaten von zwei Unsäglichen, die<br />
Mitglieder des Ordens waren, <strong>auf</strong> inhaltliche Fehler untersuchen zu<br />
lassen <strong>und</strong> eventuell nützliche Zauber gegen im Kampf gegen die<br />
Todesser dar<strong>auf</strong> zu ziehen. <strong>Harry</strong>, Ron, Hermine <strong>und</strong> Ginny durften mit<br />
abstimmen.<br />
So schnell, <strong>das</strong>s er es kaum bemerkt hatte, kam der letzte Julitag<br />
<strong>und</strong> damit sein 16. Geburtstag. Die Sonne schien, als er erwachte <strong>und</strong><br />
erstaunt Ron, Hermine, Mr. <strong>und</strong> Mrs. Weasley, Fred, George, Bill, Ginny,<br />
Lupin, Moody, Kingsley, M<strong>und</strong>ungus Fletcher <strong>und</strong> Tonks an seinem Bett<br />
stehen <strong>und</strong> lauthals „Happy Birthday“ im durch die geschlossenen<br />
Fenster getrübt hereinflutenden Licht singen hörte.<br />
„Danke“, stammelte er, leicht errötend, als sie fertig waren. Mrs.<br />
Weasley umarmte ihn. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“,<br />
meinte sie fröhlich <strong>und</strong> überreichte ihm ein riesiges Päckchen in rotgoldenem<br />
Papier mit einem kleinen Phönix, der mittels farbenfrohen<br />
Bändern an dem Paket festgeb<strong>und</strong>en war, ungeduldig mit seinen<br />
winzigen Flügeln schlug <strong>und</strong> dabei heißer kreischte. Dann traten Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine vor. Auch sie umarmte ihn kurz, wor<strong>auf</strong>hin Ron einen leicht<br />
verdrießlichen Ausdruck bekam, der aber schnell wieder verschwand, als<br />
er <strong>Harry</strong> ebenfalls gratulierte. Von beiden bekam er ein Päckchen, <strong>das</strong> er<br />
zu dem von Mrs. Weasley <strong>auf</strong> den Nachttischschrank legte.<br />
Anschließend, als alle anderen ihre Glückwünsche losgeworden waren,<br />
trat Lupin vor <strong>und</strong> übergab <strong>Harry</strong> einen Briefumschlag.<br />
„Wir haben uns überlegt, <strong>das</strong>s wir alle zusammenlegen <strong>und</strong> dir ein<br />
Geschenk suchen, an <strong>das</strong> du dich noch lange erinnern kannst. Immerhin<br />
wird man nicht jeden Tag 16.“ Gespannt wurde <strong>Harry</strong> von den<br />
Ordensmitgliedern beobachtet, während er <strong>das</strong> schöne Pergamentpapier<br />
des Briefes <strong>auf</strong>riss <strong>und</strong> ein Stückchen Schreibpergament entfaltete, <strong>auf</strong><br />
dem in dunkelroter, glitzernder Tinte geschrieben stand:<br />
90
Herzlichen Glückwunsch zum neuen Lebensjahr! Da jeder Tag uns<br />
etwas Neues bringen, uns zu wichtigen Erfahrungen leiten soll, möchten<br />
wir dir ein Erlebnis schenken, welches dir für dein weiteres Leben viele<br />
neue Sichten beschert.<br />
Der Phönixorden<br />
Darunter fand <strong>Harry</strong> eine mit einer Büroklammer angeheftete<br />
Fahrkarte. Er besah sie sich genauer. Es handelte sich um ein Zugticket,<br />
<strong>das</strong> von London nach Paris führte, von dort nach Madrid <strong>und</strong> Lissabon,<br />
<strong>und</strong> darunter fand er noch ein Flugticket von Portugal <strong>zur</strong>ück nach<br />
London. Perplex schaute er <strong>auf</strong>.<br />
„Na ja“, meinte Mr. Weasley zwinkernd, „ehrlich gesagt, für die<br />
Unterbringung müsst ihr selbst sorgen – aber wir denken, ihr werdet Mrs.<br />
Figgs Zelt zu verwenden wissen.“<br />
„Ihr?“, war alles, was <strong>Harry</strong> völlig überwältigt herausbrachte.<br />
„Wir haben auch welche!“, rief Hermine begeistert, offensichtlich<br />
glücklich, diese Information endlich loswerden zu können, nachdem sie<br />
die letzten zwei Minuten ungeduldig <strong>auf</strong>- <strong>und</strong> abgewippt war <strong>und</strong> wedelte<br />
mit zwei anderen Karten.<br />
„Oder denkst du, wir lassen dich völlig alleine durch die Welt<br />
ziehen?“, grinste Ron. „Jeder weiß <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s du nur Unsinn anstellst,<br />
wenn du <strong>auf</strong> dich gestellt bist.“<br />
„Und <strong>das</strong>s noch mehr Unsinn geschieht, wenn ihr dabei seid.“<br />
<strong>Harry</strong> lachte <strong>auf</strong>, konnte noch nicht ganz fassen, <strong>das</strong>s sie drei bald<br />
unterwegs in Europa sein würden, ohne Aufsicht tun <strong>und</strong> lassen konnten,<br />
was sie wollten. Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht.<br />
„Ist <strong>das</strong> nicht zu gefährlich?“, fragte er. Den Namen Voldemorts<br />
erwähnte er nicht, aber dem Phönixorden brauchte man dar<strong>auf</strong> wohl<br />
nicht <strong>auf</strong>merksam zu machen.<br />
„Nun, deswegen werdet ihr als Muggel reisen, <strong>auf</strong> Muggelart <strong>und</strong><br />
euch nur in Muggelgebieten <strong>auf</strong>halten“, erklärte Moody. „Und natürlich<br />
werden Vorkehrungen getroffen, Zauber <strong>und</strong> Kommunikationsmöglichkeiten<br />
eingerichtet werden, so<strong>das</strong>s wir immer wissen, wo ihr seid<br />
<strong>und</strong> euch in Sek<strong>und</strong>en <strong>zur</strong> Hilfe kommen können.“<br />
<strong>Harry</strong> verstand, der Orden stellte für diese Zeit einen Zauberer nur<br />
für ihn ab, der die ganze Zeit überwachte, ob die drei in Gefahr waren,<br />
aber in London blieb.<br />
„Wir fanden ganz einfach, <strong>das</strong>s Voldemort dir nicht die Möglichkeit<br />
nehmen darf, ein eigenes Leben zu führen“, meinte Lupin.<br />
„Danke“, erwiderte <strong>Harry</strong> ehrlich. „Das ist <strong>das</strong> schönste Geschenk,<br />
<strong>das</strong> ich je bekommen habe.“<br />
Nach einer Weile waren die Ordensmitglieder wieder gegangen,<br />
<strong>und</strong> <strong>Harry</strong> blieb mit Ron <strong>und</strong> Hermine alleine <strong>zur</strong>ück.<br />
91
„Das wird klasse, Mann“, strahlte Ron <strong>und</strong> schlug <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die<br />
Schulter. „Nur wir drei <strong>und</strong> zwei Wochen voller Freiheit!“ In seiner seligen<br />
Freude schien ihn aber ein störender Gedanke zu überkommen.<br />
„Allerdings wird es vor nächstem Sommer nichts werden.“<br />
„Wieso?“, fragte <strong>Harry</strong> enttäuscht.<br />
„Weil meine Mum überhaupt nur eingewilligt hat, mich gehen zu<br />
lassen, wenn ich volljährig bin. Und <strong>das</strong> werde ich erst nächsten März –<br />
da wir uns in den Osterferien <strong>auf</strong> die Prüfungen vorbereiten müssen,<br />
schätze ich, haben wir erst nach dem sechsten Schuljahr Zeit.“<br />
Hermine schien <strong>Harry</strong> nicht die Laune verderben zu wollen <strong>und</strong><br />
wandte schnell ein:<br />
„Dadurch haben wir noch fast ein Jahr Vorbereitungszeit <strong>und</strong><br />
können uns genau überlegen, wohin wir wollen <strong>und</strong> was wir sehen <strong>und</strong><br />
tun möchten. Wir könnten z.B. eine Liste <strong>auf</strong>stellen, in die jeder ein paar<br />
Dinge schreibt, die ihn interessieren oder die er schon immer ein Mal tun<br />
wollte. Ich z.B. möchte einen Tag surfen gehen.“<br />
„Das kannst du <strong>doc</strong>h gar nicht“, prustete Ron.<br />
„Eben deswegen will ich es lernen, du unverbesserlicher Zweifler.“<br />
„Abgesehen davon“, grinste <strong>Harry</strong>, der Hermine genau kannte,<br />
„kannst du uns nicht weismachen, <strong>das</strong>s diese Liste nicht schon existiert.<br />
Du kennst Frankreich, Spanien <strong>und</strong> Portugal sicher bereits besser als<br />
jeder Reiseführer.“<br />
Hermine lief leicht rot an <strong>und</strong> murmelte etwas von Langeweile in<br />
den Ferien, wor<strong>auf</strong>hin <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron sich einen viel wissenden Blick<br />
zuwarfen.<br />
„Aber ihr seit jetzt an der Reihe“, forderte sie energisch. „Lest euch<br />
<strong>doc</strong>h ein wenig in die Geschichte dieser Länder ein, damit ihr eine<br />
genaue Vorstellung davon habt, was uns erwartet –“<br />
„Ach, warum denn?“, gähnte Ron faul. „Du weißt <strong>doc</strong>h alles, wir<br />
müssen dich nur fragen.“<br />
Hermine gab es <strong>auf</strong>.<br />
Neugierig wandte <strong>Harry</strong> sich nun den drei Päckchen <strong>auf</strong> seinem<br />
Nachtschrank zu.<br />
Mrs. Weasleys Geschenk enthielt neben einigen kleinen, lecker<br />
aussehenden Kuchen den ihm mittlerweile bekannten Pullover, diesmal<br />
in dunklem Grün mit einem kleinen, kunstvoll gewebten Phönix <strong>auf</strong> dem<br />
Rücken.<br />
„Jeder vom Orden ist inzwischen mit einem davon ausgestattet“,<br />
lachte Ron. „Sie hat sich nur nicht getraut, Snape auch einen<br />
anzubieten. Was wohl auch besser so ist. Stell dir vor, er würde damit<br />
vor Du-Weißt-Schon-Wem herumstolzieren.“<br />
Außer dem Pullover fand <strong>Harry</strong> einen selbst gebastelten Kalender,<br />
der zwar für nächstes Jahr war, dafür aber fantastische Bilder von<br />
Hogwarts, Hogsmeade, der Winkelgasse, sogar dem Fuchsbau <strong>und</strong> der<br />
92
Quidditch-WM enthielt, <strong>auf</strong> einigen waren auch Ron <strong>und</strong> Hermine zu<br />
sehen, Hagrid mit Seidenschnabel oder – <strong>Harry</strong> zuckte unmerklich<br />
zusammen, Sirius in der Küche des Black-Hauses. Er strahlte in die<br />
Kamera, nichts ließ ahnen, <strong>das</strong>s er wenige Wochen nach dieser<br />
Aufnahme tot sein würde. Genauso wie die meisten der Mitglieder <strong>auf</strong><br />
dem Foto des alten Ordens, <strong>das</strong> er <strong>Harry</strong> vor einem Jahr gezeigt hatte.<br />
„Der Orden hat die Fotos in den letzten Monaten zusammengestellt<br />
– Mrs. Weasley dachte, es wäre eine schöne Idee, dir Bilder von der<br />
Zaubererwelt zu schenken – weil du noch keine hast, <strong>und</strong> besonders für<br />
deine Zeit bei den Dursleys. Und weil Ron ihr erzählt hat, <strong>das</strong>s er noch<br />
nie einen Kalender bei dir gesehen hat.“<br />
„Das stimmt“, meinte <strong>Harry</strong> beschwingt, „<strong>und</strong> im Ligusterweg muss<br />
ich nicht immer nur Dudleys dummes Gesicht vor mir sehen.“<br />
Nun machte er sich an Rons Geschenk. Erstaunt entnahm er dem<br />
sehr kleinen Päckchen eine Karte, die mit einem Besen versehen war.<br />
„In Hogwarts wird dieses Jahr ein Länderspiel ausgetragen“,<br />
erklärte dieser mit wachsender Begeisterung in der Stimme. „Schottland<br />
gegen England, der Klassiker des britannischen Quidditch-Sports.<br />
Wegen der Unruhen durch die Todesser werden dieses Jahr nur Spiele<br />
an absolut sicheren Orten ausgetragen – <strong>und</strong> da gehört Hogwarts<br />
natürlich dazu. Wegen des kleinen Stadions war es irre schwer, an<br />
Karten zu kommen, aber Dad hat uns drei im Ministerium besorgt. Eine<br />
Mitarbeiterin der Abteilung für magische Sportarten ist im Orden.“<br />
„Wirklich eine klasse Idee, danke!“, meinte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> begann sich<br />
schon jetzt <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Spiel zu freuen.<br />
Schließlich machte er sich daran, sein letztes Geschenk<br />
auszupacken, <strong>das</strong> von Hermine.<br />
Es überraschte ihn nicht wirklich, als er zwei dicke Bücher<br />
auswickelte, zusammen mit einer ganzen Wagenladung an Süßigkeiten.<br />
„Da ich wusste, was du von den anderen bekommst, dachte ich,<br />
Bücher würden dazu ganz gut passen“, meinte sie unbeschwert. „Und<br />
diese kannst du wohl gut gebrauchen. Das eine ist für deinen Unterricht,<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> andere eher als Unterhaltung gedacht.“<br />
Bei dem Wort „Unterricht“ ahnte <strong>Harry</strong> Übles <strong>und</strong> stellte sich ein<br />
todlangweiliges Buch über Singzauber oder Ähnliches vor, als er aber<br />
<strong>das</strong> in einem hübschen dunklen Blauton gehaltene Werk näher<br />
betrachtete, sah er, <strong>das</strong>s es Verteidigung gegen die dunklen Künste<br />
behandelte, <strong>und</strong> zwar, soweit er beim Überfliegen abschätzen konnte,<br />
nicht den Anfängerstoff, den er aus dem Unterricht kannte, sondern<br />
fortgeschrittene Zauber <strong>und</strong> einige seltene Anwendungen.<br />
„Ach so!“, rief er lachend, „du meintest tatsächlich für meinen<br />
Unterricht!“<br />
93
„Es enthält viele Zauber <strong>und</strong> Hexerein, die in den Standardwerken<br />
des Schulunterrichts nicht behandelt werden“, erklärte Hermine. „So weit<br />
ich weiß, wird es auch in der Aurorenausbildung mit verwendet.“<br />
„Toll“, freute sich <strong>Harry</strong>. „Damit lassen sich die DA-St<strong>und</strong>en sicher<br />
noch verbessern, vielleicht können wir daraus statt einer<br />
Unterrichtsalternative sogar eine Art Fortgeschrittenenkurs machen,<br />
insofern wir im normalen Unterricht dieses Jahr endlich einen<br />
ordentlichen Lehrer haben.“<br />
„Falls die DA noch existiert“, warnte Ron.<br />
„Dann werden wir sie eben wieder zum L<strong>auf</strong>en bringen“, antwortete<br />
<strong>Harry</strong> entschlossen.<br />
Das zweite Buch handelte zu seiner Verblüffung von antiken<br />
Sagen.<br />
Hermine sah seine Verwirrung <strong>und</strong> meinte: „Ich hoffe immer noch,<br />
etwas zu finden, was dir Spaß macht zu lesen. Vielleicht sind es ja<br />
Sagen. Abgesehen davon ist es sehr spannend, in diesen Sagen<br />
magische Einflüsse zu entdecken. Nicht alles davon ist nur Mythos.“<br />
<strong>Harry</strong> erinnerte sich vage an seine Schulzeit in der Muggelwelt, wo<br />
er auch einige der bekannten Sagen hatte lesen müssen. Soweit er<br />
wusste, hatte er sie immer ganz interessant gef<strong>und</strong>en.<br />
„Vielen Dank euch beiden“, meinte er, während er die Geschenke<br />
<strong>auf</strong> seinem Nachtschrank verstaute. „So viel Schönes habe ich noch nie<br />
bekommen.“<br />
Den Rest des Tages verbrachte er mit seinen Geschenken, aber<br />
auch damit, zusammen mit Ron eine wilde Diskussion gegen Hermine zu<br />
führen, die die beiden davon überzeugen wollte, weiter für <strong>das</strong> nächste<br />
Schuljahr vorzuarbeiten. Schließlich gab sie ihre Beteuerungen, sie<br />
würden durch jede Jahresabschlussprüfung fallen, <strong>auf</strong> <strong>und</strong> wendete sich<br />
lieber ihrem neuen Arithmantik-Buch zu.<br />
<strong>Harry</strong> verzog sich am Abend mit seinem Sagenbuch ins<br />
Schlafzimmer, während Ron verträumt in einer Ausgabe der "Quidditch<br />
täglich" blätterte, einer Sportzeitung mit den neuesten Ligaberichten, <strong>und</strong><br />
bei besonders interessanten Neuigkeiten überrascht <strong>auf</strong>stöhnte.<br />
Unentschlossen, mit welcher Geschichte er beginnen wollte,<br />
überflog <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> Inhaltsverzeichnis <strong>und</strong> entschied sich dann für die<br />
Geschichte des Tantalos <strong>und</strong> danach für die der Europa, bevor er<br />
schließlich in <strong>das</strong> Buch vertieft von den Abenteuern des Orpheus las.<br />
Plötzlich, als er begriff, was dort geschrieben stand, sprang er mit<br />
klopfendem Herzen <strong>auf</strong> <strong>und</strong> rief Ron. Dieser schaute abwesend von<br />
seiner Zeitschrift <strong>auf</strong>.<br />
„Was?“<br />
„Hier steht es auch!“, plapperte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>geregt.<br />
„Was steht wo? Du hörst dich langsam an wie Hermine.“<br />
94
„Die <strong>Unterwelt</strong>! In dem Buch steht, wie jemand – äh, namens<br />
Orpheus in die <strong>Unterwelt</strong> ging, um seine tote Frau vom Tod<br />
<strong>zur</strong>ückzufordern!“<br />
„Und hat er sie bekommen?“, fragte Ron neugierig.<br />
„Mmm, nein, weil er geschummelt hat … Aber <strong>das</strong> ist <strong>doc</strong>h egal.<br />
Tatsache ist, hier steht ein weiterer Beweis dafür, <strong>das</strong>s man in die<br />
<strong>Unterwelt</strong> <strong>und</strong> wieder <strong>zur</strong>ück gelangen kann.“<br />
„Die Geschichte kenne ich“, meinte Ron <strong>und</strong> beugte sich über <strong>das</strong><br />
Sagenbuch. „Mum hat sie uns manchmal erzählt, als wir noch klein<br />
waren. Wieso haben Muggel dieselben Sagen wie wir?“<br />
„Hermine meinte, in einigen der Geschichten steckt magischer<br />
Einfluss – vielleicht war Orpheus ein Zauberer …“<br />
„Ja, aber dennoch ist es nur eine Geschichte“, meinte Ron<br />
langsam.<br />
„Wir rufen Hermine“, bestimmte <strong>Harry</strong>. Zwar hatte er den Streit mit<br />
ihr nicht vergessen, dem ungeachtet wusste sie je<strong>doc</strong>h mehr über<br />
Geschichte der Zauberei als sie beiden zusammen.<br />
„Bin zu faul“, murrte Ron. „Wahrscheinlich ist sie in der Bibliothek,<br />
<strong>das</strong> ist eine Meile weit weg.“<br />
„Dann nehmen wir eben die DA-Münzen“, entschied <strong>Harry</strong>. Er<br />
suchte aus seinem Geldsäckchen die mit einer ihm nur zu bekannten<br />
Nummer versehene Galleone <strong>und</strong> tippte sie sanft mit seinem Zauberstab<br />
an, wor<strong>auf</strong>hin sie heiß wurde <strong>und</strong> ihre Zahlen änderte. Er hatte <strong>das</strong><br />
aktuelle Datum <strong>und</strong> die momentane Uhrzeit eingraviert.<br />
Tatsächlich erschien Hermine fünf Minuten später <strong>und</strong> schaute die<br />
beiden erstaunt an.<br />
„Wieso habt ihr die Münzen aktiviert?“, wollte sie wissen.<br />
„Weil wir dich was fragen müssen“, antwortete <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> wollte ihr<br />
<strong>das</strong> Sagenbuch unter die Nase halten.<br />
„Seid ihr völlig durchgebrannt?“, rief sie, riss ihren Zauberstab<br />
hervor <strong>und</strong> murmelte hektisch ein paar Worte, während sie die Münze<br />
leicht damit berührte.<br />
„Habt ihr vielleicht daran gedacht, <strong>das</strong>s alle DA-Mitglieder dieselbe<br />
Nachricht erhalten haben? Natürlich kann jetzt kein DA-Treffen sein,<br />
deswegen denken sie womöglich, jemand ist in Gefahr!“<br />
Wütend funkelte sie die beiden an. Ron wurde rot <strong>und</strong> machte ein<br />
schuldbewusstes Gesicht.<br />
„Das haben wir nicht berücksichtigt“, gab <strong>Harry</strong> zu <strong>und</strong> steckte<br />
kleinlaut seine Münze <strong>zur</strong>ück.<br />
„Toll“, verdrehte Hermine die Augen. „Und <strong>das</strong> nur, weil ihr zu faul<br />
wart, mich zu holen!“<br />
„Es tut uns <strong>doc</strong>h leid“, brummte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> hielt ihr nun endlich <strong>das</strong><br />
Buch hin.<br />
„Was ist damit?“, fragte sie. „Gefällt es dir nicht?“<br />
95
„Nein, es ist sehr gut“, meinte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>richtig. „Es ist nur so, diese<br />
Geschichte solltest du dir mal durchlesen.“<br />
Hermine nahm es in die Hand <strong>und</strong> überflog stirnrunzelnd die kurze<br />
Erzählung. Schließlich legte sie <strong>das</strong> Buch seufzend <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Bett <strong>und</strong><br />
wandte sich <strong>Harry</strong> zu.<br />
„Ich weiß, was du damit andeuten willst“, begann sie, bedacht<br />
Worte wählend, welche ihre Meinung zwar ausdrücklich wiedergaben,<br />
aber andererseits <strong>Harry</strong> nicht wieder <strong>auf</strong>brausen ließen.<br />
„Ich kann mir vorstellen, <strong>das</strong>s es verlockend ist zu glauben,<br />
Orpheus hätte es tatsächlich gegeben. Dass er wirklich in <strong>das</strong> Totenreich<br />
gegangen wäre, um seine Frau <strong>zur</strong>ückzuholen. Aber leider ist <strong>das</strong> nichts<br />
als eine jahrtausende alte, griechische Erzählung, welche schon<br />
Millionen von Menschen unterhalten hat, genauso wie z.B. Hänsel <strong>und</strong><br />
Gretel oder Rotkäppchen oder sonst ein Märchen –“<br />
„Muggel hören sich tatsächlich Märchen über Rotkappen an?“,<br />
babbelte Ron dazwischen, <strong>doc</strong>h keiner erwiderte seine Frage.<br />
„Du hast selbst gesagt, <strong>das</strong>s man Magie in den Sagen finden<br />
kann!“, verteidigte sich <strong>Harry</strong>. „Es warst du, die mich <strong>auf</strong>forderte, danach<br />
Ausschau zu halten –“<br />
„Aber <strong>doc</strong>h nicht, indem du schon wieder angebliche Beweise für<br />
die Existenz einer <strong>Unterwelt</strong> suchst.“<br />
<strong>Harry</strong> schnaubte. „Und wieso kennen Zaubererfamilien dann<br />
dieselben Sagen wie Muggel?“<br />
„Vor tausenden von Jahren lebten Muggel <strong>und</strong> Zauberer noch in<br />
beidseitiger Kenntnis miteinander. Nicht, <strong>das</strong>s die Zauberer <strong>und</strong> Hexen<br />
allzu öffentlich Magie anwandten oder den Muggel ihre Geheimnisse<br />
verrieten, aber zumindest wussten beide Parteien voneinander <strong>und</strong><br />
durchstanden die Probleme <strong>und</strong> Herausforderungen des Lebens<br />
gemeinsam. Die Muggel halfen den Zauberern in praktischen Fragen<br />
<strong>und</strong> die Zauberer erwiesen den Muggeln hin <strong>und</strong> wieder einen<br />
magischen Dienst.<br />
„Aber <strong>das</strong> ist untersagt“, meinte Ron.<br />
„Ja, vom Zaubereiministerium, <strong>und</strong> dieses gab es damals noch<br />
nicht. Das Verbot der Zauberei in Gegenwart von Muggeln wurde<br />
sowieso erst im Mittelalter eingeführt. Das würdest du auch wissen,<br />
wenn du bei Binns nicht immer schlafen würdest“, setzte sie gehässig<br />
hinzu.<br />
„Nun, so haben sich die Legenden beider Gesellschaften mit der<br />
Zeit vermischt. Zauberer wie Muggel kennen die alten Sagen <strong>und</strong><br />
Märchen, in denen die Alltagssituationen <strong>und</strong> die Lebensart der Antike<br />
geschildert werden. Nichts desto trotz sind sie aber nur Erfindungen,<br />
Übertreibungen, Ausschmückungen, so wie alle Geschichten.“<br />
„Das ist nicht wahr“, fuhr <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>. „Hinter jeder Geschichte<br />
verbirgt sich eine Wahrheit!“<br />
96
„Sicher, aber nicht die, die man sich aussuchen möchte.“<br />
Sie diskutierten noch eine Weile weiter, ohne je<strong>doc</strong>h zu einem<br />
sinnvollen Ende zu kommen, so<strong>das</strong>s sich Hermine am Ende entnervt in<br />
ihr Zimmer begab. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron, der sich allein schon, um Hermine<br />
mal wieder zu reizen, <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s Seite gestellt hatte, hingen beide ihren<br />
Gedanken nach bis sie einschliefen.<br />
97
KAPITEL SECHS<br />
Wieder zu Hause<br />
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong><br />
Hermine verbrachten herrliche lange <strong>und</strong> faule Tage in den vielen<br />
Räumen des Black-Hauses. Zwar durften sie nach wie vor nicht vor die<br />
Tür gehen, was sie angesichts des andauernden tadellosen<br />
Sommerwetters bedrückte, aber andererseits waren sie noch nie so<br />
lange zusammen gewesen, ohne irgendwelche Haus<strong>auf</strong>gaben erledigen<br />
oder für Arbeiten lernen zu müssen. <strong>Harry</strong> baute seine Fähigkeiten im<br />
Zaubererschach aus <strong>und</strong> schlug eines legendären Nachmittags Mitte<br />
August Ron <strong>das</strong> erste Mal; Hermine beteiligte sich trotz der ausgiebigen<br />
St<strong>und</strong>en, die sie unermüdlich in der Bibliothek der Blacks verbrachte, oft<br />
an Spielen wie Snape explodiert, Koboldstein oder Zaubererdart, bei<br />
dem man mittels speziell dazu gehörender Zauberstäbe, die nur einen<br />
einzigen Bewegungszauber ausführen konnten, kleine Pfeile <strong>auf</strong> eine<br />
Zielscheibe hexen musste.<br />
Der Orden hatte in diesen Wochen recht wenig zu tun, es schien,<br />
als hätten selbst die Todesser bei dem heißen Wetter keine Lust, aktiv<br />
zu werden. Ab <strong>und</strong> zu wurden Treffen abgehalten, an denen die drei<br />
auch teilnahmen, aber es gab nichts Interessantes zu berichten. Snape<br />
sah <strong>Harry</strong> die ganze Zeit über nicht, worüber er auch nicht traurig war.<br />
Vermutlich hatte er außerhalb zu tun.<br />
Bevor sich es <strong>Harry</strong> versah, kam <strong>das</strong> Ende des Monats <strong>und</strong> somit<br />
der Abschied aus dem Black-Haus immer näher. Eines Abends,<br />
nachdem er, Hermine <strong>und</strong> die Weasleys schon begonnen hatten, für<br />
Hogwarts zu packen, kamen drei Eulen aus dem Kamin geplumpst, als<br />
sie gerade beim Abendessen in der Küche saßen.<br />
Hermine stützte sich beim Aufstehen in ihrem Suppenteller <strong>auf</strong>, so<br />
schnell sprang sie <strong>auf</strong>, um zu den Eulen zu kommen.<br />
98
„Unsere ZAG-Ergebnisse!“, quiekte sie <strong>auf</strong>geregt, während Mrs.<br />
Weasley ihren Ärmel mit einem Trockenzauber bearbeitete.<br />
„Ich warte schon seit Tagen dar<strong>auf</strong>, Professor McGonagall sagte<br />
mir gestern, in den nächsten ein oder zwei Tagen wäre es soweit, aber<br />
<strong>das</strong>s es so fix ging –“ Über beide Füße stolpernd erreichte sie die drei<br />
Eulen, welche in der Zwischenzeit versuchten, den Kaminstaub aus dem<br />
Gefieder zu putzen.<br />
Hastig schnappte sie sich eine helle Schleiereule, betrachtete <strong>das</strong><br />
Kuvert des kleinen Briefes, den sie am Bein trug <strong>und</strong> drückte <strong>das</strong> Tier<br />
dem überraschten Ron in die Hand. Danach versuchte sie es mit einem<br />
hübschen Steinkauz, schüttelte aber wieder den Kopf <strong>und</strong> ließ den Vogel<br />
ohne hinzusehen in die Richtung fallen, in der sie <strong>Harry</strong> vermutete. Er<br />
konnte ihn gerade noch <strong>auf</strong>fangen. Schließlich drückte sie den kleinen<br />
Waldkauz, der noch übrig war, fest an sich, so<strong>das</strong>s er empört <strong>auf</strong>schrie,<br />
<strong>und</strong> lief <strong>zur</strong>ück zu ihrem Platz.<br />
„Du nimmst aber nicht an, <strong>das</strong>s dieses Verhalten noch als normal<br />
gilt?“, verleiherte Ron die Augen. Hermine beachtete ihn nicht, sondern<br />
versuchte mit derartig zitternden Händen den Brief von ihrer Eule zu<br />
lösen, <strong>das</strong>s diese ihr schließlich leicht in den Finger biss <strong>und</strong> mit einem<br />
hochmütigen Blick begann, die Schnur um ihr Bein mittels ihres scharfen<br />
Schnabels selbst durchzubeißen.<br />
<strong>Harry</strong> war es ganz mulmig geworden, als der Steinkauz in seine<br />
Arme gefallen war. Vorsichtig löste er den Brief, der <strong>das</strong> Wappen<br />
Hogwarts trug, <strong>und</strong> entfaltete <strong>das</strong> Pergament. Die ZAG-Ergebnisse hatte<br />
er ganz vergessen, sie waren in den langen Ferientagen voll freier Zeit,<br />
in der er nie an die Schule gedacht hatte, einfach untergegangen. Ohne<br />
Erwartungen, aber auch ohne Furcht senkte er den Blick <strong>auf</strong> seine<br />
Notenliste.<br />
Zuerst sprang ihm ein großes, in rot geschriebenes „E“ ins Auge.<br />
Mit klopfendem Herzen suchte er <strong>das</strong> dazugehörige Fach <strong>und</strong> fand es zu<br />
seinem Erstaunen in Verwandlung. Auch in Pflege Magischer Geschöpfe<br />
hatte er ein „E“ bekommen, <strong>das</strong> zweitbeste Prüfungsergebnis, was zu<br />
erreichen war. Freudig fuhr er mit dem Finger die weiteren Notenzeilen<br />
entlang. Ein trockenes, kurzes „S“ zierte je<strong>doc</strong>h den Platz nach den<br />
Fächern Wahrsagen <strong>und</strong> Geschichte der Zauberei, aber <strong>Harry</strong><br />
verw<strong>und</strong>erte <strong>das</strong> schlechte Ergebnis nicht, da er in diese beiden<br />
Prüfungen nur mit sehr ungenügenden Vorbereitungen gegangen war<br />
<strong>und</strong> zudem in Geschichte der Zauberei auch noch zusammengebrochen<br />
war.<br />
Mit jähem Glücksgefühl entdeckte er dann ein „O“, die höchste<br />
ZAG-Note, hinter Verteidigung gegen die dunklen Künste. Zwar hatte er<br />
immer gehofft, in diesem Fach seine beste Note zu kriegen, aber nach<br />
einigen Wochen des Grübelns war er sich unsicher gewesen, ob seine<br />
99
Prüfungsleistung tatsächlich so sauber gewesen war, wie er es direkt<br />
danach im Gefühl gehabt hatte.<br />
Ebenfalls durchgefallen war er mit einem „M“ in Astronomie,<br />
wohingegen er ein sehr gutes „E“ in Zauberkunst <strong>auf</strong>weisen konnte.<br />
Schon vier ZAGs, dachte er freudig <strong>und</strong> fand ohne Überraschung in<br />
Kräuterk<strong>und</strong>e mit einem „E“ seinen fünften.<br />
Als er in die letzte Zeile schaute, wohl ahnend, welches Fach<br />
noch fehlte, machte er sich bereit für <strong>das</strong> „M“ oder „S“, <strong>das</strong> ihm seinen<br />
Berufswunsch verwehren würde. Vielleicht hatte er sogar ein „T“, <strong>das</strong><br />
angeblich für Troll stand. Vollkommen verblüfft riss er je<strong>doc</strong>h die Augen<br />
<strong>auf</strong> <strong>und</strong> ließ <strong>das</strong> Pergament in seine Suppe fallen. Hastig zog er es vom<br />
Teller <strong>und</strong> wedelte damit irgendwie schockiert in der Luft.<br />
„Was ist, man?“, fragte Ron besorgt. „Bist du überall<br />
durchgefallen?“ <strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf, ihm war es nicht möglich,<br />
etwas zu sagen. Hermine schien nichts zu bemerken, denn sie hielt ihr<br />
Pergament so nah an ihre Nase, <strong>das</strong>s nichts von ihrem Gesicht zu sehen<br />
war. Die Ordensmitglieder schauten neugierig zu <strong>Harry</strong>.<br />
„Es ist Zaubertränke“, krächzte er hinaus <strong>und</strong> blickte wieder <strong>auf</strong><br />
seine Notenliste. Vielleicht lag ein Zauber <strong>auf</strong> ihr, der ihn Dinge sehen<br />
ließ, die nicht existierten.<br />
Ron schnaubte kurz.<br />
„Und wenn schon, es war <strong>doc</strong>h klar, <strong>das</strong>s wir bei diesem Kotz – äh,<br />
bei Snape durchfallen würden“, meinte er mit einem Seitenblick <strong>auf</strong> seine<br />
Mutter. „Was hast du denn erwartet außer ein „S“ oder „M“?“<br />
„Ich habe ein „O“, flüsterte <strong>Harry</strong>, der seiner Note weiterhin keinen<br />
Glauben schenkte, einfach, weil es so abwegig war. Snape würde ihm<br />
nie ein „O“ geben. Eher würde er ihn <strong>auf</strong> seinen Geburtstag einladen <strong>und</strong><br />
ihm ein Stück <strong>Tor</strong>te reichen.<br />
„Ein „Ohnegleichen“ in Zaubertränke?“, japste Ron <strong>und</strong> starrte<br />
<strong>Harry</strong> an, als hätte dieser angekündigt, an der WM für Zauberschach<br />
teilnehmen zu wollen.<br />
„<strong>Harry</strong>, ich auch!“, kreischte Hermine, <strong>das</strong> Gesicht vor Aufregung<br />
fleckig.<br />
„Bei dir w<strong>und</strong>ert <strong>das</strong> keinen, mach also kein Drama draus“, murrte<br />
Ron <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> widmete sich etwas enttäuscht seiner eigenen<br />
Notenliste.<br />
„Immerhin habe ich auch einen ZAG“, tröstete er sich. „Ein „A“ ist<br />
mehr, als ich in fünf Jahren Zaubertränke je zu hoffen gewagt habe.“<br />
„Ehrlich?“, stürmte Mrs. Weasley, die es nun nicht mehr <strong>auf</strong> ihrem<br />
Platz hielt, los <strong>und</strong> nahm Rons Brief in die Hand.<br />
„Sechs ZAGs“!“ jubelte sie. „Alles geschafft außer Geschichte,<br />
Astronomie <strong>und</strong> Wahrsagen – na, <strong>das</strong> sind auch alles unwichtige Fächer.<br />
Dafür – lass mal sehen – ein „O“ in Verteidigung! Gut zu wissen, <strong>das</strong>s<br />
eure Geheimgesellschaft wenigstens etwas gebracht hat. Und ein „E“ in<br />
100
Verwandlung <strong>und</strong> Zauberkunst, ich muss schon sagen, ein sehr gutes<br />
Zeugnis!“ Sie strahlte den ganzen Abend um die Wette mit Ron, der sich<br />
für den letzten Tag prompt ein Essen wünschen durfte.<br />
Zusammen mit seinem Zeugnis fand er ein weiteres Blatt<br />
Pergamentpapier. Er las es durch <strong>und</strong> sah Ron erstaunt an.<br />
"Ich bin zum Quidditch-Kapitän ernannt worden", stammelte er.<br />
Ron dagegen schien nicht überrascht.<br />
"Was hast du denn erwartet, jetzt, wo Wood <strong>und</strong> Angelina weg<br />
sind? Du bist unser bester Flieger, <strong>und</strong> mit der DA hast du auch<br />
bewiesen, <strong>das</strong>s du Leuten was beibringen kannst, warum also nicht?"<br />
So hatte <strong>Harry</strong> die Sache noch nicht gesehen, aber als er etwas<br />
erwidern wollte, hatte Ron auch schon wieder begonnen, eifrig jeden im<br />
Raum von seinen Noten <strong>und</strong> den schweren Aufgaben, die er für sie hatte<br />
lösen müssen, zu erzählen.<br />
Hermine, die natürlich in jedem ihrer elf Fächer ein „O“ bekommen<br />
hatte, bedankte sich die nächsten St<strong>und</strong>en so oft bei <strong>Harry</strong> für die DA,<br />
ohne die sie ihrer Meinung nach nie so gut in Verteidigung gewesen<br />
wäre, <strong>das</strong>s sich dieser dann in ein Schachspiel mit Ron flüchtete. An<br />
Snapes „O“ wollte er lieber nicht mehr denken, er fürchtete, sich falsche<br />
Hoffnungen zu machen. Wenn er nach Hogwarts kam, würde sich sicher<br />
alles als ein böser Scherz herausstellen.<br />
Der Morgen ihrer Abreise brach strahlend blau <strong>und</strong> mit dem<br />
Versprechen an, genauso heiß zu werden wie fast jeder Tag der<br />
Wochen davor. <strong>Harry</strong>, Ron, Hermine <strong>und</strong> Ginny hatten ihre Koffer<br />
gepackt (Arthur Weasley hatte ihre Schulbücher per Bestellung an<br />
seinen Arbeitsplatz liefern lassen, es war momentan zu gefährlich, sich<br />
in der Winkelgasse herumzutreiben, zumal die Todesser über dem<br />
Grimmauldplatz immer noch Wache hielten) <strong>und</strong> warteten gespannt in<br />
der Eingangshalle, wie der Transport nach Hogwarts erfolgen sollte.<br />
Denn einfach so zum Hogwartsexpress zu gehen schien <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> der<br />
immer noch andauernden Todesserbewachung des Black-Hauses<br />
unmöglich.<br />
„Na, wir disapparieren, was denn sonst?“, fragte Lupin leicht<br />
verwirrt, als Ron ihn dar<strong>auf</strong> ansprach.<br />
„Aber wieso konnten wir dann <strong>Harry</strong> nicht mit Apparieren herholen,<br />
sondern mussten einen Umweg über ganz Europa fliegen?“<br />
„Weil man natürlich nur aus dem Haus heraus apparieren kann,<br />
nicht hinein. Sonst würde es wohl schon von Todessern hier wimmeln.<br />
Dumbledore hat einen entsprechenden Zauber <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Haus gelegt.“<br />
Lupin, Mrs. Weasley, Moody <strong>und</strong> Tonks stellten sich dar<strong>auf</strong>hin<br />
jeder an die Seite eines der Schüler <strong>und</strong> ergriffen seinen Arm.<br />
101
„Halte dich gut fest <strong>und</strong> lass ja nicht los, wer weiß, wo du sonst<br />
landest“, warnte Lupin <strong>Harry</strong>, den er als Partner auserkoren hatte. „Und<br />
pass genauso <strong>auf</strong> deine Sachen <strong>auf</strong>.“<br />
<strong>Harry</strong> packte sogleich seinen Koffer so fest, <strong>das</strong>s seine Finger<br />
schmerzten, Lupin ergriff Hedwigs Käfig. Sie gab einen kleinen,<br />
ängstlichen Laut von sich, als ahnte sie, <strong>das</strong>s ihr etwas ganz <strong>und</strong> gar<br />
Ungeheuerliches widerfahren sollte.<br />
Lupin schloss die Augen, schien sich kurz zu konzentrieren <strong>und</strong><br />
wirbelte plötzlich aus dem Stand herum, aber <strong>Harry</strong> bekam es kaum mit,<br />
denn schon schien sich ein schweres Gewicht mit ungeheurer Kraft um<br />
seinen Körper zu legen <strong>und</strong> ihn zusammenzupressen. Die Luft wurde<br />
aus seiner Lunge gedrückt, er hatte <strong>das</strong> Gefühl zu ersticken <strong>und</strong> konnte<br />
sich keinen Zentimeter rühren, auch wenn es ihm gleichzeitig so schien,<br />
als rase er.<br />
Auf einmal war der Druck um ihn vorbei <strong>und</strong> ließ ihn so unerwartet<br />
frei, so<strong>das</strong>s er den Halt verlor <strong>und</strong> <strong>auf</strong> den Boden fiel. Harter Beton fing<br />
seinen Sturz nicht gerade sanft ab, seine Brille flog davon. Als nächstes<br />
machte er mit Mühe einen Arm aus, der sich seinem Gesicht<br />
entgegenstreckte. Verwirrt nahm er seine Brille, <strong>und</strong> ergriff die Hand von<br />
Hermine, die ihm half <strong>auf</strong>zustehen.<br />
„Nicht gerade die gemütlichste Art zu reisen, was?“, fragte sie,<br />
allerdings schien sie nicht hingefallen zu sein.<br />
„Sorry, <strong>Harry</strong>, ich bin fast <strong>auf</strong> Moody appariert <strong>und</strong> musste einen<br />
Schritt ausweichen“, entschuldigte sich Lupin <strong>und</strong> reichte <strong>Harry</strong> den<br />
Eulenkäfig. Hedwig warf ihm daraus einen nicht sehr wohlwollenden<br />
Blick entgegen <strong>und</strong> schüttelte ihr durcheinander gebrachtes Gefieder.<br />
Plötzlich gewahrte er, wo er sich befand. Direkt vor ihm pustete der<br />
scharlachrote Hogwartsexpress eine dicke Rauchwolke in die Luft über<br />
dem Bahngleis 9 ¾, herumwuselnde Mütter, Väter, Onkel, Tanten <strong>und</strong><br />
Geschwister brachten die Hogwartsschüler zu den Waggons, überall<br />
standen Koffer, Beutel, Taschen, Käfige <strong>und</strong> Schachteln herum, Katzen<br />
aller Farben <strong>und</strong> Ratten aller Größen, Eulen aller Arten <strong>und</strong> Kröten aller<br />
Rassen sprangen, liefen oder hüpfen <strong>auf</strong> dem Bahnsteig umher oder<br />
saßen in Käfigen. Von weitem sah <strong>Harry</strong> Luna Lovegood winken, welche<br />
eine Klasse unter ihm war <strong>und</strong> sich auch an der DA beteiligt hatte. Er<br />
winkte kurz <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> machte sich dann mit Ron, Hermine <strong>und</strong> Ginny<br />
<strong>auf</strong> zum Zug.<br />
Keuchend schoben sie mit Hilfe von Lupin <strong>und</strong> Mr. Weasley die<br />
schweren Koffer in ein noch leeres Abteil <strong>und</strong> verstauten ihr Gepäck <strong>auf</strong><br />
der Ablage. Schließlich gingen sie alle hinaus, um sich vom Orden zu<br />
verabschieden.<br />
„Passt <strong>auf</strong> euch <strong>auf</strong>“, gab ihnen Mrs. Weasley mit <strong>auf</strong> den Weg.<br />
„Keine geheimen Organisationen, keine Abstecher in <strong>das</strong> Ministerium,<br />
bringt niemanden in Lebensgefahr <strong>und</strong> benehmt euch den Lehrern<br />
102
gegenüber respektvoll.“ Letzteres schien besonders <strong>auf</strong> Snape <strong>und</strong> in<br />
böser Erinnerung an Umbridge gemeint zu sein.<br />
<strong>Harry</strong> nickte abwesend, tief in seinem Inneren piekste ihn die<br />
unheilvolle Vorahnung, <strong>das</strong>s sie davon nicht einen Punkt einhalten<br />
würden.<br />
„Voldemort ist fast wieder <strong>auf</strong> dem Höhepunkt seiner Macht, <strong>und</strong> zu<br />
was er in der Lage ist, um seine Ziele zu erreichen, habt ihr gesehen. Er<br />
wird nicht rasten, bis er dich hat, <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> er wird sich immer neue<br />
Raffinessen einfallen lasse. Deswegen ist es wichtiger denn je, <strong>das</strong>s du<br />
den Anweisungen der Lehrer folgst <strong>und</strong> <strong>das</strong>s du keine Alleingänge in der<br />
Umgebung Hogwarts unternimmst“, richtete Lupin <strong>das</strong> Wort an <strong>Harry</strong>.<br />
„Solange du dort bist, solltest du sicher sein.“<br />
„Und wenn ihr mit dem Orden in Verbindung treten müsst, weil<br />
euch unerklärliche Dinge passieren“ – Moody schaute viel sagend zu<br />
<strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> jeder dachte an dessen Träume über Voldemort – „wendet<br />
euch an die Lehrer, die Mitglied im Orden sind. Professor Dumbledore<br />
<strong>und</strong> Professor McGonagall wären da wohl eure ersten<br />
Ansprechpartner.“<br />
<strong>Harry</strong> versuchte sich gar nicht vorzustellen, nachts an Snapes Tür<br />
zu klopfen, um ihn über einen Traum zu informieren, den er über<br />
Voldemort gehabt hatte, <strong>und</strong> nickte.<br />
„Gut“, meinte Mrs. Weasley knapp, als der Hogwartsexpress ein<br />
durchdringendes Pfeifen hören ließ, „ihr müsst euch beeilen.“ Sie<br />
umarmte Ron <strong>und</strong> Ginny, dann auch <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine. „Gebt <strong>auf</strong> euch<br />
Acht“, flüsterte sie. „Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn einem<br />
von euch etwas passiert.“<br />
Dar<strong>auf</strong> wusste <strong>Harry</strong> nichts zu antworten, sondern verabschiedete<br />
sich <strong>und</strong> lief mit den anderen drein zum Zug. Kurz bevor dieser sich<br />
langsam <strong>und</strong> ächzend, als sei er mit Schülern <strong>und</strong> Gepäck überbeladen,<br />
in Bewegung setzte, sprangen sie <strong>auf</strong> <strong>und</strong> winkten den<br />
Ordensmitgliedern, bis sie hinter einer Kurve verschwanden.<br />
Ron lief beschwingt den Gang hinunter.<br />
„Irgendwie ist es <strong>doc</strong>h schön, wieder für sich zu sein“, grinste er<br />
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine an. „Dieses Eingesperrtsein hat mich ganz irre<br />
gemacht.“<br />
Und nun überkam es auch <strong>Harry</strong>; ein Gefühl der Freiheit, der<br />
Losgelöstheit, <strong>das</strong> ihn augenblicklich in bessere Laune versetzte. Er<br />
freute sich unbändig <strong>auf</strong> Hogwarts, <strong>auf</strong> einmal merkte er, wie er trotz<br />
Rons <strong>und</strong> Hermines Gesellschaft im Black-Haus <strong>das</strong> alte Schloss<br />
vermisst hatte. Er sah die ungeheuer vielen Treppen vor sich, lächelte<br />
beim Gedanken an seine altbekannten Geheimgänge, er roch förmlich<br />
die frische, klare Luft der wilden Landschaft, die die Ländereien prägte.<br />
Er spürte die weichen Polster der gemütlichen Sessel im Gryffindor-<br />
Gemeinschaftsraum <strong>und</strong> die wohlige Wärme der flackernden<br />
103
Kaminfeuer, die gegen die raue Kälte im Schloss ankämpften. Sein<br />
Magen knurrte beinahe, als ihm die ausgedehnten Abendessen in der<br />
großen Halle in den Sinn kamen; <strong>und</strong> natürlich freute er sich am meisten<br />
<strong>auf</strong> die Menschen, die diese Schule bevölkerten; seine Fre<strong>und</strong>e, die DA-<br />
Kollegen, <strong>das</strong> Gryffindor-Quidditch-Team, die Geister <strong>und</strong> vor allem<br />
Hagrid.<br />
„Ja!“, rief er, selbst überrascht von seinem Ungestüm, aus, „es wird<br />
Zeit, <strong>das</strong>s wir wieder rauskommen.“<br />
„Aber vergesst nicht, was Mrs. Weasley gesagt hat“, warnte<br />
Hermine. „Keine Geheimgesellschaften mehr, <strong>und</strong> aus Hogwarts raus<br />
dürfen wir vermutlich auch nicht. Ich denke ohnehin, <strong>das</strong>s dieses Jahr<br />
Hogsmeade aus dem Schulprogramm gestrichen wird.“<br />
„Und wenn schon“, ließ sich <strong>Harry</strong> nicht beeindrucken. Seit seine<br />
Beziehung mit Cho im vergangenen Schuljahr dort entscheidende Risse<br />
bekommen hatte, war er nicht sehr scharf dar<strong>auf</strong>, dorthin<br />
<strong>zur</strong>ückzukehren.<br />
„Was meinst du mit keine Geheimgesellschaften mehr?“, empörte<br />
sich Ron. „Soll <strong>das</strong> heißen, du bist gegen die DA?“ Er wandte sich an<br />
<strong>Harry</strong>, als die drei ihr Abteil gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sich gesetzt hatten. „Wir<br />
ziehen <strong>das</strong> weiter durch, oder?“<br />
„Klar“, antwortete <strong>Harry</strong> ohne nachzudenken. Er hatte sich in den<br />
Ferien schon neue Lektionen überlegt <strong>und</strong> dafür auch Hermines<br />
Geburtstagsgeschenk als überaus nützlich empf<strong>und</strong>en.<br />
Hermine machte einen unglücklichen Eindruck.<br />
„Schau uns nicht so an, jetzt, wo Umbridge weg ist, wäre die DA<br />
<strong>doc</strong>h nicht mehr geheim“, argumentierte Ron. „Und demnach würden wir<br />
<strong>das</strong> Verbot meiner Mutter nicht umgehen.“ Zufrieden lehnte er sich in<br />
seinem Sitz <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> versuchte, nicht in Hermines immer noch<br />
skeptisches Gesicht zu sehen.<br />
In dem Moment ging die Abteiltür <strong>auf</strong> <strong>und</strong> Neville, Ginny <strong>und</strong> Luna<br />
traten ein.<br />
„Wieso seid ihr nicht bei der Vertrauensschülerversammlung?“,<br />
w<strong>und</strong>erte sich Loona. Sie trug heute ausnahmsweise einmal un<strong>auf</strong>fällige<br />
Kleidung, zumindest, wenn man davon absah, <strong>das</strong>s ihr Umhang, den sie<br />
sich bereits übergezogen hatte, grün-rot gestreift war. Ron starrte sie an.<br />
„Oh, ich dachte, ein wenig Farbe könnte in dieser Zeit nicht schaden“,<br />
meinte sie unbeschwert <strong>und</strong> ließ sich zusammen mit den anderen beiden<br />
<strong>auf</strong> einem leeren Sitz nieder. „Aber in Hogwarts muss ich leider wieder<br />
den schwarzen Umhang anziehen, so sind ja die Vorschriften. Mein<br />
Vater startet übrigens gerade eine Aktion für die Durchsetzung farbiger<br />
Umhänge an Hogwarts“ – sie wedelte mit einer Zeitung, die <strong>Harry</strong> als<br />
den Klitterer erkannte.<br />
Bevor sie fortfahren konnte, war Hermine <strong>auf</strong>gesprungen.<br />
„Vertrauensschülerversammlung!“, keuchte sie <strong>und</strong> packte Ron am<br />
104
Ärmel. „Das habe ich ganz vergessen. Los!“ Murrend erhob sich Ron aus<br />
dem weichen Sitz <strong>und</strong> trabte hinter der hibbeligen Hermine aus dem<br />
Abteil heraus.<br />
„Na, wie waren deine Ferien, <strong>Harry</strong>?“, fragte Neville. Er hielt seine<br />
Kröte Trevor im Schoß <strong>und</strong> hatte eine neue, unidentifizierbare Pflanze<br />
mit seltsam viereckigen Blättern neben sich abgestellt.<br />
„Ganz OK“, entgegnete dieser.<br />
„Bei mir ist auch nicht allzu viel passiert“, stellte Neville eine Spur<br />
enttäuscht fest. „Nur <strong>das</strong>s meine Großmutter es keinen Tag versäumt<br />
hat, mir zu sagen, wie stolz sie <strong>auf</strong> mich ist, weil ich gegen Voldemort<br />
gekämpft habe. Sie meint, ich käme ganz nach meinen Eltern.“<br />
Nevilles Eltern lebten, seit Todesser sie gefoltert hatten, mit<br />
schweren psychischen Schäden im Krankenhaus <strong>und</strong> erkannten<br />
niemanden mehr.<br />
„Wann geht’s mit der DA weiter?“, wollte Luna wissen, <strong>und</strong> auch<br />
Neville <strong>und</strong> Ginny schauten <strong>Harry</strong> erwartungsvoll an.<br />
„Na ja, wisst ihr, der Orden hat uns ziemlichen Druck gemacht<br />
wegen der DA“, erklärte <strong>Harry</strong>. „Rons Mum meint, sie sperrt uns die<br />
nächsten Ferien über in unsere Zimmer ein, wenn wir uns noch einmal in<br />
Gefahr begeben. Nicht, <strong>das</strong>s die jetzigen Ferien so weit davon entfernt<br />
waren“, setzte er mürrisch hinzu.<br />
„Wir können nicht einfach <strong>auf</strong>hören“, erregte sich Neville. „Die<br />
Todesser <strong>und</strong> Du-Weißt-Schon-Wer haben immer noch Macht. Sie<br />
werden nicht <strong>auf</strong>hören, dich zu jagen, bis sie dich haben. Und deswegen<br />
müssen wir unsere Verteidigung perfektionieren.“ Er sprach mit einer<br />
Begeisterung, die <strong>Harry</strong> in den gesamten fünf Jahren, die er ihn nun<br />
kannte, an ihm noch nie bemerkt hatte.<br />
„Aber wir haben Dumbledore schwer geschadet“, entgegnete<br />
<strong>Harry</strong>. Ihn plagte immer noch ein schlechtes Gewissen, weil der<br />
Schulleiter den Regelbruch, den die Gründung der DA bedeutet hatte,<br />
<strong>auf</strong> seine Kappe genommen hatte <strong>und</strong> deswegen aus Hogwarts hatte<br />
verschwinden müssen.<br />
„Na <strong>und</strong>? Das ist <strong>doc</strong>h alles vergessen. Außerdem wird wohl kaum<br />
ausgerechnet Dumbledore Widerstand gegen Todesser für schlecht<br />
befinden“, setzte Luna nach. <strong>Harry</strong> wurde bewusst, <strong>das</strong>s die beiden<br />
diese Sätze geübt haben mussten.<br />
„Außerdem“, fiel ihm plötzlich mit Schrecken ein, „will vielleicht<br />
niemand mehr mitmachen. Jetzt, wo Umbridge weg ist, haben wir unser<br />
Ziel verloren – uns gegen ihren unmöglichen Unterricht zu wehren.“<br />
„Das ist <strong>doc</strong>h Unsinn, <strong>Harry</strong>“, wandte Ginny ein, die neugierig<br />
Nevilles seltsame Pflanze in Augenschein genommen hatte. „Es geht<br />
längst um den Kampf gegen die Todesser <strong>und</strong> nicht mehr gegen diese<br />
Kröte.“ Trevor quakte empört.<br />
105
„OK, vielleicht entscheiden sich einige wirklich, mit der DA<br />
<strong>auf</strong>zuhören, weil ihnen die Sache zu heiß wird, nun, da Du-Weißt-Schon-<br />
Wer bewiesenermaßen <strong>zur</strong>ück ist. Aber ich wette, wir finden dennoch<br />
genug, die bereit sind, etwas zu unternehmen.“<br />
„Ich möchte auch mit der DA weitermachen“, beteuerte er. „Aber<br />
ich schlage vor, <strong>das</strong>s wir abwarten, wer der neue Verteidigungs-Lehrer<br />
wird <strong>und</strong> mit ihm die Sache absprechen. Dann dürfte uns niemand mehr<br />
etwas vorwerfen können, <strong>und</strong> wir haben unsere Ruhe.“<br />
Allzu glücklich wirkten die beiden nicht, einen Lehrer in die DA mit<br />
einzubeziehen, einigten sich aber <strong>auf</strong> diesen Kompromiss.<br />
„Was ist <strong>das</strong> eigentlich für eine Pflanze?“, wollte Ginny wissen <strong>und</strong><br />
wollte die Hand nach den kleinen, blauen Blüten des braun-grünen<br />
Gewächses ausstrecken.<br />
„Nicht!“ Neville riss die Pflanze <strong>zur</strong>ück. „Das ist Eisenhut oder<br />
Wolfswurz“, erklärte er <strong>und</strong> hörte sich an, als stelle er einen Kameraden<br />
vor.<br />
<strong>Harry</strong> dachte düster an seine erste Zaubertrankst<strong>und</strong>e, als Snape<br />
ihn nach dieser Pflanze gefragt hatte, er aber natürlich nichts gewusst<br />
hatte.<br />
„Aber die sind <strong>doc</strong>h nicht gefährlich, wenn man sie anfasst“,<br />
belehrte Luna. „Nur wenn du sie isst, <strong>und</strong> ich glaube nicht, <strong>das</strong>s Ginny<br />
<strong>das</strong> wollte. Oder wolltest du?“, wandte sie sich höflich um.<br />
„Nein, natürlich nicht“, schnaubte diese <strong>und</strong> verdrehte in Richtung<br />
<strong>Harry</strong> die Augen.<br />
„Normalerweise nicht!“, triumphierte Neville <strong>und</strong> schaute angetan<br />
zu, wie eine der kleinen Blüten sich langsam öffnete. „Aber <strong>das</strong> hier ist<br />
eine ganz besondere Art, die nur <strong>auf</strong> den Fidschi-Inseln wächst. Ich habe<br />
sie zum Geburtstag bekommen. Wer sie anfasst, wird sofort in einen<br />
Rauschzustand versetzt, <strong>und</strong> nimmt man davon auch nur eine Blattspitze<br />
in den M<strong>und</strong>, stirbt man.“<br />
<strong>Harry</strong> konnte Nevilles Verzückung nicht ganz <strong>auf</strong> sich übertragen.<br />
„Aber keine Angst, ich passe <strong>auf</strong> sie <strong>auf</strong>“, strahlte er, als wäre es<br />
die Pflanze, die Schutz nötig hätte.<br />
Eine St<strong>und</strong>e später kehrten Ron <strong>und</strong> Hermine von ihrem Treffen<br />
<strong>zur</strong>ück, hungrig <strong>und</strong> ein wenig erschöpft ließen sie sich <strong>auf</strong> die Sitze<br />
sinken. Zu berichten gab es allerdings wenig, Malfoy sei nicht<br />
erschienen, er habe sich entschuldigen lassen, die neuen<br />
Vertrauensschüler aus der fünften Klasse seien eingeführt worden <strong>und</strong><br />
ansonsten sei es nur um die üblichen Aufgabenverteilungen gegangen.<br />
„Also wisst ihr nichts über den neuen Verteidigungslehrer oder <strong>das</strong><br />
neue Schulfach?“, fragte <strong>Harry</strong> enttäuscht; er hatte sich einige<br />
Informationen erhofft.<br />
„Leider nein, <strong>das</strong> erfahren auch wir erst beim Essen.“<br />
106
Die nächsten St<strong>und</strong>en verbrachten sie mit Diskussionen über <strong>das</strong><br />
kommende Schuljahr, spekulierten über <strong>das</strong> neue Schulfach <strong>und</strong><br />
machten sich über ganze Berge von Kesselkuchen, Pasteten <strong>und</strong><br />
Süßigkeiten her, die sie vom Imbisswagen gek<strong>auf</strong>t hatten.<br />
Schließlich wurde es vor den Fenstern des Zuges immer dunkler,<br />
die Dämmerung schritt rasch voran, während die Landschaft immer<br />
wilder <strong>und</strong> unwirtlicher wurde, ein untrügliches Zeichen dafür, <strong>das</strong>s<br />
Hogwarts näher rückte. Sie zogen sich ihre Umhänge über, hoben mit<br />
Mühen die schweren Koffer von der Ablage <strong>und</strong> zogen sie <strong>auf</strong> den Gang.<br />
Als sie gerade am letzten Abteil vor dem Ausgang vorbeikamen, trat<br />
ihnen ein Junge mit einem bösen Grinsen <strong>auf</strong> dem Gesicht in den Weg.<br />
„Malfoy!“, keuchte <strong>Harry</strong>, der seinen Koffer gleichzeitig am<br />
Umfallen hindern <strong>und</strong> den grauen, kalten Augen seines Gegenübers<br />
standhalten musste.<br />
„<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>“, kam es in einem hochmütigen Ton <strong>zur</strong>ück. „Der<br />
Erwählte!“ Ein gehässiges Lachen echote durch den Zug. Die Slytherin-<br />
Kollegen von Draco Malfoy schienen seine Kommentare für etwas<br />
Lustiges zu halten.<br />
„Ach, halte die Klappe“, zischte Ron <strong>und</strong> zerrte <strong>Harry</strong> hinter sich<br />
her, der mordlüstern die Slytherins beäugte.<br />
„Wie fühlt man sich als der Einzige, der den dunklen Lord<br />
bezwingen kann?“, fragte Malfoy mit einem hinterlistigen Grinsen. „Was<br />
natürlich heißt, der Einzige, der dabei sterben wird!“ Wieder brachen<br />
seine Kumpels in wieherndes Gelächter aus.<br />
„Besser als der Einzige in diesem Zug, der sich <strong>auf</strong> den Knien<br />
rutschend vor Voldemort erniedrigt“, knurrte <strong>Harry</strong>.<br />
Malfoy wurde blasser, als er ohnehin schon war.<br />
„Du wagst es, seinen Namen zu nennen?“<br />
„Was, du etwa nicht?“, stichelte <strong>Harry</strong>. „Haben du <strong>und</strong> deine Eltern<br />
zu viel Angst vor diesem Schlangengesicht?“<br />
Mittlerweile war jedes Blut aus Malfoys Gesicht gewichen, er<br />
taumelte <strong>zur</strong>ück.<br />
„Niemand geht so mit dem Dunklen Lord um“, meinte er leise. „Und<br />
genauso wenig mit denen, die ihm mit Freuden zu Diensten sind.“<br />
Auf einmal sah <strong>Harry</strong> nur noch eine schnelle Bewegung von<br />
Malfoys Hand, sah ein schwirrendes längliches Ding, <strong>das</strong> sein<br />
überfordertes Hirn zu spät als Malfoys Zauberstab identifizierte, <strong>und</strong><br />
schon konnte er nichts mehr machen als untätig dem blitzenden, grellgelben<br />
Lichtstrahl, der <strong>auf</strong> ihn <strong>zur</strong>aste, zuzusehen.<br />
„Protego!“, schallte es durch den Waggon <strong>und</strong> ein mächtiger<br />
Schutzzauber fand seinen Weg rasend schnell bis vor <strong>Harry</strong>s Brust <strong>und</strong><br />
ließ Malfoys Zauberspruch daran wirkungslos abprallen. Mit<br />
107
wutverzerrtem Gesicht schnaubte der <strong>Harry</strong> noch einmal an <strong>und</strong> verzog<br />
sich eilig <strong>zur</strong>ück in sein Abteil.<br />
„Hi <strong>Harry</strong>, wusste ja nicht, <strong>das</strong>s ich dich bereits während der<br />
Zugfahrt retten muss. Ich habe zu Moody gesagt, <strong>das</strong> wird erst am<br />
Festabend der Fall sein, wenn du vielleicht statt in der großen Halle zu<br />
sitzen im Verbotenen Wald herumschleichst <strong>und</strong> Riesen trainierst.“<br />
Grinsend bahnte sich Tonks ihren Weg durch die überall im Gang<br />
herumstehenden Koffer.<br />
„Tonks? Was machst du hier?“, fragte <strong>Harry</strong> perplex.<br />
„Na, <strong>auf</strong> euch <strong>auf</strong>passen, was denn sonst? Der Orden übernimmt<br />
während der Zugfahrt die Aufsicht über die Schüler. Irgendwer muss<br />
<strong>doc</strong>h Acht geben, <strong>das</strong>s Du-Weißt-Schon-Wer nicht allzu leicht an sein<br />
Ziel herankommt.“ Sie zwinkerte <strong>Harry</strong> zu.<br />
„Warum hast du uns nicht während der Fahrt besucht?“ <strong>Harry</strong><br />
konnte sich vorstellen, <strong>das</strong>s es interessanter gewesen wäre, über die<br />
neuesten Ordensaktionen zu reden als über hochgiftige Pflanzen. Sogar<br />
Neville mit seinem neu entdeckten Widerstandsgeist hätte da kaum Nein<br />
gesagt.<br />
„Wir dürfen nicht. Und schließlich soll nicht jeder erfahren, <strong>das</strong>s ihr<br />
zum Orden gehört, was?“<br />
„Das weiß <strong>doc</strong>h sowieso jeder“, murmelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> dachte an den<br />
Tagespropheten <strong>und</strong> dessen eingehende Schilderung der Geschehnisse<br />
im Ministerium.<br />
In dem Moment spürten sie ein deutliches Abbremsen des Zuges,<br />
der schließlich vollständig zum Stillstand kam.<br />
Mit Hilfe von Tonks trugen sie ihre Koffer zu den Kutschen, die sie<br />
nach Hogwarts bringen würden. Sie verschwand dann allerdings schnell,<br />
um einem kleinen Mädchen zu helfen, <strong>das</strong> anscheinend im Zug erste<br />
einfache, aber verunglückte Zauber ausprobiert hatte.<br />
Zusammen mit Luna <strong>und</strong> Neville teilten sich die drei eine Kutsche.<br />
<strong>Harry</strong> betrachtete die knochigen Pferde mit den großen, schwarzen<br />
Schwingen, von denen sie gezogen wurde. Noch vor einem Jahr hatten<br />
ihm die Thestrale eine ungeheure Angst eingejagt, nicht zuletzt deshalb,<br />
weil sie nur von denen gesehen werden konnten, die den Tod gesehen<br />
hatten. Mittlerweile aber sah er sie als etwas eigenwillige, aber äußerst<br />
umgängliche <strong>und</strong> nützliche Tiere.<br />
„So sehen sie also aus“, meinte Hermine leise neben ihm. <strong>Harry</strong><br />
drehte sich um. Sie stand einen Meter von dem knochigen Kopf eines<br />
der Pferde entfernt <strong>und</strong> starrte es mit großen Augen direkt an.<br />
„Du kannst sie sehen?“, w<strong>und</strong>erte sich <strong>Harry</strong>. Als er fragend den<br />
Blick zu Ron wandte, fand er ihn genauso fasziniert von den Tieren <strong>auf</strong><br />
deren ledrige Flügel sehen.<br />
„Damit sind wir geflogen? Gut, <strong>das</strong>s ich erst jetzt weiß, wie sie<br />
aussehen, sonst wäre ich wohl nicht <strong>auf</strong>gestiegen.“<br />
108
„Wieso könnt ihr sie sehen?“ <strong>Harry</strong> ackerte in Gedanken die<br />
Geschehnisse im Ministerium durch, <strong>und</strong> dann fiel es ihm schlagartig ein<br />
–<br />
„Wegen Sirius“, erklärte Hermine. „Wir haben ihn genauso wie du<br />
durch den Bogen fallen sehen.“<br />
Natürlich, da hätte er auch selbst dr<strong>auf</strong> kommen können.<br />
Missgestimmt nahm er in der Kutsche Platz, im Kopf wieder die<br />
grausamen Szenen von Sirius’ Tod.<br />
„Hör mal –“, begann Hermine, aber <strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf. Er<br />
wollte mit niemanden über seinen Paten reden. Nie wieder.<br />
Schweigend schauten sie alle in verschiedene Richtungen, als die<br />
Kutschen sich holpernd in Bewegung setzten, nur <strong>das</strong> leise Schnauben<br />
der Thestrale war ab <strong>und</strong> an zu hören. Der Himmel über ihnen hatte eine<br />
mattschwarze Farbe angenommen, in der die hellen Sterne sich<br />
gegenseitig im Leuchten zu überbieten versuchten. Ein paar Eulen<br />
flatterten über ihre Köpfe hinweg, offensichtlich <strong>auf</strong> dem Weg nach<br />
Hogwarts, um einem nervösen Erstklässer die erste Post von zu Hause<br />
zu bringen.<br />
Dann brachen hinter den dunklen Tannen die ersten hohen Türme<br />
von Hogwarts hervor. Majestätisch erhob sich <strong>das</strong> riesige Schloss vor<br />
dem unendlichen Schwarz, <strong>das</strong> es umgab. Viele dutzende Türme,<br />
Giebel, Zinnen <strong>und</strong> Spitzen ragten empor, aus h<strong>und</strong>erten kleiner Fenster<br />
drang warmes Kerzenlicht in die Nacht.<br />
<strong>Harry</strong> merkte, wie ihn langsam die Freude überwältigte, wieder hier<br />
zu sein. Nirgendwo <strong>auf</strong> der Welt fühlte er sich so wohl wie in Hogwarts,<br />
ja, keinen Ort <strong>auf</strong> der Welt würde er sein Zuhause nennen außer <strong>das</strong><br />
gewaltige, voller Überraschungen steckende <strong>und</strong> vor Zauberei fast<br />
sprühende Schloss. Als sie durch <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> mit den beidseits wachenden<br />
Ebern fuhren <strong>und</strong> Kurs <strong>auf</strong> die große Eingangstreppe nahmen, hatte er<br />
fast mit Widerwillen seine Trauer wegen Sirius schwinden gespürt – er<br />
war einfach überglücklich, wieder hier zu sein.<br />
Während ihre Koffer zu den Schlafräumen gebracht worden, traten<br />
sie durch die große Eichentür, die den Eingang zum Schloss markierte.<br />
Unterwegs mussten sie sich durch Horden von Erstklässlern kämpfen,<br />
die vor Aufregung zitternd <strong>und</strong> über ihre Füße stolpernd von Professor<br />
McGonagall in die kleine Kammer neben der großen Halle geführt<br />
worden, um dort <strong>auf</strong> die Auswahlzeremonie zu warten. Mit einem<br />
seltsam wehmütigen Stechen im Bauch erinnerte sich <strong>Harry</strong> an seinen<br />
ersten Abend in Hogwarts, als ihm vor Angst schlecht geworden war,<br />
vielleicht <strong>doc</strong>h kein Zauberer zu sein. Beinahe sehnte er sich in diese<br />
Zeit <strong>zur</strong>ück, in der es keine anderen Probleme gegeben hatte als sich<br />
einen alten Hut über den Kopf zu ziehen.<br />
109
Alle paar Schritte einen Mitschüler begrüßend bahnten sie sich<br />
ihren Weg durch den Eingangsraum, um dann rechts in die große Halle<br />
abzubiegen, die erfüllt war vom stetigen Geräusch h<strong>und</strong>erter Stimmen<br />
<strong>auf</strong>gekratzter Schüler, die mit ihren Fre<strong>und</strong>en die <strong>zur</strong>ückliegenden Ferien<br />
diskutierten oder sich über noch unerledigte Haus<strong>auf</strong>gaben Sorgen<br />
machten. Die verzauberte Decke des Raumes spiegelte den Himmel von<br />
draußen wieder, so<strong>das</strong>s sie heute ein samtenes, tiefes Schwarz mit<br />
vereinzelten Sternen zeigte. Die Halle selbst war erleuchtet von<br />
tausenden kleinen Kerzen, die über den vier langen Tischen schwebten,<br />
an denen die Schüler der vier Häuser nach <strong>und</strong> nach Platz nahmen.<br />
Ganz am Ende stand der Tisch der Lehrer <strong>auf</strong> einem kleinen Podest.<br />
Ohne <strong>auf</strong>gehalten zu werden gelangten zum Gryffindor-Tisch an<br />
der äußersten rechten Seite <strong>und</strong> setzten sich <strong>auf</strong> die noch ziemlich leere<br />
Bank, die sich in den folgenden Minuten aber schnell mit Gryffindor-<br />
Schülern füllte, von denen fast die Hälfte <strong>Harry</strong> wegen der DA ansprach.<br />
Nach der fünften Erklärung, <strong>das</strong>s er noch nicht wisse, wie es mit der<br />
Verteidigungsgruppe weitergehen sollte, erhob er sich leicht genervt <strong>und</strong><br />
flüsterte, damit ihn drei Slytherins, die hinter ihm zu ihrem Tisch gingen,<br />
nicht hörten, <strong>das</strong>s er für <strong>das</strong> erste Wochenende ein Treffen planen<br />
würde, um <strong>das</strong> weitere Vorgehen zu besprechen. Zeit <strong>und</strong> Ort würden<br />
wie üblich über die Münzen bekannt gegeben werden.<br />
Dermaßen beruhigt zerstreute sich die Menschentraube um ihn,<br />
<strong>und</strong> bald war so etwas wie Ordnung in der Halle eingekehrt.<br />
Automatisch ging <strong>Harry</strong>s Blick vor an den Lehrertisch. Dort fand er<br />
schnell den Schulleiter Albus Dumbledore, der in seinem <strong>auf</strong>fälligen<br />
dunkelblau-goldenen Umhang <strong>und</strong> mit seinem langen, weißen Bart nicht<br />
zu übersehen war (<strong>Harry</strong> fragte sich vergnügt, ob Dumbledore den<br />
Artikel im Klitterer, der für farbige Schulumhänge warb, gelesen hatte).<br />
Links <strong>und</strong> rechts neben ihm saßen die anderen Lehrer, Professor Binns<br />
für Geschichte der Zauberei, der Zauberkunst-Lehrer Professor Flitwick,<br />
Professor Sprout für Kräuterk<strong>und</strong>e, <strong>und</strong>, zwei Köpfe größer als alle<br />
anderen Personen am Lehrertisch, Hagrid, einer von <strong>Harry</strong>s besten<br />
Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Wildhüter von Hogwarts, seit drei Jahren auch stolzer<br />
Lehrer für die Pflege magischer Geschöpfe, mit denen ihn eine<br />
unglücklich leidenschaftliche Beziehung verband. Er erblickte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
winkte ihm strahlend zu, wobei er Professor Flitwick ein Buch aus der<br />
Hand schlug, <strong>das</strong> dieser gerade enthusiastisch Professor Sprout zeigen<br />
wollte.<br />
Grinsend wandte <strong>Harry</strong> sich zu Ron, der gerade zum dritten Mal in<br />
den letzten Minuten forderte, <strong>das</strong>s es endlich Essen geben sollte.<br />
„Du weißt <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s erst die Auswahl der neuen Schüler erfolgen<br />
muss“, fauchte Hermine genervt. Ron hob die Augenbrauen <strong>und</strong> sah<br />
<strong>Harry</strong> fragend an, der nur die Schultern zucken konnte.<br />
110
Plötzlich ging ein lautes Knarren durch die Halle <strong>und</strong> h<strong>und</strong>erte<br />
Schüleraugen folgten den Flügeln der großen Hallentür, welche nun von<br />
Professor McGonagall <strong>auf</strong>gestoßen wurde. Hinter ihr tapsten kleine,<br />
verängstigte Erstklässler in den riesigen Raum, schauten sich mit<br />
<strong>auf</strong>gerissenen Augen um <strong>und</strong> versuchten, nicht im Gedränge hinzufallen<br />
<strong>und</strong> sich bereits am ersten Abend zu blamieren.<br />
Ron kicherte leise neben ihm, als ein kleiner Junge Snape am<br />
Lehrertisch erblickte <strong>und</strong> sich erschreckt hinter Professor McGonagall<br />
versteckte. Hermine sah ihn über den Tisch hinweg vernichtend an.<br />
Die neuen Schüler blieben vor einem Stuhl stehen, der in Front der<br />
vier Haustische stand <strong>und</strong> <strong>auf</strong> dem ein alter, geflickter, verschlissener<br />
Hut lag. <strong>Harry</strong> wusste, was jetzt kommen würde; jeder Erstklässler würde<br />
sich den Hut <strong>auf</strong>setzen, welcher dann entschied, für welches Haus der<br />
Schüler am besten geeignet war.<br />
Die Schlange der Wartenden wurde kürzer <strong>und</strong> kürzer, je mehr<br />
Jungen <strong>und</strong> Mädchen nach Ravenclaw, Slytherin, Hufflepuff oder<br />
Gryffindor gewählt wurden, nach jedem Ausruf des Sprechenden Hutes<br />
ertönte stürmischer Beifall vom Tisch des betreffenden Hauses. Auch<br />
zehn neue Gryffindors fanden sich an ihrem Tisch ein <strong>und</strong> setzten sich<br />
schüchtern zwischen die Älteren.<br />
„Waren wir auch mal so klein?“, staunte Ron <strong>und</strong> betrachtete einen<br />
winzigen Jungen, der angestrengt versuchte, niemanden anzusehen.<br />
„Nein, DU bist sicher so groß geboren worden“, schnaubte<br />
Hermine. Ihr <strong>und</strong> Rons Umgang miteinander schien sich wieder <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />
übliche aggressive Niveau zu begeben.<br />
Zum Glück erhob sich in dem Moment Professor Dumbledore von<br />
seinem Stuhl, <strong>und</strong> sofort wurde es still in der Großen Halle.<br />
„Herzlich willkommen zu einem neuen Schuljahr!“, rief er <strong>und</strong> ließ<br />
seinen Blick über die vielen, neugierigen Schüler schweifen, die in<br />
Erwartung von Neuigkeiten zu ihm <strong>auf</strong>sahen.<br />
„Ich begrüße ganz besonders diejenigen von euch, die <strong>das</strong><br />
Vergnügen haben, an der Hogwarts-Schule für Hexerei <strong>und</strong> Zauberei<br />
<strong>auf</strong>genommen worden zu sein. Ihr werdet neue Fre<strong>und</strong>e in den Häusern<br />
finden, denen ihr zugeordnet seid – wobei ich hoffe, <strong>das</strong>s ihr solchen<br />
auch außerhalb eures Hauses begegnen werdet – ihr werdet die<br />
Gelegenheit bekommen, für eure Häuser Punkte durch gute Leistungen<br />
zu erringen, <strong>und</strong> natürlich werdet ihr Freude am Unterricht selbst haben.<br />
Möge ein jeder von euch ein Gewinn für Hogwarts sein.“<br />
Es gab Beifall, auch wenn er zumindest am Gryffindor-Tisch von<br />
Rons gewaltigem Bauchknurren gestört wurde.<br />
„Und von allen anderen hoffe ich, <strong>das</strong>s sie die freie Zeit in den<br />
Ferien sinnvoll genutzt haben <strong>und</strong> sich von all dem Wissen befreit<br />
haben, <strong>das</strong> wir im letzten Jahr so müheselig in ihre Köpfe versucht<br />
haben zu bekommen.“<br />
111
Nun wurde der Beifall lauter, einige lachten <strong>und</strong> die Erstklässler<br />
sahen mit recht eindeutigem Misstrauen in den Augen zu Dumbledore.<br />
<strong>Harry</strong> dachte an sein Einführungsfest <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> daran, <strong>das</strong>s er damals<br />
Dumbledore auch für verrückt gehalten hatte.<br />
„Zu Beginn <strong>und</strong> bevor wir mit unserem hochgeschätzten Mahl<br />
beginnen können, muss ich euch einige Dinge mitteilen. Zum einen,<br />
<strong>das</strong>s der Verbotene Wald auch dieses Jahr genau <strong>das</strong> ist, was ihm<br />
seinen Namen gegeben hat – nämlich verboten. Nach etlichen Jahren<br />
Erfahrung muss ich sagen, <strong>das</strong>s der ursprüngliche Hintergr<strong>und</strong> der<br />
Namenswahl, nämlich, den Schülern diese ganz spezielle Eigenschaft<br />
des Waldes stets in Erinnerung zu halten, nichts gebracht hat, im<br />
Gegenteil. Ich bitte euch demnach einmal mehr, euch von ihm<br />
fernzuhalten.“<br />
„Des Weiteren besitzt <strong>das</strong> Ministerium seit diesem Jahr <strong>das</strong> Recht,<br />
Hausdurchsuchungen in Hogwarts durchzuführen, um etwaige<br />
schwarzmagische Tätigkeiten <strong>auf</strong>zudecken – auch wenn ich Fudge<br />
versucht habe zu überzeugen, <strong>das</strong>s kein Hogwarts-Schüler etwas mit<br />
Voldemort zu tun hat.“<br />
<strong>Harry</strong> schnaubte <strong>und</strong> schaute hinüber zu Malfoy, der eine<br />
überlegene Miene <strong>auf</strong>gesetzt hatte.<br />
„Die Durchsuchung wird ein Be<strong>auf</strong>tragter des Ministeriums halten.<br />
Auch wenn wir mit Personen aus diesem Arbeitsumfeld bereits gewisse<br />
Dispute hatten“ – er machte eine kurze Pause, um zu einem leeren Stuhl<br />
hinter sich zu blicken, <strong>auf</strong> dem im letzten Jahr Umbridge gesessen hatte<br />
– „so besitzen wir dennoch die Pflicht, demjenigen mit Respekt<br />
gegenüberzutreten.“ Stille trat ein.<br />
„Und was, wenn dieser Mitarbeiter selbst unter dem Imperiusfluch<br />
steht?“, flüsterte <strong>Harry</strong>. „Was ist eigentlich mit Fudge, ich meine, der<br />
Orden hatte ihn <strong>doc</strong>h verhext? Dann könnte Dumbledore ihn <strong>doc</strong>h<br />
einfach von diesen Hausdurchsuchungen abhalten!“<br />
„Der Orden wird Fudge sicher längst wieder vom Fluch befreit<br />
haben“, meinte Hermine. „Schließlich ist er der Zaubereiminister. Und<br />
eine Durchsuchung ist vielleicht gar nicht so schlecht, denkt nur an<br />
Crouch Junior.“<br />
Nach ein oder zwei Minuten, in denen Dumbledore den Schülern<br />
Zeit gegeben hatte, ihren ersten Gedanken zu dieser Neuigkeit Luft zu<br />
machen, erhob er wieder die Stimme.<br />
„Auch wird es dieses Jahr eine Überraschung bei der Austragung<br />
der Quidditch-Spiele geben.“<br />
Das Gemurmel schwoll nun zu einer beeindruckenden Lautstärke<br />
an. Dumbledore hob die Hand, <strong>und</strong> sofort wurde es still.<br />
„Ihr müsst euch allerdings noch ein wenig in Geduld üben, erst am<br />
Samstag, wenn die Auswahlspiele stattfinden, werde ich euch über die<br />
neuen Regeln informieren.<br />
112
Des Weiteren möchte ich euch euren neuen Lehrer in<br />
Verteidigung gegen die dunklen Künste vorstellen – auch wenn er<br />
<strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> unerwarteter Erledigungen in London noch nicht hier sein kann.<br />
Im nächsten Jahr werdet ihr von Jamie McGonagall unterrichtet werden,<br />
der extra aus Amerika angereist ist, um hier Dienst zu tun. Er wird die<br />
Arbeit zusammen mit seinem Assistenten Rick Franbery verrichten.“<br />
Beim der Erwähnung des Namens „McGonagall“ hatte <strong>Harry</strong> so<br />
schnell den Kopf hochgerissen, <strong>das</strong>s er seine Halswirbel unangenehm<br />
knacken hörte. Natürlich erwartete er nicht, den Genannten zu sehen,<br />
aber sein Blick ging automatisch zu Professor McGonagall, die<br />
eigenartigerweise ein ausgesprochen saures Gesicht zu machen schien.<br />
Ihre Lippen wirkten schmaler als je zuvor, <strong>und</strong> sie rümpfte die Nase.<br />
„Glaubt ihr, <strong>das</strong>s er ein Verwandter von McGonagall ist?“, fragte<br />
<strong>Harry</strong> verwirrt.<br />
„Sicher, so genervt, wie sie dreinschaut“, meinte Ron prüfend. „Das<br />
ist genau der Blick, den mein Vater immer <strong>auf</strong>setzt, wenn es um Percy<br />
geht.“<br />
Auch an den anderen Haustischen war die ablehnende Reaktion<br />
ihrer Verwandlungslehrerin nicht unbemerkt geblieben, hier <strong>und</strong> da sah<br />
man Schüler die Köpfe zusammenstecken <strong>und</strong> tuscheln.<br />
„Da ich verstehen kann, <strong>das</strong>s euch die Ankunft eines neuen<br />
Lehrers in Aufruhr versetzt, gebe ich euch nun genügend Zeit, diese<br />
wichtige Angelegenheit in all ihren Aspekten zu diskutieren. Lasst es<br />
euch schmecken!“<br />
Mit diesen Worten tauchte wie von Zauberhand (wortwörtlich zu<br />
nehmen, wie <strong>Harry</strong> wusste) überall <strong>auf</strong> den Tellern, Platten <strong>und</strong> Tabletts,<br />
in den Bechern, Gläsern, Suppentöpfen <strong>und</strong> Soßenkannen Essen <strong>und</strong><br />
Trinken <strong>auf</strong>. Dutzende Gerichte, von gebratenen Hühnerschenkeln über<br />
Pasteten aller Art, jede Menge Fisch, Bratkartoffeln, Reis, Nudelgerichte,<br />
Obst, Früchte, eine Unmenge an Soßen <strong>und</strong> Beilagen ließen die Tische<br />
unter sich ächzen.<br />
Hungrig machten sich die Schüler über die Gerichte her. <strong>Harry</strong> aß<br />
als Vorspeise eine lecker aussehende Gulaschsuppe, danach ein großes<br />
Roastbeef mit Kartoffelbrei <strong>und</strong> anschließend noch eine gewaltige<br />
Schüssel voll mit Obstsalat. Während der nächsten halben St<strong>und</strong>e war in<br />
der großen Halle kaum ein Laut zu hören, so beschäftigt waren alle mit<br />
essen. Schließlich verschwanden die schmutzigen Teller <strong>und</strong> eine<br />
kolossale Auswahl an Nachtisch erschien. Ron stürzte sich <strong>auf</strong> die<br />
einladende Eierkremtorte, von der auch Dumbledore, wie <strong>Harry</strong><br />
bemerkte, sich drei Stück <strong>auf</strong> dem Lehrertisch genehmigte.<br />
Nachdem alle pappsatt in ihren Sitzen hingen, erhob sich<br />
Dumbledore noch einmal.<br />
113
„Nun da wir alle einmal mehr dem Festmahl zugesagt haben, sehe<br />
ich nur noch einen Wunsch in euren Augen, <strong>und</strong> den möchte ich erfüllen.<br />
Lasst uns die Schlafsäle aussuchen!“<br />
Unter Stühlerücken <strong>und</strong> dem lauten Rufen der Vertrauensschüler,<br />
die die Erstklässler um sich versammelten, verließ <strong>Harry</strong> zusammen mit<br />
den anderen Gryffindors die Große Halle (Ron <strong>und</strong> Hermine würden erst<br />
später wieder <strong>auf</strong> ihn treffen) <strong>und</strong> begab sich <strong>auf</strong> den Weg in den<br />
Gemeinschaftsraum. Er ging die große weiße Marmortreppe hoch in die<br />
oberen Stockwerke, vorbei an quietschenden Rüstungen, flackernden<br />
Kerzen in schattigen, einsamen Ecken, welche die dunklen Gänge vor<br />
ihm erhellten, er nahm unterwegs ein, zwei seiner Geheimgänge, um vor<br />
dem Pulk der Schüler am Gemeinschaftsraum zu sein <strong>und</strong> traf vor dem<br />
Porträt der Fetten Dame Neville.<br />
„Phönix“, meinte dieser <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s fragenden Blick hin. „Das erste<br />
Passwort für dieses Schuljahr. Ron hat es mir vorhin noch schnell<br />
gesagt.“ Zusammen duckten sie sich unter dem bei diesem Wort<br />
<strong>auf</strong>schwingenden Porträt hindurch <strong>und</strong> betraten den warmen,<br />
gemütlichen r<strong>und</strong>en Raum mit seinen knuffigen Sesseln <strong>und</strong> dem<br />
prasselnden Kaminfeuer. Noch lagen keine Lehrbücher quer <strong>auf</strong> den<br />
Tischen, mit Tintenflecken bekleckst <strong>und</strong> umgeben von halbfertigen<br />
Aufsätzen, noch trat man in keiner Ecke <strong>auf</strong> heruntergefallene Figuren<br />
von Zauberschachspielen, noch verzierten keine gelben Flecken<br />
verschütteten Kürbissafts die Tische <strong>und</strong> den Kaminsims. Aber schon in<br />
einigen Tagen würde es hier aussehen wie den Großteil des Schuljahres<br />
über.<br />
Gähnend gingen <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Neville die gew<strong>und</strong>ene Treppe zu<br />
ihrem Schlafsaal hoch. Eigentlich hatte er noch <strong>auf</strong> Ron warten wollen,<br />
aber <strong>auf</strong> einmal spürte er eine ungeheure Müdigkeit, der er zusammen<br />
mit dem Sättigkeitsgefühl, <strong>das</strong> ihn durchdrang, nachgab, <strong>und</strong> ohne<br />
seinen Koffer noch auszupacken sank er <strong>auf</strong> sein Bett, umgeben von<br />
den schweren Vorhängen.<br />
Er fühlte sich ein wenig, als würde er schweben, von Zufriedenheit<br />
<strong>und</strong> Glück durchdrungen schaute er aus dem Stück Fenster, <strong>das</strong> er<br />
erkennen konnte <strong>und</strong> freute sich einfach nur <strong>auf</strong> die nächsten Tage,<br />
darüber, <strong>das</strong>s er wieder an dem Ort war, an dem er sich am besten<br />
fühlte, darüber, <strong>das</strong>s er wieder mit all seinen Fre<strong>und</strong>en zusammen sein<br />
konnte, letztendlich darüber, <strong>das</strong>s er wieder derjenige sein konnte, der er<br />
war.<br />
114
KAPITEL SIEBEN<br />
Der Neue<br />
Am nächsten Morgen wurde er vom geschäftigen Rumoren um<br />
sich herum geweckt. Gähnend blieb <strong>Harry</strong> noch ein paar Minuten liegen<br />
<strong>und</strong> dachte über den Tag nach. Heute würden sie ihre St<strong>und</strong>enpläne<br />
bekommen <strong>und</strong> ihre ersten UTZ-Kurse erleben. Und er würde mit<br />
Sicherheit erfahren, <strong>das</strong>s er in Zaubertränke <strong>doc</strong>h durchgefallen war.<br />
Aber selbst diese düsteren Aussichten konnten seine Laune nicht<br />
drücken, <strong>und</strong> beschwingt stand er <strong>auf</strong>. Heller Sonnenschein fiel in <strong>das</strong><br />
Turmzimmer, allerdings schien es in der Nacht geregnet zu haben: Im<br />
Licht des Tages glänzende Tautropfen schillerten im dunkelgrünen Gras<br />
von Hogwarts Ländereien, die Schlossmauern wirkten vor Nässe<br />
dunkler, als hätte jemand über Nacht die Wände neu eingestrichen, <strong>und</strong><br />
am Horizont konnte man noch eine graue Wolkenwand ausmachen, die<br />
langsam dem strahlend blauen Himmel entfloh.<br />
<strong>Harry</strong> zog sich schnell an <strong>und</strong> ging in den Gemeinschaftsraum.<br />
Hermine konnte er nirgends sehen, aber Ron stand schon am<br />
Portraitloch <strong>und</strong> wartete <strong>auf</strong> ihn.<br />
„Ich dachte schon, du willst den ganzen Tag schlafen“, begrüßte er<br />
ihn. „Los, in einer halben St<strong>und</strong>e haben wir den ersten Unterricht.“<br />
Automatisch ging <strong>Harry</strong>s Blick <strong>zur</strong> Treppe, die zu den<br />
Mädchenschlafsälen führte.<br />
„Hermine ist schon unten“, antwortete Ron <strong>auf</strong> seine<br />
unausgesprochene Frage, <strong>und</strong> zwar in einem Ton, der <strong>Harry</strong> verriet,<br />
<strong>das</strong>s es schon wieder Streit zwischen den beiden gegeben hatte.<br />
„Was ist?“<br />
115
„Ach, gestern bei der Erstklässlereinführung haben wir<br />
unterschiedliche Ansichten darüber gehabt, ob wir die Neuen eine<br />
Kostprobe von Peeves’ Programm erleben lassen.“<br />
Peeves war der Poltergeist von Hogwarts <strong>und</strong> sah seinen einzigen<br />
Todesinhalt darin, den Schülern <strong>das</strong> Leben möglichst schwer zu<br />
machen.<br />
„Ich meine, sie müssen in den nächsten sieben Jahren lernen, mit<br />
ihm <strong>zur</strong>echtzukommen, da kann es nicht schaden, wenn wir sie ihre<br />
eigenen Erfahrungen machen lassen. Aber sie war natürlich wieder<br />
dagegen.“ Er verdrehte die Augen <strong>und</strong> kletterte nach <strong>Harry</strong> durch den<br />
Eingang.<br />
„Dabei ging es <strong>doc</strong>h nur darum, <strong>das</strong>s er einem Ersti die Unterhose<br />
anzünden wollte, da frage ich mich, was will sie …“ Ron rätselte<br />
weiterhin über die Natur von Hermines Denkweise, während sie <strong>auf</strong> dem<br />
kürzesten Weg in die Große Halle liefen. Eine hinter einem<br />
Wandvorhang versteckte Treppe, ein angebliches Portrait, <strong>das</strong> in<br />
Wirklichkeit eine Tür war <strong>und</strong> zwei als Wand getarnte Geheimgänge<br />
später betraten sie die Große Halle.<br />
Hermine saß schon am Tisch, hatte eine Schüssel Cornflakes vor<br />
sich <strong>und</strong> blätterte gedankenverloren in der aktuellen Ausgabe des<br />
Tagespropheten.<br />
Als <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron sich setzten, begrüßte sie Ersteren, warf<br />
Letzterem aber nur einen kühlen Blick zu. Ron schaute erst gar nicht <strong>auf</strong>,<br />
sondern scheffelte sich wortlos seinen Teller mit Rührei <strong>und</strong> Schinken<br />
voll.<br />
<strong>Harry</strong> spürte seinen Ärger über <strong>das</strong> kindische Verhalten seiner<br />
Fre<strong>und</strong>e größer werden. Natürlich hatte er mittlerweile eine Ahnung,<br />
woher die Gründe für die ständigen Streits <strong>und</strong> die schlechte Luft<br />
zwischen den beiden kamen. Rons abfällig-zynische Bemerkungen über<br />
Hermine wurden durch seine wie zufällig scheinende kurze, heimliche<br />
Blicke <strong>auf</strong> sie, die eine unverkennbare Sehnsucht enthielten, Lügen<br />
gestraft. Und auch Hermine, so wusste <strong>Harry</strong>, war keineswegs so<br />
unbeeindruckt von ihren Streits, wie sie tat. Sie hielt ihre Zeitung ein<br />
wenig zu verkrampft <strong>und</strong> ignorierte Ron ein wenig zu angestrengt, um<br />
ihrem Desinteresse Überzeugung zu geben.<br />
Seufzend nahm sich <strong>Harry</strong> eine Scheibe Toast. Gerade als er sie<br />
mit Marmelade bestreichen wollte, stieß ihn Ron in die Seite.<br />
„Schau mal“, meinte er gedämpft <strong>und</strong> nickte in Richtung<br />
Lehrertisch.<br />
Zuerst wusste <strong>Harry</strong> nicht, was Ron wollte. Was war so spannend<br />
an Flitwick, wie er, angeregt mit Professor Sprout erzählend, sein Müsli<br />
löffelte? Oder an Snape, der mit seinem üblichen grimmigen Ausdruck<br />
die Schülerreihen vor sich betrachtete, währenddessen er gleichgültig<br />
eine Toastscheibe aß? Aber dann schweifte sein Blick weiter zu<br />
116
Professor McGonagall, die noch missmutiger als gestern Abend vor<br />
einem leeren Teller saß. Und zwei Stühle neben ihr sah er zwei<br />
Personen, die er nicht kannte.<br />
Fasziniert betrachtete er – nun, auch wenn es unfair <strong>und</strong> unhöflich<br />
klang, so war es <strong>doc</strong>h genau diese Beschreibung, die ihm durch den<br />
Kopf ging – einen der hässlichsten Menschen, denen er je begegnet war.<br />
Sogar <strong>das</strong> Aussehen von Moody wurde durch <strong>das</strong> Wissen relativiert,<br />
<strong>das</strong>s er sein zerstörtes Äußeres dem jahrelangen Kampf gegen<br />
Todesser verdankte. Und auch Sirius’ Jahre in Askaban hatten eine<br />
Ahnung von seiner früheren Attraktivität übrig gelassen. Doch der Mann,<br />
der gerade Professor McGonagall etwas zuflüsterte <strong>und</strong> anschließend<br />
laut <strong>auf</strong>lachte, war schlicht <strong>und</strong> ergreifend unansehnlich. Obwohl er<br />
stand, überragte ihn die sitzende Verwandlungslehrerin um einige<br />
Zentimeter. Er schien noch recht jung zu sein – <strong>Harry</strong> schätzte ihn <strong>auf</strong><br />
Mitte 20. Auch wenn er keine direkt zu identifizierende Missbildung hatte,<br />
war er einfach nur hässlich. Kurze, hellbraune Haare, ein Grinsen, <strong>das</strong><br />
irgendwie den Eindruck entstehen ließ, <strong>das</strong>s seine Gesichtszüge<br />
allesamt fehlproportioniert wären, <strong>und</strong> eine Narbe, die sich über die<br />
gesamte rechte Gesichtshälfte zog.<br />
Nichtsdestotrotz ging derjenige von Lehrer zu Lehrer, begrüßte<br />
jeden Einzelnen <strong>und</strong> wechselte mit ihm ein paar Worte. Bei Snape<br />
verharrte er nach einem vernichtenden Blick von diesem allerdings nur<br />
ein paar Sek<strong>und</strong>en.<br />
„Wer ist <strong>das</strong>?“, fragte <strong>Harry</strong>. Ron zuckte mit den Schultern.<br />
„Rick Franbery“, kam es hinter Hermines Tagespropheten hervor.<br />
„Der Assistent von unserem neuen Vereidigungslehrer.“<br />
Inzwischen hatte sich Franbery <strong>zur</strong>ück <strong>auf</strong> seinen Stuhl gesetzt. In<br />
dem Mann neben ihm vermutete <strong>Harry</strong> den Nachfolger von Professor<br />
Umbridge. Als er ihn sich genauer ansah, blieb sein Herz für eine<br />
Sek<strong>und</strong>e stehen. Einen Moment glaubte er, wieder vor dem Spiegel<br />
Nerhegeb zu sitzen <strong>und</strong> seinen Vater zu sehen, nur <strong>das</strong>s er diesmal<br />
einen Menschen aus Fleisch <strong>und</strong> Blut vor sich hatte. Natürlich war Jamie<br />
McGonagall älter als sein Vater je geworden war – er war vielleicht ein<br />
paar Jahre älter als James <strong>Potter</strong> heute gewesen wäre, würde er noch<br />
leben. Ansonsten je<strong>doc</strong>h war er sein Ebenbild: Groß <strong>und</strong> schlank, mit<br />
einer Brille, die <strong>Harry</strong> stark an seine eigene erinnerte, mit recht langen,<br />
pechschwarzen Haaren, die <strong>das</strong> gewisse Maß an Unordnung erkennen<br />
ließen, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> jeden Tag im Spiegel erblickte.<br />
„Es ist unheimlich“, keuchte Ron. „Das ist, als sähe man dich in 20<br />
Jahren.“<br />
<strong>Harry</strong> konnte nur weiterhin wie festgenagelt <strong>auf</strong> den Lehrertisch<br />
schauen. Unterdessen hatten auch einige der Schüler die seltsame<br />
Ähnlichkeit zwischen dem Lehrer <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> bemerkt <strong>und</strong> schauten<br />
neugierig zum Gryffindor-Tisch. <strong>Harry</strong> hatte überhaupt keine Lust, sich<br />
117
egaffen zu lassen <strong>und</strong> wollte mit seinem Toastbrot verschwinden, als<br />
Professor McGonagall ankam <strong>und</strong> die St<strong>und</strong>enpläne verteilte. Genervt<br />
blieb er sitzen. Als er den seinigen entgegennahm (Professor<br />
McGonagall schien heute nicht sehr gesprächig), besah er sich sofort<br />
den heutigen Tag.<br />
„Ich habe tatsächlich Zaubertränke!“, stieß er hervor.<br />
Seine Verwandlungslehrerin drehte sich langsam um.<br />
„Was glauben Sie denn, Mr. <strong>Potter</strong>?“, fragte sie unwirsch. „Mit<br />
einem „O“ darf man <strong>das</strong> ja wohl erwarten.“<br />
„Ich dachte, <strong>auf</strong> dem Zeugnis war ein Fehler gemacht worden“,<br />
meinte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>geregt. Es war also wahr, er hatte tatsächlich eine<br />
überragende Zaubertrank-Leistung erbracht.<br />
„Hogwarts-Zeugnisse enthalten keine Fehler. Und nun beeilen Sie<br />
sich, der Unterricht beginnt gleich.“<br />
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron warfen sich einen viel sagenden Blick zu.<br />
„Du scheinst nicht der Einzige in Hogwarts zu sein, den dieser<br />
McGonagall durcheinander bringt.“<br />
Sie griffen schnell nach ihren Schultaschen <strong>und</strong> schauten <strong>auf</strong> die<br />
St<strong>und</strong>enpläne, die sie bekommen hatten.<br />
„Gleich Verwandlung!“, stöhnte Ron. „Da nimmt sie uns bestimmt<br />
doppelt dran, so wie ihre Laune ist, <strong>und</strong> dabei ist <strong>das</strong> Fach sonst auch<br />
anstrengend genug.“<br />
„Und schau mal“, überflog <strong>Harry</strong> den Tag. „Danach haben wir<br />
Kräuterk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> am Nachmittag Verteidigung … “ Er war schon<br />
neugierig, wie der neue Lehrer den Unterricht gestalten wollte –<br />
besonders, da er selbst mittlerweile Erfahrung im Unterrichten von<br />
Verteidigung hatte.<br />
„Und warte erst, bis du siehst, wie viele Freist<strong>und</strong>en wir dieses<br />
Jahr haben“, jauchzte Ron. „16 Stück, <strong>und</strong> ich sogar 20, <strong>das</strong> ist ja wie<br />
Ferien!“<br />
Hermine rümpfte die Nase <strong>und</strong> steckte ihren St<strong>und</strong>enplan ein, der<br />
nur sechs Freist<strong>und</strong>en beinhaltete, obwohl sie sich entschieden hatte,<br />
unter anderem1 Geschichte sausen zu lassen <strong>und</strong> bloß mit neun<br />
Fächern weiterzumachen.<br />
„Die wirst du brauchen, um all die Haus<strong>auf</strong>gaben zu erledigen“,<br />
erklärte sie. „Ich habe im letzten Schuljahr mit Angelina geredet, sie<br />
meint, in der 6. Klasse geben die Lehrer weit mehr Arbeit <strong>auf</strong> als in den<br />
früheren Klassen.“<br />
„Noch mehr?“, fragte Ron entgeistert.<br />
1 In Hermines Zeugnis ist die Rede von 11 ZAGs (HbP, Kapitel 5), uns sind dagegen nur 10 Fächer bekannt<br />
(Zauberkunst, Zaubertränke, Verwandlung, Kräuterk<strong>und</strong>e, Pflege, Geschichte, Astronomie, Alte Runen,<br />
Arithmantik, DADA), in denen sie ZAGs gemacht hat. (Muggelk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Wahrsagen hat sie nach dem 3. Jahr<br />
<strong>auf</strong>gegeben, Flugunterricht gibt es offensichtlich nur im 1. Jahr.) Bleibt ein unbekanntes Fach, <strong>das</strong> sie bei mir im<br />
6. Jahr neben Geschichte <strong>auf</strong>gibt. Somit macht sie bei mir mit 9 Fächern weiter, <strong>Harry</strong> mit 6, Ron mit 5.<br />
118
„Wir sind jetzt UTZ-Schüler, <strong>das</strong> heißt, wie studieren unsere Fächer<br />
sehr intensiv. Es wird erwartet, <strong>das</strong>s jeder Schüler allein unter der<br />
Woche drei bis vier St<strong>und</strong>en für ein Fach arbeitet. Und dann noch einmal<br />
bis zu zwei am Wochenende.“<br />
Ron machte einen ungeheuer schockierten Eindruck <strong>und</strong> rechnete<br />
hektisch nach, was <strong>das</strong> für seine Zeitgestaltung bedeutete.<br />
„Das sind ja um die 50 St<strong>und</strong>en Arbeit die Woche! Was wollen die<br />
erreichen, <strong>das</strong>s wir uns zu Tode schuften?“<br />
„Nur, <strong>das</strong>s wir unsere UTZ ordentlich bestehen“, meinte Hermine<br />
hochnäsig.<br />
<strong>Harry</strong> wollte gar nicht erst an Quidditch <strong>und</strong> die DA denken.<br />
„In Ordnung, Angelina sagte auch, <strong>das</strong>s es bis nach den<br />
Weihnachtsferien nicht ganz so viel Stress ist, wie es sich anhört, erst<br />
während der Prüfungsvorbereitung wird es wirklich anstrengend“, fügte<br />
Hermine schnell an, als sie Rons bemitleidenswerte Mine sah.<br />
„Na toll, sag <strong>das</strong> mal McGonagall“, brummte Ron, während sie sich<br />
in ihrem alt bekannten Verwandlungs-Klassenzimmer <strong>auf</strong> drei freie<br />
Stühle in der vordersten Reihe niedergelassen hatten – <strong>und</strong> tatsächlich<br />
sah die Verwandlungslehrerin die Sache ähnlich streng wie Hermine.<br />
„Sie sind jetzt in einem UTZ-Kurs, <strong>und</strong> für diejenigen von Ihnen, die<br />
keine genaue Vorstellung davon haben, was <strong>das</strong> heißt: Arbeit, Arbeit <strong>und</strong><br />
nochmals Arbeit. Was Sie bisher in diesem Fach gelernt haben, sind<br />
Gr<strong>und</strong>lagen. Sehr gute Gr<strong>und</strong>lagen aus allen wichtigen Zweigen der<br />
Verwandlungskunst, aber nichts desto trotz nur die Voraussetzungen,<br />
um mit dem tiefgründigen Studium weiterzumachen. Wer von Ihnen<br />
ernsthaft vorhat, seinen UTZ zu bestehen, der sollte von nun an den<br />
Unterricht nicht mehr so locker <strong>und</strong> nachlässig nehmen, wie viele von<br />
Ihnen es während der letzten Jahre getan haben.“<br />
Ein entrüsteter Aufschrei ging durch die Klasse, die meisten<br />
Schüler hatten auch in den letzten Klassen wie verrückt für dieses<br />
vielleicht schwerste Fach der Zauberei geschuftet.<br />
„Ja, auch wenn Sie es vermutlich anders sehen, aber verglichen<br />
mit dem, was nun vor Ihnen liegt, war der bisherige<br />
Verwandlungsunterricht ein Spaziergang.“<br />
<strong>Harry</strong> schwante Übles, <strong>und</strong> seine Befürchtungen bestätigten sich,<br />
als sie während der folgenden Doppelst<strong>und</strong>e den Lernstoff aus dem<br />
fünften Schuljahr wiederholen sollten. Er brauchte eine viertel St<strong>und</strong>e,<br />
bis er seinen Raben endlich zum Verschwinden gebracht hatte, obwohl<br />
ihm <strong>das</strong> in den ZAG-Prüfungen <strong>auf</strong> Anhieb mit einem Leguan gelungen<br />
war. Ron mühte sich genauso mit einer kleinen Katze ab, die<br />
hauptsächlich damit beschäftigt war, mit seinem Zauberstab zu spielen,<br />
den er vor ihr herumwedelte, bevor sie dann von einem seiner Zauber<br />
getroffen verschwand. Hermine natürlich saß gelangweilt <strong>auf</strong> ihrem<br />
119
Stuhl, nachdem sie in zwei Minuten eine Eidechse, einen Frosch <strong>und</strong> ein<br />
Hermelin weggezaubert hatte.<br />
Danach mussten sie einige theoretische Fragen McGonagalls über<br />
sich ergehen lassen, <strong>und</strong> auch wenn es <strong>Harry</strong> schien, als hätte er von<br />
diesen nie gehört, behauptete die Lehrerin, sie direkt von den ZAG-<br />
Frageblättern genommen zu haben. Sein Gedächtnis fühlte sich an wie<br />
ausgetrocknet <strong>und</strong> schien keine Anstalten machen zu wollen, sich an<br />
irgendetwas aus dem letzten Schuljahr zu erinnern. Hermine durfte sich<br />
nach fünf richtig beantworteten Fragen in Folge nicht mehr melden,<br />
wor<strong>auf</strong>hin Rons Miene noch saurer wurde als sie ohnehin schon war.<br />
Während des gesamten Unterrichtes je<strong>doc</strong>h hörte man aus<br />
verschiedenen Ecken Getuschel, was so gut wie noch nie in<br />
McGonagalls Unterricht passiert war. Dementsprechend genervt kehrte<br />
sie nach etwa der Hälfte der Zeit zu ihrem Pult <strong>zur</strong>ück, nachdem sie von<br />
Schüler zu Schüler gel<strong>auf</strong>en war, um Fehler zu korrigieren.<br />
„Im Normalfall würde ich die Störenfriede, die nun seit etlichen<br />
Minuten meinen Unterricht stören, kompromisslos vor die Tür setzen. Da<br />
ich bei Ihnen in den vergangenen Jahren aber noch keine<br />
außergewöhnliche Tendenz <strong>zur</strong> Disziplinlosigkeit in meinem<br />
Klassenraum habe entdecken können, nehme ich an, <strong>das</strong>s dies ein<br />
Ausnahmefall ist, <strong>und</strong> des Weiteren, <strong>das</strong>s dieser mit dem neuen<br />
Verteidigungslehrer zu tun hat.“<br />
Augenblicklich wurde es so still im Klassenraum, <strong>das</strong>s man ein<br />
unternehmungslustiges Krächzen von Nevilles immer noch existenten<br />
Raben hören konnte. Sogar Padma <strong>und</strong> Parvati, die ihren ersten<br />
gemeinsamen Verwandlungsunterricht zum ausgiebigen Schwatzen<br />
genutzt hatten, schauten neugierig nach vorne.<br />
„Wie Ihnen zweifellos <strong>auf</strong>gefallen ist, trägt er meinen<br />
Familiennamen. Und die meisten von Ihnen wissen sicherlich, <strong>das</strong>s<br />
schottische Namen, die einem bestimmten Clan zugeordnet werden<br />
können, ausschließlich für Mitglieder dieses Clans bestimmt sind. Somit<br />
liegt die Schlussfolgerung nahe, <strong>das</strong>s Jamie McGonagall mein<br />
Verwandter ist.“ Ihre Nasenlöcher weiteten sich, <strong>und</strong> die Augen hinter<br />
den viereckigen Brillengläsern funkelten <strong>auf</strong>gebracht. „Was tatsächlich<br />
der Fall ist. Er ist mein Neffe.“ Erregtes Murmeln brach aus, <strong>das</strong> nach<br />
einem besonders strengen Blick von Professor McGonagall aber schnell<br />
verstummte.<br />
„Allerdings haben wir in den letzten Jahren kaum Kontakt gehabt,<br />
<strong>und</strong> dabei möchte ich es bewenden lassen.“ Sie drehte sich abrupt um<br />
<strong>und</strong> begann Seamus für seine schlampige Arbeit mit<br />
Verschwindezaubern zu tadeln.<br />
„Ich möchte gerne wissen, was dahinter steckt“, flüsterte <strong>Harry</strong> zu<br />
Hermine <strong>und</strong> Ron. „Da scheint es reichlich Ärger gegeben zu haben, sie<br />
120
ist <strong>doc</strong>h sonst nicht so“ – er suchte nach einem passenden Wort –<br />
„verächtlich.“<br />
„Doch“, wisperte Hermine <strong>zur</strong>ück. „Denk nur an Umbridge.“<br />
Dann machten sie sich schnell wieder daran, sich mit dem ZAG-<br />
Stoff auseinander zu setzen.<br />
Nach der St<strong>und</strong>e waren sie geplättet. <strong>Harry</strong> schwirrte der Kopf von<br />
all den Dingen, die sie heute hatten wiederholen müssen, <strong>und</strong> außerdem<br />
von den Massen an Haus<strong>auf</strong>gaben, die Professor McGonagall ihnen<br />
gegeben hatte. Unter anderem sollten sie ihren Aufsatz zu<br />
Materialisierungs- <strong>und</strong> Verschwindezaubern, der <strong>das</strong> fünfte <strong>und</strong> sechste<br />
Schuljahr quasi verband, überarbeiten <strong>und</strong> einige neue Aspekte mit<br />
<strong>auf</strong>nehmen. Des Weiteren erwartete sie von jedem eine Rolle<br />
Pergament, in dem sie sich kritisch mit ihrer ZAG-Leistung in<br />
Verwandlung auseinandersetzen sollten, <strong>und</strong> zusätzlich sollten sie noch<br />
drei Kapitel zu Materialisierungszaubern lesen, um den nächsten<br />
Unterricht am Mittwoch vorzubereiten.<br />
„Und woher soll ich noch wissen, wie meine Leistung in den ZAGs<br />
gewesen war?“, maulte Ron, als sie durch die Gänge Hogwarts rannten,<br />
um rechtzeitig zu Kräuterk<strong>und</strong>e zu kommen. „Das ist Ewigkeiten her. Hi,<br />
Neville.“ Dieser kam ihnen aus dem Verwandlungsraum nachgel<strong>auf</strong>en,<br />
nachdem Professor McGonagall ihn wegen seiner ZAGs hatte sprechen<br />
wollen.<br />
„Konnte kaum glauben, <strong>das</strong>s ich wirklich ein „E“ gekriegt habe <strong>und</strong><br />
wollte wissen, wie ich <strong>das</strong> geschafft habe. Natürlich habe ich keine<br />
Ahnung, ich schätze mal, ich hatte einfach Glück. Sie war nicht<br />
besonders begeistert.“<br />
„Nun, du hättest ihr einfach sagen können, <strong>das</strong>s wir zusammen viel<br />
für die Prüfungen gelernt haben“, kam es ein wenig träumerisch von<br />
jemandem hinter ihm. Loona hatte ihn begleitet, schwenkte jetzt aber in<br />
einen anderen Gang um.<br />
„Ich werde Kräuterk<strong>und</strong>e nächstes Jahr wohl abwählen, ich denke,<br />
Alte Runen sind wichtiger für meine spätere Karriere“, meinte sie mit<br />
einem fast erstaunten Blick <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s Kräuterk<strong>und</strong>ebuch <strong>und</strong><br />
verschwand hüpfend hinter einer Biegung.<br />
„Für welche Karriere“, fragte Hermine stirnrunzelnd. „Als<br />
Erforscherin nichtexistenter Pflanzen <strong>und</strong> Tiere?“<br />
Loona <strong>und</strong> Hermine kamen zwar miteinander aus, allerdings<br />
würden sie <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> ihrer Verschiedenheit nie wirkliche Fre<strong>und</strong>e werden.<br />
Wobei Hermine nun mit wachsendem Erstaunen Nevilles Schwärmerei<br />
für Loonas Verwandlungsfähigkeiten zuhörte. Anscheinend war sie mit<br />
Ginny zusammen die beste Verwandlerin ihrer Klassenstufe.<br />
„Kommt, wir sind spät dran“, rief Neville plötzlich <strong>und</strong> schritt<br />
energisch an den Beeten vorbei, die zu einer Reihe Gewächshäuser<br />
121
führten, in denen sie Kräuterk<strong>und</strong>e hatten. Wieder wurden sie<br />
zusammen mit den Ravenclaws unterrichtet, was die Klasse ziemlich<br />
groß werden ließ, denn Professor Sprout nahm auch Schüler mit einem<br />
„A“ aus den ZAGs <strong>auf</strong>.<br />
In den kommenden zwei St<strong>und</strong>en gaben sie ihre<br />
Haus<strong>auf</strong>gabenberichte ab <strong>und</strong> diskutierten dann dabei <strong>auf</strong>getretene<br />
Probleme (Ron hatte es tatsächlich geschafft, seinen Kreischbeißer<br />
vertrocknen zu lassen – „Wir sind zum Grimmauldplatz umgezogen <strong>und</strong><br />
ich habe ihn zu Hause vergessen. Das nächste Mal, als Dad<br />
nachgesehen hat, war es zu spät.“). <strong>Harry</strong> bekam ein extra Lob für<br />
seinen detaillierten Bericht über die Entwicklung einer jungen<br />
Teufelsschlinge, allerdings unterließ er es, den Gr<strong>und</strong> für seine<br />
ungewohnte Pedanterie zu nennen, nämlich, <strong>das</strong>s er wochenlang<br />
wortwörtlich nichts Besseres zu tun gehabt hatte als einer magischen<br />
Pflanze beim Wachsen zuzusehen.<br />
Obwohl die Arbeit in den Gewächshäusern stets recht angenehm<br />
war, da man ausreichend Gelegenheit für ein ausgiebiges Gespräch mit<br />
seinen Fre<strong>und</strong>en hatte, waren die drei froh, als sie die feuchte, warme<br />
Luft hinter sich lassen <strong>und</strong> wieder in die kühlen Gänge des Schlosses<br />
<strong>zur</strong>ückkehren konnten. Nach dem Mittagessen <strong>und</strong> den nun folgenden<br />
Freist<strong>und</strong>en vergrub sich Hermine erst in ihre Verwandlungs<strong>auf</strong>gaben,<br />
bevor sie dann zu Alte Runen verschwand, die ganze Zeit den Kopf über<br />
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron schüttelnd, welche lieber ihre neuesten<br />
Schokofroschkarten mit denen von Neville <strong>und</strong> Seamus verglichen,<br />
anstatt ihren sich langsam erhöhenden Berg an Haus<strong>auf</strong>gaben<br />
anzugehen (Professor Sprout verlangte bis zum nächsten Mal eine<br />
Abhandlung über Dianthuskraut). Aber die drückende Schwüle des<br />
Tages wirkte sich ziemlich negativ <strong>auf</strong> ihre Unternehmungslust <strong>und</strong><br />
Konzentrationsfähigkeit aus.<br />
Nach den zwei St<strong>und</strong>en machten sie sich wieder <strong>auf</strong> den Weg<br />
durch die Gänge <strong>und</strong> betraten <strong>das</strong> sich im ersten Stock befindende<br />
Klassenzimmer für Verteidigung gegen die dunklen Künste. Hermine<br />
stieß kurz dar<strong>auf</strong> leicht keuchend <strong>auf</strong> sie <strong>und</strong> schwärmte wieder einmal<br />
von ihren Runenunterricht <strong>und</strong> davon, <strong>das</strong>s sie diesmal keine<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben <strong>auf</strong>bekommen hatten.<br />
Weder Jamie McGonagall noch sein Assistent waren zu sehen,<br />
aber dennoch stand die Tür offen, so<strong>das</strong>s sie sich freie Plätze in dem<br />
großen, von hohen Fenstern begrenzten Raum mit dem eisernen<br />
Kronleuchter suchen konnten. <strong>Harry</strong> dachte gedankenverloren an die<br />
vielen Lehrer, die er hier hatte kommen <strong>und</strong> gehen sehen: Den<br />
Voldemort ergebenen Quirrell, den selbstverliebten, inkompetenten<br />
Lockhart, Lupin, der sich ernsthaft <strong>und</strong> erfolgreich bemüht hatte, ihnen<br />
guten Unterricht zu geben, den Todesser Crouch, der sich für Moody<br />
122
ausgegeben hatte, <strong>und</strong> die grausame, ministeriumstreue Umbridge. Was<br />
würde ihn heute erwarten? Allzu schlimm konnte es nicht werden, dachte<br />
<strong>Harry</strong> resignierend, bis <strong>auf</strong> Lupin hatten sie nie einen ordentlichen Lehrer<br />
für dieses Fach gehabt.<br />
Die heiße Sonne stach ihm durch die Fenster in die Augen,<br />
während eine Fliege träge vor seinem Gesicht summte. Es war<br />
mittlerweile recht spät, alle Schüler hatten sich bereits gesetzt. Der<br />
warme Tag schien ihnen die Lust zu schwatzen genommen zu haben,<br />
jedenfalls war es ziemlich still im Klassenraum, die Art von Stille, die<br />
allein durch gedrückte, schläfrige Unkonzentriertheit zu Stande kommt.<br />
Hermine rückte noch schnell ihre Bücher <strong>zur</strong>echt, während Ron ihr<br />
ungläubig zusah.<br />
„Wo hast du die ganzen Wälzer her? Wir haben <strong>doc</strong>h nur ein<br />
Kursbuch!“<br />
„Das ist Sek<strong>und</strong>ärliteratur“, meinte sie <strong>und</strong> gab einem großen<br />
braunen Buchrücken einen liebevollen Klapps.<br />
„Du spinnst“, murrte Ron <strong>und</strong> ließ seinen Kopf <strong>auf</strong> die Arme sinken.<br />
„Wenn es nicht bald losgeht, verschwinde ich. Dean will heute eine<br />
R<strong>und</strong>e <strong>auf</strong> dem Besen drehen, als Vorbereitung <strong>auf</strong> die Auswahlspiele.<br />
Dort wäre ich wohl auch besser <strong>auf</strong>gehoben …“<br />
Dean hatte als einziges DA-Mitglied den Verteidigungs-ZAG nicht<br />
bestanden <strong>und</strong> nahm nicht weiter am Verteidigungsunterricht teil.<br />
In den Moment schwang die Tür von neuem <strong>auf</strong>, <strong>und</strong> McGonagall<br />
trat ein. Er hielt nur seinen Zauberstab in der Hand, sonst nichts, was<br />
Hermine einen verstohlenen Blick <strong>auf</strong> ihre vielen Bücher werfen ließ.<br />
Hinter ihrem neuen Lehrer betrat nun auch Rick Franbery den Raum.<br />
Wie sein Vorgesetzter trug er einen einfachen, schwarzen Umhang, im<br />
Gegensatz zu diesem aber brachte er einen kleinen schwarzen Koffer<br />
mit <strong>und</strong> legte diesen <strong>auf</strong> einem der leeren vorderen Tische ab.<br />
Die Klasse war nun vollkommen ruhig <strong>und</strong> schaute neugierig nach<br />
vorne, wo Franbery sich neben McGonagall gestellt hatte.<br />
„Hi“, begrüßte sie ihr zukünftiger Lehrer <strong>und</strong> strahlte die Schüler<br />
an.<br />
„Ich freue mich, zumindest für <strong>das</strong> kommende Schuljahr zuständig<br />
für euren Unterricht in Verteidigung gegen die dunklen Künste zu sein –“<br />
„Mit Sicherheit nicht länger“, meinte Ron gehässig <strong>und</strong> warf einen<br />
mit Verbitterung versehenen Blick <strong>auf</strong> Hermine, die ihre Bücher<br />
vergessen zu haben schien <strong>und</strong> verzückt den Worten McGonagalls<br />
lauschte, der es sich nun <strong>auf</strong> einer Tischkante bequem gemacht hatte.<br />
„Jedenfalls wäre er da der erste“, brabbelte Ron weiter, Hermine<br />
mit Blicken durchbohrend.<br />
„Hör <strong>auf</strong>, Ronald!“, zischte sie <strong>zur</strong>ück. „Früher waren alle<br />
Verteidigungs-Lehrer lange im Amt, wir hatten halt nur <strong>das</strong> Pech,<br />
diejenigen zu erleben, die am ungeeignetsten für den Job sind.“<br />
123
<strong>Harry</strong> wollte gerade hitzig Lupin in Schutz nehmen, als McGonagall<br />
weitersprach.<br />
„Ich war schon ein wenig überrascht, als Professor Dumbledore<br />
mich angerufen hat, um meinem Angebot, hier zu unterrichten,<br />
zuzusagen“, plauderte er in breitestem Amerikanisch. Als er die<br />
Verwirrung der Klasse bemerkte, lachte er laut <strong>auf</strong>.<br />
„Versucht einmal, eine Eule über den Atlantik zu schicken, vor<br />
allem noch in den hintersten Winkel des B<strong>und</strong>esstaates Washington.“ Er<br />
zuckte mit den Schultern. „Die Muggel haben einige Sachen erf<strong>und</strong>en,<br />
die tatsächlich nützlich sind. Ein Telefon zu benutzen ist effektiver <strong>und</strong><br />
schneller als jeder Kommunikationszauber, den ich kenne.“ Vergnügt<br />
wies er <strong>auf</strong> seinen Assistenten Franbery. „Rick zum Beispiel hat zu<br />
Hause einen Fernseher; unglücklicherweise stellte sich heraus, <strong>das</strong>s er<br />
ihn hier nicht benutzen kann … ich hatte ganz vergessen, <strong>das</strong>s<br />
elektronische Medien hier nicht funktionieren.“<br />
„Mit der Einstellung wird er sich Schwierigkeiten bei den Slytherins<br />
einhandeln“, fürchtete Hermine.<br />
„Na <strong>und</strong>“, flötete Ron.<br />
„Meinen Namen wisst ihr inzwischen bestimmt, so wie ich Minerva<br />
kenne, wird sie es kaum unterlassen haben, den wild wuchernden<br />
Gerüchten um meinen Nachnamen ein Ende zu bereiten, indem sie euch<br />
die langweilige Wahrheit erzählt hat“, meinte er lächelnd. Von der<br />
verärgerten Bitterkeit seiner Tante war nichts zu bemerken.<br />
„Aber tut mir einen Gefallen <strong>und</strong> nennt mich Jamie; mit diesem<br />
albernen Professorentitel angesprochen zu werden ist mir unangenehm.“<br />
Einige der Schüler hoben erstaunt die Augenbrauen, etwas<br />
anderes zu ihren Lehrern zu sagen als „Professor“ waren sie nicht<br />
gewohnt. Hermine schien überhaupt nicht überrascht.<br />
„Ich habe gelesen, <strong>das</strong>s es in amerikanischen Zaubererschulen<br />
üblich ist, sich mit dem Vornamen anzusprechen, <strong>das</strong> entspricht der<br />
amerikanischen informellen Umgangsweise“, erklärte sie, noch immer<br />
keine Sek<strong>und</strong>e den Blick von McGonagall wendend.<br />
„Nun denn, dann lasst uns zum Wesentlichen kommen. Ich werde<br />
mit euch in diesem Jahr einen genau ausgearbeiteten Plan durchgehen,<br />
den ich ausgehend von eurem bisherigen Verteidigungsunterricht erstellt<br />
habe. Leider habt ihr in diesem Fach oft recht unglückliche, äh<br />
Professoren erwischt. Wenn ihr mir diese Feststellung erlaubt.“ Keiner<br />
machte Anstalten zu widersprechen. „Mein Assistent Rick wird mir bei<br />
der Vorbereitung des Unterrichtes helfen; er möchte später selbst Lehrer<br />
werden uns nutzt <strong>das</strong> kommende Jahr zum Sammeln von Erfahrung.“<br />
Damit trat Franbery einen Schritt nach vorne <strong>und</strong> grinste die Klasse<br />
seltsam verzerrt an. Die Narbe an seiner rechten Gesichtshälfte stach<br />
weiß hervor.<br />
124
„Herzlich willkommen auch von mir“, begann er mit einem<br />
ungeheuer schweren Akzent; <strong>Harry</strong> kam es ein wenig so vor, als würde<br />
Fleur versuchen, ihre ersten englischen Worte auszusprechen.<br />
„Ich komme im Gegensatz zu Jamie nicht aus den Staaten,<br />
sondern bin im frankophonen Teil von Kanada <strong>auf</strong>gewachsen.<br />
Deswegen ist es mir eine besondere Freude, die Chance erhalten zu<br />
haben, an der wohl berühmtesten Zaubererschule der Welt arbeiten zu<br />
dürfen.“<br />
„Schleimer“, brummelte <strong>Harry</strong>. „Wen will er denn beeindrucken?“<br />
Und es schien wirklich, als höre Franbery niemand zu, aller Augen<br />
folgten unablässig McGonagall, der neugierig den Klassenraum abschritt<br />
<strong>und</strong> Bilder, Skelette <strong>und</strong> Regale musterte, sich nun aber beschwingt<br />
umdrehte <strong>und</strong> zum Lehrertisch <strong>zur</strong>ückkehrte.<br />
„Nun denn, dann wäre es an der Zeit, zu beginnen“, strahlte er.<br />
„Offensichtlich hat der ungenügende Unterricht, den ihr in Verteidigung<br />
erhalten habt, euch nicht davon abgehalten, außergewöhnlich gute ZAG-<br />
Resultate zu erzielen.“ Er blätterte ein paar Pergamente durch, die er<br />
Franberys Koffer entnommen hatte.<br />
„Lasst mal sehen … sieben „Ohnegleichen“, <strong>das</strong> ist wahrscheinlich<br />
Rekord … <strong>und</strong> fast alle anderen Teilnehmenden haben ein „Erwartungen<br />
übertroffen“.“ Bew<strong>und</strong>ernd schaute er in die Klasse.<br />
„Ich nehme an, dieses außerordentliche Ergebnis ist eine Folge<br />
eures berühmten Hangs <strong>zur</strong> selbstständigen, freiwilligen<br />
Verteidigungsarbeit außerhalb des Unterrichtes.“ Sein Blick schweifte<br />
kurz durch die Klasse, dann hatte er sein Ziel gef<strong>und</strong>en. „Die von<br />
niemand anderem initiiert worden ist als von <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>.“ Fre<strong>und</strong>lich<br />
lächelte er <strong>Harry</strong> an. Dieser hatte geahnt, nein, gewusst, <strong>das</strong>s der<br />
Moment hatte kommen müssen, an dem McGonagall ihn ansprechen<br />
würde; für gewöhnlich passierte <strong>das</strong> bei neuen Lehrern noch viel früher.<br />
Keiner konnte es sich nehmen lassen, den legendären Bezwinger<br />
Voldemorts besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.<br />
Mittlerweile war er daran gewöhnt, aber in seinen ersten Hogwarts-<br />
Jahren war es ihm ein ständiger Gräuel gewesen, ungewollt im<br />
Mittelpunkt zu stehen. Seltsamerweise empfand er McGonagalls<br />
Interesse als nicht <strong>auf</strong>dringlich oder sensationslüstern; vielleicht, weil ihn<br />
dieser wegen der DA angesprochen hatte <strong>und</strong> somit eine direkte<br />
Verbindung zum Unterricht bestand.<br />
„Mm, ja“, nickte <strong>Harry</strong> unbestimmt, nicht wissend, was der Lehrer<br />
von ihm wollte.<br />
„Fantastische Idee, die hätte auch von mir kommen können“,<br />
meinte McGonagall begeistert. „Wenn ich nicht genau wüsste, <strong>das</strong>s ich<br />
euch als ein von Schülern im Normalfall gemiedener Lehrer stören<br />
würde, würde ich selbst sofort in die DA eintreten.“ Bei dem Gedanken<br />
125
musste er noch breiter grinsen <strong>und</strong> setzt sich wieder lässig <strong>auf</strong> eine<br />
Tischkante.<br />
Das hatte er nun nicht erwartet. Er hätte sich vorstellen können,<br />
wegen der DA <strong>auf</strong> heftigen Widerstand zu treffen, im besten Fall hatte er<br />
gehofft, die Verteidigungsgruppe nach intensiver Diskussion mit<br />
McGonagall weiterführen zu dürfen, er hatte sich sogar bereits einige<br />
Argumente überlegt.<br />
Seine Überraschung muss ihm deutlich angesehen gewesen zu<br />
sein, denn McGonagall lachte wieder laut <strong>auf</strong>.<br />
„Dachtest du, ich hätte was dagegen, wenn ihr außerhalb des<br />
Unterrichts übt? Jeder Lehrer würde vor Freude in die Luft springen,<br />
wenn seine Schüler solche Hingabe zeigen.“<br />
„Es ist nur so, <strong>das</strong>s unsere ehemalige Lehrerin uns mit<br />
Schulverweis gedroht hat, sollten wir eine geheime Organisation für<br />
Verteidigung gründen“, erklärte <strong>Harry</strong>. Ihm war nie in den Sinn<br />
gekommen, die DA als Unterrichtsergänzung zu sehen, selbst jetzt, wo<br />
Umbridge weg war, hatte sie für ihn noch immer den Hauch des<br />
Verbotenen an sich.<br />
„Ach, die alte Umbridge“, verzog McGonagall <strong>das</strong> Gesicht. „Sie hat<br />
einmal ein Jahr lang Arithmantik in Hogwarts gegeben, als ich noch an<br />
der Schule war. Ja, ich kann mir vorstellen, <strong>das</strong>s ihr mit diesem<br />
Ministeriumsableger Schwierigkeiten hattet. Vor allem nach dem, was<br />
Dumbledore mir alles erzählt hat. Früher hat sie jeden, der die<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben nicht erledigt hat, <strong>zur</strong> Strafarbeit in ihr Büro gerufen. Ich<br />
glaube, damals war <strong>das</strong> mein zweites Zuhause.“ Er klang versucht<br />
fröhlich, aber <strong>Harry</strong> entging nicht der kurze Blick, den er <strong>auf</strong> seine linke<br />
Hand warf. Mehr als alles andere ließ <strong>das</strong> ihm McGonagall sympathisch<br />
erscheinen.<br />
„Aber vergessen wir die alten Zeiten <strong>und</strong> stürzen wir uns lieber in<br />
die Arbeit, denn davon wartet in den nächsten Monaten eine Menge <strong>auf</strong><br />
uns. Was die DA angeht, könnt ihr mich gern um Rat fragen, welche<br />
Zauber ich euch empfehlen könnte zu lernen, für die wir im Unterricht<br />
keine Zeit haben. Ansonsten könnt ihr euch treffen sooft <strong>und</strong> wo ihr<br />
wollt.“<br />
Er schlug in die Hände, sprang <strong>auf</strong> <strong>und</strong> richtete seinen Zauberstab<br />
<strong>auf</strong> die leere Tafel. In krakeliger Schrift erschien dort die Überschrift<br />
„Wiederholung des ZAG-Stoffes“.<br />
Die Klasse stöhnte.<br />
„Ja, ja, ich weiß, <strong>das</strong>s meine liebe Tante euch schon mit dem<br />
Verwandlungs-ZAG gequält hat, aber glaubt mir, über die Ferien vergisst<br />
man eine Menge. Meiner Meinung nach sollte man <strong>das</strong> Verbot der<br />
minderjährigen Zauberei <strong>auf</strong>heben, aber gut, <strong>auf</strong> mich hört keiner. Nun,<br />
zuerst wiederholen wir den Entwaffnungszauber. Wer möchte ihn<br />
vorführen?“<br />
126
Zwar drängte sich kein Schüler in den Vordergr<strong>und</strong>, aber <strong>Harry</strong><br />
wusste, <strong>das</strong>s fast alle in dieser Klasse einen exzellenten Expelliamus zu<br />
Stande brachten.<br />
„Das ist ja wie in einer Gr<strong>und</strong>lagenst<strong>und</strong>e der DA“, murrte Ron, <strong>und</strong><br />
auch wenn sein Genörgel <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die Nerven ging, fühlte er sich ein<br />
wenig stolz bei diesen Worten. Sein Unterricht war es gewesen, der<br />
einen Entwaffnungszauber für all diese Schüler zu einer<br />
Selbstverständlichkeit gemacht hatte.<br />
„Möchte denn niemand? Laut den ZAG-Ergebnissen beherrscht ihr<br />
alle einen Expelliamus“, meinte McGonagall mit einer Spur<br />
Enttäuschung, die <strong>Harry</strong>, es erstaunte ihn selbst, sich melden ließ.<br />
Schließlich befand sich die Ehre der DA <strong>auf</strong> dem Prüfstand.<br />
„W<strong>und</strong>erbar, <strong>Harry</strong>, komm nur vor. Ich bin gespannt <strong>auf</strong> dein<br />
berühmtes Talent für Verteidigung“, freute sich McGonagall <strong>und</strong> brachte<br />
einige leere Tische in der ersten Reihe mit einem Schwung seines<br />
Zauberstabes dazu, sich an den Wänden zu stapeln, so<strong>das</strong>s ein<br />
genügend großer freier Raum in der Mitte blieb.<br />
<strong>Harry</strong> stellte sich McGonagall gegenüber <strong>und</strong> zückte seinen<br />
eigenen Zauberstab aus Stechpalmenholz. Es fühlte sich gut an, endlich<br />
wieder Magie anwenden zu dürfen. Sofort spürte er, wie seine<br />
Konzentration zunahm, er wartete <strong>auf</strong> eine Bewegung seines<br />
Gegenübers <strong>und</strong> richtete all seine Sinne <strong>auf</strong> die Ausführung des<br />
Zaubers.<br />
Vermutlich war es diese Fixiertheit, die ihn in den ersten Sek<strong>und</strong>en<br />
ablenkte, bevor er McGonagall näher kam als er es bisher je gewesen<br />
war. Dann je<strong>doc</strong>h fiel ihm schlagartig wieder dessen unheimliche<br />
Ähnlichkeit mit seinem Vater, mit ihm <strong>auf</strong>, welche während der<br />
bisherigen St<strong>und</strong>e ein wenig in dem ungewohnten amerikanischen<br />
Akzent untergegangen war.<br />
Er hörte Geflüster in der Klasse, glaubte einen erstaunten Ruf zu<br />
vernehmen, der von Parvati kam. Selbst McGonagall sah für eine kurze<br />
Zeit irritiert zu <strong>Harry</strong> hinüber. Dann fing er sich aber wieder.<br />
„Gut, ich würde sagen, du zeigst deinen Mitschülern einen<br />
musterhaften Expelliamus“, forderte er ihn <strong>auf</strong>. „Ich werde mich nicht<br />
verteidigen.“<br />
Das war auch nicht schwieriger, als Neville einen guten<br />
Beispielzauber zu geben. <strong>Harry</strong> hob seinen Zauberstab, führte eine<br />
kurze, schmerzlose Bewegung durch, rief entschlossen „Expelliamus!“,<br />
<strong>und</strong> schon flog McGonagalls Zauberstab quer durch den Klassenraum.<br />
„Klasse!“, rief dieser, während er sich ihn wieder holte. „Hättest du<br />
vielleicht Lust, <strong>das</strong> gegen Rick noch einmal zu versuchen? Er ist froh,<br />
wenn er ein wenig Unterrichtspraxis bekommt.“<br />
<strong>Harry</strong> wandte sich automatisch Franbery zu, der die ganze Zeit an<br />
der Seite gestanden hatte.<br />
127
„Ich arbeite an einer ganz neuen Ausdrucksweise der Zauberei“,<br />
begann er, während er hingebungsvoll seinen Zauberstab von ein paar<br />
Staubflocken befreite.<br />
„Ja, Rick ist in der Beziehung sehr eigen“, meinte McGonagall mit<br />
einem Lachen, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> allerdings sehr gequält vorkam.<br />
„Zauberei ist nicht nur Peitschen <strong>und</strong> Knallen <strong>und</strong> Schreien“,<br />
erklärte Franbery <strong>auf</strong>geregt. „Nein, es benötigt eine Eleganz, die ich<br />
vorhabe zum Erscheinen zu bringen.“<br />
<strong>Harry</strong> hatte keine Ahnung, von was er da redete, deswegen<br />
schwieg er.<br />
„Ihr müsste wissen, <strong>das</strong>s die Art, wie ein Zauber ausgeführt wird,<br />
genauso wichtig ist wie sein Ergebnis“, redete Franbery weiter <strong>zur</strong><br />
Klasse gewandt. „Schließlich wollen wir der Schönheit der Zauberei<br />
Rechnung tragen, nicht wahr? Wo bliebe sonst der Spaß, die<br />
Leichtigkeit, <strong>das</strong> Mehr?“<br />
Offensichtlich wusste die Klasse auch nicht, was Franbery meinte,<br />
denn sie sah genauso ratlos aus wie <strong>Harry</strong>,<br />
„Ach komm, Rick, zaubere einfach“, grinste McGonagall.<br />
Franbery stellte sich gegenüber <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>, ein paar Schritte vor<br />
McGonagall.<br />
„Wir werden gleichzeitig angreifen“, sprach er <strong>Harry</strong> an. „Doch<br />
zuvor lass mich euch zeigen, was ich meine.“ Dann führte er eine<br />
ungeheuer komplizierte Bewegung mit seinem Zauberstab aus, der er<br />
noch eine elegante Drehung <strong>und</strong> zwei Ausfallschritte hinzufügte. <strong>Harry</strong><br />
hätte am liebsten <strong>auf</strong> seinen Zauberstab gebissen, um nicht loslachen zu<br />
müssen. Mühsam beherrschte er sich.<br />
„Erst so werdet ihr erfahren, was es heißt, Zauberei zu fühlen“,<br />
plapperte er frenetisch. „Und nun los!“<br />
Er begann wieder seine gelenkigen Bewegungen, bevor er seinen<br />
Zauberstab <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> richtete <strong>und</strong> „Expelliamus!“ richtiggehend<br />
musizierte. Das tat er allerdings im Fallen, denn <strong>Harry</strong>s direkt<br />
ausgeführter Entwaffnungszauber hatte ihn schon geraume Zeit zuvor<br />
getroffen. Franbery flog einige Meter durch die Luft, krachte gegen<br />
McGonagall, <strong>und</strong> beide machten einen Salto rückwärts über einen der an<br />
der Seite gestapelten Tische.<br />
Erschrocken sprang <strong>Harry</strong> vor.<br />
„Haben Sie sich verletzt?“, fragte er <strong>und</strong> stellte den Tisch wieder<br />
<strong>auf</strong>recht. Franbery rappelte sich hoch <strong>und</strong> hielt sich schmerzverzerrt <strong>das</strong><br />
Bein. „Ich glaube, es ist gebrochen“, japste er.<br />
„Das tut mir Leid!“, rief <strong>Harry</strong> entsetzt. „Das wollte ich nicht, <strong>das</strong> …“<br />
„Nur keine Panik, <strong>Harry</strong>“, beruhigte ihn McGonagall. Er stand<br />
gerade wieder <strong>auf</strong>, klopfte sich den Staub vom Umhang <strong>und</strong> schüttelte<br />
sich die Haare aus dem Gesicht. „Im Krankenflügel kann man ihm in<br />
128
wenigen Sek<strong>und</strong>en helfen. Übrigens, ist immer noch Madame Pomfrey<br />
die fürsorgliche Herrin des Flügels?“<br />
„Ja“, antwortete <strong>Harry</strong> erleichtert, der schon Angst gehabt hatte,<br />
wegen Franberys Verletzung verantwortlich gemacht zu werden.<br />
„War ein hübscher Expelliamus“, grinste McGonagall schelmisch,<br />
nachdem Franbery den Raum verlassen hatte, zusammen mit Parvati,<br />
die ihm den Weg zeigte.<br />
Den Rest der St<strong>und</strong>e übten die Schüler Entwaffnungszauber,<br />
Reduktio-Zauber, Impedimenta <strong>und</strong> andere ZAG-Zauber, am Ende<br />
durften sie sogar einen Patronus vorführen. Da so viele diesen<br />
ungeheuer schweren Zauber bereits in der DA gelernt hatten, bevölkerte<br />
zum Pausenklingeln fast ein Dutzend silbriger Tiere den Klassenraum.<br />
Sie sprangen herum, neckten sich gegenseitig <strong>und</strong> wurden von ihren<br />
Besitzern bew<strong>und</strong>ert. Sogar Ron fand heraus, welche Form sein<br />
Patronus annahm.<br />
„Ein H<strong>und</strong>! Ich habe einen H<strong>und</strong>!“, jauchzte er <strong>und</strong> schaute diesem<br />
verzückt dabei zu, wie er Hermines Otter in eine Ecke jagte. <strong>Harry</strong>s<br />
Hirsch schaute den beiden dabei mit erhabenem Blick zu.<br />
„Siehst du“, freute sich <strong>Harry</strong>, „du brauchst nur eine genügend<br />
glückliche Vorstellung.“<br />
„Jaaa“, feixte Ron. „Ich habe mir vorgestellt, selbst gegen Franbery<br />
antreten <strong>und</strong> ihm einen Flederwichtfluch <strong>auf</strong>halsen zu dürfen.“<br />
Nach der St<strong>und</strong>e begaben sie sich in die große Halle zum<br />
Abendessen. Ron stürzte sich hungrig <strong>auf</strong> die Kaninchenkeulen, die zu<br />
H<strong>auf</strong> in großen Schüsseln überall <strong>auf</strong> dem Tisch standen, zusammen mit<br />
Bratkartoffeln <strong>und</strong> Bergen von Risotto.<br />
„Insgesamt ist die erste St<strong>und</strong>e Verteidigung <strong>doc</strong>h recht gut<br />
verl<strong>auf</strong>en“, begann Hermine mit zufriedenem Gesicht.<br />
„Ja, besonders gut war der Moment, als <strong>Harry</strong> den Assistenten des<br />
Lehrers zerlegt hat“, prustete Neville von der anderen Tischseite her.<br />
<strong>Harry</strong> wurde rot.<br />
„Das war keine Absicht“, meinte er eilig. „Und ich finde es auch<br />
nicht lustig …“ Als er aber wieder an Franberys Gefuchtel denken<br />
musste, konnte er sich nur schwer ein Grinsen verkneifen. „Was wedelt<br />
er auch solange mit seinem Zauberstab herum, bis er endlich einen<br />
Fluch spricht … erinnert mich ein wenig an Lockhart.“<br />
„Er ist vielleicht ein bisschen …“ Ron machte eine<br />
unmissverständliche Handbewegung vor seiner Stirn.<br />
„Ich habe von solchen Leuten gehört“, schaltete sich Loona ein.<br />
„Von welchen Leuten, den Irren?“, grinste Ron.<br />
„Nein“, antwortete sie geduldig <strong>und</strong> ernsthaft erstaunt, wie Ron <strong>auf</strong><br />
diese Idee kommen konnte. „Von der Bewegung für ästhetische<br />
Zauberei.“<br />
129
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron glotzten sie verblüfft an.<br />
„Klingt irgendwie <strong>doc</strong>h nach Irren“, platzte letzterer heraus. „Wo<br />
hast du davon gelesen? So ein Mist steht <strong>doc</strong>h sonst nur im Klitterer.“<br />
In dem Moment schien ihm einzufallen, <strong>das</strong>s Loonas Vater die <strong>auf</strong><br />
eigenartige Themen spezialisierte Zeitung verlegte. Beschämt wandte er<br />
sich seinem Kaninchen zu.<br />
Loona je<strong>doc</strong>h schien von der Bemerkung nicht berührt. „In der Tat<br />
hatten wir im letzten Monat einen Bericht über die Gruppe drin. Kurz<br />
gesagt handelt es sich um ein paar Leute, die meinen, in der Zauberei<br />
soll mehr Gewicht <strong>auf</strong> Ästhetik <strong>und</strong> Eleganz gelegt werden als bisher nur<br />
<strong>auf</strong> Effizienz. Ich glaube, der Gedanke ist irgendwo in Kanada <strong>und</strong><br />
Frankreich <strong>auf</strong>gekommen.“<br />
„Totaler Müll“, ereiferte sich Hermine. „Als ob damit irgendwem<br />
geholfen wäre. Wenn ihr mich fragt, sind <strong>das</strong> Spinner, die sich zu sehr<br />
langweilen <strong>und</strong> letztendlich mit gebrochenem Bein im Krankenflügel<br />
landen.“<br />
<strong>Harry</strong> sah erstaunt <strong>auf</strong>. So war Hermine noch nie über eine<br />
Lehrperson hergezogen, auch wenn Franbery nur Assistent war.<br />
„Ist <strong>doc</strong>h wahr“, rechtfertigte sie sich. „In jedem echten Duell wäre<br />
er <strong>doc</strong>h tot, bevor er sich auch nur entschieden hat, welchen Zauber er<br />
nimmt – ganz zu schweigen von den neuen Zauberspruchbewegungen,<br />
die man entwickeln muss, um der –“ verächtlich fügte sie hinzu –<br />
„Eleganz Raum zu geben, aber gleichzeitig <strong>das</strong> Ergebnis des Zaubers<br />
beizubehalten …“<br />
„Wir geben dir ja Recht, nur keine Aufregung“, grinste Ron <strong>und</strong><br />
schien ganz vergessen zu haben, <strong>das</strong>s er Hermine eigentlich noch böse<br />
war.<br />
„Übrigens hat sich Franbery gar nichts gebrochen, sondern nur den<br />
Knöchel verstaucht“, warf Parvati ein, die während der St<strong>und</strong>e vom<br />
Krankenflügel <strong>zur</strong>ückgekommen war.<br />
Ron schüttelte sich vor Lachen. „Dabei hat er gejammert wie ein<br />
Schlossh<strong>und</strong>!“<br />
Dann wurde er wieder ernst <strong>und</strong> wandte sich <strong>Harry</strong> zu, an dem in<br />
den letzten Minuten überdurchschnittlich viele Schüler vorbeigegangen<br />
waren, nicht ohne zuvor einen genauen Blick <strong>auf</strong> Jamie McGonagall<br />
geworfen zu haben, der vorne am Lehrertisch saß.<br />
„Sag mal, hast du eine Ahnung, wieso er dir so ähnlich sieht?“,<br />
fragte Ron verschwörerisch.<br />
„Ich weiß es nicht, <strong>das</strong> habe ich dir <strong>doc</strong>h schon gesagt!“<br />
„Weil es mich nicht verw<strong>und</strong>ern würde, wenn ihr verwandt wärt.“<br />
„Wie sollte <strong>das</strong> gehen?“, fuhr <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>. „Meine einzigen<br />
Verwandten sind die Dursleys, <strong>das</strong> hat mir Dumbledore selbst gesagt!“<br />
„Zumindest waren es die einzigen Verwandten, von denen er<br />
wusste“, meinte Hermine leise.<br />
130
„Was soll <strong>das</strong> heißen?“ <strong>Harry</strong> konnte nicht verstehen, wie jemand<br />
ernsthaft <strong>auf</strong> die Idee kommen konnte, <strong>das</strong>s er unbekannte Verwandte<br />
hätte. Sollten nicht zumindest seine Fre<strong>und</strong>e genug Anstand besitzen,<br />
um sich nicht in die Reihe der sensationslüsternen Schüler ein<strong>zur</strong>eihen,<br />
die ihn seit gestern beobachteten, als sei er ein zweischwänziger<br />
Drache?<br />
„Er hat bisher in Amerika gelebt, nicht? Was, wenn niemand hier<br />
von ihm wusste?“<br />
„Aber er ist <strong>doc</strong>h <strong>auf</strong> Hogwarts gegangen! Er ist McGonagalls<br />
Verwandter! Wie sollte man ihn hier vergessen?“<br />
„Ja, du hast ja Recht“, meinte Hermine kleinlaut. „Ich sage nur,<br />
<strong>das</strong>s es seltsam ist. Niemand sieht einem anderen so ähnlich, ohne <strong>das</strong>s<br />
beide verwandt sind.“<br />
Den restlichen Abend passierte nicht mehr viel, sogar Hermine war<br />
von dem ersten, turbulenten Tag in Hogwarts so erschöpft, <strong>das</strong>s sie vor<br />
dem Schlafengehen keine Haus<strong>auf</strong>gaben mehr erledigte. Was natürlich<br />
auch daran liegen konnte, <strong>das</strong>s sie bereits alle anliegenden Arbeiten<br />
fertig hatte <strong>und</strong> die Nase voll davon, Ron abzuwehren, der es nicht<br />
lassen konnte, sie wegen ihrer Verwandlungs<strong>auf</strong>gaben zu fragen.<br />
So gingen sie alle drei recht früh zu Bett <strong>und</strong> schliefen schnell ein.<br />
131
KAPITEL ACHT<br />
Die Rückkehr des Adlers<br />
Am nächsten Tag quälte sich <strong>Harry</strong> die Treppen hinunter <strong>zur</strong><br />
großen Halle; seinen Appetit hatte es in den letzten Minuten gründlich<br />
verhagelt, denn nun stand ihm die erste UTZ-St<strong>und</strong>e in Zaubertränke<br />
bevor. Die beiden Doppelst<strong>und</strong>en wölkten sich wie ein<br />
unheilschwangeres Ungewitter über seinem Tag, <strong>und</strong> er brachte kaum<br />
einen Bissen Toastbrot hinunter.<br />
„Nimm es nicht so schwer“, versuchte Ron ihn zu trösten. „Du hast<br />
die letzten fünf Jahre <strong>doc</strong>h auch überlebt.“<br />
„Klar“, krächzte <strong>Harry</strong>. Ron hatte gut reden, er konnte sich jetzt<br />
zwei schöne St<strong>und</strong>en mit seinen Quidditch-Büchern oder Neville<br />
machen.<br />
„Ich bin <strong>doc</strong>h auch da“, beruhigte ihn Hermine. „Ich weiß ohnehin<br />
nicht, wieso du so nervös bist.“<br />
„Weil Snape es hasst, mich in seiner UTZ-Klasse zu haben“,<br />
brachte <strong>Harry</strong> hervor. „Er wird mir <strong>das</strong> Leben <strong>zur</strong> Hölle machen.“<br />
„Was ist daran so neu?“, wollte Ron wissen. „Und überhaupt, er<br />
war es schließlich, der dir ein „Ohnegleichen“ gegeben hat.“<br />
„Das muss nicht stimmen“, widersprach Hermine. „Ich habe mich in<br />
den letzten Tagen ein wenig in die Prüfungsregeln der ZAGs eingelesen,<br />
<strong>und</strong> es gibt die Regel, <strong>das</strong>s die Lehrer des betreffenden Faches zwar<br />
einen Notenvorschlag machen dürfen, aber die Ministeriumsfachleute die<br />
Note noch um einen Grad nach oben oder unten korrigieren können.<br />
Aber Snape durfte es sich einfach nicht erlauben, deine Leistung zu weit<br />
unter Wert zu verk<strong>auf</strong>en, <strong>das</strong> hätte seiner Reputation als Lehrer<br />
geschadet, was Dumbledore sicher nicht gern gesehen hätte.“<br />
„Willst du damit sagen, <strong>das</strong>s ich mein „O“ nur meiner besonderen<br />
Beziehung zu Dumbledore zu verdanken habe?“, polterte <strong>Harry</strong> los.<br />
132
Konnten sie nicht verstehen, <strong>das</strong>s er nicht wollte, <strong>das</strong>s jemand für ihn die<br />
Geschicke lenkte?<br />
„Nein“, meinte Hermine ruhig. „Ich will damit sagen, <strong>das</strong>s<br />
Dumbledore Snape davon abgehalten hat, deine Arbeit aus persönlichen<br />
Gründen schlechter zu machen, als sie ist.“<br />
Dar<strong>auf</strong> wusste niemand etwas zu sagen, <strong>und</strong> fünf Minuten später<br />
war es Zeit, in den Keller des Schlosses zu gehen, wo sich der<br />
Klassenraum für Zaubertränke befand. Ron verabschiedete sich mit<br />
einem entschuldigenden Grinsen von den beiden an der Marmortreppe,<br />
die in die oberen Stockwerke führte.<br />
Als sie dem Kellerraum näher kamen, kam <strong>Harry</strong> die zunehmende<br />
Kälte in den alten, dunklen Gängen stärker vor als er sie in Erinnerung<br />
hatte, vielleicht lag <strong>das</strong> auch an dem schönen, sonnigen Wetter, welches<br />
verlockend an der Decke der großen Halle widergespiegelt worden war.<br />
Trübsinnig trat er in den düsteren Kelleraum, in dem wie üblich Kessel<br />
<strong>auf</strong> den Bänken standen, nur waren es viel weniger, als <strong>Harry</strong> es<br />
gewohnt war. Er sah sich um <strong>und</strong> fand seine Vermutung bestätigt; nur<br />
neun Schüler hatten es in die UTZ-Klasse geschafft, ihn <strong>und</strong> Hermine<br />
schon mit eingerechnet. Da saß Seamus an einem Tisch <strong>und</strong> schaute<br />
recht eingeschüchtert hinüber zu einer Gruppe von Kesseln, um den sich<br />
die drei Slytherins Draco Malfoy, Pansy Parkinson <strong>und</strong> Blaise Zabini<br />
gesetzt hatten. In einer Ecke hockten noch Hannah Abbott von den<br />
Hufflepuffs <strong>und</strong> zwei Ravenclaws, Terry Boot <strong>und</strong> ein Schüler, den <strong>Harry</strong><br />
nicht kannte.<br />
„Pansy Parkinson?“, zischte Hermine leise neben ihm, die böse zu<br />
ihr herübersehende Slytherin verächtlich ignorierend. „Die kann kaum<br />
einen Kessel richtig herum <strong>auf</strong>stellen, geschweige denn ein „O“ in<br />
Zaubertränke bekommen!“<br />
„Snape hat sie bestimmt durchgeboxt“, brummte <strong>Harry</strong>. „Der ist<br />
<strong>doc</strong>h froh, wenn möglichst viele Slytherins in seiner Klasse sind.“<br />
Hermine sah zwar zweifelnd drein, setzte sich nun aber neben<br />
Seamus, der einen ungeheuer erleichterten Eindruck machte.<br />
„Und ich dachte schon, ich bin der einzige Gryffindor“, meinte er<br />
mit einem ängstlichen Blick <strong>auf</strong> die Gruppe Slytherins.<br />
„Nein, aber <strong>das</strong> wird uns auch nicht helfen“, argwöhnte <strong>Harry</strong>.<br />
„Snape wird sein Haus wie üblich bevorzugen.“<br />
„Immerhin sind hier fünf Leute von der DA“, schöpfte Seamus<br />
Hoffnung <strong>und</strong> winkte kurz Hannah <strong>und</strong> Terry zu.<br />
„Und? Sollen wir noch eine Gruppe für Zaubertranknachhilfe<br />
gründen?“, murmelte <strong>Harry</strong>, Seamus’ Nervosität hatte ihn nun auch<br />
angesteckt.<br />
Für einen kurzen Moment schien Seamus diese Bemerkung für<br />
ernst zu halten, sein flüchtiges Strahlen verschwand aber genauso<br />
133
schnell wieder, wie es gekommen war, denn Snape betrat den Raum,<br />
betrachtete die Schüler kurz mit seinem kalten Blick <strong>und</strong> trat dann vor die<br />
Klasse.<br />
Hämisch grinsend schaute er zu den Gryffindors.<br />
„Allzu weit her ist es mit euren Fertigkeiten im Zaubertrankbrauen<br />
nicht, wenn nur drei von eurem Haus die höchste ZAG-Note erhalten<br />
haben. Aber anderes bin ich von Gryffindors auch nicht gewohnt.“ Seine<br />
Bemerkung brachte die Slytherins zum Feixen, <strong>das</strong>s sie selbst auch nur<br />
drei waren, schien weder ihnen noch Snape groß <strong>auf</strong>zufallen.<br />
„Und auch diese Leistung, für so großartig Sie sie auch halten<br />
mögen, reflektiert Ihr tatsächliches Können in diesem Fach nicht im<br />
Geringsten. Ich weiß nicht, wie einige von Ihnen“ – sein Blick streifte<br />
Seamus <strong>und</strong> besonders <strong>Harry</strong>, Hermine ließ er aus – “dieses „O“<br />
geschafft haben, lassen Sie mich nur klarstellen, <strong>das</strong>s in diesem Kurs<br />
nichts zählt als <strong>das</strong>, was Sie hier erbringen werden.“<br />
<strong>Harry</strong> sah die bösen Augen des Zaubertranklehrers <strong>und</strong> erinnerte<br />
sich erschaudernd an Hermines Worte: Er hatte sein „Ohnegleichen“ nur<br />
bekommen, weil die Ministeriumsprüfer seine Note nach oben korrigiert<br />
hatten … In diesem Moment wurde ihm bewusst, <strong>das</strong>s er einen UTZ<br />
kaum würde schaffen können. Snape würde ihm die Arbeit so schwer<br />
machen, <strong>das</strong>s seine Noten automatisch in den Keller gehen würden, <strong>und</strong><br />
Snapes hinterlistiges Grinsen ließ seine Befürchtungen wachsen.<br />
„Ich hoffe, Sie alle haben die Haus<strong>auf</strong>gaben gewissenhaft erledigt.<br />
Ich möchte von jedem eine Probe <strong>auf</strong> dem Schreibtisch haben.“<br />
Ein allgemeines Kramen <strong>und</strong> Murmeln entstand, als die Schüler<br />
kleine Glasröhrchen aus ihren Taschen nahmen <strong>und</strong> sie vorsichtig <strong>auf</strong><br />
Snapes Tisch legten. <strong>Harry</strong> schaffte auch sein Röhrchen nach vorne,<br />
mittels dessen er seinem am Grimmauldplatz fertig gestellten Tranks der<br />
lebenden Toten eine Probe entnommen hatte. Er war noch einen Meter<br />
vom Tisch entfernt, als ihn jemand so heftig anrempelte, <strong>das</strong>s er <strong>das</strong><br />
Gleichgewicht verlor <strong>und</strong> hinfiel. Sein Röhrchen zerbrach, <strong>und</strong> die klare<br />
Flüssigkeit sickerte <strong>auf</strong> den kalten Steinboden. Hämisches Gelächter ließ<br />
<strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>blicken.<br />
Malfoy <strong>und</strong> seine Slytherin-Kollegen standen neben ihm <strong>und</strong><br />
hielten sich vor Lachen die Seiten. Snape fiel zwar nicht ein, tat aber<br />
auch nichts, um die drei zu stoppen.<br />
„Das sind dann heute wohl wieder einmal Null Punkte, <strong>Potter</strong>“,<br />
höhnte er.<br />
<strong>Harry</strong> sagte nichts, stand <strong>auf</strong> <strong>und</strong> ging ruhig zu seinem Platz<br />
<strong>zur</strong>ück, wo er aus seinem Rucksack eine identische Phiole mit<br />
demselben wasserfarbenen Zaubertrank holte, wieder nach vorne ging<br />
<strong>und</strong> sie wortlos neben die der anderen legte.<br />
„Sollte aus Versehen auch dieses Röhrchen kaputt gehen, dann<br />
bringe ich Ihnen eine weitere Probe zu Ihrem Zimmer.“<br />
134
Niemand sprach ein Wort, <strong>und</strong> Snape sah so aus, als wolle er<br />
gleich explodieren, schien aber keinen rechten Ansatzpunkt für einen<br />
Ausbruch zu finden.<br />
„Nun gut, <strong>Potter</strong>, dann sehen wir mal, ob Sie tatsächlich so clever<br />
sind, wie Sie scheinen.“ Seine Augen sprühten vor Hass.<br />
Den Rest der St<strong>und</strong>e wollte <strong>Harry</strong> hinterher bloß noch vergessen.<br />
Einmal mehr mussten sie sich <strong>zur</strong> Wiederholung durch den ZAG-Stoff<br />
quälen, aber nun, da Snape alle paar Sek<strong>und</strong>en überheblich in seinen<br />
Kessel starrte <strong>und</strong> jedes Mal ein unheilvolles Schauben hören ließ, wenn<br />
<strong>Harry</strong> eine Zutat zu seinem Stärkungstrank hinzufügte, nahm seine<br />
Konzentration beträchtlich ab <strong>und</strong> er begann wie so oft, die Anweisungen<br />
an der Tafel durcheinander zu bringen.<br />
„Soviel zu den ZAGs“, meinte Snape kalt, als er am Ende der<br />
St<strong>und</strong>e <strong>Harry</strong>s erbärmliches Gemisch betrachtete. Zum Glück gab es<br />
keine Noten, was Hermine allerdings ein wenig zu bedauern schien, sie<br />
hatte ihren perfekten Trank bereits nach der Hälfte der St<strong>und</strong>e fertig<br />
gebraut.<br />
Kurz nach dem Pausenklingeln ging plötzlich die Tür zum<br />
Klassenraum <strong>auf</strong> <strong>und</strong> Jamie McGonagall trat ein. <strong>Harry</strong> war gerade<br />
dabei, seine Sachen einzupacken, während Hermine noch schnell ihre<br />
beiden Kessel säuberte. Der Verteidigungslehrer trat <strong>auf</strong> Snape zu, <strong>und</strong><br />
was <strong>Harry</strong> danach in dessen Gesicht beobachtete, ließ ihn glauben, <strong>das</strong>s<br />
Snape ihn in den bisherigen Jahren stets wohlwollend <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich<br />
angesehen hatte. Mit Hass konnte man den Abscheu gar nicht<br />
beschreiben, mit dem Snape McGonagall betrachtete. Zunehmend<br />
zögerlich ging der Amerikaner <strong>auf</strong> Snape zu <strong>und</strong> richtete ein paar Worte<br />
an ihn, anscheinend mit wenig Erfolg, denn Snape schnappte etwas<br />
<strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> drehte sich abrupt um. Verwirrt verließ McGonagall den<br />
Raum.<br />
„Was war denn <strong>das</strong>?“, fragte <strong>Harry</strong> Hermine, als die beiden in die<br />
Eingangshalle rannten. „Snape kann zwar keinen leiden, aber so<br />
gehässig war er <strong>doc</strong>h selbst Lockhart oder Umbridge gegenüber nie.“<br />
Hermine seufzte.<br />
„Erkennst du es nicht? McGonagall erinnert Snape an jemanden,<br />
den er mehr hasst als alles andere <strong>auf</strong> dieser Welt.“<br />
„Meinen Vater“, erkannte <strong>Harry</strong>. Natürlich, es muss Snape<br />
vorkommen, als wäre James wieder in Hogwarts …<br />
„OK, dann bis später!“, rief Hermine gehetzt <strong>und</strong> rannte weiter zum<br />
Astronomieturm, <strong>auf</strong> dem sie nun ihren theoretischen Unterricht hatte.<br />
<strong>Harry</strong> ging zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors, kletterte durch<br />
<strong>das</strong> Portrait („Expelliamus!“ – <strong>Harry</strong> hatte die leise Ahnung, <strong>das</strong>s Ron<br />
dahinter steckte) <strong>und</strong> erzählte Ron <strong>und</strong> Neville von der St<strong>und</strong>e.<br />
„Klasse, <strong>das</strong>s du daran gedacht hast, mehrere Proben abzufüllen“,<br />
nickte Ron beifällig.<br />
135
„Aber nun hasst Snape mich noch mehr … “<br />
„Immerhin gibt es <strong>das</strong> erste Mal jemanden an der Schule, den er<br />
noch mehr hasst. Vielleicht weiß Snape ja, wieso du McGonagall so<br />
ähnlich siehst.“<br />
„Dann geh <strong>und</strong> frag ihn“, gähnte <strong>Harry</strong> faul <strong>und</strong> streckte sich müde<br />
<strong>auf</strong> einem der Sessel aus. Eigentlich wäre es keine schlechte Idee, mit<br />
der Unmenge an Zaubertrank-Haus<strong>auf</strong>gaben anzufangen, die sie<br />
<strong>auf</strong>bekommen hatten, allerdings wollte er im Moment an nichts weniger<br />
denken als an dieses Fach.<br />
„Aber ich weiß, wen du tatsächlich fragen kannst“, überlegte Ron<br />
weiter. „Diesen McGonagall. Er wird dich <strong>doc</strong>h über seine Familie<br />
<strong>auf</strong>klären können. Du gehst einfach zu ihm <strong>und</strong> sagst, du willst ein paar<br />
Dinge wegen der DA absprechen, <strong>und</strong> dann kommt <strong>das</strong> Gespräch<br />
zufällig <strong>auf</strong> eure Ähnlichkeit … “<br />
„Nee, vergiss es. Ich will nicht so aussehen, als interessiere mich<br />
<strong>das</strong> so brennend. Am Ende ist die Ähnlichkeit nur Zufall.“<br />
Ron schaute <strong>auf</strong>.<br />
„Aber du willst es <strong>doc</strong>h wissen“, stellte er sachlich fest.<br />
„Vielleicht nicht so sehr wie du“, konterte <strong>Harry</strong>, zog nun <strong>doc</strong>h sein<br />
Zaubertrankbuch hervor <strong>und</strong> durchblätterte es nach Hinweisen über den<br />
Amortentia. Er verspürte keine Lust, McGonagall wegen dubioser<br />
Verwandtschaftsbeziehungen auszufragen; zu oft hatte er <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong><br />
seiner besonderen Familien- <strong>und</strong> Lebensgeschichte schon im Mittelpunkt<br />
der Aufmerksamkeit gestanden. Seine letzten Wochen <strong>und</strong> die ersten<br />
beiden Tage in Hogwarts waren angenehm konfliktfrei verl<strong>auf</strong>en, <strong>und</strong><br />
diese Ruhe wollte er sich bewahren. Irgendwann, in wohl nicht allzu<br />
ferner Zeit, würde Voldemort einen weiteren Plan verfolgen, um ihn zu<br />
jagen <strong>und</strong> zu töten. Bis dahin hatte er vor, jeden Tag seines Lebens an<br />
Hogwarts zu genießen; <strong>und</strong> etwaige Verwandtschaftsbeziehungen mit<br />
Lehrern zu untersuchen gehörte nicht dazu.<br />
„Womöglich hast du nur Angst“, bohrte Ron weiter.<br />
„Warum sollte ich Angst haben?“, fuhr <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>. „Ich habe<br />
Voldemort ein ums andere Mal besiegt, da habe ich <strong>doc</strong>h keine Angst<br />
vor meinem Verteidigungslehrer!“<br />
„Nicht vor ihm, sondern vor der Wahrheit“, kam es <strong>zur</strong>ück.<br />
Ron war heute wieder einmal gereizt, mutmaßte <strong>Harry</strong>.<br />
Wahrscheinlich hatte er sich mit Hermine gestritten, mal wieder.<br />
„Es gibt keine Wahrheit, mit wem sollte McGonagall denn verwandt<br />
sein … glaubst du, er ist ein vergessener Onkel von mir oder ein<br />
Großcousin, der plötzlich aus heiterem Himmel <strong>auf</strong>getaucht ist?<br />
Dumbledore hätte mir etwas von ihm gesagt, wenn er mit mir verwandt<br />
wäre. In der Zaubererwelt kennt <strong>doc</strong>h jeder jeden!“<br />
„Wie auch immer“, brummte Ron <strong>und</strong> stand <strong>auf</strong>. „Wenn du den Mut<br />
nicht <strong>auf</strong>bringst, ihn zu fragen, bitte, meine Sache ist es nicht.“ Damit<br />
136
verließ er mit entschlossenen Schritten den Gemeinschaftsraum, etwas<br />
von „Verwandlung“ murmelnd.<br />
Eindeutig Hermine, dachte <strong>Harry</strong>. Wieso mussten die beiden sich<br />
auch ständig angiften <strong>und</strong> danach ihre ganze Umgebung ebenfalls?<br />
Müde versuchte er in den nächsten Minuten, sich <strong>auf</strong> Zaubertränke<br />
zu konzentrieren, aber ihm wollten die Worte über den Amortentia nicht<br />
in den Kopf. Viel mehr dagegen beschäftigten ihn Rons Worte; war er<br />
wirklich zu feige, um McGonagall zu fragen?<br />
Unsinn, antwortete er sich selbst, ich möchte nur mit diesen<br />
verrückten Geschichten um einen vergessenen Verwandten nichts zu<br />
tun haben. Es war ohnehin unmöglich. Alle seine Verwandte waren tot,<br />
<strong>und</strong> die einzigen, die es nicht waren, hassten ihn. Trotzdem gelang es<br />
ihm während der restlichen Freist<strong>und</strong>e nicht, mit Zaubertränken<br />
voranzukommen.<br />
Als nächstes mussten sie alle drei zu Pflege magischer Geschöpfe;<br />
erstaunlicherweise verhielten sich Ron <strong>und</strong> Hermine <strong>auf</strong> dem Weg zu<br />
Hagrids Hütte normal <strong>und</strong> gingen recht fre<strong>und</strong>lich miteinander um. <strong>Harry</strong><br />
genoss die strahlende Sonne <strong>und</strong> die angenehme Wärme des<br />
Septembertages, <strong>und</strong> entsprechend gut gelaunt erreichten sie den<br />
Bereich vor der kleinen Holzhütte des Wildhüters <strong>und</strong> Professors für die<br />
Pflege magischer Geschöpfe. Bisher hatte <strong>Harry</strong> noch keine Gelegenheit<br />
gef<strong>und</strong>en, mit einem seiner besten Fre<strong>und</strong>e an Hogwarts zu reden; er<br />
hoffte, <strong>das</strong>s sich vor dem Unterricht noch Zeit finden ließ.<br />
Allerdings erblickte er als Erstes eine Horde Slytherins, als er die<br />
sanften Rasenhänge in Richtung des Verbotenen Waldes entlang ging.<br />
Verärgert stieß er aus stieß er hervor:<br />
„Es kann <strong>doc</strong>h nicht sein, <strong>das</strong>s wir schon wieder mit denen haben!<br />
Es gibt noch zwei andere Häuser, warum können wir nicht mit den<br />
Ravenclaws zusammen sein …“ Noch während er <strong>das</strong> sagte, fiel ihm<br />
Ernie ins Auge, der Hufflepuff, der auch in der DA war, dazu wiederum<br />
Terry Boot von den Ravenclaws …<br />
„Alle vier Klassen werden zusammen unterrichtet“, meinte<br />
Hermine. Und tatsächlich; genau wie in Zaubertränke kamen nur wenige<br />
Schüler zusammen, gerade einmal vierzehn, die mit dem Fach<br />
weitermachen wollten.<br />
„Warum haben sich alle gegen Pflege entschieden?“, murrte <strong>Harry</strong>,<br />
er vermutete eine erneute Rebellion gegen die eigenwillige<br />
Unterrichtspraxis von Hagrid, die auch ihm nicht selten Bauchschmerzen<br />
bereitete, auch wenn er Hagrid stets verteidigte. Der Wildhüter besaß<br />
nämlich die nachteilige Vorliebe, möglichst gefährliche Kreaturen mit in<br />
den Unterricht zu bringen. Diese bezeichnete er zwar im ärgsten Fall als<br />
„interessant“, normale Menschen je<strong>doc</strong>h, also solche, die nicht die<br />
137
Größe eines Halbriesen erreichten, rannten in solchen Situationen lieber<br />
davon.<br />
Gerade wollten sie sich, <strong>das</strong> höhnische Gelächter der Slytherins<br />
ignorierend, der Hütte nähern, da hörten sie ein ohrenbetäubendes<br />
Röhren, <strong>das</strong> verdächtig aus der Richtung von Hagrids Garten kam.<br />
„Was war <strong>das</strong>?“<br />
Den zu Tode erschrockenen Ausruf hatte Draco Malfoy<br />
ausgestoßen. Bleich hob sich sein Gesicht gegen den schwarzen<br />
Umhang ab.<br />
„Na, schon Angst, Malfoy?“, spottete Ron.<br />
Wütend kniff der Slytherin den M<strong>und</strong> zusammen.<br />
„Nicht so große wie dein Dad, seinen so genannten Job zu<br />
verlieren, weil er Sympathisant von Dumbledores kleiner Bruderschaft<br />
ist“, antwortete Malfoy mit einem hinterhältigen Grinsen.<br />
„Was für eine –“, begann <strong>Harry</strong>, wurde aber von Hermine<br />
unterbrochen.<br />
„Die Zeiten sind vorbei, <strong>das</strong>s du <strong>und</strong> dein Vater uns drohen<br />
konntet“, fauchte sie. „Übrigens, wie gefällt es ihm in Askaban?“ Malfoy<br />
verlor auch noch <strong>das</strong> letzte bisschen Farbe <strong>und</strong> machte einen Satz in<br />
Hermines Richtung. Bevor er sie erreicht hatte, ging je<strong>doc</strong>h die Tür zu<br />
Hagrids Hütte <strong>auf</strong> <strong>und</strong> der Wildhüter trat hinaus.<br />
„’nen schönen Tag allerseits!“, strahlte er <strong>und</strong> winkte <strong>Harry</strong>, Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine kurz zu. „Toll, <strong>das</strong>s sich so viele von euch entschieden<br />
haben, mit meinem Fach weiterzumachen; wisst ihr, ist nich’ für jeden<br />
was, mit Tieren richtig umzugehen <strong>und</strong> so.“ Er sah stolz in die R<strong>und</strong>e, als<br />
seien 14 Schüler viel mehr, als er erhofft hatte.<br />
Vermutlich stimmte <strong>das</strong>, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> war sofort froh, mit<br />
Pflege weitergemacht zu haben, obwohl er es weder brauchte noch<br />
besonders Lust dar<strong>auf</strong> hatte, wieder Feuer spuckende Skorpionszüchtungen<br />
spazieren zu führen oder fingerdicke Würmer mit<br />
zentnerweise Futter voll zu stopfen. Auch Ron <strong>und</strong> Hermine hatten sich<br />
erst nach einigem Zögern entschlossen, Hagrid zu Liebe <strong>das</strong> Fach<br />
weiterhin zu belegen. Eigentlich hatten sie genug andere Arbeit, aber so<br />
wie <strong>Harry</strong> die Sache sah, brauchte Hagrid gegen die Slytherins ein wenig<br />
Unterstützung. Malfoy schien nur noch hier zu sein, um Hagrid Ärger zu<br />
machen, anders konnte sich <strong>Harry</strong> seine Anwesenheit nicht erklären. Er<br />
glaubte kaum, <strong>das</strong>s Malfoys Berufswunsch Drachenzüchter oder<br />
Thestralbändiger war.<br />
„Nun, ihr habt euch sicher schon gefragt, was wir dieses Jahr<br />
drannehmen werden –“<br />
Das hatten die drei sich wirklich, <strong>und</strong> Hermine hatte vorsorglich<br />
„Die übelsten Kreaturen <strong>und</strong> wie sie ihnen lebend entkommen“<br />
durchgelesen.<br />
138
„Deswegen habe ich euch was ganz Besonderes besorgt. So<br />
etwas wie ihn habt ihr noch nich’ gesehen, <strong>und</strong> werdet es wohl auch<br />
nich’ mehr, so selten sind die.“ Glücklich winkte Hagrid die Klasse in<br />
seinen Garten.<br />
„Selten heißt bei ihm außerordentlich tödlich“, flüsterte <strong>Harry</strong><br />
seinen beiden Fre<strong>und</strong>en zu. „Er wird <strong>doc</strong>h wohl nicht einen Letifold oder<br />
einen Mantikor angeschleppt haben.“<br />
„Natürlich hat er keinen Letifold“, wies Hermine ihn <strong>zur</strong>echt. „Der<br />
würde nicht so brüllen.“ Alle fuhren zusammen, als der nächste Schrei<br />
über die Wiesen hallte, für <strong>Harry</strong> hörte es sich an, als hätten sich<br />
sämtliche Dämonen der Hölle in Hagrids Garten versammelt.<br />
„Das beruhigt mich ungemein“, stöhnte <strong>Harry</strong>. „Vermutlich wird es<br />
nur ein Mantikor oder eine Chimäre sein oder ein harmloser Ungarischer<br />
Hornschwanz, den Hagrid kurzerhand adoptiert hat.“<br />
Der Wildhüter trat nun beschwingt in den Garten, während die<br />
Schüler vorsorglich <strong>zur</strong>ückblieben.<br />
„Wo seid ihr denn? Kommt schon, seht ihn euch an, er tut euch<br />
nichts. Sind ganz zutrauliche Tiere, wirklich, stimmt gar nich’, was man<br />
sich immer über sie erzählt. Los, er wird euch mögen!“<br />
„Fragt sich nur, ob roh oder gekocht“, meinte Ron trocken.<br />
Nun traten auch sie in den Garten, die meisten Schüler je<strong>doc</strong>h<br />
trauten sich immer noch nicht.<br />
Was <strong>Harry</strong> eine Sek<strong>und</strong>e später erblickte, ließ ihn glauben, sich<br />
heute in Zaubertränke irgendwie vergiftet zu haben. Dieses Tier – er<br />
wusste nicht, wie er es sonst nennen sollte, auch wenn es nichts<br />
unähnlicher sah als einem Tier – wirkte wie die Kreation eines äußerst<br />
unbegabten Malers.<br />
Es war recht groß, sicherlich halb so groß wie Hagrid, was hieß,<br />
<strong>das</strong>s seine Schultern etwa <strong>auf</strong> Höhe von <strong>Harry</strong>s Augen waren. Es hatte<br />
vier Beine mit Zehen an den Füßen, <strong>und</strong> einen dünnen, mit einzelnen<br />
Haaren versehenen Schwanz, <strong>und</strong> sicher konnte man behaupten, <strong>das</strong>s<br />
die spitze Schnauze mit den roten, bösen Augen fast ziegenähnlich<br />
wirkte, was zusammen mit den enorm langen, dicken, schwarzen<br />
Hörnern <strong>und</strong> dem höckerigen Buckel <strong>auf</strong> dem Rücken eine eigenartige<br />
Mischung aus Bergziege <strong>und</strong> Kamel ergab. Seine größtenteils haarlose<br />
Haut war gräulich <strong>und</strong> mit einem leichten violetten Schimmer überzogen.<br />
„Ist er nicht prächtig?“, fragte Hagrid vollkommen aus dem<br />
Häuschen <strong>und</strong> näherte sich dem Ungetüm bis <strong>auf</strong> ein paar Schritte. Das<br />
hatte unangenehme Folgen, denn <strong>das</strong> Tier bäumte sich <strong>auf</strong>, schlug mit<br />
seinen mächtigen Hinterläufen aus <strong>und</strong> schrie mit einem pfeifenden<br />
Röhren so laut, <strong>das</strong>s in Hogsmeade sicher jemand vom Stuhl gefallen<br />
war.<br />
„Ist ’nen bisschen schüchtern“, gab Hagrid zu.<br />
„Was ist <strong>das</strong>?“, war alles, was <strong>Harry</strong> ausstoßen konnte.<br />
139
„Ein Graphorn natürlich. Hab’s in den Bergen gef<strong>und</strong>en, als ich<br />
letztes Jahr – na, ihr wisst schon, Urlaub gemacht habe.“ Er warf einen<br />
kurzen Blick zu den Slytherins. „Hat ein bisschen gedauert, bis <strong>das</strong><br />
Ministerium mir erlaubt hat, es einzuführen, aber nun ist es da.“ Seine<br />
Freude über die geglückte Überführung stimmte Hagrid regelrecht<br />
euphorisch, jedenfalls klopfte er jetzt den erstarrten Malfoy <strong>auf</strong> die<br />
Schultern.<br />
„Na, wenigstens kann er <strong>das</strong> nächste Mal nicht ein noch<br />
gefährlicheres Tier anschaffen“, meinte Hermine händeringend.<br />
„Würde <strong>das</strong> Ministerium <strong>das</strong> nicht zulassen?“, fragte <strong>Harry</strong> sie<br />
hoffnungsvoll.<br />
„Nein, ich sage <strong>das</strong>, weil Graphörner als eines der bedrohlichsten<br />
Geschöpfe der magischen Welt gelten – zumindest unter denen, die<br />
überhaupt eingeführt werden dürfen. Sie sind enorm aggressiv <strong>und</strong> töten<br />
fast jeden, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekommen.“<br />
„Ach so, <strong>und</strong> ich dachte schon an etwas Schlimmeres“, witzelte<br />
<strong>Harry</strong>, obwohl er sich kaum je unwohler gefühlt hatte.<br />
Alle drei sahen angsterfüllt <strong>auf</strong> <strong>das</strong> gigantische, groteske Tier, wie<br />
es Hagrids Garten verwüstete. Gerade, als es sich die Riesenkürbisse<br />
vornahm, ging der Wildhüter wieder nach vorne <strong>und</strong> nahm die Leine in<br />
die Hand, welche <strong>das</strong> gehörnte Wesen im Zaum hielt.<br />
„Hagrid, nicht!“, schrie <strong>Harry</strong>, aber schon war es zu spät, Hagrid<br />
löste <strong>das</strong> Seil, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Graphorn stürmte nach vorne wie eine<br />
losgelassene Rakete. Fassungslos stoben die Schüler auseinander. Nur<br />
einer blieb stehen <strong>und</strong> konnte sich offensichtlich nicht mehr rühren;<br />
Malfoy stierte bloß zu Tode entsetzt <strong>auf</strong> <strong>das</strong> galoppierende Ungetüm,<br />
<strong>das</strong> sich schnurstracks seinen Weg <strong>auf</strong> ihn zu bahnte.<br />
Ohne zu denken oder auch nur im Ansatz zu erahnen, <strong>auf</strong> was er<br />
sich einließ, warf sich <strong>Harry</strong> in die Bahn des Geschöpfes <strong>und</strong><br />
schleuderte ihm einen Zauber entgegen.<br />
„Protego!“, schrie er, einen starken Schutzzauber vor sich<br />
errichtend. Irgendwo hinter ihm kauerte sich Malfoy wimmernd <strong>auf</strong> den<br />
Boden. Das mit Magie gestützte Schild erschien, beruhigend <strong>und</strong><br />
schimmernd baute es wie eine Wand vor ihm <strong>auf</strong>. Doch anscheinend<br />
gehörten Graphörner zu den Wesen, die ihre eigenen<br />
Abwehrmechanismen gegen Zauber besaßen, jedenfalls rannte dieses<br />
unbeeindruckt weiter.<br />
<strong>Harry</strong> warf sich in der letzten Sek<strong>und</strong>e <strong>zur</strong> Seite <strong>und</strong> richtete seinen<br />
Zauberstab ein weiteres Mal <strong>auf</strong> die eigenartige Bergziege.<br />
„Locomotor Mortis!“, brüllte er mit aller Anstrengung, die er<br />
<strong>auf</strong>bringen konnte <strong>und</strong> erwischte die Kreatur zwischen den Beinen an<br />
ihrem empfindlichen Bauch. Augenblicklich knickte sie in vollem L<strong>auf</strong> mit<br />
gelähmten Beinen ein <strong>und</strong> schlitterte hilflos die letzten Meter <strong>auf</strong> Malfoy<br />
140
zu. Brüllend blieb <strong>das</strong> Graphorn liegend <strong>und</strong> schnappte mit seinem<br />
scharfen Maul nur ein paar Zentimeter vor dem Slytherin zu.<br />
Ein paar Sek<strong>und</strong>en herrschte absolute Stille, in der nur <strong>das</strong><br />
empörte Knurren des magischen Tiers zu hören war.<br />
„Mein Gott!“, dröhnte es aus Hagrids Garten. „Aber es war <strong>doc</strong>h<br />
sonst so friedlich …“ Aufgeregt kam der Wildhüter angel<strong>auf</strong>en. „Alles in<br />
Ordnung, <strong>Harry</strong>?“, fragte er <strong>und</strong> legte besorgt die Hand <strong>auf</strong> die Flanke<br />
des Graphorns.<br />
„Ja, klar“, rappelte sich <strong>Harry</strong> wieder <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schaute <strong>auf</strong> <strong>das</strong> am<br />
Boden liegende Tier. Seine Beine waren bewegungsunfähig, ansonsten<br />
ging es ihm gut, jedenfalls dem furchtbaren Brüllen nach zu urteilen, <strong>das</strong><br />
es von sich gab.<br />
„Ich hätte nie gedacht, <strong>das</strong>s er sich so ungestüm verhält“, meinte<br />
Hagrid betrübt. „Die letzten Wochen habe ich ihn dressiert, <strong>und</strong> er ist mir<br />
gefolgt – muss wohl nervös sein wegen den vielen Leuten, ist er nich’<br />
gewohnt.“<br />
„Was heißt ungestüm? Es hätte uns fast getötet!“, hickste Ron<br />
immer noch etwas verstört hervor.<br />
„Aber jeder weiß <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s Graphörner nichts tun, wenn man nur<br />
still stehen bleibt <strong>und</strong> ihnen nich’ in die Augen sieht“, erklärte Hagrid.<br />
„Wieso seid ihr alle weggel<strong>auf</strong>en?“<br />
„Ja, wieso nur?“, fauchte Ron ungewohnt heftig. „Vielleicht weil <strong>das</strong><br />
Vieh den Eindruck gemacht hat, <strong>das</strong>s es uns über den H<strong>auf</strong>en rennen<br />
will? Aber <strong>das</strong> war sicher nur Fassade, in Wirklichkeit wollte es uns<br />
bestimmt nur begrüßen!“<br />
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine zogen Ron <strong>zur</strong> Seite, bevor Hagrid seine Worte<br />
hören konnte. Aber auch Hermine war ausgesprochen sauer.<br />
„Er wird sich nie ändern“, ärgerte sie sich. „Wieso schleppt er alle<br />
diese Ungeheuer an? Jeder weiß, <strong>das</strong>s Graphörner kaum zu bändigen<br />
sind. Mit seiner Kraft schafft er es sicher, aber wir sind ja nicht alle<br />
Halbriesen.“<br />
Auch <strong>Harry</strong> spürte, <strong>das</strong>s Hagrid diesmal eindeutig zu weit<br />
gegangen war. „Hoffentlich bekommt er keinen Schulverweis“,<br />
prophezeite er düster.<br />
„Nein, <strong>das</strong> glaube ich nicht“, antwortete Hermine. „Malfoy wird<br />
nichts gegen ihn unternehmen, jetzt, wo sein Vater ihm nicht mehr den<br />
Rücken stärken <strong>und</strong> beim Ministerium gewisse Fäden ziehen kann.“<br />
Tatsächlich hatte sich Malfoy, von allen unbeachtet, einige Meter<br />
von Hagrids Hütte entfernt <strong>und</strong> beobachtete <strong>das</strong> Geschehen mit einer<br />
von Hass verzerrten, aber seltsam hilflosen Miene, die anderen<br />
Sytherins standen untätig um ihn herum. Genugtuung ob der isolierten<br />
Lage des Slytherins breitete sich in <strong>Harry</strong> aus, allerdings schlich sich<br />
auch eine Spur Verständnis hinein – was Hagrid gemacht hatte, war<br />
unverantwortlich gewesen.<br />
141
Der Wildhüter unterdessen hatte sich wieder gefangen <strong>und</strong><br />
erzählte der nun neugierig an <strong>das</strong> wehrlose Graphorn herangerückten<br />
Klasse von der vielfältigen Verwendung des schwarzen Hornes, welches<br />
in gemahlener Form eine begehrte Zaubertrankzutat war. Der Rest der<br />
St<strong>und</strong>e verging ereignislos, <strong>und</strong> alle waren froh, als sie sich wieder <strong>auf</strong><br />
den Weg zum Schloss machten. In der Ferne hörte man noch <strong>das</strong> nun<br />
leicht heisere Brüllen der Bergziege, welche <strong>Harry</strong> aus sicherer<br />
Entfernung von dem Beinklammerfluch befreit hatte, bevor Hagrid sich<br />
wieder <strong>auf</strong> sie gestürzt hatte.<br />
Malfoys Blick traf den <strong>Harry</strong>s, während beide die Eingangstreppe<br />
hochgingen, <strong>und</strong> obwohl er keine Dankbarkeit erwartet hatte, so<br />
erstaunte <strong>Harry</strong> <strong>doc</strong>h die Intensität der Abscheu, mit der Malfoy ihn<br />
bedachte. Er musste an Dumbledores Worte über Snape denken; <strong>das</strong>s<br />
dieser erst wieder seinen Vater unbeschwert hassen konnte, nachdem er<br />
sich für dessen Lebensrettung revanchiert hatte. Aber was sollte es,<br />
dachte <strong>Harry</strong>, warum sollte es ihn interessieren, was Malfoy über ihn<br />
dachte. Wenn ihn nur nicht ständig im Kopf herumschwirren würde, was<br />
Malfoy ihm Zug über Voldemort gesagt hatte. Und die, die ihm zu<br />
Diensten sind … War Malfoy bereits ein Todesser, der <strong>auf</strong> eine<br />
geeignete Gelegenheit wartete, ihn Voldemort ausliefern zu können?<br />
Obwohl es noch recht früh am Nachmittag war, hatten <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
Ron bereits Schluss, nur Hermine rannte wie üblich zu einer ihrer vielen<br />
Unterrichtsst<strong>und</strong>en (diesmal Arithmantik). Der wolkenlose Himmel<br />
draußen verlockte sie dazu, sich an den See zu setzen <strong>und</strong> den<br />
Gedanken freien L<strong>auf</strong> zu lassen, aber <strong>Harry</strong> musste schweren Herzens<br />
an seine unfertigen Zaubertrankhaus<strong>auf</strong>gaben denken. So verbrachte er<br />
die nächsten St<strong>und</strong>en damit, zusammen mit Seamus Informationen über<br />
den Liebestrank Amortentia zu suchen <strong>und</strong> sie in einen geordneten Text<br />
zu bringen. Hermine gesellte sich während des Abendessens wieder zu<br />
ihnen <strong>und</strong> gab <strong>Harry</strong> ein paar Tipps für seinen Aufsatz; vermutlich<br />
glaubte sie, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> in den nächsten Zaubertrankst<strong>und</strong>en Hilfe gut<br />
gebrauchen konnte.<br />
Als sich die Gryffindors wieder <strong>auf</strong> den Weg in den<br />
Gemeinschaftsraum machen wollten – auch Hagrid hatte ihnen<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben <strong>auf</strong>gegeben – bahnte sich Jamie McGonagall einen Weg<br />
durch die Menge an Schülern, die satt <strong>und</strong> zufrieden die große Halle<br />
verließ.<br />
„<strong>Harry</strong>!“, rief er <strong>und</strong> näherte sich der kleinen Gruppe von<br />
Gryffindors, darunter auch Ron, Hermine, Ginny, Dean, Seamus <strong>und</strong><br />
Neville.<br />
„Ja?“, fragte <strong>Harry</strong> leicht unsicher, er konnte sich nicht vorstellen,<br />
was sein Verteidigungslehrer jetzt von ihm wollte.<br />
142
„Wie wäre es, wenn du heute Abend in mein Büro kommen<br />
könntest? Natürlich nur, wenn du möchtest, aber dann könnten wir über<br />
die DA reden.“<br />
Einige der DA-Mitglieder machten leicht saure Gesichter, zwar<br />
hatten sie alle <strong>Harry</strong> als Anführer gewählt, aber sie wären natürlich gerne<br />
mit dabei, wenn ein Lehrer über „ihre“ Gruppe diskutierte.<br />
<strong>Harry</strong> spürte Nevilles enttäuschten Blick in seinem Rücken <strong>und</strong><br />
wandte sich an McGonagall.<br />
„Wäre es möglich, <strong>das</strong>s Sie zu unserem ersten DA-Treffen<br />
kommen <strong>und</strong> wir dann gemeinsam über alles entscheiden?“<br />
„Selbstverständlich, eine guter Vorschlag. Dann können alle ihre<br />
Ideen einbringen. Wo trefft ihr euch denn immer?“<br />
So genau wusste <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> selbst nicht; wollten sie weiterhin im<br />
Raum der Wünsche üben, wo die Slytherins sie letztes Jahr entdeckt<br />
hatten? Obwohl, sie hatten nie erfahren, wie man ihn betrat.<br />
Nach einem kurzen Blick zu Ron <strong>und</strong> Hermine fragte er<br />
McGonagall:<br />
„Kennen Sie den Raum der Wünsche?“<br />
Anscheinend nicht, denn McGonagall machte einen verwirrten<br />
Eindruck.<br />
„Raum der Wünsche? Nie gehört. Ist <strong>das</strong> ein Spitzname für einen<br />
der Klassenräume?“<br />
„Nein, ein geheimer Raum im siebten Stock … am besten, Sie<br />
treffen sich mit einem von uns vorher <strong>und</strong> wir zeigen Ihnen den Weg.“ Es<br />
war nämlich alles andere als einfach, in den Raum der Wünsche zu<br />
gelangen – man musste sich genau vor Augen halten, was man suchte,<br />
nur dann offenbarte er sich.<br />
„In Ordnung, wann ist denn euer erstes Treffen?“<br />
„Keine Ahnung, <strong>das</strong> müssten wir noch absprechen. Aber vielleicht<br />
wäre es möglich, Sonntag einen Termin anzusetzen, so<strong>das</strong>s jeder Zeit<br />
hat. Und dann könnten wir zu dem Anlass auch einen festen Zeitpunkt<br />
unter der Woche vereinbaren.“<br />
„OK, dann freue ich mich, Sonntag an eurem Treffen teilnehmen zu<br />
können. Wäre euch 18 Uhr genehm?“<br />
Zumindest keiner der Anwesenden hatte etwas dagegen, <strong>und</strong> da<br />
Loona von den Ravenclaws <strong>und</strong> mittlerweile auch Ernie von Hufflepuff<br />
ihr Einverständnis gaben, konnte <strong>Harry</strong> dar<strong>auf</strong> hoffen, <strong>das</strong>s ihnen kein<br />
vergessenes Quidditch-Training von einem der Häuser dazwischenkam.<br />
Das Auswahltraining der Gryffindors war soweit er wusste am Samstag.<br />
McGonagall verabschiedete sich gut gelaunt <strong>und</strong> sah den Schülern<br />
nach, bis sie aus der großen Halle gegangen waren, während <strong>Harry</strong>,<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine erschöpft <strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum gingen; es<br />
war ein langer <strong>und</strong> ereignisreicher Tag gewesen. Schon nach zwei<br />
143
Schultagen an Hogwarts fühlte <strong>Harry</strong> sich, als hätte er einen Monat<br />
Hauself bei den Dursleys spielen müssen.<br />
Sie trennten sich von der lärmenden Menge <strong>und</strong> traten in einer<br />
dunklen Ecke in einen ihrer bevorzugten Geheimgänge, als Ron vor<br />
ihnen zusammenfuhr <strong>und</strong> rückwärts in Hermine hineintaumelte.<br />
„Was soll <strong>das</strong>, Ron?“, zischte sie erschrocken.<br />
„Hier ist jemand“, keuchte Ron <strong>und</strong> starrte in die Finsternis des<br />
engen Wendelganges.<br />
„Oh, entschuldigt, ich wollte euch nicht erschrecken“, hörten sie <strong>auf</strong><br />
einmal die Stimme McGonagalls. „Aber ich dachte mir schon, <strong>das</strong>s ihr<br />
diese Abkürzung nehmen würdet.“<br />
„Sie wissen von ihr?“, fragte <strong>Harry</strong> überrascht. Ihr<br />
Verteidigungslehrer hatte nun die Spitze seines Zauberstabes erleuchten<br />
lassen, so<strong>das</strong>s sich ein schwacher Lichtschimmer um sie herum<br />
ausbreitete.<br />
„Klar, ich habe in meiner Schulzeit <strong>das</strong> ganze Schloss bis in den<br />
letzten Winkel untersucht <strong>und</strong> bin in Räume <strong>und</strong> Gänge vorgedrungen,<br />
die die anderen nie gesehen haben. Meistens, weil ich <strong>auf</strong> der Flucht vor<br />
gewissen Lehrern war.“ Er grinste bei der Erinnerung. „Vermutlich<br />
wusste in diesen Jahren keiner über Hogwarts so gut Bescheid wie ich.<br />
Außer den Rumtreibern natürlich.“<br />
Nun blieb <strong>Harry</strong> wie erstarrt stehen.<br />
„Sie kannten die Rumtreiber?“, fragte er verblüfft.<br />
„Nun ja, ich habe meinen Abschluss gemacht, als sie gerade in die<br />
dritte Klasse kamen. Deswegen <strong>und</strong> weil sie Gryffindors waren, ich aber<br />
ein Ravenclaw, hatten wir keinen engen Kontakt. Doch die Rumtreiber<br />
kannte jeder. Sie machten die Schule schlichtweg unsicher, <strong>und</strong> <strong>das</strong> eine<br />
oder andere Mal war ich dabei gewesen.“<br />
<strong>Harry</strong> hätte ihn am liebsten alles über diese Zeit gefragt, über<br />
seinen Vater, Sirius – der Magen drehte sich beim Gedanken an seinen<br />
Paten wieder einmal um – , aber irgendwie machte die Anwesenheit von<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine ihn verlegen.<br />
„Warum sind Sie uns eigentlich gefolgt?“, kam Ron nun <strong>zur</strong> Sache.<br />
„Ich bin euch nicht gefolgt, sondern habe euch erwartet.“ McGonagall<br />
lachte beim Anblick ihrer erstaunten Gesichter.<br />
„Scheinbar kenne ich noch ein paar Abkürzungen mehr als ihr. Bei<br />
Gelegenheit kann ich sie euch zeigen.“ Ernster fuhr er fort: „Der Gr<strong>und</strong><br />
für dieses ungewöhnliche Treffen ist <strong>Harry</strong>.“<br />
Dieser konnte nicht behaupten, <strong>das</strong>s er es nicht geahnt hätte nach<br />
den letzten Sätzen.<br />
„Ich wollte dich <strong>auf</strong> heute Abend in mein Büro einladen, aber die<br />
DA hat als offizieller Gr<strong>und</strong> wohl nicht funktioniert. Deswegen dachte ich<br />
mir, eine diskretere Anfrage ohne h<strong>und</strong>ert Schüler als Zeugen wäre in<br />
deinem Sinne.“<br />
144
<strong>Harry</strong> nickte. Obwohl er nach Kräften versuchte, Rons zufriedene<br />
Miene zu übersehen, wusste er, <strong>das</strong>s ein Gespräch mit McGonagall<br />
unumgänglich war. Besser, er wollte es nun auch.<br />
Er hat meinen Vater gekannt.<br />
Bisher hatte er in der Überzeugung gelebt, <strong>das</strong>s alle, die ihm von<br />
seinem Vater erzählen konnten, entweder tot waren, ihm bereits alles<br />
über ihn gesagt hatten oder Snape hießen. Auch wenn McGonagall in<br />
einem anderen Haus gewesen war, so konnte er vielleicht Dinge über<br />
James <strong>Potter</strong> berichten, die <strong>Harry</strong> nicht bekannt waren.<br />
„Gut, dann sehen wir uns in einer St<strong>und</strong>e? Wo mein Büro ist, weißt<br />
du ja, so oft wie du bei der alten Kröte hast nachsitzen müssen.“<br />
Er nickte Ron <strong>und</strong> Hermine fre<strong>und</strong>lich zu <strong>und</strong> war schon hinter der<br />
nächsten Biegung verschw<strong>und</strong>en, Schwärze <strong>zur</strong>ücklassend. Schnell<br />
verschaffte Hermine ihnen mit ihrem Zauberstab Licht.<br />
„Kommt euch <strong>das</strong> auch so vor, aber ich fühle mich, als hätten wir<br />
Verteidigungsunterricht bei einem dritten Zwilling von Fred <strong>und</strong> George“,<br />
meinte Ron kopfschüttelnd. „Na ja, immer noch besser als die meisten<br />
Lehrer, die wir in dem Fach hatten. Wer weiß, vielleicht hilft er uns,<br />
Snape ein paar Streiche zu spielen.“<br />
„Hast du dich ins Kindergartenalter <strong>zur</strong>ückentwickelt, in dem ich<br />
dich zum Glück noch nicht gekannt habe?“, fuhr Hermine ihn wie so oft<br />
unnötig heftig an. „McGonagall würde sich nie so albern <strong>auf</strong>führen!“<br />
Hochnäsig stürmte sie davon.<br />
„Oh <strong>doc</strong>h, ich glaube er würde“, flüsterte Ron leise zu <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
sah Hermine mit einem gleichzeitig missvergnügten <strong>und</strong> hilflosen Blick<br />
nach.<br />
<strong>Harry</strong> war froh, den Abend nicht im Beisammensein der beiden<br />
verbringen zu müssen.<br />
Eine St<strong>und</strong>e später, in der die Minuten, die er in der Bibliothek<br />
verbracht hatte, an ihm vorbei geflogen waren wie wütende Eulen, begab<br />
er sich durch die schon fast leeren Gänge zum Büro des<br />
Verteidigungslehrers in den zweiten Stock. Die Tür war angelehnt, aber<br />
er klopfte <strong>und</strong> wartete <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Zeichen McGonagalls.<br />
„Nur herein!“, kam es von drinnen, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> trat in <strong>das</strong> Büro, <strong>das</strong><br />
er nunmehr unter vier Lehrern erlebt hatte. Anstatt seltsamer Wesen in<br />
Wassertanks wie bei Lupin oder Umbridges Teller mit miauenden<br />
Kätzchen in schreiend bunten Farben an den Wänden sah er sich nun<br />
einer großen amerikanischen Flagge gegenüber, die eine Wand <strong>zur</strong><br />
Hälfte bedeckte – die andere Hälfte nahm ein nicht minder großes<br />
Wappen Hogwarts ein, bei dem der Adler Ravenclaws besonders zu<br />
leuchten schien. Die anderen Wände zeigten vereinzelte Fotos <strong>und</strong><br />
Zeitungsausschnitte von Orten <strong>und</strong> Personen, die <strong>Harry</strong> nicht kannte <strong>und</strong><br />
hinter denen er McGonagalls Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e in Washington<br />
145
vermutete. Ansonsten war der Raum ausgestattet mit gemütlich<br />
wirkenden Holzmöbeln, darunter ein großer Schreibtisch <strong>und</strong> ein hohes<br />
Regal voller abgegriffener Bücher. Im nächsten Moment je<strong>doc</strong>h kam<br />
etwas <strong>auf</strong> ihn zugeschossen <strong>und</strong> bedeckte ihn mit einer gewaltigen<br />
Menge an Federn, die ihm um die Ohren geschlagen wurden.<br />
„Jerry!“, rief McGonagall <strong>und</strong> befreite <strong>Harry</strong> von dem kreischenden<br />
Federbündel, <strong>das</strong> sich <strong>auf</strong> größere Distanz als Adler herausstellte.<br />
„Tut mit Leid, aber er reagiert immer so ungestüm, wenn Besuch<br />
kommt“, erklärte sein Lehrer <strong>und</strong> strich dem braun-weiß gefiederten Tier<br />
über die Flügel. Zurück bei seinem Herrchen entspannte sich Jerry<br />
augenblicklich <strong>und</strong> rieb seinen Kopf an McGonagalls Hand.<br />
„Ungewöhnliches Haustier“, bemerkte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> hielt argwöhnisch<br />
Abstand.<br />
„Ich habe ihn <strong>auf</strong>gelesen, als er noch klein war. Seine Eltern waren<br />
tot, also habe ich ihn großgezogen – <strong>und</strong> nun hört er <strong>auf</strong> mich wie ein<br />
H<strong>und</strong>. Völlig zwecklos, ihn auswildern zu wollen. Einmal bin ich mit ihm<br />
bis nach Kalifornien gefahren <strong>und</strong> habe ihn fliegen lassen – aber er ist<br />
den ganzen Weg nach Washington <strong>zur</strong>ück meinem Auto gefolgt.“ Jerry<br />
gab einen zufriedenen kleinen Schrei von sich <strong>und</strong> flatterte zu einer<br />
großen Stange, die unter der Decke befestigt war, um sich dort<br />
niederzulassen.<br />
„Bei den Schuleulen fühlt er sich nicht wohl“, zuckte der<br />
Verteidigungslehrer mit den Schultern. „Aber er kann genauso gut Briefe<br />
überbringen wie sie, zumindest zu Orten, an denen er schon einmal<br />
war.“<br />
„Sie haben ein Auto?“, fiel <strong>Harry</strong> ein, was McGonagall gerade<br />
gesagt hatte.<br />
„Ja – aber setze dich <strong>doc</strong>h erst einmal.“ Er wies <strong>auf</strong> einen Tisch<br />
aus dunklem Holz, der von zwei Stühlen umgeben war. Dar<strong>auf</strong> standen<br />
zwei Teetassen <strong>und</strong> auch zwei Teller.<br />
„Möchtest du etwas trinken oder essen?“, fragte McGonagall. „Ich<br />
kann alles aus der Küche kommen lassen, was du möchtest.“<br />
Hermine würde <strong>das</strong> nicht gefallen, dachte <strong>Harry</strong> mit Hinblick <strong>auf</strong><br />
ihre Hauselfenbefreiungsfront.<br />
„Nein, ich bin vom Abendessen satt. Ein Tee wäre aber nicht<br />
schlecht.“<br />
Die Hauselfen für einen Tee zu rufen, schien seinem Lehrer <strong>doc</strong>h<br />
unnötiger Aufwand, denn er holte einen großen gusseisernen Kessel,<br />
den er mittels seines Zauberstabs mit Wasser füllte <strong>und</strong> über <strong>das</strong><br />
Kaminfeuer hängte.<br />
„Nun, was deine Frage anging“, meinte er, nachdem er sich gesetzt<br />
<strong>und</strong> ihnen beiden Tee eingeschenkt hatte, „in Amerika ist es für Zauberer<br />
<strong>und</strong> Hexen nicht ungewöhnlich, sich Muggelsachen anzuschaffen. Ich<br />
glaube, bei uns gibt es weniger Vorbehalte <strong>und</strong> Abgrenzungs-<br />
146
emühungen von magischen zu nichtmagischen Menschen als hier.<br />
Natürlich wissen sie nichts von uns, aber insgesamt kennen wir solchen<br />
Hass <strong>auf</strong> Muggel nicht, wie er hier in Britannien von einigen praktiziert<br />
wird.“<br />
„Dann gibt es in Amerika auch keine Todesser?“, fragte <strong>Harry</strong><br />
neugierig. Ihm war nie der Gedanke gekommen, <strong>das</strong>s es anderswo <strong>auf</strong><br />
der Welt Zauberergemeinschaften gab, die nie die Schrecken der<br />
Todesser hatten ertragen müssen.<br />
„Nein, überhaupt nicht. Einige reinblütige Zaubererfamilien sehen<br />
sich den Muggeln gegenüber zwar überlegen, aber eine<br />
Extremistengruppe wie Voldemorts Gefolgschaft existiert nicht. Das<br />
Klassendenken ist hier einfach viel stärker ausgeprägt.“<br />
Anscheinend hatte er auch keine Probleme damit, den Namen<br />
auszusprechen, den so viele britische Zauberer <strong>und</strong> Hexen fürchteten.<br />
„Sie haben also nie einen Todesser getroffen?“<br />
„Doch, du vergisst, <strong>das</strong>s ich hier sieben Jahre studiert habe. Zu der<br />
damaligen Zeit war Voldemort ja schon lange an der Macht. Einige<br />
seiner späteren Schergen waren mit mir in der Schule. Üble Typen. Ich<br />
war froh, als ich <strong>zur</strong>ück nach Amerika gehen konnte.“<br />
„Was Ihre Schulzeit angeht –“<br />
McGonagall stellte seine Tasse beiseite <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> an.<br />
„Nun, du fragst dich sicher, wieso ich dich heute sehen wollte.“<br />
<strong>Harry</strong> trank einen Schluck Tee, um noch ein paar Sek<strong>und</strong>en Zeit<br />
zum Überlegen zu haben. Wollte McGonagall wirklich über James <strong>Potter</strong><br />
reden? Oder ging es am Ende nur um die DA? Hatte er <strong>doc</strong>h etwas<br />
gegen die Verteidigungsgruppe? Oder hatte Ron – nein, Ron war derzeit<br />
nur wegen Hermine sehr gereizt <strong>und</strong> teilte <strong>das</strong> seiner Umwelt gerne mit –<br />
„Ich weiß es nicht“, antwortete <strong>Harry</strong> wahrheitsgemäß.<br />
„Du kannst es ruhig sagen“, lächelte McGonagall <strong>und</strong> schaute kurz<br />
an die Wand neben sich. <strong>Harry</strong> folgte seinem Blick unwillkürlich. Dort<br />
hing ein kleiner Spiegel, in dem sich die beiden gerade ansahen – <strong>Harry</strong><br />
zuckte ein wenig zusammen. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war schon<br />
fast beklemmend, wenn man von McGonagalls Alter absah. Sie trugen<br />
beinahe dieselbe Brille, nur <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong>s momentan etwas schief <strong>auf</strong><br />
seiner Nase saß, sie hatten beide dieselben Gesichtszüge, nur <strong>das</strong>s <strong>auf</strong><br />
<strong>Harry</strong>s Stirn die berühmte Blitznarbe zu sehen war, sie hatten beide<br />
tiefschwarze Haare, nur <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong>s wie üblich wild in alle Richtungen<br />
abstanden <strong>und</strong> McGonagalls in langen Strähnen um sein Gesicht fielen.<br />
Es war so abschreckend, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> schnell seine Brille abnahm. Das<br />
Einzige, was sie unterschied, war die Augenfarbe: <strong>Harry</strong> hatte die grünen<br />
Augen von seiner Mutter geerbt, McGonagalls waren dunkelblau.<br />
„Das kann nicht sein. Ich weiß, was Sie jetzt denken, nur ist <strong>das</strong><br />
völlig unmöglich. Ich habe keine lebenden Verwandten außer den<br />
Dursleys …“, stammelte <strong>Harry</strong>.<br />
147
Unbehaglich hantierte McGonagall an der Teetasse herum.<br />
„Dumbledore hat dir <strong>das</strong> gesagt, als ihr euch zum ersten Mal<br />
gesehen habt, oder?“<br />
„Ja, <strong>das</strong> war während meines ersten Schuljahres.“<br />
„Du musst wissen, <strong>das</strong>s meine Familie schon vor meiner Geburt<br />
aus Großbritannien ausgewandert ist. Meine Mutter – Minerva<br />
McGonagalls Schwester – wurde aus dem Clan verstoßen.“<br />
„Wieso <strong>das</strong>?“, fragte <strong>Harry</strong> verblüfft.<br />
„Weil sie einen Squib geheiratet hat – was gleichbedeutend<br />
gesehen wird mit einem Muggel.“<br />
Für ein paar Sek<strong>und</strong>en war es <strong>Harry</strong> nicht möglich zu sprechen.<br />
McGonagalls Clan <strong>und</strong> muggelfeindlich? Aber die Verwandlungslehrerin<br />
hatte nie irgendwelche Ansätze dazu gezeigt …<br />
„In Zauberer-Clans ist es Tradition, ja, Pflicht, den Angehörigen<br />
eines anderen Clans zu heiraten, um <strong>das</strong> Erbe der alten schottischen<br />
Familien nicht zu verlieren. Wenn du mich fragst, totaler Blödsinn.<br />
Nichtsdestotrotz wurde meine Mutter, als sie sich in meinen Vater<br />
verliebte, gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert. Sie beschlossen, einen<br />
Schnitt zu ziehen <strong>und</strong> gingen nach Amerika.“<br />
„Aber Professor McGonagall …“, widersprach <strong>Harry</strong> in einem<br />
Versuch, seine Lehrerin zu verteidigen.<br />
„Sie ist ein Mitglied eines der ältesten schottischen Clans, der<br />
schon <strong>auf</strong> <strong>das</strong> zweite Jahrtausend vor Christus <strong>zur</strong>ückgeht <strong>und</strong> somit<br />
gewissen … Prinzipien verpflichtet.“<br />
„Aber sie ist keine Muggelhasserin!“, rief <strong>Harry</strong> erregt.<br />
„Das behaupte ich auch nicht. Im Gegenteil, ich schätze meine<br />
Tante sehr. Ihre Widerstandsarbeit gegen die Todesser ist<br />
bew<strong>und</strong>ernswert. Aber Clans hassen Muggel nicht direkt, sie wollen nur<br />
einfach nichts mit ihnen zu tun haben. Wobei nicht alle Clanmitglieder<br />
eine so kompromisslose Einstellung haben.“<br />
„Aber Professor McGonagall kann Sie nicht leiden …“, rutschte es<br />
<strong>Harry</strong> aus Versehen heraus. Am liebsten hätte er sich <strong>auf</strong> die Zunge<br />
gebissen.<br />
„Nein, in der Tat“, meinte McGonagall betrübt. „Was ich sehr<br />
schade finde. Aber es sind Dinge in der Vergangenheit vorgefallen, die<br />
unser Verhältnis noch heute belasten. Dinge, die mich auch mit<br />
veranlasst haben, nach meiner Schulzeit <strong>zur</strong>ück in die USA zu gehen.“<br />
<strong>Harry</strong> fragte nicht nach, der bekümmerte Ausdruck seines Lehrers<br />
hielt ihn davon ab, jetzt weiter <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Thema einzudringen.<br />
„Warum sind Sie denn <strong>auf</strong> Hogwarts gegangen? Es gibt <strong>doc</strong>h<br />
sicher in den USA auch Zaubererschulen.“<br />
„Klar, eine Menge. Aber Hogwarts ist eine der besten Institute der<br />
Welt, vielleicht sogar <strong>das</strong> beste. Außerdem wollte ich ein wenig <strong>das</strong> Land<br />
kennen lernen, aus dem ich eigentlich stamme.“<br />
148
Was tue ich hier, rügte <strong>Harry</strong> sich selbst. Eigentlich wollte er <strong>doc</strong>h<br />
was ganz anderes wissen. Er nahm all seinen Mut zusammen.<br />
„Wollen Sie mit all dem ausdrücken, <strong>das</strong>s Sie mit mir verwandt<br />
sind?“ Endlich war raus.<br />
„Ja.“ Die Antwort war so verblüffend direkt, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> kraftlos in<br />
seinen Stuhl sank.<br />
Es konnte nicht sein.<br />
Das wüsste er.<br />
Oder?<br />
„Mein Vater war der Onkel deines Vaters. Sie hatten nur nicht viel<br />
Kontakt, weil – nun ja, weil mein Vater ein Squib war.“<br />
„War?“, krächzte <strong>Harry</strong>.<br />
„Er ist vor vielen Jahren gestorben“, meinte McGonagall leise.<br />
„Genauso wie meine Mutter. Tut mit Leid.“<br />
„Aber wieso hat mir <strong>das</strong> niemand gesagt? Wieso habe ich nie<br />
erfahren, <strong>das</strong>s ich noch einen Großcousin habe?“ <strong>Harry</strong> stand <strong>auf</strong> <strong>und</strong><br />
lief wütend durch <strong>das</strong> Zimmer. Was hatte ihm Dumbledore noch alles<br />
verheimlicht? In seiner Unachtsamkeit stieß er gegen einen Schrank<br />
direkt neben Jerry. Der Adler ließ einen erschrockenen Schrei hören.<br />
„Das liegt daran, <strong>das</strong>s niemand wusste, <strong>das</strong>s ich noch lebe.“<br />
McGonagall machte nicht den Eindruck, <strong>das</strong>, was er nun zu sagen hatte,<br />
gern zu erzählen.<br />
„Nachdem ich von Hogwarts weggegangen bin, ist <strong>das</strong> Flugzeug,<br />
mit dem ich in die Staaten <strong>zur</strong>ückwollte, abgestürzt. Jeder dachte, ich<br />
wäre tot. Tatsächlich aber hatte ich bereits Apparieren gelernt – damals<br />
war es noch kein Teil der regulären Schulausbildung, sondern wurde nur<br />
in weiterführender Schulung angeboten. Ich konnte es mir allerdings<br />
selbst beibringen <strong>und</strong> bin einfach aus dem Flugzeug disappariert, als es<br />
sich im Sturzflug befand. Ist gar nicht so leicht, wie es klingt.“<br />
<strong>Harry</strong> fand nicht, <strong>das</strong>s es nach einer leichten Angelegenheit klang,<br />
in Todesangst den schweren Apparitionszauber auszuführen, schwieg<br />
aber dazu.<br />
„Wieso sind Sie dann nicht gleich in die Staaten appariert?“<br />
„Eine Apparition über eine so weite Strecke habe ich mir nicht<br />
zugetraut“, gab McGonagall zu.<br />
„Meine Eltern <strong>und</strong> ich beschlossen jedenfalls, <strong>das</strong>s es <strong>das</strong> Beste<br />
wäre, sich für immer von der Vergangenheit zu trennen. Wir widerriefen<br />
meine Todesnachricht nicht – in England glaubten alle, ich sei<br />
gestorben. Wie gesagt, wir sahen darin den einfachsten Weg, nicht mehr<br />
mit unseren Verwandten reden zu müssen. Meine Eltern waren ohnehin<br />
sehr lange nicht mehr hier gewesen, ich war der Einzige, mit dem noch<br />
jemand der Familie Kontakt gehabt hatte. Das war dann natürlich<br />
vorbei.“<br />
„Dumbledore wusste gar nicht, <strong>das</strong>s Sie lebten?“, murmelte <strong>Harry</strong>.<br />
149
„Nein, <strong>und</strong> da meine Eltern zum Zeitpunkt deiner Geburt bereits tot<br />
war, waren ihm wirklich nur die Dursleys als deine lebenden Verwandte<br />
bekannt. Deswegen schickte er dich zu ihnen.“<br />
<strong>Harry</strong> wollte losbrüllen, <strong>das</strong>s McGonagall mit seiner Feigheit<br />
verhindert hatte, <strong>das</strong>s er in einem ganz anderen Zuhause hätte<br />
auswachsen können, mit Zauberern <strong>und</strong> Hexen, nicht mit einem Cousin,<br />
der ihn ständig drangsalierte <strong>und</strong> einer Tante <strong>und</strong> einem Onkel, die ihn<br />
hassten … andererseits, hätte Dumbledore ihn so weit weg gehen<br />
lassen? Hätte er ihn außerhalb seines Einflussbereiches leben lassen?<br />
Vermutlich nicht. Zudem war McGonagall, als James <strong>und</strong> Lily starben,<br />
selbst erst 24 oder 25 gewesen … nein, Dumbledore hätte ihn nie nach<br />
Amerika geschickt.<br />
„Ich bin nicht stolz <strong>auf</strong> <strong>das</strong>, was ich getan habe. Aber damals<br />
schien es die beste Möglichkeit, ungestört zu leben. Wir wollten mit all<br />
den Menschen hier nichts mehr zu tun haben. Meine Familie war<br />
gesellschaftlich geächtet“, erklärte McGonagall mit einem müden<br />
Ausdruck in seinen Augen.<br />
Und warum sind Sie dann wieder hier?“, fragte <strong>Harry</strong>. Er hatte<br />
keine Lust, McGonagall Vorhaltungen zu machen. Er hatte kein Recht<br />
dazu, außerdem tat ihm sein Verteidigungslehrer in seiner<br />
offensichtlichen Reue Leid.<br />
„Weil ich endlich begriffen habe, <strong>das</strong>s auch ich meine<br />
Verantwortung zu übernehmen habe. Dumbledore hat sich damals dafür<br />
eingesetzt, <strong>das</strong>s ich in Hogwarts studieren konnte, <strong>und</strong> nun braucht er<br />
Hilfe. Ich habe in meiner Heimat <strong>das</strong> Geschehen in Britannien stets<br />
genau verfolgt. Deswegen habe ich mich bei ihm gemeldet. Er war ganz<br />
schön erschrocken, als ich vor die <strong>Tor</strong>e Hogwarts appariert bin <strong>und</strong><br />
glaubte erst, ich sei ein Poltergeist … Aber Dumbledore ist ein<br />
bemerkenswerter Mann; ich bin froh, ihm unter den jetzigen Umständen<br />
als Lehrer helfen zu dürfen.“ Müde lehnte sich McGonagall in seinem<br />
Stuhl <strong>zur</strong>ück.<br />
<strong>Harry</strong> musste sich zusammenreißen, um nicht allzu neugierig <strong>auf</strong><br />
seinen neu entdeckten Verwandten zu schauen.<br />
„Prof- äh, Jamie?“<br />
„Ja, <strong>Harry</strong>?“, fragte dieser lächelnd.<br />
<strong>Harry</strong> holte tief Luft. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll dazu, <strong>das</strong>s<br />
wir, nun ja, verwandt sind.“ In der Tat fühlte er sich seltsam dabei zu<br />
wissen, nicht mehr der Einzige aus der <strong>Potter</strong>-Familie zu sein, den er<br />
kannte. In seinem ganzen Leben hatte er nie erfahren, was eine Familie<br />
wirklich bedeutete, er hatte nie <strong>das</strong> Glück gehabt, mit einem Verwandten<br />
sprechen zu können, der ihn nicht gerade als zu groß gewordenes<br />
Unkraut betrachtete.<br />
„Natürlich ist <strong>das</strong> eine ungewohnte Situation für dich. Und auch für<br />
mich, selbst wenn ich stets wusste, wer du bist <strong>und</strong> was du machst. Aber<br />
150
deswegen muss sich nichts für dich ändern. Du brauchst dich mir<br />
gegenüber nicht verpflichtet fühlen – wir kennen uns kaum.“<br />
<strong>Harry</strong> nickte, irgendwie war <strong>das</strong> nun alles zuviel für ihn. Er wollte<br />
nur noch ins Bett.<br />
„Aber ich würde mich freuen, wenn wir Fre<strong>und</strong>e werden könnten –<br />
du wirst sehen, ich unterscheide mich ein wenig von den Lehrern, die du<br />
sonst noch kennst.“ Er grinste, wohl in Erwartung unausgesprochener<br />
Abenteuer. Schon wieder musste <strong>Harry</strong> Ron Recht geben; McGonagall<br />
wäre durchaus in der Lage dazu, anderen Leuten Streiche zu spielen,<br />
auch mit fast 40. Nein, ein Durchschnittslehrer war er definitiv nicht.<br />
„Gut, ich nehme an, <strong>das</strong>s wir beide kurz davor stehen,<br />
schnarchend <strong>auf</strong> diesen Tisch zu kippen, deswegen schlage ich vor, wir<br />
beenden den heutigen Abend.“ McGonagall ging zu Jerry hinüber, der in<br />
den letzten Minuten unruhig geworden war <strong>und</strong> fütterte ihn mit etwas,<br />
<strong>das</strong> aussah wie lebende Mäuse.<br />
„Wir können uns gerne an einem anderen Abend wieder treffen,<br />
wenn du ein wenig erzählen möchtest.“<br />
<strong>Harry</strong> erhob sich <strong>und</strong> stellte fest, <strong>das</strong>s seine Beine noch immer<br />
leicht zitterten. Er verabschiedete sich von seinem Lehrer <strong>und</strong> betrat die<br />
dunklen Gänge des Schlosses, die nun spätabends ausgestorben waren<br />
<strong>und</strong> ungewöhnlich friedlich <strong>und</strong> selbstvergessen wirkten.<br />
Obwohl er vor Erschöpfung tatsächlich beinahe stolperte, ging er<br />
nicht <strong>auf</strong> direktem Weg <strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum, sondern lief<br />
ohne <strong>auf</strong> den Weg zu achten noch einige Zeit in dunkle Ecken, über in<br />
alle Richtungen führende Treppen <strong>und</strong> durch etliche Geheimgänge, nur<br />
sich <strong>und</strong> seinen Gedanken überlassend. Als er endlich den Schlafsaal<br />
mit einem glücklicherweise schnarchenden Ron betrat, sich sofort <strong>auf</strong><br />
sein Bett legte <strong>und</strong> <strong>auf</strong> der Stelle einschlief, war es bereits weit nach<br />
Mitternacht.<br />
151
KAPITEL NEUN<br />
Besen <strong>und</strong> Armeen<br />
<strong>Harry</strong> versuchte sich am nächsten Tag nach besten Kräften zu<br />
drücken, um Hermine <strong>und</strong> besonders Ron nicht von dem Gespräch mit<br />
McGonagall erzählen zu müssen. Aber zwischen Verwandlung <strong>und</strong> der<br />
folgenden Doppelst<strong>und</strong>e Zauberkunst erwischten sie ihn in einer<br />
verlassenen Ecke des zweiten Stocks.<br />
„Los, sag schon, was ist gestern passiert?“, fragte Ron begierig<br />
<strong>und</strong> stellte sich <strong>Harry</strong> herausfordernd in den Weg, viel zu neugierig, um<br />
ihm Vorwürfe wegen seines ausweichenden Verhaltens zu machen.<br />
Hermine stand neben den beiden <strong>und</strong> schaute zwar nicht wirklich<br />
angetan von Rons Vorgehen, aber auch nicht missbilligend zu.<br />
„Wir haben nur ein wenig geredet“, brummte <strong>Harry</strong>. Rons<br />
unweigerliche Rechthaberei am Ende dieses Gespräches stimmte ihn<br />
jetzt schon missgelaunt.<br />
„Und über was?“ Ron rückte näher.<br />
„Über dies <strong>und</strong> jenes …“ <strong>Harry</strong> trat einen Schritt <strong>zur</strong>ück.<br />
„Zum Beispiel?“ Ron war nur noch eine Handbreit von seinem<br />
Gesicht entfernt.<br />
„Ron!“, rief Hermine nun tadelnd, aber da hatte <strong>Harry</strong> auch schon<br />
entnervt gerufen: „Dass er mein Großcousin ist!“<br />
Sofort fiel Stille über die drei. Rons Augen leuchteten, Hermine sah<br />
wenig überrascht, dafür umso besorgter aus.<br />
„Also stimmt es? Ich habe es ja gesagt, ihr seid euch zu ähnlich,<br />
als <strong>das</strong>s es Zufall sein könnte!“, rief Ron triumphierend.<br />
„Ja toll, du hattest Recht, bist du nun zufrieden?“, blaffte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
drückte sich an den beiden vorbei in Richtung Treppe.<br />
„He, soll <strong>das</strong> heißen, <strong>das</strong>s du nicht willst, <strong>das</strong>s er dein Verwandter<br />
ist?“, entfuhr es Ron in einem derart verblüfften Ton, <strong>das</strong>s sich <strong>Harry</strong><br />
unwillkürlich umdrehte. Da stand sein Fre<strong>und</strong>, ein Bein noch in der Luft<br />
<strong>und</strong> blickte ihn aus großen braunen Augen vollkommen überrumpelt an.<br />
152
In dem Moment wurde <strong>Harry</strong> plötzlich bewusst, <strong>das</strong>s Ron sich die ganze<br />
Zeit gewünscht hatte, McGonagall wäre mit ihm verwandt, damit <strong>Harry</strong><br />
endlich eine Vertrauensperson hatte … Jemanden, der mit ihm<br />
verb<strong>und</strong>en war, einen Erwachsenen, mit dem er reden konnte,<br />
besonders jetzt, da Sirius tot war. Ron, der sein ganzes Leben mit<br />
sieben Geschwistern <strong>und</strong> zwei vorbildlichen Eltern hatte verbringen<br />
dürfen, wollte nichts anderes als <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> zumindest zum Teil fand,<br />
was er sein Leben lang vermisst hatte: Eine Familie. Es ging ihm<br />
überhaupt nicht um sensationslüsterne Gerüchte.<br />
<strong>Harry</strong> wurde <strong>auf</strong> der Stelle rot <strong>und</strong> stammelte: „Nein, <strong>das</strong> wollte ich<br />
nicht sagen … es ist nur so, ich kenne McGonagall kaum.“ Ich nenne ihn<br />
ja nicht einmal bei seinem Vornamen, dachte er. „Alles kam so plötzlich.“<br />
„Ich weiß schon, was du meinst, Mann“, nickte Ron verstehend <strong>und</strong><br />
kniff die Augen zusammen. „Das wäre wie wenn Snape sich plötzlich als<br />
mein vergessener Onkel herausstellen würde. Ja, ich denke, <strong>das</strong> wäre<br />
eher ein Schock als eine freudige Überraschung.“<br />
Die Spannung zwischen ihnen fiel in sich zusammen, als erst<br />
Hermine loslachte <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron gleich dar<strong>auf</strong> einfielen.<br />
Die zwei St<strong>und</strong>en Pflege magischer Geschöpfe im Anschluss<br />
stellten sich als großer Spaß heraus, Hagrid hatte eingesehen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
Graphorn <strong>doc</strong>h kein geeignetes Unterrichtsexemplar darstellte <strong>und</strong> ließ<br />
die Schüler stattdessen ein Quiz lösen, deren Sieger von den<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben der nächsten St<strong>und</strong>e (ein Wiederholungskapitel zum<br />
ZAG-Stoff zu lesen) befreit waren. Niemanden überraschte es, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
Team mit <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine gewann – <strong>und</strong> zwar, weil es alle<br />
Fragen richtig beantwortete, was Hagrid für den Rest des Tages zum<br />
Strahlen brachte.<br />
Ähnlich einfach <strong>und</strong> reibungslos verlief der Rest der Woche. In<br />
Verwandlung quälte sie Professor McGonagall zwar weiterhin durch sehr<br />
schweren Stoff, <strong>und</strong> Snape triezte <strong>Harry</strong> am Freitag mehr denn je, aber<br />
Verteidigung einen Tag zuvor machte ihm ungemein Spaß – besonders,<br />
da Jamie McGonagall ihn oft um seine Meinung zu Unterrichtsfragen bat.<br />
Schneller als er es erwartet hatte stand <strong>das</strong> Wochenende vor der Tür<br />
<strong>und</strong> damit die Auswahlspiele im Quidditch.<br />
So kam er am Samstag in Begleitung von Ron, mit dem er sich seit<br />
der Ausräumung des Missverständnisses um seinen Verteidigungslehrer<br />
bestens verstand, <strong>und</strong> Hermine in die große Halle <strong>und</strong> ward sofort von<br />
einer Traube aus Gryffindors umringt.<br />
"Du wirst mich <strong>doc</strong>h sicher in die Mannschaft wählen, oder,<br />
<strong>Harry</strong>?!"<br />
"Sieh dir den an, er ist ein Nichtskönner!"<br />
153
"Es gibt gar keine Zweifel, ich gehöre ins Team."<br />
Überall um sich herum hörte <strong>Harry</strong> die Rufe <strong>auf</strong>geregter<br />
Hausgenossen, die unbedingt in <strong>das</strong> Quidditch-Team der Gryffindors<br />
wollten. Seit er in seinem Hogwartsbrief vollkommen überrascht erfahren<br />
hatte, <strong>das</strong>s ausgerechnet er Kapitän werden würde, hatte er sich oft<br />
genug den Kopf über die Auswahl zerbrochen. Wen würde er ins Team<br />
wählen? Sicher erwartete Ron, <strong>das</strong>s er den <strong>Tor</strong>wart spielte, aber was,<br />
wen es einen gab, der besser war?<br />
Alle Mitschüler abwehrend ließ er sich schnell <strong>auf</strong> der Bank nieder<br />
<strong>und</strong> sch<strong>auf</strong>elte sich seinen Teller voller Rührei.<br />
„Mach dir keine Sorgen, du wirst ein guter Trainer sein“, versuchte<br />
ihn Hermine zu beruhigen, bevor sie hinter „Verwandlung für<br />
Perfektionisten“ verschwand. <strong>Harry</strong> brummte etwas vor sich hin.<br />
„Keine Angst, ich kann dir bei der Auswahl helfen“, meinte Ron<br />
begeistert <strong>und</strong> löffelte derweil einen Berg von Müsli. „Ginny zum Beispiel<br />
kannst du als Jägerin einsetzen, sie ist zwar als Sucher besser, aber da<br />
spielst du ja. Und da Fred <strong>und</strong> George weg sind, benötigen wir neue<br />
Treiber. Was hälst du von Michael Fadden aus der dritten Klasse, Lee<br />
hat ihn in den Ferien trainieren sehen <strong>und</strong> meint, er sei wirklich gut. Oder<br />
–“<br />
„Ron“, seufzte Hermine hinter ihrem Buch hervor.<br />
„Wie wäre es mit Dean als Jäger, er hat auch einige Erfahrung –“<br />
„Ron Weasley!“<br />
„Allerdings wäre es auch möglich, <strong>das</strong>s Katie –“<br />
Hermine knallte ihr Buch zu <strong>und</strong> sah warnend zu Ron hinüber.<br />
„Was ist denn, Hermine, überlass uns die Auswahl, ausgerechnet<br />
du mit deinen fachmännischen Rat wirst kaum eine Hilfe sein.“<br />
„Oh <strong>doc</strong>h“, meinte Hermine spitz <strong>und</strong> lächelte unheilvoll. „Du hast<br />
nämlich vergessen, <strong>das</strong>s dieses Jahr nicht mehr in Hausmannschaften<br />
gespielt wird.“<br />
„Ja stimmt“, rief <strong>Harry</strong> vollkommen überrumpelt. Was hatte sich<br />
Dumbledore nur dabei gedacht? Wie sollte ein Quidditch-Team<br />
aussehen, <strong>das</strong> nicht nur aus Gryffindors bestand? Musste er mit Malfoy<br />
zusammen fliegen? Sein Magen drehte sich um.<br />
Ron machte eine zutiefst schockierte Miene. „Das hatte ich<br />
vergessen!“, stöhnte er <strong>und</strong> schaute Unheil ahnend zum Lehrertisch<br />
hoch. „Sicher steckt dahinter wieder so ein unsinniger Versuch, wie war<br />
<strong>das</strong> noch mal, die Einheit der Schule zu stärken oder so …“<br />
„Und, was wäre dabei?“, blaffte Hermine. „Es wird Zeit, <strong>das</strong>s<br />
diesem Häuserquatsch ein Ende gesetzt wird.“<br />
Bevor Ron wütend <strong>zur</strong>ück schreien konnte, erhob sich <strong>zur</strong><br />
Erleichterung <strong>Harry</strong>s Dumbledore von seinem Platz. In der großen Halle<br />
kehrte Stille ein.<br />
154
„Wie ihr wisst, finden heute die Auswahlspiele zu dem Quidditch-<br />
Turnier statt, <strong>und</strong> zwar werden sich alle vier Häuser im L<strong>auf</strong>e des Tages<br />
<strong>auf</strong> dem Feld einfinden. Allerdings – “ Er machte eine kurze Pause,<br />
während derer alle Schüler gespannt zu ihm hoch sahen, sogar Malfoy<br />
schien beim Thema Quidditch nichts verpassen zu wollen – „Nicht, um<br />
sich wie üblich um einen Platz in eurem Hausteam zu bewerben. Dieses<br />
Jahr haben wir eine Neuerung im Regelwerk vorgenommen: Die<br />
traditionellen Häusermannschaften werden abgeschafft, <strong>und</strong> stattdessen<br />
werdet ihr vier Teams bilden, die die besten Spieler Hogwarts vereinen<br />
sollen – wobei in jedem Team jedes Haus vertreten sein muss.“<br />
Empörte Blicke <strong>und</strong> entrüstetes Schn<strong>auf</strong>en waren die Antwort.<br />
Malfoy sah aus, als hätte man Slytherin selbst verboten, so entsetzt<br />
starrte er hin<strong>auf</strong> zum Lehrertisch <strong>und</strong> schien inständig zu hoffen,<br />
Dumbledore mache nur einen Scherz.<br />
„Ich weiß, <strong>das</strong>s euch eure Häuser am Herzen liegen <strong>und</strong> ihr<br />
vermutlich lieber in reinen Häuserteams spielen würdet. Aber die<br />
Lehrerschaft, <strong>und</strong> ich stimme mit ihr überein, bezweckt mit dieser<br />
Maßnahme eine Stärkung der innergemeinschaftlichen Beziehungen<br />
zwischen den Schülern Hogwarts’, unabhängig von der<br />
Häuserzugehörigkeit.<br />
Um die Auswahl einfacher zu machen, werden die Häuserkapitäne<br />
auch die Kapitäne der vier Hogwartsteams werden – also <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong><br />
von Gryffindor, Zarachias Smith von den Hufflepuffs, Cho Chang von<br />
Ravenclaw <strong>und</strong> Draco Malfoy von Slytherin. Jede Mannschaft wird zwei<br />
Spieler jeden Hauses beinhalten, mit jeweils einem Ersatzspieler. Jeder<br />
von euch, der an den Auswahlspielen teilnehmen möchte, sucht sich ein<br />
Team oder mehrere, unter dessen Kapitän er sich bewerben will <strong>und</strong><br />
erscheint zu dem jeweiligen Auswahltermin, der am Schwarzen Brett<br />
aushängt."<br />
„Zwei aus jedem Haus!“, stieß Katie hervor, die <strong>Harry</strong> gegenüber<br />
saß. Sie sah traurig aus. „Ich dachte, ich könnte in meinem letzten Jahr<br />
noch einmal die Hausmeisterschaft mit Gryffindor gewinnen“, meinte sie<br />
betrübt. „Aber so muss ich ein anderes Team suchen. Dir macht es <strong>doc</strong>h<br />
nichts aus, wenn ich mich bei dir bewerbe, <strong>Harry</strong>?“<br />
Es machte ihm durchaus etwas aus, da Ron ihn die ganze Zeit<br />
schon mit Vorschlägen zubrabbelte, wen sie aus den anderen Häusern<br />
in ihre Mannschaft holen könnten.<br />
„Mm, nein, aber ich weiß noch nicht, wie <strong>das</strong> Team aussehen soll“,<br />
relativierte er.<br />
„Vermutlich muss ich es bei allen anderen Kapitänen auch<br />
versuchen, dann ist die Chance größer, <strong>das</strong>s ich genommen werde –<br />
außer bei diesem Malfoy, lieber gebe ich Quidditch <strong>auf</strong> als <strong>das</strong>s ich unter<br />
einem Slytherin spiele.“<br />
Ron grinste diebisch.<br />
155
„Was?“, fragte ihn <strong>Harry</strong>.<br />
„Überleg <strong>doc</strong>h mal, wenn jeder so denkt wie Katie, wird Malfoy gar<br />
kein Team zusammenbekommen!“<br />
Hermine schüttelte den Kopf. „Irgendjemand ist immer so scharf<br />
dar<strong>auf</strong>, um den Pokal zu spielen, <strong>das</strong>s ihn auch Malfoy nicht<br />
abschrecken kann“, mutmaßte sie.<br />
Sie sollte Recht behalten.<br />
Als sie am Nachmittag hinunter zum Stadion liefen, die stechende<br />
Sonne <strong>auf</strong> ihren Gesichtern <strong>und</strong> zumindest <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron mit ihren<br />
beiden Besen über der Schulter, sahen sie schon von weitem eine große<br />
Schülermenge, die sich dem Spielfeld näherte <strong>und</strong> zum Großteil in<br />
Richtung Tribüne steuerte. Zuerst standen die Auswahlspiele für <strong>das</strong><br />
Slytherin-Team an, anschließend war <strong>Harry</strong> an der Reihe. Zusammen<br />
mit Luna, Neville <strong>und</strong> Ernie suchten sie sich gute Plätze, um Malfoy bei<br />
der Auswahl seiner Spieler zuzusehen. Der Slytherin stand in seinem<br />
grün-silbern funkelnden Quidditch-Umhang in der Sonne <strong>und</strong> musterte<br />
griesgrämig die Schüler, die sich um ihn versammelten. Zu Recht,<br />
dachte <strong>Harry</strong>, die meisten davon waren Anfänger oder für ihre sonstigen<br />
Hausteams nicht berücksichtigte Ersatzspieler, die anscheinend so<br />
verzweifelt endlich in ein Team kommen wollten, <strong>das</strong>s sie sich selbst bei<br />
einem der allseits ungeliebten Slyterhins bewarben. Wirklich gute waren<br />
jedenfalls nicht dabei. Neben Malfoy lungerte Crabbe herum, der wie<br />
üblich wie ein aus dem Zoo ausgebrochener Gorilla wirkte. Anscheinend<br />
war er schon zum zweiten Slytherin-Spieler ernannt worden.<br />
"So werden die keine Chance haben", meinte Ron fachmännisch.<br />
"Wen soll er denn als Jäger einsetzen? Die einzigen, die überhaupt<br />
schon mal diese Position gespielt haben, sind dieser Viertklässler aus<br />
Ravenclaw“ – er zeigte <strong>auf</strong> einen großen, blonden Jungen, der die<br />
anderen Bewerber mit überheblichem Blick begutachtete – "<strong>und</strong><br />
Demelza." <strong>Harry</strong> schaute zu dem stämmigen, leicht mürrisch drein<br />
blickenden Mädchen, <strong>das</strong> ein Jahr unter ihnen in Gryffindor war. "Und<br />
selbst <strong>das</strong> nur im Training ..."<br />
Auch Malfoy musste <strong>das</strong> <strong>auf</strong>gefallen sein, denn er holte die beiden<br />
mit einem Gesicht, als hätte man ihm Bobutubler-Eiter unter die Nase<br />
gehalten, zu sich. Dann wies er drei Schüler, darunter zwei ungemein<br />
unmotiviert aussehende Hufflepuffs <strong>und</strong> einen Ravenclaw-Zeitklässer an,<br />
sich nacheinander vor drei der Ringe zu begeben, die in weiter Höhe<br />
über dem Spielfeld angebracht waren. Dort wollte er sie anscheinend <strong>auf</strong><br />
ihre <strong>Tor</strong>hüter-Qualitäten hin testen. Der erste brauchte fast zehn<br />
Sek<strong>und</strong>en, bis er dort angelangt war, weil sein Besen ein sehr altes<br />
Modell zu sein schien, welches beim Fliegen gefährlich hin- <strong>und</strong><br />
herschwankte. Der zweite kicherte die ganze Zeit mit einem seiner<br />
Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> stieß sich erst nach der dritten Aufforderung Malfoys vom<br />
156
Boden ab, während der Zweitklässler bereits nach zwei Meter Flug vor<br />
lauter Aufregung von seinem Besen fiel.<br />
Ron schüttelte sich vor unterdrücktem Gelächter, <strong>und</strong> als die<br />
beiden <strong>Tor</strong>hüter-Anwärter, die es tatsächlich bis vor die Ringe geschafft<br />
hatten, gerade einmal je einen von fünf Probeschüssen hielten (<strong>und</strong><br />
einer schaffte es auch nur, weil Malfoy aus Versehen weit am <strong>Tor</strong><br />
vorbeigeschossen hatte), liefen ihm Lachtränen übers Gesicht. Mit einer<br />
mordlüsternen Miene bestimmte Malfoy einen dieser Hufflepuffs<br />
willkürlich zu seinem Hüter. Nicht viel mehr Glück hatte er mit seinen<br />
Treibern: Nachdem es nur zwei der sechs Kandidaten für diese Position<br />
geschafft hatten, länger als eine Minute verletzungsfrei den beiden<br />
Klatschern auszuweichen (nur einem gelang es in der Tat, erfolgreich mit<br />
seinem Schläger zu arbeiten), wies Malfoy mit nur noch hängendem<br />
Kopf wortlos hinter sich, <strong>und</strong> die beiden, ein bulliger Siebtklässler aus<br />
Hufflepuff <strong>und</strong> ein wendiger, kleiner Kerl aus dem dritten Gryffindor-<br />
Jahrgang, den <strong>Harry</strong> im Gemeinschaftsraum manchmal mit Dean<br />
Zauberschach spielen sah, gesellten sich zu den anderen. Zum<br />
Abschluss fragte Malfoy den Rest der Anwesenden, wer denn noch<br />
Ravenclaw sei, <strong>und</strong> als sich mit zittriger Hand der vom Besen gefallene<br />
Möchtegern-Hüter aus der zweiten Klasse als Einziger meldete, sank<br />
Malfoy entnervt in sich zusammen. Mit strahlendem Blick hüpfte der<br />
Kleine zum Rest des Teams, um dort seinen Platz als Ersatzspieler<br />
einzunehmen. Crabbe sollte somit die Position des dritten Jägers spielen<br />
– auch wenn <strong>Harry</strong> ihn dafür völlig ungeeignet hielt.<br />
„Ha, <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Team will ich zuerst treffen!“, jubelte Ron neben ihm<br />
<strong>und</strong> pfiff Malfoy laut <strong>auf</strong>, der ihnen einen vor Hass dunklen Blick zuwarf.<br />
„Hör <strong>auf</strong> damit, du kennst Malfoy. Wer weiß, was für fiese Sachen<br />
er sich einfallen lässt – es gibt eine Menge Zaubertränke, die er euch<br />
irgendwie unterjubeln könnte“, warnte Hermine, die den Slytherin mit<br />
einem argwöhnischen Blick verfolgte, wie er alleine <strong>zur</strong>ück zum Schloss<br />
trottete.<br />
„Dann müssen wir eben <strong>auf</strong>passen“, meinte <strong>Harry</strong> beim Aufstehen<br />
<strong>und</strong> begab sich nun <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Spielfeld, wo sich diejenigen Schüler<br />
einfanden, welche in seinem Team spielen wollten. Es waren viele. Er<br />
sah Katie, Dean, Seamus, Andrew Kirk, McLaggen, Peakes, die<br />
Creevey-Brüder <strong>und</strong> natürlich Ginny aus Gryffindor, aber auch die<br />
Hufflepuffs Ernie <strong>und</strong> Justin, dazu Michael Corner <strong>und</strong> Anthony<br />
Goldstein aus Ravenclaw, sogar zwei Slytherins waren gekommen,<br />
einmal Blaise Zabini <strong>und</strong> dann ein Fünftklässler namens Vaisey, mit dem<br />
<strong>Harry</strong> dann <strong>und</strong> wann trotz seiner Hauszugehörigkeit ein Wort<br />
gewechselt hatte. Zudem waren drei Spieler anwesend, die er nur vom<br />
Sehen kannte.<br />
157
„In Ordnung“, nuschelte er ein wenig nervös. Was sagte ein<br />
Kapitän zu seinen Spielern?<br />
„Ich freue mich, <strong>das</strong>s so viele von euch in meiner Mannschaft<br />
spielen wollen. Allerdings wisst ihr, <strong>das</strong>s ich nur sieben von euch<br />
tatsächlich nehmen kann.“ Erwartungsvolle Gesichter schauten ihn nach<br />
wie vor neugierig an.<br />
„Äh, dann beginnen wir mal.“ Er sah prüfend in die R<strong>und</strong>e. „Wer<br />
von euch möchte als Hüter spielen?“<br />
Nur zwei Hände hoben sich, die von Ron <strong>und</strong> McLaggen, was<br />
<strong>Harry</strong> unsäglich erleichterte. Damit musste er seinen Hüter aus<br />
Gryffindor nehmen <strong>und</strong> brauchte Ginny <strong>und</strong> Katie keine langen<br />
Erklärungen für ihre Nichtberücksichtigung geben – genauso wie seinen<br />
anderen Hausgenossen. Diese machten dann auch ein betretenes<br />
Gesicht, begaben sich aber anstandslos zu den Tribünen, um der<br />
Auswahl weiter zuzusehen.<br />
„Ihr findet ganz sicher einen Platz bei Cho oder Smith“, tröstete<br />
<strong>Harry</strong> Ginny <strong>und</strong> Katie, als sie an ihm vorbeigingen.<br />
Ginny lächelte. „Klar, ich habe sie schon gefragt – sie würden uns<br />
beide sofort nehmen.“<br />
Sie kam näher an ihn heran <strong>und</strong> begann zu flüstern, während <strong>Harry</strong><br />
plötzlich nichts weiter wahrnahm als <strong>das</strong> Rot ihrer Haare <strong>und</strong> ihren<br />
Geruch. Beinahe wäre ihm, völlig verwirrt, entgangen, was sie ihm sagte.<br />
„Halte dich bloß von McLaggen fern, er ist ein Idiot.“<br />
Sie schwang herum, ihr Umhang glänzte in der Sommersonne, <strong>und</strong><br />
<strong>Harry</strong> schaute ihr stumm nach.<br />
Was hatte sie ihm sagen wollen?<br />
Alles, was er noch wusste, war, <strong>das</strong>s sie Gedanken in ihm<br />
wachrief, die ihm äußerst deplaziert vorkamen. Immerhin war sie Rons<br />
Schwester …<br />
Ron.<br />
"Hey, sollen wir jetzt gegeneinander antreten?", hörte er ihn<br />
lautstark neben sich <strong>und</strong> drehte sich verdattert um.<br />
"Ron .. äh, ja, vermutlich", stotterte er <strong>und</strong> sah seltsamerweise<br />
immer noch Ginnys Lächeln vor sich.<br />
Sein Fre<strong>und</strong> schüttelte den Kopf <strong>und</strong> nuschelte etwas wie "Nicht<br />
ganz bei sich", bevor er sich zu Hermine umdrehte. "Sag mal, könntest<br />
du diesen McLaggen mit einem Verwechslungszauber belegen?", fragte<br />
er sie unsicher.<br />
Hermine sprang empört einige fußbreit in die Höhe.<br />
"Ronald, du spinnst!", hörte <strong>Harry</strong> sie am Rande seines<br />
Bewusstseins zischen. "So etwas würde ich nie tun!"<br />
Ginnys Art zu L<strong>auf</strong>en war irgendwie außergewöhnlich. Wieso war<br />
ihm <strong>das</strong> nie <strong>auf</strong>gefallen?<br />
158
Und wie sie sprach ... so anders als jeder, den er kannte, es schien<br />
ihm, als würde sie die Worte zum Klingen bringen. Sicher empfand nicht<br />
nur er so ... Diese Vorstellung wiederum erweckte unerklärlichen Neid in<br />
ihm.<br />
"Geht es endlich los?", was <strong>das</strong> nächste, was in sein Bewusstsein<br />
drang.<br />
McLaggen stand vor ihm <strong>und</strong> schaute ihn mit argwöhnischem Blick<br />
prüfend an.<br />
"Ja", stammelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> riss sich zusammen.<br />
Er folgte den beiden Hüteranwärtern, wie sie zu den Ringen flogen.<br />
Begeistert spürte er die Luft, die ihm ins Gesicht peitschte. Tief unter<br />
sich sah er die wartenden Bewerber <strong>und</strong> rief ihnen zu: "Wer als Jäger<br />
spielen möchte, kommt bitte zu mir!"<br />
Einige Schüler samt Besen erhoben sich tief unter ihm ebenfalls in<br />
die Luft.<br />
"Ihr werft jeweils zwei Mal gegen Ron <strong>und</strong> Cormack", ordnete er an<br />
<strong>und</strong> schaute den fünf Anwärtern, darunter den beiden Slytherin Vasey<br />
<strong>und</strong> Zabini sowie den beiden Creevey-Brüder zu, wie sie Ron gegenüber<br />
Aufstellung nahmen, der sich zuerst zwischen den Ringen postierte.<br />
Sie schossen alle nicht schlecht, besonders Collin Creevey<br />
überzeugte <strong>Harry</strong> mit einer ungeahnten Flugsicherheit <strong>und</strong> einem Treffer,<br />
während Ron acht der zehn Schuss hielt. Einen Quaffel drosch er von<br />
den Ringen weg, indem er sich <strong>auf</strong> seinem Besen abstützte <strong>und</strong> ihn mit<br />
beiden Beinen wegstieß. McLaggen gelang es, nur sechs Schüsse zu<br />
parieren, wor<strong>auf</strong>hin <strong>Harry</strong> ihn mit insgeheimer Freude aus dem Team<br />
sortierte. Mit mürrischer Miene stapfte dieser fluchend vom Feld. Als<br />
Jäger wählte er den Slytherin Vaisy <strong>und</strong> einen ihm dem Namen nach<br />
unbekannten Ravenclaw.<br />
"Wer bist du?", fragte er den etwas jüngeren Jäger.<br />
"Terry Freeman", plapperte dieser, vollkommen <strong>auf</strong>geregt, im<br />
Team von <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> angenommen zu sein.<br />
"Klasse, du wirst in Zukunft bei uns spielen!", erklärte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
überlegte, wer der dritte Jäger sein sollte. Eigentlich konnte er nur Zabini<br />
nehmen, denn die Creevey-Brüder schieden aus, auch wenn sie aus<br />
Spaß mitgemacht hatten.<br />
Unmutig schaute er den Slytherin an.<br />
"Gut, du bist auch dabei", murrte <strong>Harry</strong>, während Zabini mit einem<br />
unangenehm hochmütigen Grinsen von dannen ging.<br />
Seine Treiber wurden Ernie <strong>und</strong> Justin, die sich als überraschend<br />
fähig im Umgang mit den Klatschern erwiesen. Paul Goldstein von den<br />
Ravenclaws, welcher im Gr<strong>und</strong>e <strong>auf</strong> drei Positionen gleichzeitig recht<br />
passabel spielen konnte, wurde zum Ersatzspieler ernannt.<br />
Nach der Auswahl legten sich die drei unter die Bäume am See<br />
<strong>und</strong> schauten träge einigen Zweitklässlern zu, die den Riesenkraken<br />
159
ärgerten, bis einer von ihnen gepackt <strong>und</strong> ins Wasser geschleift wurde.<br />
Ron schwatzte die ganze Zeit von seinen gehaltenen Schüssen,<br />
während Hermine ein seliges Grinsen vor sich hertrug <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> mit<br />
Genugtuung an seine wirklich gute Mannschaft dachte. Der<br />
Riesenkraken hob den patschnassen Schüler wieder an Land. Hermine<br />
lief los <strong>und</strong> trocknete ihn mit einem Schwung ihres Zauberstabes.<br />
"Dieses Jahr werden wir Sieger, <strong>das</strong> spüre ich!", rief Ron<br />
übermütig, als sie <strong>auf</strong> dem Weg <strong>zur</strong>ück ins Schloss die Eichentür<br />
durchschritten. Im Schatten der großen Türflügel erwartete sie Draco<br />
Malfoy.<br />
"Na, zufrieden mit deinen Spielern?", fauchte er <strong>und</strong> fixierte <strong>Harry</strong>,<br />
als sei der ein besonders hässlicher Klatscher.<br />
"Merke dir eins, <strong>Potter</strong>: Im Quidditch magst du mich vielleicht<br />
schlagen, aber mit deinem dummen Orden kommst du zu spät!" Er<br />
lachte höhnisch <strong>auf</strong>. "Der dunkle Lord wird sich nicht <strong>auf</strong>halten lassen.<br />
Früher oder später werde ich sein verdiensteter Gefolgsmann sein <strong>und</strong><br />
du – tot."<br />
Er warf ihm ein fieses Grinsen zu <strong>und</strong> stolzierte in Richtung des<br />
Slytherin-Gemeinschaftsraumes von dannen.<br />
Ron stierte ihm nach.<br />
"Was war <strong>das</strong> denn?", brachte er hervor.<br />
"Ich habe euch <strong>doc</strong>h gesagt, <strong>das</strong>s Malfoy ein Todesser ist!", meinte<br />
<strong>Harry</strong>, genervt, weil die beiden seine Vermutung bisher immer<br />
abgestritten hatten.<br />
"Ich weiß nicht", meinte Hermine stirnrunzelnd. "Für mich klingt es<br />
eher so, als wolle er sich wichtig machen."<br />
<strong>Harry</strong> konnte es nicht fassen.<br />
"Sein ergebenster Diener? Wie sollte man <strong>das</strong> interpretieren außer<br />
mit: "Sein ergebenster Diener?!"<br />
Hermine schüttelte nachdenklich den Kopf, während die drei<br />
<strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum gingen.<br />
"Malfoy kommt einfach nicht damit <strong>zur</strong>echt, <strong>das</strong>s sein Vater nicht<br />
mehr da ist, um im Hintergr<strong>und</strong> die Fäden zu ziehen. Selbst die<br />
Slytherins wenden sich von ihm ab, <strong>und</strong> dieser Machverlust lässt ihn<br />
verzweifeln. Wäre er nicht zum Quidditch-Kapitän ernannt worden, hätte<br />
ihn sein Haus bestimmt nicht mehr mitspielen lassen – jetzt, wo ihn<br />
niemand mehr mit neuen Besen eink<strong>auf</strong>t, versteht ihr?"<br />
"Aber deswegen behaupten, er wäre Todesser? Warum sollte <strong>das</strong><br />
nicht stimmen?", fragte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>gebracht. Wieso hielten <strong>das</strong> alle für so<br />
unmöglich? Sie kannten Malfoy <strong>doc</strong>h nun seit vielen Jahren.<br />
"Weil Du-Weißt-Schon-Wer <strong>doc</strong>h kein – nun ja, Kind unter seinen<br />
Gefolgsleuten haben will", meinte Ron zögernd. "Ich jedenfalls kann es<br />
mir nicht vorstellen."<br />
160
"Na schön", schnaubte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> trat genervt durch <strong>das</strong> Portrait,<br />
nachdem Hermine "Expelliamus" gerufen hatte. "Aber w<strong>und</strong>ert euch<br />
nicht, falls wir <strong>das</strong> nächste Mal <strong>auf</strong> Voldemort treffen <strong>und</strong> Malfoy an<br />
seiner Seite ist."<br />
"Wer ist an wessen Seite?", hörte er Ginny neugierig fragen, als sie<br />
sich in ihre drei Lieblingssessel am Kamin gesetzt hatten.<br />
"Niemand", log <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> versuchte, nicht allzu angestrengt in ihre<br />
Richtung zu sehen.<br />
Zu sehr verwirrte ihn noch <strong>das</strong> Gefühl, <strong>das</strong>s er heute bei ihrem<br />
Anblick <strong>auf</strong> dem Quidditchfeld gehabt hatte. Um <strong>das</strong> Thema zu wechseln<br />
fragte er:<br />
"Wie ist es bei eurer Auswahl gel<strong>auf</strong>en?"<br />
"Ganz gut", antwortete Ginny <strong>und</strong> schaute zu Katie hinüber. "Smith<br />
hat uns beide als Jäger für sein Team genommen. Du weißt ja, <strong>das</strong>s er<br />
ein Kotzbrocken ist, aber als Kapitän scheint er zumindest etwas von<br />
Quidditch zu verstehen. Auf jeden Fall bin ich froh, <strong>das</strong>s Ron euer Hüter<br />
ist."<br />
"Ich auch", meinte er leise, so <strong>das</strong>s Ron nichts mitbekam. <strong>Harry</strong><br />
wollte sich gar nicht erst ausmalen, wie sein Fre<strong>und</strong> reagiert hätte, wenn<br />
er statt ihm McLaggen genommen hätte.<br />
Den Rest des Abends verbrachten sie damit, einige ihrer<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben zu erledigen, die sich mittlerweile zu einem recht<br />
beeindruckenden Berg <strong>auf</strong>geschichtet hatten. Besonders Verwandlung<br />
<strong>und</strong> Zaubertränke stellten sie vor einige Rätsel, die sie vor allem dank<br />
Hermines Erbarmen aber letztendlich <strong>doc</strong>h lösten. Bis er in den<br />
Schlafsaal ging, bemühte sich <strong>Harry</strong> so wenig wie möglich zu Ginny zu<br />
schauen, konnte aber ein ums andere Mal nicht anders, als ihr verträumt<br />
dabei zuzusehen, wie sie mit Neville Schach spielte oder in einem Buch<br />
las. Rons fragender Blick riss ihn aber jedes Mal wieder aus den<br />
Gedanken.<br />
Am nächsten Tag nach dem Abendessen trafen sich einige DA-<br />
Mitglieder bereits in der großen Halle, was <strong>Harry</strong> aber missfiel.<br />
"Wollt ihr, <strong>das</strong>s sämtliche Slytherins gleich mitbekommen, <strong>das</strong>s wir<br />
uns wieder treffen? Wir sehen uns in zehn Minuten im Raum der<br />
Wünsche, aber geht nicht alle <strong>auf</strong> einmal dorthin!"<br />
In Abständen von ein oder zwei Minuten verließen dar<strong>auf</strong>hin die<br />
Schüler zu zweit oder dritt die Halle. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine begaben<br />
sich stattdessen zum Lehrertisch, um McGonagall zu holen.<br />
Auf dem Weg zum Lehrertisch sahen sie Snape <strong>und</strong> Malfoy am<br />
Slytherin-Tisch sitzen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt <strong>und</strong><br />
schienen zu flüstern.<br />
161
"Hecken vermutlich neue Pläne für Voldemort aus", knurrte <strong>Harry</strong>,<br />
wurde aber von Hermine in die Seite gestoßen.<br />
"Das kannst du nicht wissen! Vermutlich diskutieren sie Malfoys<br />
Zaubertrankarbeit – er hat <strong>auf</strong> seinen Trank der lebenden Toten nur ein<br />
"S" bekommen."<br />
Wenig überzeugt näherte er sich jetzt ihrem Verteidigungslehrer,<br />
der bereits fertig gegessen hatte <strong>und</strong> nun seinen Teller beiseite schob.<br />
"Na dann zeigt mir mal euren geheimen Raum, ich bin schon<br />
gespannt." Er grinste in Erwartung <strong>auf</strong> eine Ecke Hogwarts, die er noch<br />
nicht kannte <strong>und</strong> sprang beschwingt von seinem Stuhl <strong>auf</strong>. Dann je<strong>doc</strong>h<br />
fiel sein Blick <strong>auf</strong> Franbery, der sich ebenfalls erhoben hatte, <strong>und</strong> sein<br />
Ausdruck verdüsterte sich unmerklich.<br />
"Ach ja, Rick möchte auch mitkommen. Ist <strong>das</strong> ein Problem?" Er<br />
sah die drei entschuldigend an, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> brauchte nicht zu raten, <strong>das</strong>s<br />
er seinen seltsamen Assistenten am liebsten hier gelassen hätte. Er<br />
übrigens auch, dennoch versicherte er schnell: "Nein, ist schon in<br />
Ordnung."<br />
„Fantastisch, <strong>das</strong> ist eine gute Gelegenheit, um die Arbeitsweise<br />
durchschnittlicher Hogwarts-Schüler einmal kennen zu lernen!“, steuerte<br />
Franbery begeistert bei <strong>und</strong> begann, mit seinem Zauberstab zu wedeln.<br />
„Wenn ich mich nicht täusche, besitzen Zauberer <strong>und</strong> Hexen in diesem<br />
Land eine Menge Nachholbedarf, was die Eleganz des Zauberns<br />
anbelangt. Ich für meinen Teil werde mich dafür stark machen, eure<br />
Übungsgruppe in eine Arbeitsgemeinschaft <strong>zur</strong> Ausbildung eurer<br />
ästhetischen Fähigkeiten umzustrukturieren." Strahlend tänzelte er vor<br />
dem Lehrertisch herum, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> musste wieder an Loonas Worte<br />
denken.<br />
"Die DA ist keine Übungsgruppe, sondern dient der Verteidigung<br />
gegen die dunklen Künste – was übrigens auch Ihr Unterrichtsfach ist",<br />
ließ er sich nicht nehmen zu sagen. Ron machte hinter Franberys<br />
Rücken eine kaum zu missverstehende Bewegung, die Hermine ein<br />
Stirnrunzeln ins Gesicht trieb.<br />
Franbery hielt inne <strong>und</strong> sah ihn leicht erstaunt an. "Aber darum<br />
geht es ja – eine Weiterbildung der Schönheit der Magie selbst hilft, die<br />
Verteidigungskünste zu perfektionieren!"<br />
Ron konnte ein Schnauben nicht <strong>zur</strong>ückhalten, <strong>und</strong> wohl jeder,<br />
McGonagall eingeschlossen, hatte Franberys Rückwärtssalto aus dem<br />
Unterricht vor Augen.<br />
"Genug der Pläne, Rick, lass uns endlich gehen", beschwichtigte<br />
McGonagall <strong>und</strong> trat den anderen voran nun aus der Halle, nicht,<br />
nachdem er wieder einmal einen vor Abscheu blitzenden Blick seiner<br />
Tante eingefangen hatte.<br />
Auf der Marmortreppe trafen sie Snape.<br />
162
"Ah, McGonagall, wohin denn so eilig? Oder wird <strong>Potter</strong> wieder von<br />
seinen Alpträumen geplagt?", fragte er mit gehässigem Blick <strong>auf</strong> die drei<br />
Gryffindors.<br />
"Was für Träume? Nein, wir wollen uns nur ein wenig über mein<br />
Unterrichtsfach unterhalten, Severus."<br />
Snape hob eine Augenbraue. "Ach, seit wann benötigen Lehrer<br />
Hogwarts die Ratschläge von Schülern? Oder wollen Sie andeuten, <strong>das</strong>s<br />
Sie Ihrem Stoff nicht gewachsen sind?"<br />
Jeder andere wäre wohl ungehalten geworden, auch <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
Ron starrten Snape mit unverkennbarem Hass an. Aber McGonagall<br />
blieb die Ruhe selbst.<br />
"Nein, <strong>das</strong> bedeutet nur, <strong>das</strong>s wir einige Themen meines Fachs<br />
diskutieren möchten, so wie es wohl bei jedem Lehrer der Fall ist,<br />
welcher verantwortungsbewusste <strong>und</strong> begabte Schüler in seinem<br />
Unterricht sitzen hat."<br />
Snapes Augen verengten sich zu Schlitzen, <strong>und</strong> er rückte<br />
bedrohlich nahe an seinen Kollegen heran.<br />
"Wenn Sie <strong>Potter</strong> auch nur halb so gut kennen würden wie ich,<br />
dann wüssten Sie über seine maßlose Arroganz, seine Überheblichkeit<br />
<strong>und</strong> sein äußerst unterentwickeltes Maß an Selbstkritik Bescheid."<br />
Ehrlich erstaunt schaute McGonagall <strong>Harry</strong> an, der vor Wut<br />
mittlerweile <strong>das</strong> Treppengeländer fest umklammerte, während Hermine<br />
vorsichtshalber Ron festhielt.<br />
"Also davon habe ich nichts bemerkt <strong>und</strong> würde mich w<strong>und</strong>ern,<br />
wenn <strong>das</strong> noch geschehen würde", antwortete er in gezwungen<br />
umgänglichem Ton.<br />
Snape sah ihn höhnisch <strong>und</strong> hasserfüllt an.<br />
"Das w<strong>und</strong>ert mich nicht, wo Sie <strong>doc</strong>h aus demselben Loch<br />
gekrochen sind wie er!"<br />
Mit wehendem Umhang verschwand er in Richtung Keller.<br />
<strong>Harry</strong> schaute ihm schwer atmend nach. "Dieser verlogene,<br />
schleimige ..." Er verstummte, als ihm bewusst wurde, <strong>das</strong>s sich ein<br />
Lehrer in seiner Gegenwart befand.<br />
"Sprich ruhig weiter, <strong>Harry</strong>, ich werde dich nicht davon abhalten –“<br />
" ... kriecherische Widerling!" Er hörte Ron leise lachen.<br />
"Was soll <strong>das</strong> bedeuten "aus demselben Loch gekrochen?", fragte<br />
Franbery verwirrt. Er ließ seinen Blick zwischen <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> seinem Chef<br />
hin- <strong>und</strong> herschweifen <strong>und</strong> erinnerte dabei verdächtig an Neville, wenn<br />
der eine schwere Verwandlungs<strong>auf</strong>gabe nicht lösen konnte.<br />
Anscheinend fiel ihm erst jetzt deren beider Ähnlichkeit <strong>auf</strong>.<br />
McGonagall verdrehte die Augen. "Nach dieser wieder einmal<br />
erstaunlichen Demonstration deiner Schnellmerkigkeit lasst uns endlich<br />
weitergehen, die anderen Schüler warten bestimmt schon!"<br />
163
Verblüfft vernahm <strong>Harry</strong> die gereizte Stimme seines Lehrers <strong>und</strong><br />
seine ungewohnt sarkastischen Worte. Aber kein W<strong>und</strong>er, mit Snape<br />
hatte sich noch niemand verstanden ... oder steckte noch mehr dahinter?<br />
Zwischen dem zweiten <strong>und</strong> dritten Stock holte er McGonagall ein,<br />
der alleine ein paar Schritte vor ihnen lief.<br />
"Kannten Sie Snape während Ihrer Schulzeit?"<br />
"Sicher, wie auch nicht? Er war in der zweiten Klasse, genauso wie<br />
dein Vater, als ich meine UTZ machte. Übrigens kannst du mich ruhig<br />
duzen – wo wir <strong>doc</strong>h verwandt sind."<br />
„Äh, sicher“, meinte <strong>Harry</strong> unsicher. Immer noch fühlte er eine<br />
Distanz gegenüber McGonagall, was auch nicht verw<strong>und</strong>erlich war –<br />
immerhin kannte er ihn seit kaum einer Woche.<br />
„Snape war schon immer ein unangenehmer Zeitgenosse. Ich habe<br />
damals versucht, mich so weit wie möglich von ihm fernzuhalten.<br />
Außerdem war er auch der einzige Schüler, der von meiner<br />
Verwandtschaft mit James <strong>Potter</strong> wusste. Er hat schon immer ein Talent<br />
dafür gehabt, Dinge wahrzunehmen, die anderen nicht <strong>auf</strong>fielen. Ich<br />
hatte ständig Angst, <strong>das</strong>s er mich verraten könnte, aber er hat es nicht<br />
getan, vermutlich, um nicht zwei verbündete <strong>Potter</strong> an der Schule zu<br />
haben.“<br />
<strong>Harry</strong> kam <strong>das</strong> außerordentlich unwahrscheinlich vor.<br />
„Völlig unmöglich, Sie – äh, du siehst mir so ähnlich, <strong>das</strong>s mein<br />
Vater von der ersten Sek<strong>und</strong>e an gewusst haben muss, wer du bist.“<br />
"Nein, er hat nie erfahren, <strong>das</strong>s ich sein Cousin bin. Ich wollte<br />
nicht, <strong>das</strong>s jemand von meiner Herkunft weiß, da meine Eltern beide aus<br />
ihren Familien verstoßen worden sind, was besonders in der damaligen<br />
Zauberergemeinschaft ein großes Stigma gewesen ist." Er lachte<br />
humorlos <strong>auf</strong>. "Vielleicht kann man sagen, <strong>das</strong>s ich ein Feigling war,<br />
aber ich wollte nicht wie einige andere "Schlammblut" geschimpft<br />
werden."<br />
"Aber irgendwer MUSS es gemerkt haben!"<br />
"Nein, denn ich habe alles mir Mögliche getan, um James so<br />
unähnlich zu sehen, wie es nur ging. Ich rannte den ganzen Tag ohne<br />
Brille herum – was mir eine Menge blaue Flecken eintrug, glaube mir! Oft<br />
genug musste ich im Unterricht meine Fre<strong>und</strong>e fragen, was an der Tafel<br />
stand, <strong>und</strong> Quidditch habe ich ab der sechsten Klasse deswegen auch<br />
nicht mehr gespielt. Außerdem trug ich meine Haare sehr kurz, <strong>und</strong> du<br />
darfst nicht vergessen, <strong>das</strong>s ich fünf Jahre älter war als James."<br />
Sie gelangten nun in den siebten Stock. <strong>Harry</strong> lief zielstrebig zu<br />
dem Wandteppich, der Barnabas den Bekloppten zeigte, wie er nach wie<br />
vor erfolglos versuchte, einigen sehr grimmig aussenden Trollen Ballett<br />
beizubringen.<br />
"Du willst also sagen, <strong>das</strong>s mein Vater nie wusste, <strong>das</strong>s ihr<br />
verwandt wart?"<br />
164
"Nein, vielleicht hätte ich es ihm später gesagt – als wir beide<br />
erwachsen waren, meine ich. Aber dazu hatte ich nie die Gelegenheit."<br />
Weil Voldemort ihn umgebracht hat, dachte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> ein sehr<br />
hässlicher Gedanke schlich sich in seinen Kopf: Womöglich wäre es<br />
anders gekommen, wenn James <strong>Potter</strong> noch jemanden um sich gewusst<br />
hätte, der ihm nahe stand, der ihm geholfen hätte...<br />
Aber nein, so etwas durfte er nicht denken. McGonagall hatte sich<br />
unter Umständen seiner Verantwortung entzogen, aber diesen Fehler<br />
hatten in der damaligen Zeit fast alle gemacht. Bis <strong>auf</strong> die wenigen, die<br />
sich getraut hatten, gegen Voldemort zu kämpfen.<br />
Ron, Hermine <strong>und</strong> Franbery schlossen nun zu ihnen <strong>auf</strong>, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong><br />
lief konzentriert drei Mal an der sich dem Wandteppich gegenüber<br />
befindlichen nackten Wand vorbei, wor<strong>auf</strong>hin dort eine Tür wie aus dem<br />
Nichts erschien. Ohne zu zögern öffnete er sie <strong>und</strong> wurde sogleich von<br />
tosendem Beifall empfangen. Verblüfft registrierte er knapp zwei dutzend<br />
Schüler, die ihm applaudierten. Anscheinend hatte sich an ihrem<br />
geheimen Übungsort nicht viel geändert, nach wie vor lagen eine Menge<br />
weicher Kissen zwischen Regalen voller Bücher über Verteidigung<br />
herum, <strong>auf</strong> denen sich noch allerhand andere nützliche Dinge stapelten,<br />
darunter einige Pfeifen <strong>und</strong> Tücher. Aber solche Beifallsbek<strong>und</strong>ungen<br />
war er von hier eindeutig nicht gewohnt. Errötend schaute er in die<br />
R<strong>und</strong>e <strong>und</strong> erblickte größtenteils bekannte Gesichter, alle, die von der<br />
alten DA noch an der Schule waren, hatten sich neben einigen<br />
Neulingen wie die Ravenclaw Mandy Brocklehurst, Hannah von den<br />
Hufflepuffs <strong>und</strong> Romilda Vane aus Gryffindor eingef<strong>und</strong>en.<br />
"Ist gut, was habt ihr denn heute?", fragte er leicht beschämt <strong>und</strong><br />
sah McGonagall zusammen mit Franbery durch die Tür treten, übers<br />
ganze Gesicht strahlend.<br />
"Was für ein außergewöhnlicher Raum! Gr<strong>und</strong>gütiger, wenn ich<br />
den während meiner Schulzeit gekannt hätte ..." Neugierig musterte er<br />
die Schüler, deren Klatschen langsam verebbte.<br />
"Was sollen wir haben, wir wollen unseren Anführer feiern!", rief<br />
Neville enthusiastisch <strong>und</strong> wurde <strong>auf</strong> der Stelle rot, als sich alle<br />
Augenpaare des Raumes <strong>auf</strong> ihn richteten.<br />
"Richtig", half ihm Luna <strong>und</strong> fügte in ihrer wie üblich verträumten<br />
Stimme hinzu: "Zusammen haben wir Umbridge aus der Schule gejagt,<br />
gegen Todesser gekämpft <strong>und</strong> alle gute Noten in unseren Verteidigungsabschlussarbeiten<br />
bekommen. Und ich habe mich <strong>das</strong> erste Mal in<br />
Hogwarts willkommen gefühlt."<br />
Luna hatte stets <strong>das</strong> Talent, völlig unbekümmert unangenehme<br />
Wahrheiten zum Besten zu geben, dennoch spürte <strong>Harry</strong> in diesen<br />
Sek<strong>und</strong>en ein überwältigendes Glücksgefühl über sich kommen. Das<br />
hier war sein Werk, <strong>und</strong> er war stolz <strong>auf</strong> jeden Einzelnen seiner Schüler.<br />
165
„Genug“, stotterte er etwas unbeholfen. „Nun lasst uns an die<br />
Arbeit gehen.“ Sich umdrehend stellte er vor: „Das sind unser neuer<br />
Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste, Jamie McGonagall,<br />
<strong>und</strong> sein Assistent Rick Franbery – nur für den Fall, <strong>das</strong>s jemand sie<br />
noch nicht kennen sollte. Sie werden uns in der heutigen St<strong>und</strong>e<br />
begleiten <strong>und</strong> einige Ratschläge geben, was wir über <strong>das</strong> Schuljahr üben<br />
könnten.“<br />
Plötzlich beschlich ihn ein erschreckender Gedanke.<br />
„Ihr wollt <strong>doc</strong>h alle mit der DA weitermachen?“, fragte er schnell.<br />
„Ich meine, jetzt wo Umbridge weg ist, ist unser ursprüngliches Ziel<br />
verloren gegangen.“ Bange blickte er umher.<br />
Vereinzeltes Tuscheln war zu hören, einige Schüler sahen ihn auch<br />
seltsam an. Was, wenn sie alle nur gekommen waren, um ihm zu sagen,<br />
<strong>das</strong>s die DA keinen Sinn mehr machte?<br />
„Unfug!“, ertönte es da aus der letzten Reihe. Die Creevey-Brüder<br />
versuchten, <strong>auf</strong> den Zehenspitzen stehend, zu ihm vorzuschauen.<br />
„Niemand will die DA verlassen!“<br />
Zustimmendes Nicken aus allen Ecken.<br />
"Wieso sollten wir? Umbridge ist nun egal, jetzt geht es eben<br />
gegen die Todesser!"<br />
"Lasst uns gegen Du-Weißt-Schon-Wen kämpfen!“<br />
"Bei uns in der Nachbarschaft sind zwei Zauberer entführt worden, die<br />
sich offen gegen ihn gestellt haben – <strong>das</strong> soll nicht mehr geschehen!"<br />
Solche <strong>und</strong> ähnliche Sätze flogen <strong>Harry</strong> um die Ohren, während er<br />
ein seliges Grinsen mit Ron <strong>und</strong> Hermine tauschte.<br />
"Prima, genau diese Antwort hatte ich erhofft!", rief er energisch,<br />
als habe er seine Mitschüler nur <strong>auf</strong> die Probe stellen wollen. In<br />
Wirklichkeit war er unglaublich froh <strong>und</strong> erleichtert, <strong>das</strong>s es noch Leute<br />
gab, die bei seiner Gruppe mitmachen wollten.<br />
"Gut, ich schlage vor, wir diskutieren am Anfang darüber, was wir<br />
dieses Schuljahr durchnehmen wollen, zumindest im Groben, <strong>und</strong><br />
anschließend kommen wir zu einer Wiederholung der letzten paar<br />
St<strong>und</strong>en, da sich erfahrungsgemäß die Ferien eher nachteilig <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />
Erinnerungsvermögen auswirken." Innerlich grinsend dachte er, <strong>das</strong>s er<br />
langsam anfing, wie Dumbledore zu klingen. Die nach diesem benannte<br />
Verteidigungsgruppe schien <strong>das</strong> je<strong>doc</strong>h nicht zu stören.<br />
<strong>Harry</strong> drehte sich nun zu McGonagall um, welcher in den letzten<br />
Minuten fasziniert durch den ganzen Raum gegangen <strong>und</strong> sämtliches<br />
Inventar begutachtet hatte. "Habt ihr die Bücher <strong>und</strong><br />
Unterrichtsmaterialien alle selbst zusammengetragen?", fragte er.<br />
"Nein", meinte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> fügte <strong>auf</strong> den verwirrten Blick seines<br />
Lehrers hinzu: "Die Magie des Raums der Wünsche – nun ja, erfüllt eben<br />
die Wünsche, die man hat." So genau wollte er die Wirkungsweise des<br />
Raumes nicht erläutern; dieser Ort sollte auch in Zukunft seine <strong>und</strong> die<br />
166
Zuflucht der DA bleiben. Weder McGonagall noch Franbery wussten, wie<br />
sie hier hineingelangten, <strong>und</strong> <strong>das</strong> wollte er nicht ändern. Nach allem, was<br />
er sagen konnte, war sich sein Lehrer dessen auch bewusst <strong>und</strong><br />
akzeptierte es.<br />
„Nun gut!“, trat McGonagall vor die Schüler. „Ich weiß, <strong>das</strong>s ihr es<br />
kaum erwarten könnt, bis ich wieder weg bin – keine Angst, <strong>das</strong> ist mir<br />
bewusst. Wäre ich in so einer Gruppe gewesen, hätte ich alles<br />
unternommen, um Lehrer möglichst weit entfernt zu halten – inklusive<br />
der ernsthaften Erwähnung, den Verbotenen Wald als Versammlungsort<br />
zu wählen.“ Mit leicht verklärtem Ausdruck schweifte er ab. „In der Tat<br />
haben wir in meinem sechsten Jahr ein ums andere Mal geheime Treffen<br />
im Wald abgehalten – aber eher, um Zauber zu praktizieren, die wir den<br />
Schulregeln nach gar nicht anwenden durften als uns gegen einen<br />
Lehrer <strong>auf</strong>zulehnen …“<br />
Die plötzlich sehr interessierten Schüler warteten <strong>auf</strong> weitere<br />
Erläuterungen, aber McGonagall lachte nur.<br />
„Nein, mehr erzähle ich euch nicht, sonst verpetzt mich zwanzig<br />
Jahre nach meiner Schulzeit noch jemand bei Dumbledore. Lasst uns<br />
lieber überlegen, was ihr in diesem Schuljahr lernen wollt. Hat jemand<br />
eine Idee?“<br />
Erwartungsvoll schaute er in die R<strong>und</strong>e, in der auch schon einige<br />
Hände erhoben worden waren.<br />
„Ja?“, nickte er Neville zu, welcher ein wenig vor Aufregung<br />
stammelnd vorschlug, man könne <strong>doc</strong>h einige Heilzauber lernen. Von<br />
denen hätte er von seiner Großmutter gehört.<br />
„Heilzauber?“, fragte McGonagall nachdenklich. „Die sind<br />
wahnsinnig schwer, aber natürlich auch in Verteidigung gegen die<br />
dunklen Künste äußerst nützlich. Ich denke, <strong>das</strong>s zwei oder drei Zauber<br />
davon durchaus eurem Können angemessen sind. Ich werde sie<br />
nachschlagen <strong>und</strong> euch nächste Unterrichtsst<strong>und</strong>e Genaueres<br />
berichten.“<br />
Als nächstes kam Luna dran.<br />
„Was ist mit Okklumentik?“, wollte sie wissen. „Bekanntermaßen<br />
schützt sie sehr gut gegen Hjuduhs.“ Ernst schaute sie ihren Lehrer an,<br />
der verdutzt blinzelte.<br />
„Was sind Hjuduhs?“, erk<strong>und</strong>igte er sich, ohne scheinbar deren<br />
Existenz gr<strong>und</strong>sätzlich anzuzweifeln. <strong>Harry</strong> versuchte ihn derweil, per<br />
Blickkontakt von der Unsinnigkeit Loonas Frage zu überzeugen.<br />
McGonagall richtete seine blauen Augen <strong>auf</strong> ihn, wor<strong>auf</strong>hin <strong>Harry</strong><br />
blitzartig zusammenzuckte, als ein bekanntes Gefühl von ihm Besitz<br />
ergriff: Etwas wollte in seinen Kopf eindringen. Bevor er auch nur hatte<br />
erahnen können, <strong>das</strong>s sein Lehrer gerade Legilimentik gegen ihn<br />
einsetzte, meinte McGonagall fröhlich zu Luna: „Na, ich glaube kaum,<br />
167
<strong>das</strong>s deine, äh, Hjuduhs, uns gefährlich werden können!“ Luna wirkte ein<br />
wenig enttäuscht, <strong>Harry</strong> aber trat energisch einen Schritt nach vorne.<br />
„Meiner Meinung nach sollten wir Okklumentik lernen“, entgegnete<br />
er <strong>und</strong> blickte McGonagall fest an, unfähig, seine Wut gänzlich zu<br />
verbergen. Was dachte sein Lehrer sich dabei, in seine Gedanken<br />
einzudringen?<br />
Der sah <strong>Harry</strong> erstaunt an <strong>und</strong> wurde leicht rot.<br />
„Gut, wenn es euer Wunsch ist, dann schlage ich vor, ihr erhaltet<br />
Okklumentik-Unterricht …“<br />
Wiederum trat <strong>Harry</strong> vor.<br />
„Aber nicht von mir, denn ich beherrsche sie nicht.“<br />
Gemurmel entstand unter den DA-Mitgliedern.<br />
„Mmm, vielleicht kann ich euch weiterhelfen. Zwar kann man mich<br />
kaum als Okklumentik-Experten bezeichnen, aber die Gr<strong>und</strong>lagen<br />
könnte ich euch beibringen“, half McGonagall, dem <strong>das</strong> Treffen von<br />
Minute zu Minute peinlicher zu werden schien.<br />
„In Ordnung, dann schlage ich vor, wir wiederholen jetzt unsere<br />
Übungen aus dem letzten Jahr, <strong>und</strong> Jamie erzählt uns am Montag, was<br />
er über Heilzauber herausgef<strong>und</strong>en hat“, platzte <strong>Harry</strong> heraus. Der<br />
ganze Raum war still.<br />
„Gut“, meinte McGonagall zerstreut, „wir sehen uns Montag!“ Er<br />
winkte Franbery zu sich, der Anstalten gemacht hatte, zu sprechen, ohne<br />
Zweifel, um die DA davon zu überzeugen, es sei sinnvoller, statt<br />
Heilzauber lieber einen mit einer dreifachen Drehung eingeleiteten<br />
Expelliamus zu lernen.<br />
Die Tür schlug hinter den beiden zu.<br />
„<strong>Harry</strong>?“, fragte Hermine vorsichtig.<br />
„Nichts“, entgegnete er patzig <strong>und</strong> wies mit seinem Zauberstab<br />
heftig <strong>auf</strong> die Kissen, die in den Regalen gestapelt waren.<br />
„Einigen von euch geling noch kein überzeugender Lähmzauber,<br />
also üben wir den zuerst. Zum Abschluss möchte ich von jedem einen<br />
Patronus sehen.“<br />
Für den Rest der St<strong>und</strong>e war er damit beschäftigt,<br />
Zauberstabbewegungen zu korrigieren <strong>und</strong> Neville davon zu<br />
überzeugen, <strong>das</strong>s es irgendwo in seinem Leben eine glückliche<br />
Erinnerung geben musste, die stark genug für einen Patronus war.<br />
Nachdem sich sämtliche DA-Mitglieder in alle Himmelsrichtungen<br />
zerstreut hatten, gingen <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine schweigend <strong>zur</strong>ück<br />
zum Gemeinschaftsraum.<br />
In der Nähe der Bibliothek wandte Hermine <strong>das</strong> Wort an ihn.<br />
„Was ist vorhin zwischen euch vorgefallen?“<br />
<strong>Harry</strong> grunzte nur.<br />
„Er hat deine Gedanken lesen wollen, oder? Ist <strong>das</strong> so schlimm?“<br />
168
„Glaubst du, es ist angenehm, wenn jemand in deinem Kopf<br />
herumsucht?“, fauchte <strong>Harry</strong> sie an. Natürlich war er sich bewusst, <strong>das</strong>s<br />
McGonagall nur versucht hatte, die Situation zu meistern, indem er<br />
<strong>Harry</strong>s Blickkontakt <strong>auf</strong> eine Art genutzt hatte, die er selbst nicht<br />
vorhergesehen hatte … Möglicherweise war er es gewohnt, Legilimentik<br />
<strong>auf</strong> eine so harmlose Art einzusetzen … Aber <strong>Harry</strong> hatte damit zu<br />
schlechte Erfahrungen gemacht, um sie derart locker zu nehmen. Würde<br />
er seinen Geist ordentlich verschließen können, wäre Sirius nicht tot.<br />
Solange jemand in seine Gedanken eindringen konnte, sei es, um eine<br />
schlichte Antwort <strong>auf</strong> eine seltsame Frage zu bekommen oder ihn in eine<br />
tödliche Falle zu locken, musste er etwas dagegen unternehmen.<br />
„Er wollte <strong>doc</strong>h nichts Böses“, beschwichtigte Hermine ihn.<br />
„Wieso verteidigst du ihn?“, empörte sich nun Ron, der Hermines<br />
vielleicht zu häufige Blicke in Richtung McGonagall in der vergangenen<br />
St<strong>und</strong>e genau beobachtet hatte. „Ist es <strong>auf</strong> einmal in Ordnung, <strong>das</strong>s<br />
jemand <strong>Harry</strong>s Gedanken manipuliert, nur weil es sich um einen Lehrer<br />
handelt?“<br />
„Er hat seine Gedanken nicht manipuliert!“, rief Hermine <strong>und</strong> fuhr<br />
die Fette Dame mit „Expelliamus!“ an. Indigniert schwang <strong>das</strong> Portrait<br />
<strong>zur</strong> Seite.<br />
„Seid still, ihr alle beide!“, schnappte <strong>Harry</strong>. „Ihr wisst <strong>doc</strong>h gar<br />
nicht, worum es geht. Von mir aus kann McGonagall in meinen<br />
Gedanken nach Loonas Einstellung gegenüber seltsamen Tieren<br />
suchen, aber Fakt ist, <strong>das</strong>s solange ich keine Okklumentik schaffe,<br />
niemand in meiner Umgebung sicher vor Voldemort ist! Er hat es<br />
bewerkstelligt, jemanden umzubringen, der mir nahe steht, nur indem er<br />
in meinen Geist eingedrungen ist!“<br />
Zwar war ihm klar, <strong>das</strong>s diese Behauptung zu einfach war. Aber<br />
dennoch stimmte es letztendlich: Wenn er seinen Geist gegen Angriffe<br />
von außen schließen könnte, wäre Sirius noch am Leben … Die Trauer<br />
ergriff ihn mit Schwindel erregender Heftigkeit.<br />
„<strong>Harry</strong> …“, rief Hermine mit brüchiger Stimme, aber er hörte sie<br />
kaum, während er die Treppe zu seinem Schlafsaal hoch lief. Er sollte<br />
den ganzen Abend nicht mehr herunterkommen, stattdessen verbrachte<br />
er grauenvolle St<strong>und</strong>en damit zu, Sirius vor sich zu sehen, immer wieder.<br />
Und er konnte nichts dagegen tun.<br />
Den nächsten Tag über erledigte er mit Ron seine Haus<strong>auf</strong>gaben<br />
für die kommende Woche. Hermine verschwand den Großteil der Zeit in<br />
der Bibliothek, ohne zu sagen, warum, sie musste ihre Arbeit eigentlich<br />
bereits fertig haben. Aber <strong>Harry</strong> war es recht. Wie sollte auch jemand,<br />
der den Tod als etwas Nützliches ansah, ihn verstehen können? Mit Ron<br />
konnte er wenigstens Witze reißen <strong>und</strong> Snape <strong>auf</strong>s Gemeinste<br />
verfluchen, was den beiden einen unterhaltsamen Nachmittag bescherte.<br />
169
KAPITEL ZEHN<br />
Im See<br />
Montags schlurfte <strong>Harry</strong> hinter den beiden in ihren Klassenraum für<br />
Verteidigung, geschafft von der Doppelst<strong>und</strong>e Verwandlung am<br />
Vormittag, in der Professor McGonagall sie mit Materialisierungszaubern<br />
hatte verzweifeln lassen. Mit trübsinnigen Gedanken an die Maus, von<br />
der trotz seiner Bemühungen noch nicht einmal eine Schwanzspitze<br />
<strong>auf</strong>getaucht war, setzte er sich <strong>auf</strong> seinen Stuhl. Kurz dar<strong>auf</strong> erschien<br />
McGonagall, der ungewohnt müde aussah. Schweigend sortierte er<br />
einige Notizen <strong>auf</strong> seinem Tisch.<br />
„Bevor wir heute mit dem immens schwierigen Thema der<br />
ungesagten Zauber beginnen, habe ich einige Informationen für eure<br />
DA. Ein praktischer Heilzauber, den ich gef<strong>und</strong>en habe, ist der Episkey,<br />
über den ihr in Magische Heilung für Anfänger nachlesen könnt.<br />
Sicherlich wisst ihr etwas damit anzufangen.“ Verunsichert schaute er in<br />
die Klasse.<br />
„Danke“, ließ <strong>Harry</strong> selbst ein bisschen verw<strong>und</strong>ert vernehmen.<br />
McGonagall nickte, <strong>und</strong> damit war <strong>das</strong> Thema abgeschlossen. Er<br />
äußerste sich später nicht mehr <strong>zur</strong> DA.<br />
Stattdessen sprang Rick Franbery <strong>auf</strong> <strong>und</strong> drängte sich vor<br />
McGonagall, der viel zu verblüfft war, um etwas zu erwidern.<br />
„Heilzauber, ach kommt! Wer braucht die denn schon?“, fragte er<br />
mit einem Unterton, als müsse <strong>das</strong>, was er nun sagte, jeder wissen.<br />
„Jemand, der denkt sein Bein wäre gebrochen, wenn es nur<br />
verstaut ist, sicher nicht“, flüsterte Ron halblaut zu <strong>Harry</strong>, der losprustete<br />
<strong>und</strong> skeptisch zu Franbery sah. Vage registrierte er, wie Hermine neben<br />
ihm ihren Zauberstab unter dem Tisch <strong>auf</strong> den Assistenten richtete.<br />
„Stattdessen solltet ihr eure Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> die elegantere<br />
Seite der Magie richten“ – er strahlte die Schüler mit seinem verzerrten<br />
Grinsen an <strong>und</strong> führte eine so komplizierte Schlängelbewegung mit dem<br />
170
Zauberstab vor, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> vermutete, er müsse sich vorher sämtliche<br />
Knochen aus dem Leib gehext haben. An der Spitze des Stabes<br />
erschienen dar<strong>auf</strong>hin Schneeflocken, die Franbery einigermaßen<br />
verwirrt, aber nicht unentzückt betrachtete, wie sie durch den ganzen<br />
Raum wirbelten. Er deutete <strong>auf</strong> sein Werk <strong>und</strong> wollte etwas sagen, riss<br />
aber vor Entsetzen die Augen <strong>auf</strong>, als ihm <strong>das</strong> nicht gelang. In der<br />
entstehenden allgemeinen Unruhe drehte sich <strong>Harry</strong> zu Hermine um, die<br />
zufrieden ihren Zauberstab wieder weglegte.<br />
„Danke“, meinte er leise.<br />
McGonagall löste sich endlich aus seiner der Ungläubigkeit<br />
geschuldeten Starre <strong>und</strong> schob Franbery vor sich her aus dem Raum, im<br />
schon einige Zentimeter hohen Schnee Fußabdrücke hinterlassend.<br />
„Halt endlich die Klappe Rick!“, rief er schn<strong>auf</strong>end. „Wobei mir<br />
diese Arbeit jemand abgenommen zu haben scheint. Komm erst einmal<br />
wieder <strong>zur</strong> Vernunft, dann kannst du weiter am Unterricht teilnehmen!“<br />
Rigoros knallte er die Tür in die Angeln, nachdem er seinen Assistenten<br />
<strong>auf</strong> den Flur verfrachtet hatte – nicht ohne ihn vorher ordentlich<br />
durchzuschütteln.<br />
In der Klasse sah es mittlerweile aus wie <strong>auf</strong> den Hogwarts-<br />
Länderein im Winter: Überall bildeten sich bereits kleine Schneeh<strong>auf</strong>en,<br />
Parvati <strong>und</strong> Padma hatten sich unter ihren Tisch gerettet, um der nicht<br />
enden wollenden Schneeflut zu entkommen, <strong>und</strong> Hermine sch<strong>auf</strong>elte die<br />
nassen Flocken hektisch von ihren Büchern, bevor sie sich dann ihren<br />
Zauberstab schnappte <strong>und</strong> rief: „Impervius!“, wor<strong>auf</strong>hin ihre Sachen den<br />
Schnee einfach abstießen.<br />
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron beratschlagten derweil heftig über eine Lösung des<br />
Problems <strong>und</strong> schrieen im Einklang „Lumos Solem!“, die Spitze ihrer<br />
Zauberstäbe <strong>auf</strong> den Schnee über sich richtend. Damit erreichten sie<br />
allerdings nur, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> plötzlich hell <strong>und</strong> heiß erstrahlende Sonnenlicht<br />
sämtlichen Schnee schmolz <strong>und</strong> ein heftiger Platzregen im Raum<br />
niederging. Die Schüler sprangen nun endgültig kreischend <strong>auf</strong> <strong>und</strong><br />
stürmten aus dem Raum, wobei Tische <strong>und</strong> Stühle umgeworfen wurden<br />
<strong>und</strong> <strong>Harry</strong> im Gewühl angerempelt wurde <strong>und</strong> zu Boden ging. Neville,<br />
der als einziger bei ihnen geblieben war, half ihm wieder hoch.<br />
„Ist ’nen bisschen wie bei Lockhart, weißt du noch?“, brüllte er<br />
gegen <strong>das</strong> prasselnde Plätschern an. <strong>Harry</strong> erinnerte sich düster, wie<br />
Neville damals am Kronleuchter gehangen hatte <strong>und</strong> schaute sich<br />
verdattert in dem voll Wasser l<strong>auf</strong>enden Raum um. Hermine, völlig<br />
durchnässt, fuchtelte mit ihrem Zauberstab herum, ohne aber einen<br />
passenden Spruch finden zu können.<br />
Auf einmal hörte <strong>Harry</strong> ein lautes, an ihm vorbeischießendes<br />
Zirren, <strong>und</strong> innerhalb weniger Zehntelsek<strong>und</strong>en waren einige<br />
Quadratmeter um sie herum gänzlich trocken, bevor neues Wasser<br />
darüber schwappte.<br />
171
"Seca locum!", schrie McGonagall noch einmal, <strong>und</strong> wieder<br />
verschwand <strong>das</strong> Wasser um sie herum kurzzeitig.<br />
"Wir müssen alle zusammen rufen!", schlug er vor, <strong>und</strong> wenige<br />
Sek<strong>und</strong>en später erbebte der Klassenraum von einem gewaltigen "Seca<br />
Locum!", wor<strong>auf</strong>hin sich alles Wasser in Luft <strong>auf</strong>löste, <strong>und</strong> auch der<br />
Regen größtenteils <strong>auf</strong>hörte. Nach einem weiteren Versuch war der<br />
gesamte Raum völlig trocken.<br />
"Danke", keuchte McGonagall <strong>und</strong> zog seinen nassen Umhang<br />
aus.<br />
Neville begutachtete immer noch fasziniert seinen Zauberstab, als<br />
könne er nicht fassen, <strong>das</strong>s er gerade den Verteidigungsraum vorm<br />
Abs<strong>auf</strong>en bewahrt hatte.<br />
Hermine derweil packte ihre nach wie vor trockenen Bücher ein,<br />
während sie selbst eine große Wasserlache <strong>auf</strong> dem Boden hinterließ,<br />
nicht weniger als <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron.<br />
"Wartet kurz", bat sie McGonagall <strong>und</strong> richtete lässig seinen<br />
Zauberstab <strong>auf</strong> Hermine. Nach einem kurzen Wedeln war jeder Tropfen<br />
Wasser von ihr verschw<strong>und</strong>en. Auch <strong>Harry</strong> spürte ein eigenartiges,<br />
warmes Ziehen in seinem Körper <strong>und</strong> schaute erstaunt <strong>auf</strong> seine<br />
getrocknete Kleidung.<br />
"Wie haben Sie – ich meine, wie hast du <strong>das</strong> geschafft?", fragte er<br />
seinen Lehrer.<br />
"Ach, nur ein nützlicher kleiner Zauber", lächelte McGonagall <strong>und</strong><br />
erhob sich nun von der Tischkante, <strong>auf</strong> der er gesessen hatte. "Schade,<br />
<strong>das</strong>s Rick ausgerechnet heute einen neuerlichen Anfall von Wichtigtuerei<br />
hatte, gerade, wo wir ungesagte Zauber durchnehmen wollten ..." Er<br />
runzelte die Stirn. "Ich muss ihn wohl noch ein wenig erziehen."<br />
"Wieso dulden Sie ihn überhaupt?", fragte Hermine. Neugierig hob<br />
<strong>Harry</strong> den Kopf, schließlich kam es nicht alle Tage vor, <strong>das</strong>s<br />
ausgerechnet Hermine gegen einen Lehrerassistenten aussprach.<br />
"Das ist eine lange Geschichte, meine Familie schuldet seiner<br />
einen Gefallen, wisst ihr ... nach meiner Schulzeit habe ich<br />
Schwierigkeiten gehabt, in Amerika einen Job zu bekommen, <strong>und</strong> Ricks<br />
Eltern haben mich an ihrer Schule <strong>auf</strong>genommen, wo sein Vater<br />
Schuldirektor ist. So lernte ich meinen Beruf <strong>und</strong> nun, wo ihr Sohn<br />
langsam mal so weit sein sollte, den Ernst des Lebens zu begreifen,<br />
haben sie ihn mir untergeschoben. Ihr habt sicher bemerkt, <strong>das</strong>s er ein<br />
hoffnungsloser Fall ist." Er lachte freudlos <strong>auf</strong>. "Hat den Kopf nur voll<br />
unnützer Gedanken über seine kreative Zauberei oder wie er <strong>das</strong> nennt.<br />
Mir ist es mittlerweile egal geworden, was er macht, aber meinen<br />
Klassenraum in ein sechstes Weltmeer zu verwandeln geht nun wirklich<br />
zu weit."<br />
172
Neville <strong>und</strong> Ron grinsten sich an <strong>und</strong> machten sich <strong>auf</strong>, <strong>zur</strong> Tür zu<br />
gehen. <strong>Harry</strong>, der sich ihnen automatisch anschloss, wurde von<br />
McGonagall <strong>zur</strong>ückgehalten.<br />
"Wäre es zuviel verlangt, wenn du <strong>auf</strong> ein paar Minuten mit in mein<br />
Zimmer kommst?"<br />
<strong>Harry</strong> schaute zögernd zu Ron <strong>und</strong> Hermine, die sich einen kurzen<br />
Blick zuwarfen <strong>und</strong> ohne ein weiteres Wort verschwanden. Na klar, bei<br />
so was waren sie sich einig, aber seine Abende versauen, indem sie an<br />
dem jeweils anderen herumnörgelten, bereitete ihnen keine<br />
Hemmungen.<br />
<strong>Harry</strong> wollte gerade hinter McGonagall in einen kleinen, vom<br />
Klassenzimmer abgetrennten Vorbereitungsraum treten, als die Tür<br />
abermals <strong>auf</strong>schwang <strong>und</strong> einer großen Fledermaus gleich Snape mit<br />
unheilvollem Grinsen eintrat.<br />
"McGonagall, ich habe schon <strong>das</strong> Schlimmste gefürchtet, als Ihre<br />
Schüler, äh, flüchtend aus Ihrem Klassenzimmer gestürmt waren",<br />
höhnte er <strong>und</strong> sah sich <strong>auf</strong>merksam im Raum um, in dem Unterricht zu<br />
geben einer seiner größten Begehren war.<br />
"Wie Sie sehen, ist nichts vorgefallen, wir haben nur etwas eher<br />
Schluss gemacht", behauptete der Verteidigungslehrer <strong>und</strong> machte eine<br />
überzeugende Miene. Tatsächlich ließ der Raum kein Zeichen mehr von<br />
Verwüstung erkennen. Snape hob eine Augenbraue <strong>und</strong> schaute viel<br />
sagend zu McGonagall, von dem jeder Quadratzentimeter vollkommen<br />
durchnässt war.<br />
"Na, wenn Sie meinen, <strong>das</strong>s Ihre Schüler so ihren UTZ schaffen,<br />
dann wird dies der erste Hogwarts-Jahrgang, in dem keiner Verteidigung<br />
besteht. Aber <strong>das</strong> wäre auch eine Art Rekord, <strong>und</strong> so lange sie<br />
hervorstechen, sind Sie zufrieden, nehme ich an."<br />
McGonagall zitterte, auch wenn <strong>Harry</strong> nicht sagen konnte, ob vor<br />
Wut oder Kälte. Entschlossen trat er selbst in <strong>das</strong> Vorbereitungszimmer,<br />
wor<strong>auf</strong>hin sein Lehrer ihm schweigend folgte <strong>und</strong> die Tür ins Schloss<br />
schmiss.<br />
"Er ist ein Ekel!", fauchte er, jedwede Zurückhaltung, die er in<br />
seiner ersten Woche noch gezeigt haben mochte, fallen lassend.<br />
<strong>Harry</strong> grinste breit. "Geht mir genauso. Er hasst mich, seit wir uns<br />
<strong>das</strong> erste Mal gesehen haben ... ich nehme an, weil ich ihn an meinen<br />
Vater erinnere, den er noch viel mehr verabscheut hat. Vermutlich mag<br />
er dich deshalb nicht leiden."<br />
"Nun, darum, <strong>und</strong> weil in meiner Schulzeit keine Woche vergangen<br />
ist, in der ich ihm keine Streiche gespielt hätte. Nicht, <strong>das</strong>s ich mich für<br />
einige nicht schämen würde ... Froschlaich in seiner Suppe mag noch in<br />
Ordnung gewesen sein, aber ein Irrwicht unter seinem Bett ..." Bei der<br />
Erinnerung musste McGonagall <strong>doc</strong>h wieder lachen. "Ich wüsste nur zu<br />
173
gerne, in was es sich verwandelt hat. Vermutlich in die Rumtreiber, die<br />
ihm <strong>auf</strong> den Fersen sind."<br />
„Wie hast du –“, wollte <strong>Harry</strong> fragen, aber dann überlegte er sich,<br />
<strong>das</strong>s er lieber nicht wissen wollte, wie McGonagall in den<br />
Gemeinschaftsraum der Slytherins gekommen war.<br />
„<strong>Harry</strong>, ich fürchte, <strong>das</strong>s ich im Raum der Wünsche einen Fehler<br />
begangen habe“, blickte ihn sein Großcousin reuig an. „Ich wusste nicht,<br />
<strong>das</strong>s du so – äh, verschnupft <strong>auf</strong> Legilimentik reagieren würdest.“<br />
„Na ja, ist nicht besonders toll, wenn jemand in deinem Kopf<br />
herumsucht“, entgegnete <strong>Harry</strong> heftiger, als er eigentlich wollte.<br />
McGonagall senke den Kopf.<br />
„Klar, nur habe ich daran nicht gedacht. Früher haben wir uns<br />
einen Spaß daraus gemacht, Dinge, die wir aus Schicklichkeit gerade<br />
nicht sagen konnten, mittels Legilimentik auszutauschen. Und erst in den<br />
Prüfungen! Ich glaube, ich wäre damals in Geschichte der Zauberei<br />
ständig durchgefallen, wenn nicht eine meiner Klassenkameradinnen so<br />
gerne Blickkontakt mit mir während der Prüfungen gehalten hätte – auch<br />
wenn ich bis heute nicht weiß, wieso …“<br />
Da unterschied er sich wohl von seinem Vater, denn James wäre<br />
die Aufmerksamkeit einer Mitschülerin sicher nicht entgangen, dachte<br />
<strong>Harry</strong>.<br />
„Du hast ohne ihr Wissen ihre Gedanken gelesen?“, fragte er<br />
ungläubig. War die ganze Welt so unverschämt, oder hatte McGonagall<br />
<strong>das</strong> von den Rumtreibern gelernt?<br />
„Ich konnte schon früh recht gut Legilimentik, deshalb hat sie<br />
überhaupt nichts bemerkt, da ich sehr vorsichtig vorgegangen bin. Und<br />
es hat meinen Geschichts-ZAG gerettet, <strong>das</strong> war wichtig, weil ich ihn für<br />
den Lehrerberuf brauchte“, meinte McGonagall, nun, da er wieder von<br />
seinen Schulzeiten erzählen konnte, beschwingt <strong>und</strong> offensichtlich ohne<br />
schlechtes Gewissen.<br />
<strong>Harry</strong> wollte ihn schon anfahren wegen seiner offensichtlichen<br />
Dreistigkeit, die er auch heute noch zu haben schien, erinnerte sich dann<br />
je<strong>doc</strong>h an seine eigenen dürftigen Leistungen in Geschichte. Aber<br />
immerhin musste er nicht ungefragt in Hermines Gedanken eindringen,<br />
mal ganz abgesehen davon, <strong>das</strong>s sie ihm in dem Fall den Hals<br />
umdrehen würde.<br />
„Nun, was ich sagen wollte, ist, <strong>das</strong>s es mir Leid tut. Als Schüler<br />
haben wir Legilimentik eben als Kommunikationsmittel genutzt, <strong>und</strong> ich<br />
stand in diesem erstaunlichen Raum, war wieder in Hogwarts – es kam<br />
mir vor, als wäre alles wie damals. Entschuldige, es wird nicht wieder<br />
passieren, abgesehen davon lernt ihr ja jetzt Okklumentik.“<br />
Er klingt wie Sirius, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> schwieg. Ob er in mir auch<br />
einen wieder <strong>auf</strong>erstandenen Rumtreiber sieht? Er hörte Sirius’, wie er<br />
ihn mit dem Namen seinen Vaters rief, wie es im letzten Jahr einige Male<br />
174
geschehen war. Wieso sahen alle Leute jemandem in ihm, der er nicht<br />
war?<br />
„<strong>Harry</strong>?“, meinte McGonagall vorsichtig. „Wenn ich dich beleidigt<br />
haben sollte, so war <strong>das</strong> nicht meine Absicht –“<br />
„Nein, ist schon gut“, wiegelte <strong>Harry</strong> ab. „Du hattest ja keine bösen<br />
Absichten.“<br />
Irgendetwas an diesem Satz schien seinen Lehrer stutzig zu<br />
machen.<br />
„Hatte <strong>das</strong> schon einmal jemand?“, hakte er nach <strong>und</strong> entfachte mit<br />
einem Schwung seines Zauberstabes ein Feuer im Kamin, da er,<br />
durchnässt wie er war, merklich zu zittern angefangen hatte.<br />
<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf weniger als Verneinung <strong>auf</strong> diese Frage<br />
als vielmehr aus Unwillen, darüber reden zu wollen.<br />
„Natürlich gibt es Menschen, die Legilimentik einsetzen, um<br />
anderen zu schaden.“ Es war nicht so sehr eine Feststellung als eine<br />
Aufforderung an ihn, weiter<strong>zur</strong>eden.<br />
<strong>Harry</strong> schwieg immer noch, allerdings ging ihm McGonagalls<br />
forschender Blick <strong>auf</strong> die Nerven. Langsam meinte er: „Jemand hat<br />
einmal meine Gedanken manipuliert, mir falsche Bilder vorgegaukelt,<br />
wor<strong>auf</strong>hin ich Dinge getan habe, in deren Zuge eine mir nahe stehende<br />
Person gestorben ist.“<br />
„Du meinst Sirius Black?“<br />
Überrascht sah <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>. „Woher weißt du davon?“<br />
„Nun, er war dein Pate <strong>und</strong> ist letzten Juni getötet worden, in einem<br />
Kampf gegen Todesser, in den du augenscheinlich ebenfalls verwickelt<br />
warst. Was soll ich denn sonst schlussfolgern?“<br />
<strong>Harry</strong> nickte nur.<br />
„Das tut mir Leid“, meinte McGonagall traurig. „Ich kannte ihn aus<br />
meiner Schulzeit, <strong>und</strong> er war immer nett zu mir gewesen. Etwas<br />
eingebildet vielleicht, aber stets für jeden Spaß zu haben. Ich wusste<br />
nicht, <strong>das</strong>s ihr euch so nahe standet.“<br />
„Doch.“ <strong>Harry</strong> hatte überhaupt keine Lust, über Sirius zu sprechen,<br />
vor allem nicht mit einem vor fünf Tagen neu entdeckten Verwandten,<br />
welcher ihm selbst vorkam wie die Auferstehung eines Herumtreibers.<br />
McGonagall verstand den Wink <strong>und</strong> nickte. „In Ordnung, wenn du<br />
nicht darüber reden willst, vergessen wir <strong>das</strong> Thema.“<br />
Oh ja, dann musst du nicht so tun, als würdest du mich verstehen,<br />
dachte <strong>Harry</strong> wütend. Unwillkürlich kam ihm in den Sinn, <strong>das</strong>s er vor<br />
einigen Monaten genauso gegenüber Dumbledore empf<strong>und</strong>en hatte.<br />
Benahm er sich gegenüber McGonagall ungerecht? Trübe stellte er fest,<br />
<strong>das</strong>s ihn diese Frage überhaupt nicht interessierte. Er mochte sein<br />
Verwandter sein, aber er bedeutete ihm nichts, jedenfalls noch nicht.<br />
Was wusste er schon über Sirius oder seinen Vater? Ja, was?<br />
175
„Hast du die Rumtreiber gut gekannt?“, wollte er wissen. „Und<br />
meinen Vater?“<br />
Sein Lehrer verfiel in einen bisher nicht gezeigten Ernst.<br />
„Sicher, wie gesagt, obwohl wir einige Jahre auseinander waren,<br />
verbrachte ich ab <strong>und</strong> zu einige Zeit mit ihnen. Ihre große Ära kam wohl<br />
erst nach meiner Schulzeit, aber bereits währenddessen waren sie die<br />
größten Störenfriede der ganzen Schule – <strong>und</strong> ich, muss ich gestehen,<br />
habe mich ihnen manchmal angeschlossen <strong>auf</strong> der Suche nach neuen<br />
Möglichkeiten, Lehrer <strong>und</strong> Mitschüler zu ärgern <strong>und</strong> Regeln zu brechen.<br />
Aber <strong>das</strong> ist lange her, <strong>und</strong> da wir abgesehen von einigen Abenteuern<br />
nicht viel gemeinsam hatten, kannte ich die vier auch nicht so gut. Aber<br />
<strong>das</strong>s dein Vater genauso aussieht wie du, wirst du ja wissen. Na, ich<br />
sehe ihm selbst so ähnlich wie sein Zwillingsbruder, also stecken wir alle<br />
irgendwie in derselben Lage.“<br />
„Aber wieso haben Sirius <strong>und</strong> Lupin nie etwas von dir gesagt?“<br />
„Warum hätten sie sollen? Sie wussten nichts von unserer<br />
Verwandtschaft, außerdem haben wir nur ein, zwei Jahre hin <strong>und</strong> wieder<br />
etwas zusammen unternommen. Und jeder glaubte zudem, ich wäre tot,<br />
vergiss <strong>das</strong> nicht.“<br />
„Glaubst du an die Rückkehr der Toten?“, fragte <strong>Harry</strong> derart<br />
unwillkürlich, <strong>das</strong>s er sich nach diesem Satz am liebsten die Zunge<br />
abgebissen hätte.<br />
„Was?“, starrte ihn McGonagall entgeistert an.<br />
„Ach, nichts“, log <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> erweckte so erst recht <strong>das</strong> Misstrauen<br />
seines Lehrers.<br />
„<strong>Harry</strong>, vergiss nicht, <strong>das</strong>s ich mit sämtlichem Verhalten, <strong>das</strong><br />
gewisse mysteriöse, lieber ungesagte Dinge verdecken soll, vertraut bin.<br />
Wäre ich <strong>das</strong> nicht, hätte ich meinen Abschluss hier nie machen<br />
können.“<br />
<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf <strong>und</strong> spürte den drängenden Blick seines<br />
Groscousins <strong>auf</strong> sich.<br />
Enttäuschung lag in McGonagalls Stimme, als er meinte: „Na gut,<br />
du musst mir nichts sagen. Ich respektiere Geheimnisse, auch wenn ich<br />
gerne wüsste, was dir zu schaffen macht. Denn es ist nicht zu<br />
übersehen, <strong>das</strong>s dir etwas im Kopf herumspukt.“<br />
„Es ist alles in Ordnung, ich muss nur über einige Geschehnisse<br />
des letzten Junis hinwegkommen“, antwortete <strong>Harry</strong> fest.<br />
McGonagall ahnte sichtlich, <strong>das</strong>s nichts in Ordnung war, schien<br />
aber auch zu wissen, <strong>das</strong>s es noch zu früh war, <strong>Harry</strong> deswegen<br />
auszufragen.<br />
Er erhob sich <strong>und</strong> stellte sich nun dicht vor <strong>das</strong> Kaminfeuer, damit<br />
seine Sachen trocknen konnten.<br />
176
„Ich muss noch ein paar Notizen für meine nächste St<strong>und</strong>e<br />
vorbereiten“, meinte er in einem mehr oder minder direkten Versuch,<br />
<strong>Harry</strong> zu bitten zu gehen.<br />
Dieser stand <strong>auf</strong>, nahm seine Tasche <strong>und</strong> drehte sich noch einmal<br />
um.<br />
„Tut mir Leid, <strong>das</strong>s ich dir nicht alles sagen kann – irgendwann<br />
vielleicht einmal, wenn ich mir sicherer bin.“ Wenn ich zum Beispiel weiß,<br />
was es mit dem Rosier-Buch <strong>auf</strong> sich hat, dachte <strong>Harry</strong>.<br />
McGonagall nickte nur. Dann fing er wieder an, fröhlich <strong>und</strong><br />
unbeschwert zu lächeln. „Ihr könnt euch schon einmal <strong>auf</strong> eure nächste<br />
St<strong>und</strong>e freuen – wir verschieben ungesagte Zauber, stattdessen habe<br />
ich etwas Besonderes vor“, grinste er unternehmungslustig.<br />
„Ach, <strong>und</strong> nimm am besten die Tür hinter dem Bücherschrank, sie<br />
führt dich weiter <strong>zur</strong> Haupttreppe, nur für den Fall, <strong>das</strong>s unser Fre<strong>und</strong><br />
Snape draußen heumtigert <strong>und</strong> dar<strong>auf</strong> wartet, dich zu fragen wieso ich<br />
aussehe, als wäre ich in den großen See gefallen.“<br />
Erstaunt schaute <strong>Harry</strong> <strong>zur</strong>ück, aber sein Lehrer hatte bereits<br />
begonnen, in seinen Unterlagen zu wühlen <strong>und</strong> beachtete ihn nicht<br />
mehr. Leise schloss er die Tür.<br />
Nachdem er fasziniert festgestellt hatte, <strong>das</strong>s sich hinter dem alten<br />
Regal im hinteren Teil des Klassenraumes tatsächlich ein Geheimgang<br />
befand, der ihm den Korridor vor dem Klassenzimmer ersparte <strong>und</strong> ihn<br />
<strong>auf</strong> direktem Weg <strong>zur</strong> Treppe in die oberen Stockwerke führte, begab er<br />
sich zu Ron <strong>und</strong> Hermine in den Gemeinschaftsraum, wo er ihnen von<br />
seinem Gespräch mit McGonagall erzählte – auch wenn es wenig<br />
interessant gewesen war. Ron starrte nur verträumt in die Gegend <strong>und</strong><br />
malte sich aus, wie es wäre, in Prüfungen ebenfalls in Hermines<br />
Gedanken eindringen zu können, <strong>und</strong> Hermine grübelte fieberhaft nach,<br />
was sich McGonagall für die nächste St<strong>und</strong>e einfallen ließ – ihre fixe<br />
Idee, er würde eine Art Zauberwettbewerb zwischen den Schülern<br />
starten, stieß aber <strong>auf</strong> wenig Gegenliebe.<br />
Die nächsten Tage häufte sich die Arbeit für die Sechstklässler<br />
enorm. Gerade hatte <strong>Harry</strong> den Aufsatz über Vielsafttrank für Snape<br />
fertig geschrieben, da mussten sie einen weiteren Bericht über dessen<br />
genaue Zubereitung <strong>und</strong> mögliche Nebenwirkungen schreiben, <strong>auf</strong><br />
Gr<strong>und</strong>lage dessen sie ihn in der folgenden Woche brauen sollten. Snape<br />
hatte angekündigt, jedem von ihnen den eigenen Trank kosten zu<br />
lassen, weshalb sich die Schüler mit großem Ernst an die Arbeit<br />
machten – Ernie sah man mehrere Nachmittage lang in der Bibliothek<br />
hocken, wo er hinter großen Zaubertrank-Wälzern verborgen kaum zu<br />
sehen war. <strong>Harry</strong> bekam es leicht mit der Angst zu tun, allerdings schien<br />
Hermine ihren Anflug von Großmut fortsetzen zu wollen <strong>und</strong> half ihm<br />
weiterhin bei seinen Haus<strong>auf</strong>gaben.<br />
177
Aber auch in Verwandlung, Zauberkunst <strong>und</strong> Kräuterk<strong>und</strong>e<br />
mussten sie eine Unmenge an Aufgaben erledigen – Aufsätze, für erste<br />
Arbeiten lernen, Zeichnungen anfertigen <strong>und</strong> sogar Referate üben.<br />
Selbst Hagrid verschonte sie nicht, denn er verlangte eine drei Fuß lange<br />
Abfassung über die Lebensweise von Graphörnern – wobei ihm egal zu<br />
sein schien, <strong>das</strong>s bisher kaum etwas darüber bekannt war. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
Ron dachten sich unumw<strong>und</strong>en die nötigen Informationen aus,<br />
wohingegen Hermine versuchte, aus den spärlichen Hinweisen der<br />
Bibliotheksbücher einen Aufsatz zusammenzustoppeln.<br />
Zu seiner unsäglichen Erleichterung hatte sich die Tatsache, <strong>das</strong>s<br />
er mit McGonagall verwandt war, nicht herumgesprochen. Von Zeit zu<br />
Zeit sprachen ihn zwar noch einige neugierige Schüler <strong>auf</strong> die<br />
Ähnlichkeit mit seinem Lehrer an, was er aber stets als Zufall<br />
<strong>zur</strong>ückwies. Er hatte keine Lust, erneutes Aufsehen zu erregen, indem er<br />
einen neu entdeckten Verwandten präsentierte – außerdem dachte er,<br />
<strong>das</strong>s es besser wäre, wenn sich in der Zaubererwelt <strong>und</strong> besonders<br />
unter den Todessern nicht herumspräche, <strong>das</strong>s es eine weitere Person<br />
gab, die ihm etwas bedeutete.<br />
Schnell wurde es Donnerstagmorgen, an dem sich die drei wieder<br />
<strong>auf</strong> den Weg in den Klassenraum für Verteidigung begaben <strong>und</strong><br />
McGonagall zu ihrer Überraschung schon vor den Tischreihen stehen<br />
sahen – normalerweise kam er immer ein wenig zu spät –, vor sich eine<br />
große Kiste voll grünem, schleimigen Zeug, <strong>das</strong> bei <strong>Harry</strong> wohl einen<br />
Würgreiz ausgelöst hätte, wenn er nicht gewusst hätte, <strong>das</strong>s es sich<br />
dabei um Dianthuskraut handelte. Wozu sie <strong>das</strong> allerdings brauchen<br />
sollten, war ihm schleierhaft.<br />
„Setzt euch bitte kurz hin!“, rief ihr Lehrer, als alle Schüler in den<br />
Rau getreten waren.<br />
Freudestrahlend <strong>und</strong> ungeduldig schaute er sie an.<br />
„Heute habe ich etwas Neues vor – einen Ausflug <strong>auf</strong> die<br />
Länderein. Dabei werdet ihr Tierwesen begegnen, die ihr bisher nur<br />
theoretisch im Unterricht behandelt habt.“<br />
„Tierwesen <strong>auf</strong> den Länderein? Was sollen <strong>das</strong> für welche sein –<br />
Eulen?“, maulte Ron leise, der wie üblich seine Zeit in Verteidigung<br />
damit zubrachte, Hermine argwöhnisch zu betrachten, die wie genauso<br />
üblich den Blick nicht von McGonagall lassen konnte.<br />
„Sei still, Ronald“, entgegnete sie mechanisch.<br />
„Und zwar werden wir einen Ausflug in den See machen!“, rief ihr<br />
Lehrer voller Vorfreude <strong>auf</strong> die Aussicht, in einem ungeheuer tiefen,<br />
dunklen <strong>und</strong> gefährlichen See voller Wassermenschen <strong>und</strong> einem<br />
Riesenkraken einen Tauchausflug zu unternehmen.<br />
178
Die gesamte Klasse war sofort mucksmäuschenstill. Neville starrte<br />
erschrocken nach vorne, als hoffe er, McGonagall würde sogleich in<br />
Lachen ausbrechen <strong>und</strong> alles für einen Scherz erklären. Aber der dachte<br />
gar nicht daran.<br />
„Natürlich müsst ihr unter Wasser atmen können – deswegen habe<br />
ich <strong>das</strong> hier mitgebracht.“ Er hielt eine Handvoll Dianthuskraut hoch, <strong>das</strong><br />
in schleimigen, übelgrünen Fäden von seinen Fingern hing. <strong>Harry</strong> hörte<br />
neben sich etwas, was verdächtig nach Seamus klang, der gerade<br />
würgte.<br />
„Weiß jemand, was <strong>das</strong> ist?“ <strong>Harry</strong> wusste es natürlich <strong>und</strong> erklärte<br />
die Wirkung der magischen Pflanze, die einem Kiemen <strong>und</strong><br />
Schwimmhäute wachsen ließ.<br />
„Sehr gut!“, ließ McGonagall <strong>das</strong> matschige Zeug wieder in die<br />
Kiste fallen. „Dann schlage ich vor, wir gehen runter an den See, wo ich<br />
euch eure Aufgaben erkläre.“<br />
Aufgeregt vor sich hertuschelnd liefen die Schüler zum<br />
Eingangsportal des Schlosses <strong>und</strong> über in goldenes Sonnenlicht<br />
getauchte Wiesen, hinter denen die im Morgendunst unschuldig<br />
wirkenden Baumwipfel des Verbotenen Waldes rauschten. Die riesige<br />
Fläche des Sees spiegelte sich blau unter dem wolkenlosen Himmel.<br />
Obwohl es noch am Vormittag war, hatte sich die Luft bereits erhitzt <strong>und</strong><br />
flirrte leicht über den trägen, vollkommen ruhigen Wassermassen.<br />
<strong>Harry</strong> ging langsam <strong>und</strong> enorm unwillig <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Ufer zu, die<br />
einprägsamen Bilder seiner letzten Begegnung mit den Untiefen des<br />
Sees lasteten noch zu sehr <strong>auf</strong> ihm.<br />
„Müssen wir darunter?“, fragte er <strong>und</strong> schaute misstrauisch zu<br />
McGonagall, der die Kiste mit Dianthuskraut neben sich herschweben<br />
ließ <strong>und</strong> hibbelig vor Aufregung über Maulwurfshügel sprang.<br />
„Glaubst du, ich bin scharf dar<strong>auf</strong>, noch einmal gegen die<br />
Wassermenschen zu kämpfen?“, empörte sich Ron.<br />
„Du warst <strong>das</strong> letzte Mal <strong>doc</strong>h bewusstlos, bis du wieder an Land<br />
warst!“, fauchte Hermine <strong>zur</strong>ück. <strong>Harry</strong> lief einige Schritte vor, um ihrem<br />
Gekabbel zu entkommen. Plötzlich blieb er ruckartig stehen.<br />
„Die schon wieder!“<br />
Auch die anderen Gryffindors blickten mehr oder minder entsetzt<br />
<strong>auf</strong> die Slytherins, die sich bereits am Seeufer scharrten, zwischen ihnen<br />
standen einige verlorene Hufflepuffs <strong>und</strong> Ravenclaws.<br />
„Wie ihr seht, werden wir heute Klassen übergreifenden Unterricht<br />
haben", erklärte McGonagall <strong>und</strong> nickte den beiden anderen Klassen zu.<br />
„Ach ja, <strong>und</strong> Rick ist heute nicht dabei – er, äh, muss Schreibarbeit<br />
erledigen.“<br />
Wohl eher Strafarbeit, dachte <strong>Harry</strong> mit Genugtuung.<br />
Malfoy drehte sich nun mit einem eindeutig angewiderten Ausdruck<br />
um <strong>und</strong> schaute höhnisch zu <strong>Harry</strong>.<br />
179
"Na <strong>Potter</strong>, schon Angst vor dem Riesenkraken?", fragte er fies<br />
grinsend.<br />
"Im Gegensatz zu dir mache ich mir nicht in die Hose", knurrte<br />
<strong>Harry</strong>. "Denn ich bin schon einmal in dem See gewesen. Weißt du, <strong>das</strong>s<br />
die Wassermenschen Speere tragen, mit denen sie <strong>auf</strong> Eindringlinge<br />
losgehen?"<br />
Das hatte Malfoy sichtbar nicht gewusst, denn er wandte sich<br />
schnell ab, damit niemand sein erschrockenes Gesicht sehen konnte.<br />
"Ganz ruhig, keiner wird von Wassermenschen gejagt", versuchte<br />
McGonagall zu beschwichtigen <strong>und</strong> reichte Malfoy eine Hand voll<br />
Dianthuskraut. Dieser sah ihn hochmütig an. "Doch, hoffentlich Sie,<br />
Muggelliebhaber", fauchte er <strong>und</strong> lachte zusammen mit seinen<br />
Hauskameraden kalt <strong>auf</strong>.<br />
McGonagall schüttelte den Kopf <strong>und</strong> ging zu den Gryffindors.<br />
"Jeder ein Büschel, schön kauen <strong>und</strong> runterschlucken", wies er an.<br />
"Sonst wirkt es nicht. Aber wartet noch eine Minute."<br />
Er, selbst eine Portion des Krauts essbereit in der Hand haltend,<br />
stellte sich nun in ihre Mitte.<br />
"In diesem See werdet ihr einigen der Wasserwesen begegnen, die<br />
in euren Büchern stehen. Und damit meine ich nicht nur den<br />
Riesenkraken oder Wassermenschen. Mit Dumbledores Einverständnis<br />
habe ich in den letzten Wochen einige Wasserbewohner einführen<br />
lassen, die es <strong>auf</strong> dem Hogwarts-Gelände noch nicht gab."<br />
"Er kling wie Hagrid", meinte Ron ehrfürchtig <strong>und</strong> schaute Böses<br />
ahnend in die himmelblauen Fluten.<br />
"Ach was, er würde uns nie in Gefahr bringen – er möchte <strong>doc</strong>h<br />
nur, <strong>das</strong>s wir den Umgang mit dunklen Kreaturen lernen", verteidigte<br />
Hermine ihren Lehrer.<br />
"Ja, du kannst dir wieder mal nicht vorstellen, <strong>das</strong>s ein Hogwarts-<br />
Lehrer etwas Schlimmes im Schilde führt!", entgegnete Ron, der mit<br />
jeder verstreichenden Minute nervöser zu werden schien.<br />
"McGonagall ist nicht böse!", schrie Hermine leise.<br />
"Nein, <strong>und</strong> <strong>das</strong> ist Hagrid auch nicht, dennoch hat er uns unlängst<br />
fast von einem Graphorn ertrampeln lassen ..."<br />
<strong>Harry</strong> wandte sich ab <strong>und</strong> hörte lieber seinem Großcousin zu.<br />
"Ich möchte, <strong>das</strong>s ihr eine St<strong>und</strong>e im See taucht <strong>und</strong> bis nächste<br />
Woche einen Bericht über eure Erfahrungen schreibt. Was euch dort<br />
unten erwartet, sind neben dem Kraken <strong>und</strong> den Wassermenschen<br />
Grindelohs, Hippocampi, Seeschlangen <strong>und</strong> auch ein Kelpie."<br />
<strong>Harry</strong> hörte Hermine <strong>auf</strong>keuchen. Ihm schwante Übles.<br />
"Was ist ein Kelpie?", fragte er sofort.<br />
"Gute Frage, <strong>Harry</strong>", lächelte McGonagall. "Wer kann sie<br />
beantworten?"<br />
Hermines Hand erhob sich wie üblich über alle anderen.<br />
180
"Ja?"<br />
"Ein Kelpie", meinte sie erfreut, ihr Wissen loszuwerden, "ist ein<br />
Wasserdämon, der verschiedene Formen annehmen kann. Am<br />
häufigsten erscheint er je<strong>doc</strong>h in Gestalt eines Pferdes, <strong>das</strong> seinen<br />
ahnungslosen Reiter in die Tiefen seines Gewässers zieht <strong>und</strong> ihn dort<br />
bis <strong>auf</strong> dessen Eingeweide verschlingt."<br />
Alles war totenstill, nur die Vögel sangen noch in den Bäumen.<br />
Auch Hermine ging langsam <strong>auf</strong>, was sie gerade gesagt hatte. Entsetzt<br />
starrte sie McGonagall an.<br />
Dieser entgegnete je<strong>doc</strong>h in <strong>auf</strong>munterndem Ton: "Beunruhigt<br />
euch nicht unnötig –", wurde allerdings von Ron unterbrochen, der sauer<br />
<strong>auf</strong>lachte. "Nein, wieso auch, einem Fleisch fressenden Pferd wollte ich<br />
schon immer einmal begegnen!"<br />
"Unser Kelpie wird euch nicht fressen", stellte McGonagall klar. "Es<br />
ist dressiert. Wie auch alle anderen Wasserbewohner – na ja, bis <strong>auf</strong> die<br />
Wassermenschen selbst. Aber nichts dort unten wird euer Leben<br />
bedrohen. Natürlich werdet ihr euch gegen die Wesen <strong>zur</strong> Wehr setzen<br />
müssen, um ihnen problemlos zu entkommen, aber dafür hattet ihr auch<br />
die letzten fünf Jahre Verteidigungsunterricht. Einem Kelpie hext ihr<br />
übrigens mittels eines Platzierungszaubers Zaumzeug an, dann wird es<br />
fügsam." Zwei Dutzend Schüler sahen ihn schweigend an. Hermine<br />
schien ganz erpicht, aber auch entsprechend nervös zu sein, ihre<br />
Erkenntnisse anzuwenden.<br />
"Esst jetzt bitte euer Kraut, <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ert euch nicht wegen des<br />
Geschmacks."<br />
<strong>Harry</strong> hatte sein Dianthuskraut schnell heruntergewürgt, aber Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine, die es nicht gewöhnt waren, kauten angeekelt <strong>auf</strong> den<br />
schleimigen Strunken herum.<br />
"Solltet ihr <strong>doc</strong>h in Panik geraten, so schickt rote Blitze in den<br />
Himmel – der Zauberspruch lautet "Periculum". Ich werde am Ufer<br />
stehen <strong>und</strong> <strong>auf</strong>passen. Und nun los, die Wirkung des Dianthuskrauts hält<br />
nicht ewig an. Auf geht’s!" Er klatschte in die Hände, während die<br />
Schüler ihre Umhänge auszogen, damit sie ihnen unter Wasser nicht <strong>zur</strong><br />
Last fielen. Danach gingen sie zögernd ins Wasser. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong><br />
Hermine liefen dicht nebeneinander Schritt für Schritt in die unendlichen<br />
Wasserfluten hinein.<br />
"Wir versuchen, zusammenzubleiben", schärfte <strong>Harry</strong> den beiden<br />
noch einmal ein, bevor er ein Ziehen am Hals spürte <strong>und</strong> wusste, <strong>das</strong>s<br />
ihm nun Kiemen wuchsen. Ron neben ihm stürzte sich schon ins<br />
Wasser, verzweifelt nach Luft schnappend. Auch <strong>Harry</strong> gab dem<br />
sehnsüchtigen Verlangen nach Luft nach <strong>und</strong> warf sich nach vorne in die<br />
Leben spendenden Wellen.<br />
Sofort wurde alles dunkel um ihn herum, mit jedem Schwimmzug,<br />
den er tiefer schwamm, entfernte er sich mehr von dem schummrigen<br />
181
Licht, <strong>das</strong> die oberen Schichten des Wassers blau-grün durchdrang, vor<br />
sich nichts als unendliche Dunkelheit, von Schatten unterbrochen, hinter<br />
denen er vor sich schwimmende Schüler vermutete. Neben sich erblickte<br />
er Ron <strong>und</strong> Hermine, die ungeachtet ihrer besorgten Blicke weiter in die<br />
Tiefe vordrangen. Noch erkannte er nichts, was ihn beunruhigen konnte,<br />
links unter sich machte er ein dichtes Tangdickicht aus, rechts befanden<br />
sich kleine Felsen, die mit jedem Meter gewaltiger <strong>und</strong> unübersichtlicher<br />
wurden. Er bedeutete seinen Fre<strong>und</strong>en, um die Felsen herum zu<br />
schwimmen <strong>und</strong> sich vom Tang fernzuhalten, als daraus plötzlich etwas<br />
Blassgrünes hervor schoss <strong>und</strong> sich um Rons Knöchel schloss. Mit<br />
seinen langen, ungeheuer griffstarken Händen zerrte der kleine<br />
Grindeloh Ron ins Algendickicht, während Hermine <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> ihn an den<br />
Armen haltend versuchten, <strong>zur</strong>ückzuziehen. Gerade als sie Erfolg zu<br />
haben schienen, brachen zwei weitere Wasserdämonen aus den grünen<br />
Algenschlieren hervor <strong>und</strong> schnappten sich Hermine. Mit einem<br />
gewaltigen Ruck gelang es dem ersten Grindeloh, Ron <strong>Harry</strong> zu<br />
entreißen <strong>und</strong> in den Teppich aus Tang zu ziehen, direkt hinter Hermine<br />
her.<br />
<strong>Harry</strong> stieß einen geräuschlosen Schrei aus <strong>und</strong> feuerte einen<br />
Stupor in <strong>das</strong> blau-grüne Gewirbel vor ihm, bevor ihm einfiel, <strong>das</strong>s er<br />
höchstens Ron <strong>und</strong> Hermine treffen würde. So klemmte er seinen<br />
Zauberstab wieder an seinen Gürtel <strong>und</strong> folgte den Wasserdämonen.<br />
Hektisch schwamm er durch <strong>das</strong> Tangdickicht, einen Meter in die,<br />
einen Meter in die andere Richtung, ohne etwas zu sehen außer Algen<br />
<strong>und</strong> einmal den Fuß eines Grindelohs, der allerdings alleine war. Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine waren längst verschw<strong>und</strong>en.<br />
<strong>Harry</strong> hielt inne <strong>und</strong> keuchte mit stechenden Seiten, spürte <strong>das</strong><br />
kühle Wasser durch seine Kiemen strömen. Kurz überlegte er,<br />
McGonagall zu rufen, aber andererseits waren Grindelohs nicht wirklich<br />
gefährlich, mit einem einfachen Lähmzauber hatte man sie schnell<br />
unschädlich gemacht, außerdem konnte man ihren Griff leicht brechen.<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine waren zu zweit, sie würden sich schon befreien<br />
können. Wahrscheinlich wären sie sauer, wenn er ihnen McGonagall <strong>auf</strong><br />
den Hals hetzte.<br />
Dennoch schwamm er äußerst unschlüssig weiter. Nach einigen<br />
Minuten, in denen er niemanden gesehen hatte, war er <strong>doc</strong>h so weit<br />
beunruhigt, <strong>das</strong>s er schon seinen Zauberstab hob, um Hilfe zu holen. Da<br />
hörte er einen durchdringenden Schrei irgendwo vor sich.<br />
Fieberhaft trat er nach hinten aus <strong>und</strong> paddelte so schnell es ihm<br />
möglich war durch den Tang, zwar konnte er sich unter Wasser <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong><br />
seiner Flossen ungeheuer flink bewegen, <strong>und</strong> er sah auch weit klarer<br />
<strong>und</strong> besser, als er es ohne <strong>das</strong> Dianthuskraut gekonnt hätte. Dennoch<br />
dauerte es noch einige Minuten, bis er endlich in freieres Gewässer<br />
gelangte. Da er sich <strong>auf</strong> der Suche nach der Ursache des Schreis einmal<br />
182
um sich drehte, übersah er einen dunklen Felsen <strong>und</strong> krachte mit dem<br />
Knie dagegen.<br />
Ein stummes Stöhnen kam über seine Lippen, während ein dünner<br />
Blutfaden im trüben Wasser nach oben stieg. Irritiert wandte er sich dem<br />
Stein zu <strong>und</strong> stellte fest, <strong>das</strong>s er ihn kannte. Auf ihm waren gemalte<br />
Wassermenschen zu erkennen, die mit Speeren einen Riesen – nein, ein<br />
Seepferd jagten. Anscheinend hatten die Meeresbewohner mit dem<br />
Kelpie einen neuen Feind gewonnen.<br />
Einige Meter weiter erkannte er auch schon die kleinen, mit Algen<br />
bewachsenen Steingebäude, vor denen hin <strong>und</strong> wieder ein<br />
Hausgrindeloh angeb<strong>und</strong>en war <strong>und</strong> aus denen nun einige<br />
Wassermenschen heraus schwammen, mit ihrer grauen Haut <strong>und</strong> ihren<br />
wilden, grünen Haaren genauso bedrohlich wie eh <strong>und</strong> je.<br />
Ohne sie groß zu beachten schwamm <strong>Harry</strong> weiter zum Dorfplatz,<br />
wo zwei dieser Gestalten mit außerordentlich großen Speeren hinter<br />
einem dritten Wassermenschen herjagten. Hatte dieser den Schrei<br />
ausgestoßen?<br />
Er wollte schon abdrehen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Wassermenschendorf lieber<br />
verlassen, als der Verfolgte <strong>auf</strong> ihn zu schwamm <strong>und</strong> keineswegs einem<br />
Wassermenschen ähnelte, im Gegenteil, mit jedem Zug, den er näher<br />
kam, nahm er mehr Ähnlichkeit mit Neville an. Scheinbar hatte er es<br />
irgendwie geschafft, sich mit den wenig gastfre<strong>und</strong>lichen Seebewohnern<br />
anzulegen.<br />
„<strong>Harry</strong>!“, rief Neville, jedenfalls glaubte <strong>Harry</strong> <strong>das</strong>, weil er nichts<br />
weiter sehen konnte als einige Blasen, die aus Nevilles M<strong>und</strong><br />
hochstiegen.<br />
Ohne nachzudenken feuerte <strong>Harry</strong> einen Lähmzauber <strong>auf</strong> Nevilles<br />
Verfolger, der allerdings wie die meisten Flüche unter Wasser als heißer<br />
Strahl Wasser entwich. Zumindest brachte er die Wassermenschen<br />
dazu, einige Meter zu abzuschwenken, so<strong>das</strong>s Neville unbeschadet bei<br />
<strong>Harry</strong> ankommen konnte.<br />
Seit wann waren Wassermenschen so aggressiv? Beunruhigt<br />
beobachtete er sie, wie sie einen Halbkreis um sie schlossen. Einer von<br />
ihnen, ein besonders großer <strong>und</strong> wild aussehender mit einer Kette aus<br />
Haifischzähnen, wies mit der Hand in die Ferne.<br />
„Verlasst unsere Siedlung, ihr bringt Unheil über uns!“, dröhnte er<br />
<strong>und</strong> stieß warnend mit seinem Speer in ihre Richtung.<br />
Unheil? Wie sollte <strong>das</strong> gehen?, fragte <strong>Harry</strong> sich, wurde aber von<br />
Neville abgelenkt, der <strong>auf</strong>geregt <strong>auf</strong> den Boden um sich zeigte <strong>und</strong> dann<br />
<strong>auf</strong> seine Hände. Da verstand <strong>Harry</strong>, Neville hatte seinen Zauberstab im<br />
Schlamm verloren...<br />
Als er ihm helfen wollte zu suchen, stürmten gleich drei<br />
Wassermenschen <strong>auf</strong> sie zu <strong>und</strong> drängten sie weiter von der Siedlung<br />
weg.<br />
183
„Verschwindet, ihr lockt <strong>das</strong> Wasserpferd an!“, knirschte einer mit<br />
seiner krächzenden Stimme.<br />
Das Wasserpferd! Die Siedlungsbewohner befürchteten, sie<br />
würden <strong>das</strong> Kelpie anlocken ... Menschenfleisch. Neville starrte ihn<br />
angsterfüllt an, <strong>und</strong> in dem Moment verstand <strong>Harry</strong>, warum Legilimentik<br />
manchmal <strong>doc</strong>h von Vorteil sein konnte. Gerne hätte er ihn beruhigt <strong>und</strong><br />
die Worte McGonagalls wiederholt, <strong>das</strong> Kelpie wäre dressiert.<br />
Aber ein fürchterlicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf:<br />
Hätten die Wassermenschen solche Panik vor einem dressierten<br />
Wasserdämonen?<br />
Neville zog immer noch an seinem Hemd <strong>und</strong> wollte wieder <strong>zur</strong>ück<br />
<strong>zur</strong> Siedlung, um seinen Zauberstab zu suchen, aber <strong>Harry</strong> sah keinen<br />
Weg, wie sie <strong>das</strong> schaffen sollten. Doch ohne Zauberstab würde Neville<br />
hier unten nicht weit kommen. Deshalb hob <strong>Harry</strong> seinen eigenen (die<br />
Wassermenschen kreischten böse <strong>auf</strong>), zeigte ihn Neville <strong>und</strong> wies nach<br />
oben. Dieser verstand <strong>und</strong> nickte. Kurz dar<strong>auf</strong> durchbrachen rote Blitze<br />
<strong>und</strong> Funken die Wasseroberfläche des Sees <strong>und</strong> verloren sich im<br />
Sommerhimmel.<br />
<strong>Harry</strong> versuchte Neville <strong>auf</strong> die Schulter zu klopfen, was ihm wegen<br />
des Wasserdrucks nur un<strong>zur</strong>eichend gelang <strong>und</strong> wies in die dunklen<br />
Tiefen jenseits des Wassermenschendorfes.<br />
„Ich muss Hermine <strong>und</strong> Ron suchen!“, rief er, ohne <strong>das</strong>s er<br />
erwartete, <strong>das</strong>s Neville ihn verstand. Der schien auch keine Lust zu<br />
haben, trotz einigen Abstandes in der Nähe der schaurigen<br />
Seebewohner zu bleiben, die sie nach wie vor genau beobachteten, sah<br />
aber ein, <strong>das</strong>s er <strong>Harry</strong> kaum helfen konnte. Nach einem letzten Blick<br />
<strong>zur</strong>ück verschwand dieser zwischen den hohen Felsen, die <strong>das</strong> Dorf <strong>auf</strong><br />
der anderen Seite umstanden.<br />
Konzentriert <strong>und</strong> <strong>auf</strong> jede etwaige Bewegung achtend schwamm er<br />
langsam vorwärts. So tief war er noch nie in den See vorgedrungen.<br />
Unbekannte Felsformationen, unergründliche Gräben <strong>und</strong> seltsame<br />
Pflanzen tauchten in seinem Blickfeld <strong>auf</strong>, an <strong>und</strong> wann war auch eine<br />
Seeschlange dabei. Wie lange konnte er überhaupt noch unter Wasser<br />
bleiben? Wann würde ihm die Luft ausgehen? Vielleicht wäre es besser<br />
gewesen, bei Neville <strong>auf</strong> McGonagall zu warten. Wenn Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
noch im See waren, dann sicher nicht hier.<br />
Nach einiger Zeit sah er merkwürdige Pflanzen vor sich<br />
<strong>auf</strong>tauchen, gelblich-grün mit schleimigen, fadenartigen Blättern, die den<br />
gesamten Boden bedeckten. Dahinter erstreckte sich ein weiterer<br />
Tangdschungel. Eigentlich war er nicht allzu scharf dar<strong>auf</strong>, sich erneut<br />
mit den bösartigen Grindelohs anzulegen <strong>und</strong> überlegte, abzudrehen<br />
<strong>und</strong> endlich an die Wasseroberfläche <strong>zur</strong>ückzukehren. Er musste<br />
erfahren, wo Ron <strong>und</strong> Hermine waren. Erleichtert wandte er sich nach<br />
oben <strong>und</strong> wollte losschwimmen, als etwas sein Bein umklammerte. Er<br />
184
trat heftig nach hinten aus, um den Grindeloh loszuwerden, schaffte es<br />
aber nicht, den eisenharten Griff um sein Fußgelenk zu brechen. Und<br />
irgendwie hatte dieser Wasserdämon ungewöhnlich dicke Finger.<br />
<strong>Harry</strong> drehte sich um <strong>und</strong> schaute erschrocken in <strong>das</strong> bleiche<br />
Gesicht von Malfoy, der seinen Zauberstab <strong>auf</strong> ihn richtete.<br />
Instinktiv duckte er sich weg, sah aber einen dunklen Wasserstrahl<br />
dicht an sich vorbeischießen <strong>und</strong> versuchte, freizukommen. Aber wieder<br />
sah er Malfoys Zauberstabspitze dicht vor seinem Gesicht.<br />
Egal, was er für einen Zauber benutzt, ich wette, er ist nicht dazu<br />
gedacht, mir einen Blumenstrauß her<strong>auf</strong>zubeschwören, dachte <strong>Harry</strong><br />
leicht panisch. Erneut murmelte Malfoy einige Worte vor sich her,<br />
wor<strong>auf</strong>hin ein bedrohlich dunkler Blitz aus der Spitze seines<br />
Zauberstabes brach <strong>und</strong> un<strong>auf</strong>haltsam <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> zuschoss, <strong>das</strong> Wasser<br />
um sich herum zum Brodeln bringend. <strong>Harry</strong> zuckte nur weiterhin hilflos<br />
mit seinem Bein <strong>und</strong> schloss die Augen vor dem Unvermeidlichen, als er<br />
von etwas ungeheuer Großem <strong>und</strong> Schwerem herumgerissen wurde.<br />
Der Fluch verlor sich in den Weiten des Sees.<br />
Zu Tode erschrocken sah <strong>Harry</strong> vor seinen Augen eine Wolke von<br />
Haaren herumwirbeln, dann einen schlanken Widerriss <strong>und</strong> ein langes<br />
Bein von der fahlen Farbe von Mondlicht, <strong>das</strong> <strong>auf</strong> Schnee scheint. Was<br />
immer ihn <strong>und</strong> Malfoy gerammt hatte war eine Sek<strong>und</strong>e später<br />
verschw<strong>und</strong>en, auch wenn <strong>Harry</strong> argwöhnte, <strong>das</strong>s es nicht für lange Zeit<br />
sein würde.<br />
Malfoy schien ganz vergessen zu haben, ihn verfluchen zu wollen.<br />
Hilflos starrte er ihn mit fragendem Blick an, <strong>das</strong> Gesicht vor Angst<br />
verzerrt.<br />
<strong>Harry</strong> zuckte als Antwort mit den Schultern, zog aber <strong>zur</strong> Vorsicht<br />
seinen eigenen Zauberstab. Ob gegen <strong>das</strong> Wesen oder Malfoy, wusste<br />
er nicht zu sagen.<br />
Eine unnatürliche Stille hatte sich ausgebreitet, als plötzlich neben<br />
ihnen <strong>das</strong> Tangdickicht erbebte <strong>und</strong> eine Kreatur hervorbrach, die<br />
gleichzeitig Schönheit <strong>und</strong> Anmut ausstrahlte, aber auch tödliche Gefahr.<br />
Sie hatte die Gestalt eines Pferdes, eines sehr ungewöhnlichen<br />
Pferdes. Das lange schmale Maul wurde beherrscht von feuerroten,<br />
blitzenden Augen von unheimlicher Intelligenz. Die leicht grünliche<br />
Mähne bestand scheinbar aus Algen, während vom restlichen Körper ein<br />
seltsames, unwirkliches Leuchten ausging.<br />
Das Kelpie, dachte <strong>Harry</strong>. Er versuchte, nicht an Hermines Worte<br />
zu denken, vor allem nicht an die, in denen der Begriff "Eingeweide"<br />
vorgekommen war.<br />
Malfoy richtete hektisch seinen Zauberstab <strong>auf</strong> den Dämon <strong>und</strong><br />
schickte ihm scheinbar einen Lähmzauber <strong>auf</strong> den Hals, der je<strong>doc</strong>h nur<br />
aus kochendem Wasser bestand. Das Kelpie gab nur ein röchelndes,<br />
185
irgendwie unges<strong>und</strong> klingendes Wiehern von sich <strong>und</strong> wich ungemein<br />
geschickt aus.<br />
Dann griff es an.<br />
Es schoss in einer einzigen Bewegung los, galoppierte die<br />
fehlenden Meter <strong>auf</strong> sie zu – galoppierte?, fragte sich <strong>Harry</strong>, da es ihm<br />
absurd schien, <strong>auf</strong> einem Seegr<strong>und</strong> rennen zu können – aber <strong>das</strong> Kelpie<br />
tat es, <strong>und</strong> es stürzte sich <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>.<br />
Völlig überrumpelt wehrte er den schweren Körper ab <strong>und</strong> stieß ihn<br />
von sich. Einem empörten Schrei des Wasserdämons, der ihn aus fast<br />
vorwurfsvollen Augen ansah, folgte ein dunkler Strahl scheinbar<br />
kochenden Wassers, dem <strong>Harry</strong> nur durch Zufall entkam. Malfoy wollte<br />
ihn immer noch verhexen <strong>und</strong> schrie lautlos <strong>auf</strong>, als es ihm wieder nicht<br />
gelang.<br />
<strong>Harry</strong> wollte schnell weg von ihm <strong>und</strong> dem Wasserpferd, als ihn<br />
etwas in die Wade zwickte.<br />
Was war <strong>das</strong> schon wieder?<br />
Mit tränenden Augen schaute er hinter sich <strong>und</strong> gewahrte den Kopf<br />
des Kelpie, <strong>das</strong> ihn offensichtlich in die Wade gebissen hatte. Innerhalb<br />
weniger Sek<strong>und</strong>en wurde ihm schwummrig, schwindelig <strong>und</strong> er fing an,<br />
seine Umgebung nur noch schemenhaft wahrzunehmen. Malfoy<br />
geisterte als Fratze mit einem bösartigen Lachen durch sein<br />
Gesichtsfeld. Das Kelpie umschwamm sie beide mit spielerisch<br />
anmutenden Sprüngen <strong>und</strong> Drehungen. In dem Wirrwarr, <strong>das</strong> seine<br />
Gedanken bildeten, erkannte <strong>Harry</strong> fast angeheitert, <strong>das</strong>s der<br />
Wasserdämon tatsächlich nur spielen wollte. Dabei hatte er aber wohl<br />
vergessen, <strong>das</strong>s sein Biss giftig war.<br />
Das war’s, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> nahm vereinzelte Schatten um sich<br />
wahr. Es ist vorbei. Hier wird es enden, <strong>auf</strong> dem Gr<strong>und</strong> eines Sees,<br />
währenddessen ein Möchtegern-Todesser genüsslich meinen Tod<br />
verfolgt.<br />
Seine Kräfte verließen ihn, der Zauberstab fiel ihm aus der Hand<br />
<strong>und</strong> er sank langsam zu Boden. Eine eisige Kälte breitete sich in ihm<br />
aus. In einem letzten Versuch, klar zu sehen kniff er die Augen<br />
zusammen <strong>und</strong> sah starr geradeaus, direkt <strong>auf</strong> Malfoys Zauberstab.<br />
Diesmal würde er dem dunklen Strahl nicht entkommen.<br />
Hilflos sah er ihn <strong>auf</strong> sich <strong>zur</strong>asen, bedrohlich <strong>und</strong> vermutlich Tod<br />
bringend. Er schloss die Augen <strong>und</strong> erwartete den Schmerz, als sich ein<br />
Schatten vor ihn warf. Düster gruben sich Bilder eines Körpers in sein<br />
Bewusstsein, der getroffen zusammenzuckte, Malfoy, wie er mit vor<br />
Schreck verzerrtem Gesicht davonschwamm <strong>und</strong> eine dunkle Wolke, die<br />
sich um ihn herum ausbreitete.<br />
Irgendwann drehte sich der Schatten zu ihm um <strong>und</strong> er erkannte<br />
mit einer seltsam losgelösten, torkelnden Plötzlichkeit McGonagall, wie<br />
er unübersehbar mühsam versuchte, zu ihm zu schwimmen.<br />
186
Grinsend sah ihm <strong>Harry</strong> dabei zu. War <strong>das</strong> nicht lustig? Sogar <strong>das</strong><br />
Kelpie umhüpfte sie galant <strong>und</strong> fröhlich, sein mondscheinfarbenes Fell<br />
erleuchtete die Umgebung. Er fühlte sich so frei, so glücklich. Wieso<br />
nicht immer hier unten bleiben? Es war so erfrischend kühl, so<br />
beruhigend dunkel ... <strong>und</strong> McGonagall gefiel es sicher auch. Selbst wenn<br />
er momentan alles andere als erfreut aussah.<br />
Eine leichte Irritation schlich sich erst in <strong>Harry</strong>s Gedanken ein, als<br />
McGonagall die Hand <strong>auf</strong> seine Brust legte. Die dunkle Wolke schien<br />
dort ihren Ursprung zu haben. Das letzte, was <strong>Harry</strong> halbwegs bewusst<br />
wahrnahm, war sein Lehrer, wie er mit ungelenken, gezwungenen<br />
Bewegungen <strong>auf</strong> ihn zukam, den Zauberstab in scheinbar<br />
unmenschlicher Anstrengung <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Kelpie richtete, ihm blitzschnell ein<br />
Halfter anhexte <strong>und</strong> es herbeirief.<br />
Von den nächsten Minuten wusste <strong>Harry</strong> später nur zu sagen, <strong>das</strong>s<br />
er, die Wange an mondscheinfahles <strong>und</strong> unerwartet warmes Fell<br />
gedrückt, dann <strong>und</strong> wann einen Wassermenschen mit warnend<br />
gezücktem Sperr oder einen flüchtenden Grindeloh wahrgenommen<br />
hatte, während Tang, Algen, Felsen <strong>und</strong> Steine an ihm vorbeirasten.<br />
Irgendwann sah er Himmel <strong>und</strong> schmeckte Luft, erblickte<br />
gleißenden Sonnenschein <strong>und</strong> hörte <strong>das</strong> <strong>auf</strong>geregte Geschnatter vieler<br />
Personen. Obwohl ihm immer noch schwindelig war, vermochte er sich<br />
bereits <strong>auf</strong><strong>zur</strong>ichten. Verwirrt schlug er die Augen <strong>auf</strong> <strong>und</strong> sah Ron <strong>und</strong><br />
Hermine über sich stehen, beide triefend nass. Ron hielt sich <strong>das</strong><br />
Handgelenk, an dem hässliche rote Flecken zu erkennen waren,<br />
während Hermines Arme <strong>und</strong> ihr Gesicht zerkratzt waren.<br />
"Wo wart ihr gewesen?", krächzte er <strong>und</strong> hustete. Grüner Schleim<br />
kam aus seinem Hals.<br />
"Du hast einen Kelpie-Biss abbekommen, nicht?", fragte Hermine<br />
besorgt.<br />
"Ja, ich schätze mal." <strong>Harry</strong> drehte seinen Knöchel um <strong>und</strong> fuhr<br />
sich über die gerötete Haut, die einige Risse <strong>auf</strong>wies. "Ich dachte, ich<br />
sterbe."<br />
Hermine schüttelte hektisch den Kopf, während <strong>Harry</strong> Neville <strong>und</strong><br />
Luna neugierig näher kommen sah.<br />
„Hi, <strong>Harry</strong>“, grüßte sie fröhlich. „Ich hatte frei <strong>und</strong> dachte, ich<br />
schaue mir euren Ausflug mal an. War <strong>das</strong> eine Feuer speiende<br />
Riesenwasserschnecke? Angeblich sind einige in Irland gesichtet<br />
worden.“<br />
Hermine verdrehte die Augen <strong>und</strong> fuhr unbeirrt fort. "Kelpie-Bisse<br />
sind nicht giftig, sondern haben eine ähnliche Wirkung wie Stimulanzen.<br />
Sie erheitern <strong>und</strong> nehmen einem sämtliches Gefühl für Gefahr."<br />
187
Als niemand etwas dazu sagte, schrie sie leicht schrill: "Ehrlich<br />
<strong>Harry</strong>, die Wirkung deines Dianthuskrauts war fast verbraucht, du hättest<br />
ohnmächtig werden können <strong>und</strong> –“<br />
Sie sprach nicht weiter, offensichtlich nicht fähig dazu.<br />
"McGonagall", fiel es <strong>Harry</strong> ein <strong>und</strong> er drehte sich ruckartig um,<br />
seinen Lehrer suchend. Kurz verwirbelten die Farben vor seinen Augen,<br />
aber einige Sek<strong>und</strong>en später konnte er wieder klar sehen. Die Wirkung<br />
des Bisses ließ spürbar nach.<br />
"Wo ist er?"<br />
Ron machte einen leicht besorgten Eindruck.<br />
"Na ja, <strong>das</strong> Kelpie hat dich hier abgeladen <strong>und</strong> er ist mit ihm <strong>zur</strong>ück<br />
in den See, weiß selbst nicht, warum ..."<br />
<strong>Harry</strong> sprang alarmiert <strong>auf</strong> seine Füße.<br />
"Keine Sorge, ihm wird es gut gehen", beruhigte ihn Hermine. "Das<br />
Kelpie ist tatsächlich dressiert."<br />
„Aber die Wassermenschen hatten eine Todesangst vor ihm“,<br />
wandte <strong>Harry</strong> ein.<br />
Zu seiner Überraschung verdrehte Hermine die Augen.<br />
„Klar, weil Kelpies die natürlichen Todfeinde von Wassermenschen<br />
sind. Das wüsstest du auch, wenn du im Unterricht <strong>auf</strong>gepasst hättest.“<br />
Aber es war ohnehin nicht <strong>das</strong> Kelpie, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> Sorgen machte,<br />
sondern die seltsame dunkle Wolke, die McGonagall umgeben hatte.<br />
Er lief einige Meter ins Wasser <strong>und</strong> sah sich am Ufer fieberhaft<br />
nach Dianthuskraut um, ohne aber welches entdecken zu können.<br />
In dem Moment nahm er aus den Augenwinkeln eine dunkle<br />
Gestalt wahr, die sich an <strong>das</strong> Ufer schleppte, halb torkelnd, halb<br />
kriechend. Dem noch immer wackeligen Gefühl in seinen Beinen<br />
trotzend rannte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> sie zu <strong>und</strong> blieb einige Meter vor ihr stehen.<br />
Nur vage registrierte er, wie seine Knie vor Entsetzen nachgaben.<br />
McGonagall brach vor seinen Augen zusammen, hinter sich eine<br />
breite Spur aus dunklem Blut herziehend. Auch sein Hemd war<br />
blutgetränkt, während sich eine rote Pfütze un<strong>auf</strong>haltsam um ihn herum<br />
ausbreitete.<br />
Vor Schock beinahe erstarrt bückte sich <strong>Harry</strong> zu ihm hinunter. Er<br />
konnte nicht sagen, ob McGonagall bei Bewusstsein war, aber als er ihm<br />
<strong>das</strong> mit Algen verklebte Haar aus den Augen strich, bestätigte sich seine<br />
Befürchtung: In dem totenblassen Gesicht war kein Lebenszeichen zu<br />
entdecken. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins registrierte er<br />
allerdings <strong>das</strong> sehr schwache Heben <strong>und</strong> Senken von McGonagalls<br />
Brustkorb. Er hörte Ron, Hermine, Neville <strong>und</strong> Luna als erste angerannt<br />
kommen, alle starrten sie wie gelähmt <strong>auf</strong> ihren Lehrer. Hermine sank<br />
mit gebrochenem Blick in den Sand.<br />
"Wir müssen ihn sofort in den Krankenflügel schaffen!", hörte <strong>Harry</strong><br />
sich mit unnatürlich hoher Stimme kreischen, ohne zu wissen, wie <strong>das</strong><br />
188
gelingen sollte. Niemand hier hatte eine Ahnung, wie man Tragbahren<br />
her<strong>auf</strong>beschwor.<br />
Hermine erhob sich mit zittrigen Beinen <strong>und</strong> schloss in einem fast<br />
aussichtslosen Versuch der Konzentration die Augen. Zu <strong>Harry</strong>s<br />
Bew<strong>und</strong>erung brach ihr Otter aus der Spitze ihres Zauberstabes hervor<br />
<strong>und</strong> sprang mit flinken Schritten in Richtung Schloss davon.<br />
"Ron, schicke deinen H<strong>und</strong> zu Dumbledore!", rief sie verzweifelt.<br />
Ron wedelte dar<strong>auf</strong>hin mit seinem Zauberstab hilflos in der Luft,<br />
offensichtlich nicht in der Lage, einen glücklichen Gedanken zu fassen.<br />
Wie auch, fragte sich <strong>Harry</strong>, wenn einen Meter neben dir jemand<br />
verblutet.<br />
"Expecto Patronum!", durchdrang <strong>auf</strong> einmal Loonas nun gar nicht<br />
mehr verträumte Stimme die unheilvolle Stille, <strong>und</strong> ein knuffiges<br />
Kaninchen hoppelte rasend schnell dem Otter hinterher.<br />
"<strong>Harry</strong>, du musst Snape holen! Deinen Patronus erkennt er!", wies<br />
Hermine ihn an, nun offenbar etwas ruhiger, da sie endlich etwas<br />
unternahmen, um McGonagall zu helfen.<br />
Wie sollte er <strong>das</strong> schaffen? Aber sie hatte Recht, sie brauchten<br />
Snape. Was immer McGonagall getroffen hatte, war ein böser Fluch<br />
gewesen, einer der furchtbarsten Sorte. Und mit so was kannte sich<br />
Snape nun einmal am besten aus.<br />
Mit unsäglicher Mühe hob <strong>Harry</strong> seinen Zauberstab, dachte daran,<br />
bald mit McGonagall über die Rumtreiber zu plaudern, hörte beinahe<br />
Jerrys Kreischen – <strong>und</strong> zu seinem eigenen Erstaunen erschien sein<br />
Hirsch <strong>und</strong> sah ihn erwartungsvoll an. Erfüllt von dem w<strong>und</strong>erbar<br />
beschützenden Gefühl, <strong>das</strong> einem ein Patronus gab, wies er ihn in<br />
Gedanken an: Hol Snape, <strong>und</strong> zwar schnell. Sonst stirbt er...<br />
Der Hirsch galoppierte mit mächtigen Sprüngen davon.<br />
Zurück blieben nur bange Blicke, die die Anwesenden <strong>auf</strong><br />
McGonagall warfen, dem Neville nun seinen eigenen Umhang <strong>auf</strong> die<br />
offene Brustw<strong>und</strong>e drückte. Die restlichen Schüler standen schweigend<br />
einige Meter entfernt <strong>und</strong> schauten reglos zu ihnen hinüber.<br />
Hermine schien ihrer Beine kaum Herr zu werden <strong>und</strong> lehnte sich<br />
leise schluchzend an Rons Schulter, der hin- <strong>und</strong> hergerissen zwischen<br />
der Tragödie um ihren Lehrer <strong>und</strong> Hermines Nähe nicht wusste, was er<br />
tun sollte.<br />
„Wo seid ihr gewesen?“, fragte <strong>Harry</strong> erschöpft in einem<br />
unsinnigen Versuch, sich abzulenken bis endlich Hilfe kam.<br />
„Nachdem die Grindelohs uns gepackt haben, konnten wir sie<br />
einige Minuten später verscheuchen“, erzählte Ron <strong>und</strong> legte den Arm<br />
um Hermine. „Danach haben wir noch den Riesenkraken getroffen, der<br />
uns gleich an Land gesetzt hat. Fast alle Schüler waren schon da, nur du<br />
<strong>und</strong> Malfoy habt gefehlt. McGonagall kam mit Neville aus dem See<br />
<strong>zur</strong>ück, <strong>und</strong> als er sah, <strong>das</strong>s ihr gefehlt habt, ist er wieder los – Neville<br />
189
hat irgendwas von einem Wasserpferd <strong>und</strong> Wassermenschen<br />
genuschelt.“<br />
„Ich habe ihm erzählt, wo du hin bist“, ließ Neville vernehmen. „Ich<br />
wusste <strong>doc</strong>h nicht, <strong>das</strong>s so etwas passieren würde. Er ist mit den<br />
Wassermenschen sehr gut <strong>zur</strong>echtgekommen <strong>und</strong> hat sie sogar<br />
überreden können, meinen Zauberstab zu suchen. Hätte ich geahnt,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Kelpie ihm so zusetzt ...“ Traurig schüttelte er den Kopf, den<br />
bluttriefenden Umhang umklammernd, mit dem er die Blutung stoppen<br />
wollte.<br />
„Das war nicht <strong>das</strong> Kelpie“, meinte <strong>Harry</strong> hohl. „Das war Malfoy.“<br />
Vollkommen erstaunt sahen ihn alle an, aber bevor unangenehme<br />
Fragen kamen, hörten sie vom Schloss her eilige Schritte.<br />
Madame Pomfrey kam <strong>auf</strong>geregt hinter dem kleinen silbernen Otter<br />
hergel<strong>auf</strong>en, ihren Zauberstab wild schlenkernd in der Hand. Als sie die<br />
Schüler erreicht hatte, blickte sie sich erst fragend um, bis sie den am<br />
Boden liegenden McGonagall sah. Keuchend ließ sie sich neben ihn<br />
fallen <strong>und</strong> untersuchte schnell, aber <strong>auf</strong>merksam seine Verletzungen.<br />
Nach kurzer Zeit schüttelte sie resignierend den Kopf.<br />
"Diese W<strong>und</strong>en stammen von schwarzer Magie. Das liegt<br />
außerhalb meines Könnens", meinte sie kreidebleich. "Wer würde so<br />
einen Fluch anwenden? Immer müsst ihr euch mit solchen Sachen<br />
anlegen, ich sage es dem Schulleiter nur zu oft, die<br />
Sicherheitsvorkehrungen sind zu schlecht, <strong>und</strong> dann enden die Leute mit<br />
<strong>auf</strong>geschlitztem Bauch an den Ufern des Sees –" Verzweifelt fuhr sie<br />
herum. "Hat jemand von euch Professor Dumbledore oder Professor<br />
Snape gesehen?"<br />
"Wir haben sie bereits gerufen", schluchzte Hermine <strong>und</strong> starrte<br />
weiter ängstlich zu McGonagall hinunter.<br />
"Was ist hier passiert?", ertönte <strong>auf</strong> einmal eine tiefe, <strong>Harry</strong><br />
ungeheuer beruhigende Stimme.<br />
Dumbledore ... er war hier. Nun würde alles gut werden.<br />
Der Schulleiter kam angel<strong>auf</strong>en, gefolgt von Loonas Kaninchen,<br />
<strong>das</strong> mit ausgelassenen Sprüngen über die Wiesen tollte. Seine<br />
halbmondförmigen Brillengläser waren vom L<strong>auf</strong>en leicht verrutscht, als<br />
er wortlos neben McGonagall in die Knie sank. Neville stand neben ihm,<br />
den blutigen Umhang immer noch in der Hand <strong>und</strong> beobachtete verstört<br />
<strong>das</strong> Geschehen.<br />
Dumbledore beugte seine Hakennase fast bis zum Gesicht des<br />
Amerikaners, dann schaute er zu <strong>Harry</strong>.<br />
"Wir brauchen Professor Snape", erklärte er knapp. Eine Sek<strong>und</strong>e<br />
später erschien dieser zeitgleich mit <strong>Harry</strong>s Hirsch, der seltsamerweise<br />
von Snapes Hirschkuh begleitet wurde. Fröhlich sprangen die beiden im<br />
sonnenerwärmten Gras umher <strong>und</strong> neckten sich.<br />
190
"Severus", riss Dumbledore seinen Zaubertranklehrer aus dessen<br />
missbilligenden Blick <strong>auf</strong> die beiden Patroni, nachdem er <strong>Harry</strong> dankend<br />
zugenickt hatte.<br />
Snape wandte seine Aufmerksamkeit sofort McGonagall zu.<br />
Genauso wie Madame Pomfrey <strong>und</strong> Dumbledore zuvor tastete er<br />
McGonagalls W<strong>und</strong>en ab – anders als bei den beiden vor ihm konnte<br />
<strong>Harry</strong> aber eine erkennende Verw<strong>und</strong>erung <strong>auf</strong> seinen mürrischen<br />
Gesichtszügen ausmachen. Er weiß, was McGonagall abbekommen hat,<br />
dachte er <strong>und</strong> <strong>das</strong> erste Mal seit etlichen Minuten erfasste ihn wieder<br />
eine winzige Spur Hoffnung.<br />
"Das war ein sehr starker, dunkler Fluch", erklärte Snape, während<br />
er schon seinen Zauberstab gezückt hatte <strong>und</strong> begann, rasend schnell<br />
eigentümliche Worte vor sich herzumurmeln, als er über die<br />
Verletzungen fuhr. Wenige Sek<strong>und</strong>en später schien die Blutung<br />
schwächer zu werden, <strong>und</strong> als Snape seinen Gegenzauber wiederholte,<br />
schlossen sich die W<strong>und</strong>en vollends. Entgeistert, aber mit vor<br />
Erleichterung schwachen Knien verfolgte <strong>Harry</strong> genauso gebannt wie<br />
alle jede Bewegung Snapes. Schließlich stand dieser <strong>auf</strong>, beschwor mit<br />
einem Schnipsen seines Zauberstabes eine schwebende Trage her<strong>auf</strong><br />
<strong>und</strong> legte McGonagall zusammen mit Dumbledore vorsichtig dar<strong>auf</strong>.<br />
Sein Gesicht war unergründlich, als er sich an seinen Schulleiter<br />
wandte.<br />
"Es steht ernst mit ihm. Normalerweise schadet so ein Fluch, wird<br />
er sofort behandelt, nicht. Aber er scheint schon vor mindestens zehn<br />
oder fünfzehn Minuten getroffen worden zu sein – der Blutverlust ist<br />
immens. Er braucht sofort einen Blut bildenden Trank", wies er Madame<br />
Pomfrey an, die empört nickte, als traue Snape ihren Heilkünsten nicht.<br />
Der Zaubertranklehrer zuckte nicht mit der Wimper. "Wenn er die<br />
Nacht überlebt, schafft er es."<br />
"Was soll <strong>das</strong> heißen?", hörte sich <strong>Harry</strong> plötzlich rufen. Snape<br />
drehte sich zu ihm um <strong>und</strong> hob eine Augenbraue. "Was hat ihn<br />
getroffen? Sie wissen es! Haben Sie Malfoy den Fluch beigebracht?" Er<br />
wollte sich fast schon <strong>auf</strong> Snape stürzen, ihn in sein gleichgültiges<br />
Gesicht schlagen, aber Hermine <strong>und</strong> Ron hielten ihn <strong>zur</strong>ück. "<strong>Harry</strong>,<br />
nicht", flüsterte sie ihm ins Ohr.<br />
Madame Pomfrey hatte sich mittlerweile mit der Trage <strong>auf</strong> den<br />
Weg zum Schloss gemacht, begleitet von Neville <strong>und</strong> Luna, die ihr helfen<br />
wollten.<br />
"Ach, <strong>Potter</strong>, natürlich waren <strong>das</strong> Sie, die mir diesen <strong>auf</strong>dringlichen<br />
Patronus geschickt haben, <strong>das</strong> war nicht anders zu erwarten gewesen.<br />
Wer sonst hätte die Frechheit besessen, mich mitten in einem Gespräch<br />
mit dem Bildungsminister zu stören –"<br />
"Severus, genug jetzt", wies ihn Dumbledore an. Er schaute <strong>Harry</strong><br />
ernst in die Augen. "Warum hast du gerade Draco Malfoy erwähnt?"<br />
191
"Weil er es gewesen ist, der Jamie so verletzt hat!", stieß <strong>Harry</strong><br />
wütend hervor. Seine Beine zitterten wieder vor Schwäche, anscheinend<br />
hatte er den Kelpie-Biss <strong>doc</strong>h nicht ganz überw<strong>und</strong>en.<br />
Dumbledore schien vor Schock einige Sek<strong>und</strong>en nicht sprechen zu<br />
können. Selbst Snape machte einen überaus erstaunten Eindruck, auch<br />
wenn <strong>Harry</strong> freilich nicht sagen konnte, worüber er verblüfft war:<br />
Darüber, <strong>das</strong>s Malfoy jemanden tatsächlich töten könnte oder <strong>das</strong>s er<br />
den Fluch so einwandfrei hatte ausführen können.<br />
"Woher weißt du <strong>das</strong>?", fragte er <strong>Harry</strong> mit angespannter Stimme.<br />
"Wir waren am Gr<strong>und</strong>e des Sees. Ich war betäubt von dem Kelpie-<br />
Biss, konnte aber sehen, wie Malfoy einen Fluch sprach, der Jamie<br />
zufällig getroffen hat."<br />
"Kelpie-Biss?"<br />
<strong>Harry</strong> nickte, wieder wurde ihm leicht schummrig.<br />
"Dann gehst du besser auch in den Krankenflügel", schlug sein<br />
Schulleiter vor. "Die Wirkung solcher Bisse kann durchaus ein oder zwei<br />
Tage anhalten, <strong>und</strong> ich will nicht Madame Pomfrey begegnen, wenn ich<br />
dich in diesem Zustand in dein Haus <strong>zur</strong>ückschicke – sie hat mich<br />
letztens schon getadelt, weil ich mir eine Schnittw<strong>und</strong>e nicht verb<strong>und</strong>en<br />
hatte."<br />
Snape, der mit stets finstererem Ausdruck die immer noch<br />
spielenden Patroni betrachtete, wies er an: "Severus, ich würde<br />
vorschlagen, wir gehen <strong>zur</strong>ück zum Schloss <strong>und</strong> suchen Malfoy. Ich<br />
kann es immer noch nicht fassen, <strong>das</strong>s er so etwas tun sollte. Was hätte<br />
er davon, wenn Professor McGonagall stirbt?"<br />
<strong>Harry</strong> lachte leise <strong>auf</strong> <strong>und</strong> unterbrach Dumbledore.<br />
"Der Fluch war nicht für ihn bestimmt, sondern für mich."<br />
Nun sahen ihn die beiden schon wieder überrumpelt an.<br />
"Natürlich", murmelte Dumbledore. "Das macht eher Sinn. Severus,<br />
Sie sind sich ganz sicher, <strong>das</strong>s Malfoy nicht in Voldemorts Gefolgschaft<br />
<strong>auf</strong>genommen worden ist?"<br />
<strong>Harry</strong> blieb <strong>auf</strong> dem Weg zum Schlosstor fast stehen, so<br />
konzentriert lauschte er dem Gespräch. Konnte es stimmen? War Malfoy<br />
ein echter Todesser geworden?<br />
"Nein", meinte Snape kühl. "Der dunkle Lord möchte keine<br />
übereilten Entscheidungen treffen. Erst einmal muss sich ein Aspirant<br />
beweisen, bevor er ihm dienen darf."<br />
Zum Beispiel, indem er mich tötet, dachte <strong>Harry</strong> wütend.<br />
In der Eingangshalle trennten sie sich. <strong>Harry</strong> wandte sich<br />
automatisch der Treppe zu, die ihn am schnellsten zum Krankenflügel<br />
führen würde, Dumbledore wollte in den Türmen nachschauen <strong>und</strong><br />
Snape die Keller durchsuchen.<br />
192
"Nicht, <strong>das</strong>s ich allzu viel Hoffnung hätte", seufzte Dumbledore <strong>und</strong><br />
schaute traurig zu den großen St<strong>und</strong>engläsern <strong>auf</strong> der anderen Seite der<br />
Eingangshalle. "Er wird längst geflohen sein."<br />
Wäre <strong>Harry</strong> nicht auch davon überzeugt gewesen, hätte er<br />
Dumbledore die Karte der Rumtreiber angeboten – aber es machte<br />
sowieso keinen Sinn mehr.<br />
"<strong>Harry</strong>, du lässt dich behandeln, <strong>und</strong> morgen Abend möchte ich<br />
dich in meinem Büro sehen", meinte Dumbledore <strong>und</strong> fuhr sich mit der<br />
Hand über die müden Augen. "Du brauchst jetzt Ruhe. Und vielleicht ein<br />
Stück Eierkremtorte, ich habe gehört, die Hauselfen habe heute eine<br />
besonders schöne zum Abendessen zubereitet, die würde ich mir nicht<br />
entgehen lassen."<br />
<strong>Harry</strong> war verblüfft, nickte aber nur mechanisch. Mit ein paar<br />
Schritten war er außer Sichtweite <strong>und</strong> ging gedankenverloren in den<br />
dunklen, trotz des schönen Sommerwetters recht kühlen Gängen umher.<br />
Sein Hemd <strong>und</strong> seine Hosen waren immer noch feucht, seine Brille mit<br />
Algenschlamm verschmiert, <strong>und</strong> er fühlte sich so erschöpft, als wäre er<br />
mit einem Hippogreif um die Wette gel<strong>auf</strong>en. Dennoch wäre ihm nie in<br />
den Sinn gekommen, nur wegen der bereits nachlassenden Wirkung<br />
eines Kelpie-Bisses freiwillig in den Krankenflügel zu gehen, wenn er<br />
nicht nach McGonagall sehen wollte. Die Sorge um seinen Großcousin<br />
gab seinem sowieso angegriffenen Zustand den Rest. Er beschloss, sich<br />
nach seinem Lehrer zu erk<strong>und</strong>igen <strong>und</strong> dann Ron <strong>und</strong> Hermine zu<br />
suchen, die während seines Gespräches mit Snape <strong>und</strong> Dumbledore<br />
zusammen mit den anderen Schülern McGonagalls<br />
Unterrichtsmaterialien <strong>und</strong> seine Tasche wieder ins Schloss gebracht<br />
hatten.<br />
Ein paar Schritte vor dem Krankenflügel fiel ihm entsetzt ein, <strong>das</strong>s<br />
sein Zauberstab nach wie vor <strong>auf</strong> dem Gr<strong>und</strong> des Sees lag.<br />
Wie soll ich ihn je wiederbekommen?<br />
Überrascht zuckte er <strong>zur</strong>ück, als jemand ihm beinahe die Tür zum<br />
Krankenzimmer ins Gesicht schlug.<br />
"<strong>Potter</strong>, was machen Sie hier?", stieß Professor McGonagall<br />
erschrocken hervor. Scheinbar wollte sie gerade gehen.<br />
"Na, Jamie besuchen natürlich", antwortete er idiotischerweise.<br />
"Das geht nicht", meinte sie entschlossen. "Er muss so wenig<br />
Aufregung wie möglich haben."<br />
"Ich hatte auch nicht vor, dort drinnen ein Quidditch-Spiel zu<br />
veranstalten", hielt <strong>Harry</strong> ein wenig genervt entgegen. Professor<br />
McGonagall kniff ihre Augen gefährlich scharf zusammen, so<strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />
schon fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Dann entspannte sie sich.<br />
"Natürlich, er ist hier ihr einziger Verwandter... Dann reden Sie mit<br />
Madame Pomfrey, vielleicht lässt sie Sie rein."<br />
193
"Das muss sie, ich bin nämlich von einem Kelpie gebissen<br />
worden", fiel ihm ein.<br />
"Wieso sagen Sie <strong>das</strong> nicht gleich?" Sie schüttelte den Kopf.<br />
"Irgendwann, wenn ich den Schock verdaut habe, möchte ich gerne<br />
wissen, was Sie beide eigentlich im See gemacht haben. Aber für heute<br />
wäre <strong>das</strong> wohl zu viel." Sie ging langsam davon, scheinbar in Gedanken<br />
versunken.<br />
<strong>Harry</strong> trat ins Krankenzimmer. Sofort wuselte Madame Pomfrey <strong>auf</strong><br />
ihn zu. "Wie wagen Sie sich, hier einfach reinzuplatzen!", rief sie empört.<br />
"Ich habe einen schwer kranken Patienten, <strong>und</strong> der braucht Ruhe!" Sie<br />
versuchte, <strong>Harry</strong> aus der Tür zu schieben.<br />
"Warten Sie, ich bin auch krank", erwiderte <strong>Harry</strong>, auch wenn er<br />
von dem Biss mittlerweile kaum mehr spürte als eine leichte Schwäche.<br />
"Ach, <strong>und</strong> was wollen wir haben?"<br />
"Einen Kelpie-Biss!" <strong>Harry</strong> zeigte <strong>auf</strong> die gerötete <strong>und</strong> leicht lädierte<br />
Haut an seinem Knöchel.<br />
"Ach so, na dann kommen Sie. Mit so was sollte man nicht spaßen.<br />
Sie müssen ein Gegenmittel trinken <strong>und</strong> am besten die Nacht über hier<br />
bleiben – manchmal kommt am Tag nach dem Biss der eine oder andere<br />
Schwindelanfall <strong>zur</strong>ück. Aber morgen können Sie wieder am Schulalltag<br />
teilnehmen."<br />
Fügsam legte sich <strong>Harry</strong> in <strong>das</strong> zugewiesene Bett <strong>und</strong> trank <strong>das</strong><br />
scheußlich süß schmeckende Medikament. McGonagall befand sich<br />
offensichtlich in einem Bett am anderen Ende des Zimmers, auch wenn<br />
<strong>Harry</strong> nicht viel sehen konnte, da die Vorhänge um es herum zugezogen<br />
waren. Nur ab <strong>und</strong> zu wurden sie geöffnet, wenn Madame Pomfrey ihm<br />
einen Blut bildenden Trank verabreichte.<br />
Den Rest des Tages langweilte <strong>Harry</strong> sich fürchterlich. Zwar sorgte<br />
er sich nach wie vor um seinen Großcousin, aber da er <strong>das</strong> Geschehen<br />
im Krankenzimmer beobachten konnte, wusste er zumindest, <strong>das</strong>s<br />
dessen Zustand sich nicht verschlechtert hatte.<br />
Nach dem Abendessen wurden Ron <strong>und</strong> Hermine zu ihm gelassen,<br />
wenn auch unter der strengen Auflage, sich ausschließlich flüsternd zu<br />
unterhalten.<br />
"Wie geht es ihm?", wisperte Hermine mit einem Nicken in<br />
McGonagalls Richtung.<br />
"Nicht viel besser als vorhin", fürchtete <strong>Harry</strong>. "Aber Madame<br />
Pomfrey weiß schon, was sie tut."<br />
"Ihn hat ein ganz übler Fluch getroffen, ich habe in der<br />
Mittagspause in der Bibliothek nachgeschaut – ein Sectumsempra.<br />
Obwohl er nicht zu den unverzeihlichen Flüchen gehört kann er einen<br />
Menschen töten. Ist irgendwann vor 20 Jahren hier an Hogwarts<br />
erf<strong>und</strong>en worden, scheinbar von einem Schüler ... hat dann seine R<strong>und</strong>e<br />
194
ei den Todessern gemacht, du kannst dir vorstellen, <strong>das</strong>s so ein Fluch<br />
bei denen groß in Mode kommt. Angeblich ..."<br />
"Hermine, ich brauche jetzt keine Analyse des Fluchs, mit dem ich<br />
getötet werden sollte", stöhnte <strong>Harry</strong>. Seine beiden Fre<strong>und</strong>e zuckten<br />
zusammen <strong>und</strong> ihm fiel ein, <strong>das</strong>s sie noch gar nicht wussten, was sich im<br />
See abgespielt hatte. Er erzählte es ihnen.<br />
Ron wurde blass vor Wut <strong>und</strong> schimpfte unentwegt über Malfoy,<br />
sogar Hermine machte sich nicht die Mühe, seine nicht salonreifen<br />
Ausdrücke zu unterbrechen, sondern schüttelte ein ums andere Mal<br />
ungläubig den Kopf.<br />
"Ich kann kaum begreifen, <strong>das</strong>s er so etwas tatsächlich getan<br />
haben soll!", rief sie <strong>und</strong> klang in <strong>Harry</strong>s Ohren wie Dumbledore.<br />
"Da siehst du mal, <strong>Harry</strong> hatte die ganze Zeit Recht mit seiner<br />
Vermutung, Malfoy sei ein Todesser", sagte Ron. <strong>Harry</strong> warf ihm einen<br />
dankbaren Blick zu.<br />
"Ich weiß nicht", zweifelte Hermine. "Vielleicht wollte er sich nur<br />
wichtig machen. Es ist so unwahrscheinlich, <strong>das</strong>s er <strong>auf</strong> Befehl<br />
Voldemorts hin gearbeitet haben soll. Er ist ein Kind!"<br />
"Hermine, er hat den Fluch nicht gesprochen, um mir einen<br />
Schreck einzujagen, sondern, um mich zu töten! Ich wette, er ist mir die<br />
ganze Zeit unter Wasser gefolgt <strong>und</strong> hat gewartet, bis wir ganz alleine<br />
waren. Der perfekte Mord: Mich hätte man wenn überhaupt nur mit<br />
<strong>auf</strong>geschlitzter Brust Tage später gef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> dann hätten sie<br />
vermutlich <strong>das</strong> Kelpie dafür verantwortlich gemacht."<br />
Hermine schien zwar immer noch nicht überzeugt, schwieg aber.<br />
"Wo er wohl hin ist?", grübelte Ron.<br />
"Vermutlich zu Hause oder bei seinen Todesserkumpels. Eins<br />
schwöre ich: Wenn Jamie an dem Fluch stirbt, suche ich Malfoy <strong>und</strong><br />
verfüttere ihn an Aragog!"<br />
"Das klingt interessant, auch wenn ich diesen Aragog nicht kenne.<br />
Aber vorher schickst du ihn bei mir vorbei, ich weiß ein paar gute<br />
Folterflüche", hörten sie plötzlich eine schwache Stimme. <strong>Harry</strong> sprang<br />
aus dem Bett <strong>und</strong> torkelte leicht unter einem neuen Schwindelanfall.<br />
"Jamie!"<br />
Die drei waren mit ein paar Schritten an seinem Bett. McGonagall<br />
schien gerade wieder <strong>auf</strong>gewacht zu sein. Freilich ging es ihm nicht gut,<br />
zwar war seine Brust wieder w<strong>und</strong>enfrei, aber der Blutverlust schien ihm<br />
arg zugesetzt zu haben: Immer noch war er sehr blass, <strong>und</strong> er schien<br />
kaum Kraft zu haben, selbst wenn er gerade versuchte, sich<br />
<strong>auf</strong><strong>zur</strong>ichten.<br />
"Himmel, nun weiß ich, was in der Literatur von der Wirkung eines<br />
Sectumsempra geschrieben steht. Ist wirklich ein hässlicher Fluch."<br />
"Wir dachten, er hätte dich erledigt!", meinte <strong>Harry</strong>, der vor<br />
Erleichterung ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.<br />
195
"Das hatte ich auch fast gedacht", antwortete McGonagall <strong>und</strong><br />
schien sich nur schemenhaft an <strong>das</strong> Geschehen unter Wasser erinnern<br />
zu können.<br />
„Und unter uns: Ich bin froh, <strong>das</strong>s Malfoy mich getroffen hat <strong>und</strong><br />
nicht dich. Die Wahrscheinlichkeit, solch einen Fluch nach 15 Minuten<br />
noch zu überleben, ist bei jemandem in deinem Alter gleich Null.“<br />
Alle schwiegen bedrückt.<br />
„Nun seid nicht so schwermütig“, lächelte McGonagall. „Zum Glück<br />
ist Poseidon da gewesen, sonst würden <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> ich wohl nicht hier<br />
stehen."<br />
"Poseidon?", fragten die drei einstimmig.<br />
McGonagall grinste. "Irgendeinen Namen braucht <strong>das</strong> Kelpie <strong>doc</strong>h,<br />
oder?"<br />
Ron schüttelte den Kopf. "Er ist wirklich wie Hagrid."<br />
„Ach, <strong>Harry</strong>“, sprach ihn sein Großcousin an. „Ich habe im See<br />
noch etwas gef<strong>und</strong>en, was dir vielleicht nützlich sein könnte.“ Er griff <strong>auf</strong><br />
den Nachtschrank neben dem Bett, <strong>auf</strong> den <strong>Harry</strong> noch gar nicht geblickt<br />
hatte, <strong>und</strong> reichte ihm seinen Zauberstab.<br />
<strong>Harry</strong> spürte sein Herz vor Freude fast hüpfen, als er sein verloren<br />
geglaubtes Arbeitsgerät endlich wieder in den Händen hielt.<br />
„Danke“, sagte er strahlend.<br />
196
KAPITEL ELF<br />
Das gestohlene Pergament<br />
Am nächsten Tag hatte <strong>Harry</strong> nur eine St<strong>und</strong>e Zauberkunst, <strong>und</strong><br />
auch die Doppelst<strong>und</strong>e Zaubertränke am Nachmittag überstand er, ohne<br />
<strong>das</strong>s Snape sich eine weitere Gemeinheit einfallen ließ. Vor dem<br />
Abendessen besuchten er, Ron <strong>und</strong> Hermine noch einmal McGonagall<br />
im Krankenflügel. Ihm ging es mit jeder St<strong>und</strong>e besser, selbst Madame<br />
Pomfrey war erstaunt, wie gut der Heilungsprozess verlief. Da er bereits<br />
anfing, sich zu langweilen, spielten er <strong>und</strong> Ron einige Partien<br />
Zauberschach, wobei sich herausstellte, <strong>das</strong>s McGonagall als einziger,<br />
den <strong>Harry</strong> kannte, Ron besiegen konnte. Dessen Laune wurde dadurch<br />
aber nicht schlechter, im Gegenteil, er schien sich zu freuen, endlich<br />
einen Herausforderer gef<strong>und</strong>en zu haben. Die beiden verabredeten, sich<br />
regelmäßig zum Schachspielen zu treffen.<br />
„Mann, dieser McGonagall ist nicht übel, hätte nicht gedacht, <strong>das</strong>s<br />
ich einmal mit einem Lehrer die Abende verbringen würde!", plapperte<br />
Ron vor sich hin, als sie sich wieder <strong>auf</strong> den Weg in den<br />
Gemeinschaftsraum machten.<br />
"Du kannst wirklich froh sein, ihn als Verwandten zu haben."<br />
"Mmm", machte <strong>Harry</strong>. Er hatte sich eigentlich noch gar nicht viel<br />
dabei gedacht, einen neuen Verwandten gef<strong>und</strong>en zu haben. Sicher,<br />
McGonagall war nett, <strong>und</strong> ein wenig erinnerte er in seiner<br />
unbeschwerten <strong>und</strong> zeitweilig frechen Art an Sirius, aber sie kannten<br />
sich <strong>doc</strong>h erst einige Tage. <strong>Harry</strong> vermochte nicht zu sagen, was daraus<br />
werden konnte. Vielleicht hatte er auch Angst, wieder jemand Vertrautes<br />
zu finden, einfach, weil er fürchtete, ihn wieder zu verlieren?<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine liefen vor ihm <strong>und</strong> waren in ein Gespräch vertieft.<br />
Seit dem Vorfall am See hatten sie sämtliche Streits beigelegt <strong>und</strong><br />
gingen wieder völlig normal miteinander um – oder besser, noch<br />
vertrauter als sonst. <strong>Harry</strong> seufzte. Es war wohl nur eine Frage der Zeit,<br />
197
is sie sich wieder in den Haaren lagen. Waren er <strong>und</strong> Cho auch so<br />
unausstehlich gewesen? Er konnte es sich nicht vorstellen.<br />
Plötzlich blieb er irgendwo im dritten Stock schlagartig stehen.<br />
"Das habe ich ganz vergessen!", rief er <strong>und</strong> drehte sich um.<br />
"Dumbledore hat mich für heute Abend in sein Büro gebeten", erklärte er<br />
der überraschten Hermine <strong>und</strong> Ron.<br />
"Was will er denn von dir?", fragte er neugierig.<br />
<strong>Harry</strong> zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, vermutlich<br />
erfahren, was im See passiert ist. Ich komme nach, sobald es geht."<br />
Sie trennten sich <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> lief zu dem hässlichen Wasserspeier<br />
im zweiten Stock, hinter dem sich eine verdeckte Wendeltreppe befand,<br />
die ihn zum Schulleiterbüro bringen würde. Ratlos fiel ihm ein, <strong>das</strong>s er<br />
<strong>das</strong> Passwort nicht wusste, <strong>und</strong> <strong>das</strong>selbe wie im letzten Jahr würde es<br />
kaum mehr sein. Er überlegte ein paar Sek<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sagte dann:<br />
"Eierkremtorte!"<br />
Sofort schwang der abstoßende Wasserspeier <strong>zur</strong> Seite <strong>und</strong><br />
offenbarte die Treppe, die <strong>Harry</strong> in Windungen bis vor die Eichentür von<br />
Dumbledores Büro brachte. Er wollte schon klopfen, als er Stimmen<br />
hörte.<br />
"Sind Sie sich sicher?", ertönte die dunkle, wie üblich leicht<br />
überhebliche Stimme Snapes.<br />
"Ja, die Untersuchungen eines Unsäglichen, der für uns arbeitet,<br />
haben den Verdacht bestätigt. Dieses Buch enthält die Geheimnisse der<br />
Mysteriumsabteilung." Ein paar Sek<strong>und</strong>en herrschte Stille, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong><br />
fürchtete, sein vor Aufregung klopfendes Herz würde ihn verraten. Das<br />
Buch! Mysterien des Lebens. Es war tatsächlich <strong>das</strong> legendäre, <strong>das</strong> von<br />
Rosier geschriebene.<br />
Snape klang verändert, irgendwie ehrfürchtig, als er weitersprach.<br />
"Das eröffnet uns ungeahnte Möglichkeiten", meinte er heiser <strong>und</strong><br />
lief dem Geräusch von Schritten nach zu urteilen nervös in dem Büro<br />
hin- <strong>und</strong> her.<br />
"Ich wüsste nicht, was aus diesem Buch uns helfen sollte",<br />
antwortete Dumbledore ruhig. "Dinge wie Zeitumkehrer oder Patroni, die<br />
<strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> der Mysterienforschung entwickelt wurden, sind der<br />
Zaubererwelt längst bekannt. Was hier drinsteht, sind eher die dahinter<br />
steckenden Theorien – <strong>und</strong> unter uns gesagt, die sind furchtbar<br />
langweilig <strong>und</strong> recht sinnlos."<br />
"Sinnlos?", fragte Snape nun leicht hysterisch. "Sie sprechen von<br />
den größten Entdeckungen der Zauberergemeinschaft, von Dingen, von<br />
denen außerhalb des Ministeriums noch keiner gehört hat. Geben Sie<br />
mir <strong>das</strong> Buch, ich kann sicher einige der Ansätze weiterentwickeln <strong>und</strong><br />
neue Zauber oder Gegenstände kreieren."<br />
Ja, aber für wen, fragte sich <strong>Harry</strong> stumm. Ihn quälte nach wie vor<br />
der Verdacht, <strong>das</strong>s Snape in Wirklichkeit ein Todesser war.<br />
198
"Haben Sie allein <strong>das</strong> Kapitel über den Tod gelesen?"<br />
<strong>Harry</strong> stand starr wie eine Salzsäule.<br />
"Über diesen Hexer von Hexham?", hörte er Dumbledore leise<br />
kichern.<br />
"Das ist nicht lustig", schnaubte Snape <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> ertappte sich<br />
dabei, wie er ihm Recht gab.<br />
"Severus, Sie <strong>und</strong> ich wissen, <strong>das</strong>s der Tod endgültig ist. Machen<br />
Sie sich nichts vor."<br />
"Ja, wir wissen es, aber was, wenn es noch mehr zu wissen gibt?<br />
Wenn die Zauberergemeinschaft in ihrer Vorstellungskraft beschränkt<br />
ist? Vor zweih<strong>und</strong>ert Jahren konnte sich auch noch niemand vorstellen,<br />
in der Zeit <strong>zur</strong>ück<strong>zur</strong>eisen!"<br />
Diesen stichhaltigen Argumenten konnte <strong>Harry</strong> nur zustimmen <strong>und</strong><br />
hasste sich fast dafür. Seit wann unterstützte er Snape? Und warum war<br />
dieser besonders am Kapitel über den Tod interessiert? Wollte er<br />
verstorbene Todesser wiedererwecken? Oder gar Slytherin selbst?<br />
"In Ordnung", vernahm er Dumbledores <strong>auf</strong> einmal müde Stimme.<br />
"Ich werde Ihnen <strong>das</strong> Buch geben, wenn <strong>das</strong> Sie ruhiger werden lässt.<br />
Ende Oktober muss es aber wieder im Ministerium sein, bis dahin hat die<br />
Abteilung einen sicheren Aufbewahrungsort entwickelt, den auch Feinde<br />
nicht durchdringen können. Bringen Sie es bis dahin wieder bei mir<br />
vorbei."<br />
"Selbstverständlich." Einige Sek<strong>und</strong>en war es still, <strong>Harry</strong><br />
vermutete, <strong>das</strong>s Snape <strong>das</strong> Buch einpackte. Dann hörte er verblüfft, wie<br />
der Zaubertranklehrer leise <strong>und</strong> <strong>auf</strong> eigentümlich ehrliche <strong>und</strong><br />
hoffnungsvolle Art <strong>und</strong> Weise sagte: "Danke." Fast hätte <strong>Harry</strong> in seinem<br />
Erstaunen vergessen, zu klopfen, als er schon die Schritte in Richtung<br />
der Tür vernahm.<br />
Sie wurde <strong>auf</strong>gerissen, <strong>und</strong> Snape stand drohend vor <strong>Harry</strong>.<br />
"Ich wollte zu Professor Dumbledore", meinte er in festem Ton.<br />
Snape setzte ein höhnisches Lächeln <strong>auf</strong>. "Offensichtlich."<br />
Ohne ein weiteres Wort zu sagen ließ er sich von der<br />
Wendeltreppe wieder herunter bringen, während <strong>Harry</strong> in <strong>das</strong><br />
Schulleiterbüro eintrat, einem r<strong>und</strong>en Zimmer mit etlichen kleinen,<br />
zerbrechlich aussehenden Tischen, <strong>auf</strong> denen noch fragilere, silberne<br />
<strong>und</strong> surrende Instrumente standen. Die ehemaligen Schulleiter dösten<br />
wie üblich in ihren Bildrahmen, einer von ihnen stierte gedankenverloren<br />
in dem Raum hinunter <strong>und</strong> kratzte sich an der Nase.<br />
"Hallo <strong>Harry</strong>", begrüßte ihn Dumbledore, der an seinem<br />
Schreibtisch saß. Auf einer Stange nicht weit von ihm entfernt schlief<br />
sein Phönix Fawkes, dessen Federn rot <strong>und</strong> golden leuchteten.<br />
Anscheinend befand er sich nicht in der Nähe eines Brandtages.<br />
"Guten Abend, Professor." <strong>Harry</strong> setzte sich <strong>auf</strong> den von<br />
Dumbledore zugewiesenen Stuhl.<br />
199
"Nun, du weißt sicher, wieso ich dich sprechen wollte. Die<br />
Geschehnisse <strong>auf</strong> dem Gr<strong>und</strong> des Sees sind mir immer noch nicht ganz<br />
klar, auch wenn Jamie mir natürlich seine Version erzählt hat." Er<br />
schaute <strong>Harry</strong> durch seine blauen Augen an <strong>und</strong> verschränkte die<br />
Finger.<br />
<strong>Harry</strong> berichtete von Ron <strong>und</strong> Hermine, wie sie von Grindelohs<br />
entführt worden sind – nicht, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> etwas mit Malfoy zu tun hatte,<br />
aber wie er Dumbledore kannte, würde er alles genau wissen wollen.<br />
Dann kam er zu der Stelle mit den Wassermenschen <strong>und</strong> schließlich zu<br />
Malfoys Fluch, dem Kelpie <strong>und</strong> McGonagall, wobei seine Stimme von<br />
Sek<strong>und</strong>e zu Sek<strong>und</strong>e wütender wurde.<br />
„Wieso ist es Malfoy eigentlich gelungen, Jamie zu verletzen?“,<br />
fragte er. „Ich dachte, unter Wasser funktionieren keine Zauber?“<br />
„Nur die normalen nicht“, antwortete Dumbledore. „Es gibt je<strong>doc</strong>h<br />
nur wenige Sachen, die in der Lage sind, schwarze Magie <strong>auf</strong>zuhalten,<br />
<strong>und</strong> Wasser gehört nicht dazu.“<br />
<strong>Harry</strong> fuhr mit seiner Erzählung fort, <strong>und</strong> als er fertig war, lehnte<br />
sich der Schulleiter in seinem Sessel <strong>zur</strong>ück. "So ähnlich habe ich es mir<br />
gedacht. Ich hoffe nur, du hegst jetzt keine Rachegefühle gegen den<br />
jungen Malfoy."<br />
"Nein", konnte <strong>Harry</strong> einen sarkastischen Ton nicht verhindern.<br />
"Warum sollte ich jemandem gegenüber Rachegefühle empfinden, der in<br />
dem Versuch, mich umzubringen, beinahe meinen einzigen Verwandten,<br />
der mich nicht für schleimiges Unkraut hält, getötet hätte?"<br />
Dumbledore sah ihn fast heiter an. "Ich kann deine Wut verstehen,<br />
aber du musst bedenken, in welcher Situation sich Draco Malfoy<br />
befindet. Sein Vater sitzt in Askaban, vom Phönixorden gefangen. Dass<br />
er sich nun der Partei zuwendet, die gegen ihn kämpft <strong>und</strong> sich<br />
Voldemort anschließen möchte, ist allein aus diesem Gr<strong>und</strong> logisch.<br />
Außerdem darfst du nicht vergessen, in welcher Umgebung er<br />
<strong>auf</strong>gewachsen ist: Sein Vater hat ihn gelehrt, die dunklen Künste zu<br />
lieben, er hat ihn im Sinne Voldemorts erzogen ... wer denkst du, würde<br />
sich durch so ein Leben nicht in die falsche Richtung entwickeln?"<br />
"Wenn Sie Malfoys Tat entschuldigen wollen", setzte <strong>Harry</strong> an,<br />
wurde aber von einem Kopfschütteln seines Schulleiters unterbrochen.<br />
"Nicht entschuldigen. Man kann niemandem die Verantwortung für<br />
seine Taten nehmen."<br />
"Aber –“<br />
"Was wir allerdings können ist versuchen zu verstehen, wie Malfoy<br />
zu dem geworden ist, der er ist, <strong>und</strong> wie wir ihm helfen können."<br />
"Helfen?", schrie <strong>Harry</strong> ein wenig lauter als beabsichtigt.<br />
"Sicher liegt dir momentan nichts ferner –“<br />
"Nicht nur momentan –“<br />
200
"Aber genau <strong>das</strong> ist es, was uns von den Todessern unterscheidet:<br />
Fehler vergeben <strong>und</strong> an <strong>das</strong> Gute in einem Menschen glauben."<br />
<strong>Harry</strong> schüttelte resignierend den Kopf. Dumbledore mit seinem<br />
ewigen Glauben an <strong>das</strong> Gute. Was sollte jemand wie Malfoy Gutes in<br />
sich haben? Dumbledore verstand nicht, <strong>das</strong>s einige Menschen von<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>auf</strong> böse waren.<br />
"Du musst überlegen, <strong>das</strong>s Draco Malfoy noch zu jung ist, um alles<br />
richtig bewerten zu können, was um ihn geschieht."<br />
<strong>Harry</strong> sprang vom Stuhl <strong>auf</strong>.<br />
"Ich bin genauso alt wie er, <strong>und</strong> ich weiß zwischen Gut <strong>und</strong> Böse<br />
zu unterscheiden!", rief er zornig. Wieso sollte man ihn <strong>und</strong> Malfoy mit<br />
zwei verschiedenen Maßstäben messen, wenn sie <strong>doc</strong>h gleich alt<br />
waren?<br />
"Ja?", fragte Dumbledore höflich. "Hast du <strong>das</strong> immer <strong>und</strong> von<br />
Anfang an gekonnt?"<br />
<strong>Harry</strong> ließ sich wieder sinken. Er dachte an Quirrell, hinter dem er<br />
nie einen Diener Voldemorts erwartet hätte ... oder Sirius, dem er wohl<br />
nie geglaubt hätte, er wäre <strong>auf</strong> seiner Seite, wenn nicht Pettigrew<br />
<strong>auf</strong>getaucht wäre...<br />
"Bei Sirius habe ich mich geirrt", gab er zu. "Aber ich habe meine<br />
Meinung geändert, als die Fakten feststanden."<br />
"Genau!", rief Dumbledore munter. "Du hast dich überzeugen<br />
lassen, auch wenn deine Intuition erst falsch war. Genauso müssen wir<br />
Draco Malfoy davon überzeugen, <strong>das</strong>s er <strong>auf</strong> der falschen Seite ist."<br />
<strong>Harry</strong> schnaubte. "Er hat Freude daran, andere zu quälen, er ist<br />
<strong>doc</strong>h liebend gern ein Todesser."<br />
"Er hat nicht unbedingt einen angenehmen Charakter, <strong>das</strong> ist<br />
richtig. Aber <strong>das</strong> ist keine Gleichsetzung mit einem bösen Menschen. Es<br />
gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen unsympathisch <strong>und</strong><br />
böse."<br />
"Klar, aber Malfoy ist böse! Er hat versucht, mich umzubringen ..."<br />
"Weil er glaubte, dadurch in Voldemorts Anhängerschaft<br />
<strong>auf</strong>zusteigen <strong>und</strong> Achtung zu erhalten. <strong>Harry</strong>, wieso warst du sofort<br />
gegen Voldemort, sobald du von ihm erfahren hast?"<br />
"Weil er damals meine Eltern ermordet hat natürlich!"<br />
"Eben. Und nicht ursprünglich, weil er böse ist."<br />
"Also <strong>das</strong> ist ja wohl <strong>das</strong>selbe!", empörte sich <strong>Harry</strong>.<br />
"Draco Malfoys Vater ist vom Orden nach Askaban gebracht<br />
worden. Wäre er im Kampf getötet wurden – was durchaus hätte<br />
passieren können – dann hätte der Orden auch seinen Vater ermordet.<br />
Und lebenslang in Askaban zu sitzen ist offen gestanden nicht weit<br />
davon entfernt. Wie würdest du reagieren, wenn <strong>das</strong> deinem Vater<br />
passiert wäre? Selbst wenn dieser sich mit Todessern abgegeben hat, in<br />
deren Gesellschaft du dann auch <strong>auf</strong>gewachsen wärst?"<br />
201
<strong>Harry</strong> schwieg. Ich hätte ihn rächen wollen, dachte er. Genau <strong>das</strong>,<br />
was ich für meine Eltern ja auch tun will.<br />
"Urteile also nicht zu schnell", lächelte Dumbledore. "Nun, wir<br />
werden weiterhin versuchen, Draco Malfoy zu finden, aber ich fürchte, er<br />
ist längst bei Voldemort untergekommen. Wobei sich die Frage stellt, ob<br />
der mit einem misslungenen <strong>und</strong> entdeckten Mordanschlag zufrieden<br />
sein wird."<br />
Unwillkürlich bekam <strong>Harry</strong> ein wenig Mitleid mit Malfoy <strong>und</strong> hasste<br />
sich dafür.<br />
"In Ordnung", erhob sich Dumbledore nun. "Ich muss noch mit<br />
Professor Sprout reden, ich habe eine seltene Art von Lachpflanzen von<br />
einem Fre<strong>und</strong> aus Indonesien zugeschickt bekommen ... Wenn du mich<br />
entschuldigen würdest."<br />
<strong>Harry</strong> erhob sich <strong>und</strong> ging <strong>zur</strong> Tür.<br />
„Professor?“<br />
„Ja, <strong>Harry</strong>?“<br />
„Auch wenn ich anfangs nicht wusste, <strong>auf</strong> welcher Seite Sirius<br />
stand, so wusste ich <strong>doc</strong>h, welches die richtige ist. Das ist ein<br />
Unterschied dazu, Menschen gleich richtig einschätzen zu können.“<br />
„Sicher, <strong>und</strong> genau da liegt deine Stärke: Du hast nichts mit dem<br />
Bösen zu tun, weil es dein Wille ist. Aber Draco Malfoy hat keinen so<br />
starken Willen, sondern ist sein ganzes Leben von den falschen Leuten<br />
beeinflusst worden. Du solltest dein Privileg nutzen, andere <strong>auf</strong><br />
denselben Weg zu führen.“<br />
<strong>Harry</strong> nickte bloß geistesabwesend <strong>und</strong> schloss die Tür.<br />
Auf dem Weg <strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum dachte er über<br />
Dumbledores Worte nach: War Malfoy tatsächlich eher ein Opfer als ein<br />
Täter? Würde er ihm vergeben können, wenn er ihn wieder traf? Er<br />
wusste es nicht zu sagen. Einerseits kam ihm der Gedanke absurd vor,<br />
einem seiner schlimmsten Feinde zu vergeben, <strong>und</strong> er sah am Beispiel<br />
von Dumbledore <strong>und</strong> Snape, wie gefährlich <strong>das</strong> war: Würde man dem<br />
anderen je trauen können?<br />
Er erzählte Ron <strong>und</strong> Hermine von dem Gespräch mit Dumbledore.<br />
Ron zeigte sich wie erwartet empört über Dumbledores Forderung,<br />
Malfoy zu vergeben, Hermine war <strong>zur</strong>ückhaltender, schien aber ihre<br />
momentan unkomplizierte Beziehung zu Ron nicht durch neuen Streit<br />
<strong>auf</strong>s Spiel setzen zu wollen, weswegen sie ihre Meinung lieber für sich<br />
behielt.<br />
Worüber sie allerdings wild diskutierten, war Snapes Bitte, <strong>das</strong><br />
Rosier-Buch auszuleihen.<br />
„Ich frage mich, was er im Schilde führt?“, grübelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
blätterte lustlos durch sein Verwandlungsbuch, um brauchbare Kapitel<br />
über einen Aufsatz zu Materialisierungszaubern zu finden. Ron hatte<br />
202
schon <strong>auf</strong>gegeben <strong>und</strong> schaute lieber Hermine dabei zu, wie sie<br />
umgeben von drei verschiedenen Runen-Wörterbüchern versuchte, eine<br />
Originalinschrift aus dem ersten Jahrtausend zu übersetzen.<br />
„Vielleicht ist er einfach nur neugierig. Wir wissen ja, <strong>das</strong>s er sich<br />
sehr für dunkle Magie interessiert.“<br />
„Aber die Mysterien habe <strong>doc</strong>h nichts mit dunkler Magie zu tun.“<br />
Ron gähnte. „Woher willst du <strong>das</strong> wissen, wir haben <strong>doc</strong>h keine<br />
Ahnung, was in dem Buch steht.“<br />
„Womöglich will er einen Weg finden, jemanden von den Toten<br />
<strong>auf</strong>zuwecken“, äußerte <strong>Harry</strong> vorsichtig die Idee, die ihm seit einer<br />
St<strong>und</strong>e im Kopf herumschwirrte.<br />
Hermine fuhr von ihrem Pergament <strong>auf</strong> <strong>und</strong> verschrieb sich dabei.<br />
„Jetzt habe ich statt „Gkuwatz“ „Gkuwalk“ stehen!“, rief sie in dem<br />
typischen ungeduldigen Ton, den sie für Unzufriedenheit mit ihren <strong>und</strong><br />
der anderen Leistungen reserviert zu haben schien. „Dabei heißt <strong>das</strong><br />
eine Süden <strong>und</strong> <strong>das</strong> andere Osten, <strong>das</strong> verfälscht die Aussage des<br />
ganzen Satzes ...“<br />
„Dann verbesserst du es eben“, stöhnte Ron.<br />
"Und gebe dann so ein Geschmiere ab wie du", meinte sie<br />
gehässig <strong>und</strong> schielte <strong>auf</strong> seinen Aufsatz über Fanghörnige Farne, der<br />
nur so von durchgestrichenen <strong>und</strong> übermalten Wörtern strotzte.<br />
"Dennoch hat Professor Sprout mir <strong>auf</strong> die Arbeit über<br />
Dianthuskraut ein "O" gegeben", prahlte Ron zufrieden lehnte sich<br />
genüsslich <strong>zur</strong>ück.<br />
"Ja, aber auch nur, weil ich über deinen Aufsatz vorher einen<br />
Correctio-Zauber gesprochen habe – dadurch verschwinden Rechtschreibfehler<br />
genauso wie durchgestrichene Worte <strong>und</strong> Ähnliches",<br />
meinte Hermine ein wenig schüchtern.<br />
"Wieso hast du <strong>das</strong> gemacht?", fragte Ron völlig überrascht.<br />
"Na weil ich wollte, <strong>das</strong>s du eine gute Note kriegst." Hermine wurde<br />
jetzt sogar ein bisschen rot. "Inhaltlich war er in Ordnung, nur der äußere<br />
Schliff hat gefehlt."<br />
Jetzt wurde es <strong>Harry</strong> genug.<br />
"Langsam klingst du wie dieser Franbery – der äußere Schliff, <strong>das</strong><br />
hätte auch von ihm sein können –"<br />
"Ehrlich gesagt ist es von ihm, ich habe zum Spaß mal so eine<br />
Arbeit der Bewegung für ästhetische Zauberei gelesen, <strong>und</strong> da stand der<br />
Zauberspruch drin."<br />
<strong>Harry</strong> vergrub <strong>das</strong> Gesicht in den Händen <strong>und</strong> Ron lachte laut <strong>auf</strong>.<br />
"Wenn wir dich nicht hätten, würden wir ehrlich etwas verpassen",<br />
grinste er <strong>und</strong> boxte Hermine in die Seite, wor<strong>auf</strong>hin die beiden<br />
begannen, sich gegenseitig mit aus Pergamentseiten gebastelten <strong>und</strong><br />
verhexten fliegenden Papierflugzeugen zu jagen. <strong>Harry</strong> beschloss, <strong>das</strong><br />
Thema Snape sein zu lassen <strong>und</strong> lieber in die Bibliothek zu gehen.<br />
203
In den nächsten Tagen geschah nichts Ungewöhnliches. Die<br />
Sechstklässler bekamen so viele Haus<strong>auf</strong>gaben <strong>auf</strong> wie noch nie, an fast<br />
jedem Tag schrieben sie eine Arbeit oder mussten ein oder zwei<br />
Aufsätze abgeben. Ron <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> stöhnten unter dieser Last, während<br />
Hermine fast Gefallen daran zu finden schien: Unermüdlich saß sie an<br />
den Abenden in der Bibliothek oder im Gemeinschaftsraum <strong>und</strong> arbeitete<br />
akribisch an ihren Sätzen – mit dem Ergebnis, <strong>das</strong>s sie fast nur "O" <strong>und</strong><br />
"E" als Noten erhielt. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron dagegen mussten sich oft genug mit<br />
einem "A" begnügen, auch ein "M" oder "S" tauchte dann <strong>und</strong> wann <strong>auf</strong> –<br />
die Bewertungen aller Lehrer wurden härter. Wenn die Klasse wieder<br />
einmal gegen die Unmenge an Haus<strong>auf</strong>gaben protestierte, hielten ihnen<br />
die Lehrer eine Predigt über die Bedeutung einer ordentlichen UTZ-<br />
Vorbereitung. Allein Professor McGonagall hatte dies in Verwandlung<br />
schon drei Mal getan. Auf Rons Bemerkung, die UTZ-Prüfungen seien<br />
<strong>doc</strong>h noch zwei Jahre hin, sagte sie noch nicht einmal etwas.<br />
Nur in Verteidigung hatten sie noch ihren Spaß. Zwar hatten sie in<br />
letzter Zeit <strong>das</strong> immens schwierige Thema der ungesagten Zauber<br />
begonnen, aber McGonagall (der nun wieder völlig genesen war) stellte<br />
sich als guter Lehrer heraus, der von zuviel Theorie nichts hielt <strong>und</strong><br />
lieber praktisch mit ihnen übte – mit dem Ergebnis, <strong>das</strong>s fast alle Schüler<br />
der Klasse nach nur einer Woche bereits einfache Zauber schweigend<br />
ausführen konnten.<br />
Auch mit der DA ging es voran, sie hatten Heilzauber mit Erfolg<br />
geübt. Dar<strong>auf</strong>hin hatte Hermine dar<strong>auf</strong> bestanden, ihnen allen einen<br />
Proteus-Zauber beizubringen.<br />
"Damit jeder von euch in der Lage ist, die anderen DA-Mitglieder<br />
mit Hilfe der Münzen zu erreichen. Eine bestimmte Kombination der<br />
Zahlen <strong>auf</strong> der Münze bedeutet Gefahr – was gleichbedeutend mit einem<br />
Aufruf an die DA ist, zusammenzukommen. So ist jeder von euch in der<br />
Lage, um Hilfe zu rufen."<br />
Alle waren davon begeistert, <strong>und</strong> als Hermine auch noch einen<br />
Zauber über sämtliche Münzen sprach, welcher es dem Träger<br />
ermöglichte, zum Ort des Hilferufes zu gelangen, erklang lauter Beifall im<br />
Raum der Wünsche.<br />
So verging die Zeit, <strong>und</strong> vor lauter Arbeit merkte <strong>Harry</strong> gar nicht,<br />
wie die Bäume langsam bunt wurden, die Tage kürzer <strong>und</strong> die Nächte<br />
deutlich kühler.<br />
Deshalb kam es, <strong>das</strong>s er eines Tages <strong>auf</strong>wachte <strong>und</strong> recht<br />
überrascht den ersten schwachen Raureif <strong>auf</strong> den Wiesen von Hogwarts<br />
sehen konnte.<br />
Beim Frühstück sprach er Ron <strong>und</strong> Hermine wieder einmal <strong>auf</strong><br />
Snapes Vorhaben an, <strong>das</strong> Rosier-Buch lesen zu wollen.<br />
204
"<strong>Harry</strong>, <strong>das</strong> ist Unsinn", erklärte Hermine ihm wie jedes der<br />
Dutzend Male während der letzten Wochen geduldig, als wollte sie<br />
einem kleinen Kind vorsichtig klarmachen, <strong>das</strong>s es heute keine<br />
Süßigkeiten mehr gab.<br />
"Natürlich will Snape niemanden von den Toten <strong>zur</strong>ückholen, denn<br />
er ist in der Lage, sein Gehirn zu benutzen <strong>und</strong> weiß, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
unmöglich ist –"<br />
"Hermine, du hast ihn nicht gehört, er hat sich ausdrücklich für den<br />
Hexer von Hexham interessiert, ich sage dir: Er versucht, darüber etwas<br />
herauszufinden."<br />
Hermine seufzte.<br />
"Und selbst wenn, er wird nichts finden."<br />
"Und warum? Nur weil es dir nicht gelungen ist?", fragte <strong>Harry</strong><br />
provozierend.<br />
"Wen sollte Snape überhaupt wieder ins Leben holen wollen?", gab<br />
es Hermine <strong>auf</strong>, <strong>Harry</strong> von der Sinnlosigkeit seiner Argumente<br />
überzeugen zu wollen.<br />
"Slytherin", schlug Ron vor.<br />
"Nun fang du nicht auch noch mit dem Quatsch an", fuhr Hermine<br />
ihn an, wor<strong>auf</strong>hin Ron vor Schreck seine Gabel fallen ließ.<br />
"Wieso nicht?", grübelte <strong>Harry</strong> wie so oft in letzter Zeit. "Vielleicht<br />
hat Voldemort ihm sogar den Auftrag gegeben."<br />
Hermine schlug ihren Tagespropheten nieder.<br />
"Snape ist kein Todesser!", sagte sie. "Wie oft soll ich dir <strong>das</strong> noch<br />
sagen –"<br />
"Bis du es einwandfrei beweisen kannst", entgegnete <strong>Harry</strong> ruhig.<br />
„Abgesehen davon hätte Voldemort kein Interesse daran, Slytherin<br />
zum Leben zu erwecken, dann hätte er einen Konkurrenten um die<br />
Macht über die Todesser.“<br />
"Also wenn ich die Möglichkeit hätte, jemanden von den Toten<br />
<strong>auf</strong>erstehen zu lassen, dann würde ich einen tragisch getöteten<br />
Geliebten wieder zu mir holen", ließ Ginny vernehmen, die zusammen<br />
mit Neville dem Gespräch gefolgt war.<br />
"Tja, wer weiß, vielleicht werden Snape <strong>und</strong> Slytherin DAS<br />
Traumpaar", stichelte Hermine in Richtung <strong>Harry</strong>. Der dagegen wirkte<br />
nachdenklich.<br />
"Womöglich liegst du gar nicht so falsch, Ginny", meinte er<br />
langsam. Allerdings wollte er nicht über <strong>das</strong> Thema nachdenken.<br />
Ein Stück Spiegelei fiel von Rons Gabel, während er <strong>Harry</strong><br />
entgeistert anstarrte. "Du denkst wirklich, Snape ist schwul?", fragte er<br />
mit solchem Ernst, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> in sein Kürbissaftglas prustete.<br />
"Quatsch, ich habe dabei nicht an Slytherin gedacht."<br />
205
Er schaute Hermine an, eine silberne Hirschkuh im Sinn, aber die<br />
schüttelte den Kopf. "Nein, man kann niemanden von den Toten<br />
<strong>zur</strong>ückholen, egal wen oder wie."<br />
"Ich will trotzdem Snapes Ergebnisse erfahren", meinte <strong>Harry</strong>.<br />
Wenn der Zaubertranklehrer schon in der Absicht, einen Weg zu den<br />
Toten zu finden, <strong>das</strong> Rosier-Buch las <strong>und</strong> untersuchte, dann schien ihm<br />
<strong>das</strong> die einzige Möglichkeit, an die Wahrheit zu kommen. Wenn Snape<br />
nichts fand, entschied er, würde er <strong>das</strong> Thema vergessen.<br />
"Und wie willst du <strong>das</strong> anstellen?", fragte Ron neugierig. "In sein<br />
Büro einbrechen?"<br />
<strong>Harry</strong> schaute ihn an.<br />
"Genau."<br />
Den ganzen Weg hinunter in die Kerker stritt er sich mit Hermine,<br />
die ganz <strong>und</strong> gar gegen ein Eindringen in den privaten Raum ihres<br />
Lehrers war.<br />
"Wieso sträubst du dich so?", fragte <strong>Harry</strong> verw<strong>und</strong>ert. "Du warst in<br />
unserem zweiten Jahr selbst unerlaubt dort drin!"<br />
"Ja, um herauszufinden, ob Malfoy der Erbe Slytherins ist, nicht,<br />
um nach Notizen Ausschau zu halten, die irgendwelchen Hirngespinsten<br />
entsprungen sind –"<br />
"Ach, dann habe ich also Hirngespinste?", blaffte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> trat<br />
wütend gegen eine Rüstung, die an einer Gabelung in den düsteren<br />
Kellergängen stand.<br />
"Ich möchte <strong>doc</strong>h bitten, Sir!", schnarrte ihm die Rüstung in einem<br />
Ton rostigen Quietschens hinterher.<br />
"Wie willst du denn diesmal Snape ablenken?", fragte Ron schnell,<br />
bevor Hermine eine noch bissigere Antwort geben konnte.<br />
"Wieder Feuerwerkskörper in einen Kessel werfen geht wohl nicht,<br />
erstens haben wir keine, <strong>und</strong> zweitens ist die Klasse viel zu klein, um<br />
unentdeckt einen Aufruhr verursachen zu können."<br />
<strong>Harry</strong> wusste, <strong>das</strong>s Ron Recht hatte. Er musste sich etwas<br />
anderes einfallen lassen, um Snapes Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> andere Dinge<br />
zu lenken als <strong>auf</strong> die Tatsache, <strong>das</strong>s er in sein Büro ging, um<br />
persönliche Notizen zu lesen.<br />
Gerade wollten sie in den Unterrichtsraum treten (Ron hatte es sich<br />
in letzter Zeit angewöhnt, immer mit bis <strong>zur</strong> Tür zu kommen <strong>und</strong> die<br />
beiden dann beim Anblick Snapes zu verabschieden, er sagte, es liefe<br />
ihm jedes Mal ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn er dann<br />
einfach wieder gehen konnte), als sie Snapes Stimme aus einem Gang<br />
vor ihnen hörten, der in Gewölbe führte, in denen <strong>Harry</strong> noch nie<br />
gewesen war.<br />
„Ich habe meine Untersuchungen gestern abgeschlossen,<br />
Professor“, sprach er.<br />
206
„Sehr schön, <strong>und</strong> ich schließe aus ihrem Verhalten, <strong>das</strong>s Sie etwas<br />
gef<strong>und</strong>en haben?", erklang Dumbledores höfliche, aber leicht<br />
ungeduldige Stimme.<br />
"Oh ja, ich habe Gr<strong>und</strong> zu der Annahme, <strong>das</strong>s die Gerüchte über<br />
den Hexer von Hexham keineswegs so albern sind, wie gerne behauptet<br />
wird. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, den Beweis gef<strong>und</strong>en zu haben,<br />
der ihm Recht gibt. Es handelt sich, wenn ich <strong>das</strong> sagen darf, um eine<br />
sensationelle Entdeckung."<br />
"In dem Falle, Severus", wies Dumbledore ihn an, nun merklich<br />
beunruhigt, "bringen Sie mir Ihre Ergebnisse in mein Büro – sagen wir<br />
Freitag, vorher habe ich einige wichtige Erledigungen zu machen. Bis<br />
dahin zeigen Sie niemandem, was Sie aus dem Buch herausgelesen<br />
haben."<br />
"Natürlich nicht. Die Notizen sind in meinem Büro, welches ich<br />
immer mit einem Einbruchssicherungszauber versehe, solange ich nicht<br />
dort bin."<br />
"Ausgezeichnet, man kann nie sicher genug sein. Nun<br />
entschuldigen Sie mich bitte."<br />
Schritte kamen näher. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine liefen schnell in den<br />
Klassenraum, Ron versteckte sich hinter einem Mauervorsprung, zum<br />
Glück schien Snape aber nichts <strong>auf</strong>gefallen zu sein.<br />
Als sie an ihren Plätzen saßen, beugte sich <strong>Harry</strong> zu Hermine <strong>und</strong><br />
flüsterte: "Ich brauche diese Notizen, ich muss sie einfach haben. Wer<br />
weiß, was dieser Schleimbeutel herausgef<strong>und</strong>en hat."<br />
Hermine schüttelte resignierend den Kopf.<br />
"Aber wie willst du <strong>das</strong> anstellen?", fragte sie. <strong>Harry</strong> grinste, froh,<br />
<strong>das</strong>s sie ihn wenigstens nicht mehr davon abhalten wollte, jetzt, wo es<br />
Anzeichen gab, <strong>das</strong>s die ganze Hexer-Geschichte nicht nur Unsinn war.<br />
Snape stellte sich vor die Klasse, hämisch grinsend wie immer,<br />
aber als er zu sprechen begann, bemerkte <strong>Harry</strong> leichte<br />
Konzentrationsschwächen, er schien manchmal einige Sek<strong>und</strong>en in<br />
Gedanken nicht bei dem Unterrichtsstoff zu sein. Außerdem machte er<br />
den Eindruck einer Aufgeräumtheit, die <strong>Harry</strong> an Snape so seltsam <strong>und</strong><br />
ungewöhnlich vorkam, <strong>das</strong>s er eine Weile brauchte, bis er die Antwort<br />
hatte: Snape war über irgendetwas glücklich.<br />
„Für die heutige Unterrichtsst<strong>und</strong>e habe ich in den letzten Wochen<br />
einen Vielsafttrank gebraut.“ Er wies <strong>auf</strong> einen Kessel, der vor ihm stand.<br />
„Sie werden gleich alle eine Probe davon nehmen <strong>und</strong> ihn zusammen<br />
mit einem Partner ausprobieren. Die Wirkung des Tranks hält in etwa<br />
eine St<strong>und</strong>e an, in dieser Zeit beschäftigen Sie sich mit der Theorie –<br />
<strong>und</strong> in den nächsten Wochen sollten Sie dann in der Lage sein, selbst<br />
einen Vielsafttrank herzustellen. Es wäre zu empfehlen, <strong>das</strong>s Ihnen <strong>das</strong><br />
tadellos gelingt, denn Sie werden ihren Trank selbst zu sich nehmen<br />
207
müssen.“ Er grinste voller Vorfreude <strong>auf</strong> etwaige Unfälle <strong>und</strong> wandte sich<br />
unheilvoll <strong>Harry</strong> zu.<br />
„<strong>Potter</strong> kann uns sicher erklären, wie ein Vielsafttrank im Detail<br />
wirkt.“<br />
Und ob er <strong>das</strong> konnte! Immerhin hatte er <strong>das</strong> widerliche Gebräu<br />
schon einmal trinken müssen. <strong>Harry</strong> gab eine ausführliche<br />
Beschreibung, <strong>und</strong> Snapes höhnisches Grinsen verschwand. Er sagte<br />
aber nichts, sondern ließ die Schüler stattdessen ihre Proben abholen.<br />
Als <strong>Harry</strong> an der Reihe war, sah er wie Snape gedankenverloren in eine<br />
andere Richtung schaute, augenscheinlich wieder mit dem Rosier-Buch<br />
beschäftigt. Flink nahm er sich zwei statt einen Becher <strong>und</strong> füllte den<br />
einen randvoll. Als er wieder saß, kippte er die Hälfte in den leeren<br />
Becher um, versiegelte ihn magisch <strong>und</strong> ließ ihn in seiner Tasche<br />
verschwinden. Nicht einmal Hermine hatte etwas gemerkt.<br />
Den Rest der St<strong>und</strong>e hatten sie alle eine Menge Spaß – was für<br />
Zaubertränke gänzlich ungewohnt war. Obwohl Snape es sich nicht<br />
nehmen ließ, <strong>Harry</strong>, der nun Hermines Aussehen hatte, eine St<strong>und</strong>e lang<br />
zu triezen, konnte <strong>Harry</strong> nur staunen, wie es sich anhörte, wenn er in<br />
Zaubertränke alles wusste – denn Hermine erklärte die genaue<br />
Zubereitung des Trankes in seiner Gestalt <strong>und</strong> in seiner Stimme, aber<br />
mit der gewohnten Selbstsicherheit.<br />
Lachend verließen sie nach der St<strong>und</strong>e die Kellergewölbe.<br />
"War echt eine – äh, ungewöhnliche Erfahrung, mal du zu sein",<br />
grinste <strong>Harry</strong>, als Ron sich zu ihnen gesellte. Auch er hörte sich vergnügt<br />
die Geschehnisse der St<strong>und</strong>e an.<br />
"Schade, <strong>das</strong>s Snape wusste, in wen ihr euch verwandelt habt,<br />
sonst hätte ich als Hermine so getan, als wüsste ich nichts." Er setzte<br />
einen ahnungslosen Gesichtsausdruck <strong>auf</strong> <strong>und</strong> stammelte: "Nein,<br />
Professor, ich kenne die Antwort nicht! Weißt du was, Hermine, <strong>das</strong><br />
hätte deinem Image wahrscheinlich ganz gut getan."<br />
Hermine schüttelte nur den Kopf über Ron, während die drei in den<br />
Gemeinschaftsraum gingen, um an der gewaltigen Menge an<br />
Haus<strong>auf</strong>gaben zu arbeiten, die sich vor ihnen <strong>auf</strong>türmte wie ein<br />
unüberwindbares Hindernis. Da Astronomie diesmal ausfiel, kam auch<br />
Hermine mit.<br />
Mitten in der Arbeit, als er an einer besonders verzwickten Aufgabe<br />
für Verwandlung saß, warf <strong>Harry</strong> entnervt seinen Stift beiseite. Die drei<br />
waren im Gemeinschaftsraum fast alleine, nur in einer hinteren Ecke<br />
saßen ein paar Drittklässler <strong>und</strong> spielten mit zwei kleinen Katzen.<br />
"Ich habe darüber nachgedacht, wie wir Snape ablenken können",<br />
begann <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> schaute zu seinen Fre<strong>und</strong>en. Ron hob den Kopf von<br />
dem voll gekritzelten Pergament, <strong>auf</strong> <strong>das</strong> er etwas über Abraxas-Pferde<br />
208
für Pflege magischer Geschöpfe geschrieben hatte <strong>und</strong> sah ihn neugierig<br />
an, Hermine schloss mit einem Seufzen ihr Runenwörterbuch.<br />
"Und zwar mit Hilfe von dem hier."<br />
Er holte <strong>das</strong> kleine Fläschchen mit dem Vielsafttrank aus seiner<br />
Tasche <strong>und</strong> stellte es vor ihnen <strong>auf</strong> den Tisch.<br />
"Du hast es aus Zaubertränke mitgenommen!", rief Hermine <strong>und</strong><br />
atmete scharf ein.<br />
"Klar. Einer von uns wird sich einfach in jemanden verwandeln,<br />
dem Snape bereitwillig für ein paar Minuten vor die Tür folgt, <strong>und</strong> derweil<br />
werde ich in sein Büro gehen <strong>und</strong> die Notizen nehmen."<br />
Ron schaute ihn für einige Sek<strong>und</strong>en prüfend an.<br />
"Das klappt nicht", stellte er fest.<br />
"Wieso nicht?"<br />
"Erstens, weil sämtliche Schüler sehen werden, wie du in Snapes<br />
Büro einbrichst, <strong>und</strong> zumindest die Slytherins werden petzen. Zweitens,<br />
weil Snape <strong>das</strong> Fehlen der Notizen natürlich bemerken wird, <strong>und</strong> da er<br />
sowieso immer dich verdächtigt, hast du kaum eine Chance,<br />
davonzukommen. Und drittens weil <strong>das</strong> bedeuten würde, <strong>das</strong>s du<br />
Hermine überreden musst mitzumachen, <strong>und</strong> <strong>das</strong> kannst du vergessen."<br />
Er grinste Hermine an.<br />
Die hob herausfordernd ihren Kopf. "Ich werde <strong>Harry</strong> helfen, wenn<br />
ihm diese Notizen so wichtig sind, auch wenn ich nach wie vor der<br />
Meinung bin, <strong>das</strong>s sie nicht erklären, wie man Tote <strong>zur</strong>ückholen kann."<br />
Sie blickte <strong>Harry</strong> ernst an. "Aber ich habe mich schon öfter geirrt, <strong>und</strong><br />
wenn es nach wie vor dein Wunsch ist, mehr darüber herauszufinden,<br />
werden wir dir beistehen."<br />
"Danke", sagte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> spürte unbändige Freude darüber, <strong>das</strong>s<br />
seine beiden besten Fre<strong>und</strong>e auch gegen ihre eigene Vernunft mit ihm<br />
jeden Weg gehen würden.<br />
"He, was soll <strong>das</strong> heißen, wir?", wollte Ron wissen.<br />
"Genau <strong>das</strong>, Ron Weasley", meinte Hermine vergnügt. "Weder ich<br />
noch <strong>Harry</strong> dürfen die Klasse verlassen, sonst fällt es den Slytherins <strong>auf</strong>.<br />
Nein, du musst in Snapes Büro <strong>und</strong> die Notizen kopieren – ich kenne<br />
einen einfachen Kopierzauber, man legt ein leeres Pergamentblatt <strong>auf</strong><br />
<strong>das</strong> Original, spricht den Zauber <strong>und</strong> sofort erscheinen die Worte <strong>auf</strong><br />
dem Kopierpergament."<br />
"Aber Hermine", wandte <strong>Harry</strong> ein, "Ron ist nicht im<br />
Klassenzimmer. Wie soll er da in Snapes Büro?"<br />
"Mit deinem Tarnumhang natürlich", meinte sie lässig <strong>und</strong> lehnte<br />
sich <strong>zur</strong>ück. "Er kommt mit uns rein <strong>und</strong> schleicht sich später in Snapes<br />
Zimmer. Jetzt müssen wir nur noch jemanden finden, der Snape<br />
anlenkt."<br />
"Jemanden von der DA?", schlug <strong>Harry</strong> vor.<br />
209
Hermine überlegte. "Wir sollten Ginny fragen. Sie verliert auch in<br />
schwierigen Situationen nicht die Nerven."<br />
Seltsamerweise empfand <strong>Harry</strong> einen gewissen Stolz bei dieser<br />
Bemerkung, <strong>und</strong> er war erleichtert, ihn <strong>auf</strong> die Tatsache <strong>zur</strong>ückführen zu<br />
können, <strong>das</strong>s Ginny in der von ihm trainierten DA war.<br />
Warum auch sonst?<br />
Als Ginny eine St<strong>und</strong>e später im Gemeinschaftsraum <strong>auf</strong>tauchte,<br />
willigte sie sofort ein.<br />
"Das hat mir wirklich gefehlt", juchzte sie voller Vorfreude.<br />
"Was?", fragte Ron.<br />
"Na, solche Fred- <strong>und</strong> George-Vorhaben. Seit sie nicht mehr <strong>auf</strong><br />
der Schule sind, ist es enorm langweilig geworden. Ich wünschte mir<br />
fast, eine neue Umbridge würde kommen – ich habe den ganzen Tag<br />
über nichts zu tun als zu lernen, <strong>das</strong> deprimiert irgendwie."<br />
"Fred <strong>und</strong> George sind manchmal übers Ziel hinausgeschossen",<br />
meinte Hermine, die sich oft genug mit den Zwillingen wegen<br />
Regelverstoßes angelegt hatte.<br />
"Ginny hat Recht, es wird Zeit, <strong>das</strong>s wir uns wieder in ein<br />
Abenteuer stürzen", hörte <strong>Harry</strong> sich sagen <strong>und</strong> bekam dafür ein<br />
strahlendes Lächeln von ihr, <strong>das</strong> ihm plötzlich weiche Knie machte.<br />
Hermine sah ihn prüfend an, sagte aber nichts.<br />
"Gut, in wen soll ich mich verwandeln?", fragte Ginny beschwingt.<br />
"Wissen wir noch nicht. In irgendeinen Lehrer sicherlich."<br />
"Vielleicht Dumbledore?", schlug Ron vor.<br />
"Nein, er <strong>und</strong> Snape sind zu vertraut, er könnte Fragen stellen, die<br />
Ginny nicht beantworten kann. Mit welchem Lehrer hat Snape überhaupt<br />
nichts zu tun? Je weniger er jemanden kennt, desto geringer ist die<br />
Gefahr, sich zu verraten."<br />
"McGonagall", fiel <strong>Harry</strong> ein.<br />
"Klar, <strong>das</strong> ist es! Snape hasst ihn, er würde nie freiwillig mit ihm<br />
sprechen, also weiß er nicht viel über ihn", meinte Hermine zufrieden.<br />
"Jetzt brauchen wir nur noch ein paar Haare von ihm."<br />
"Und holst du sie <strong>und</strong> schleppst dann wieder Katzenhaare an?",<br />
stichelte Ron. Hermine warf ihm einen nicht sehr angetanen Blick zu.<br />
"Nein, du wirst", parierte sie. "Nämlich morgen Abend." Ron hatte<br />
sich da mit ihrem Verteidigungslehrer zum Schachspielen verabredet.<br />
Ron schnaubte nur.<br />
Den folgenden Tag hatte <strong>Harry</strong> nichts anderes im Sinn als diese<br />
Notizen. Er wollte lesen, was Snape herausgef<strong>und</strong>en hatte – denn wenn<br />
er den Zaubertranklehrer auch aus tiefstem Herzen hasste, so konnte er<br />
nicht umhin anzuerkennen, <strong>das</strong>s er ein mächtiger Zauberer mit<br />
ungeheurem Wissen war. Wenn er etwas entdeckt hatte, <strong>das</strong> ihn so<br />
210
durcheinander brachte wie die letzte Zaubertrankst<strong>und</strong>e, dann war <strong>das</strong><br />
nicht nur ein Hirngespinst, so wie Hermine behauptete. Nein, da steckte<br />
mehr dahinter. <strong>Harry</strong> versuchte, nicht zu oft an Sirius zu denken,<br />
während er eine weitere sehr schwere Verwandlungsst<strong>und</strong>e überstand<br />
<strong>und</strong> am Nachmittag in Pflege magischer Geschöpfe zusammen mit den<br />
anderen ein Abraxas-Pferd, <strong>und</strong> zwar ein besonders seltenes Exemplar<br />
der Himalaya-Unterart, bestaunte, <strong>das</strong> Hagrid irgendwie hatte besorgen<br />
können. Es war etwas größer als ein normales Pferd, hatte eine<br />
schneeweiße Färbung <strong>und</strong> zwei riesige Flügel, mit denen es nervös<br />
schlug, während die Schüler <strong>das</strong> zwar scheue, aber sanfte Pferd<br />
streichelten.<br />
Abends saßen er <strong>und</strong> Hermine im Gemeinschaftsraum. <strong>Harry</strong><br />
spielte gedankenverloren mit dem kleinen Glas voll Vielsafttrank,<br />
Hermine las in einem fast einen Meter dicken Schinken über<br />
Materialisierungszauber. Immer wieder schaute er <strong>auf</strong> die Uhr, der Raum<br />
hatte sich schon geleert <strong>und</strong> nichts war zu hören als <strong>das</strong> knisternde<br />
Kaminfeuer, <strong>das</strong> in diesen kalten Oktobertagen wohlige Wärme<br />
verbreitete. Erst kurz nach Mitternacht öffnete sich <strong>das</strong> Portrait <strong>und</strong> Ron<br />
kam herein.<br />
"Und wie ist es gel<strong>auf</strong>en?", sprang <strong>Harry</strong> von seinem Stuhl hoch.<br />
"Klasse, wir haben fünf Spiele gemacht, <strong>und</strong> ich habe drei davon<br />
gewonnen, auch wenn <strong>das</strong> letzte äußerst knapp war. Aber da ich meinen<br />
Bauern geschickt gesetzt habe –"<br />
"Ron, hast du seine Haare?", fiel Hermine ungeduldig ein.<br />
Beleidigt ob des offensichtlichen Desinteresses an seiner<br />
grandiosen Leistung murrte Ron vor sich hin <strong>und</strong> holte ein Stück Stoff<br />
aus seiner Hosentasche, <strong>das</strong> er <strong>auf</strong> dem Tisch auseinander schlug, <strong>und</strong><br />
hielt eine dünne, pechschwarze Haarsträhne in die Höhe.<br />
Hermine runzelte die Stirn. "Die wirst du kaum zufällig gef<strong>und</strong>en<br />
haben", zweifelte sie.<br />
"Nein", antwortete Ron fröhlich, ließ sich in einen Sessel fallen <strong>und</strong><br />
nahm sich einen Schokofrosch aus einer großen Schachtel, die <strong>auf</strong> dem<br />
Kaminsims stand.<br />
"Er war zwar einmal aus dem Zimmer gegangen, weil Flitwick ihn<br />
sprechen wollte, aber hast du schon mal versucht, ein schwarzes Haar<br />
<strong>auf</strong> einem schwarzen Mantel zu finden? Jedenfalls war er <strong>zur</strong>ück, bevor<br />
ich Erfolg hatte, <strong>und</strong> da habe ich ihn einfach gefragt –"<br />
"Du hast was? Hermine sah ihn entsetzt an.<br />
"Ron, du Rindvieh, nun wird er sicher Dumbledore informieren!",<br />
stöhnte <strong>Harry</strong>.<br />
"Quatsch", mampfte Ron seinen Schokofrosch. "Er war gleich<br />
Feuer <strong>und</strong> Flamme <strong>und</strong> meinte, er selbst würde Snape ablenken, wenn<br />
er nicht zeitgleich Unterricht hätte. Dafür hat er sich selbst ein paar<br />
Haare abgeschnitten <strong>und</strong> mir gegeben. Zusammen mit dem hier." Er<br />
211
legte eine Brille, die genauso aussah wie die McGonagalls, vor <strong>Harry</strong><br />
hin.<br />
Seufzend stellte <strong>Harry</strong> den Vielsafttrank <strong>auf</strong> den Tisch. Er schöpfte<br />
etwa die Hälfte davon in ein neues Glas <strong>und</strong> gab ein paar der langen<br />
Haare hinein. Den Rest legte er beiseite.<br />
"Was machst du da?", frage Ron.<br />
"Wer weiß, wann wir diesen Trank noch einmal brauchen", erklärte<br />
er <strong>und</strong> schaute zu, wie die Flüssigkeit sich vor ihm tiefblau färbte.<br />
„Fertig“, strahlte er <strong>und</strong> ließ <strong>das</strong> Fläschchen in seiner Tasche<br />
verschwinden.<br />
Am nächsten Tag ging er mit einem noch flaueren Gefühl als sonst<br />
in den Zaubertrank-Klassenraum. Hermine neben ihm war ähnlich<br />
nervös. Vor der St<strong>und</strong>e hatten sie Ginny den Vielsafttrank gegeben. Sie<br />
hatte zwar Unterricht, meinte aber, fünf Minuten vor Ende der St<strong>und</strong>e<br />
verschwinden zu wollen. "Ist eh nur Geschichte der Zauberei – Binns<br />
merkt vermutlich nicht einmal, <strong>das</strong>s ich fehle. Wir sehen uns nachher!",<br />
hatte sie in Vorfreude <strong>auf</strong> ihren Plan gerufen <strong>und</strong> war in die oberen<br />
Stockwerke gel<strong>auf</strong>en, während sie mitsamt dem unter dem Tarnumhang<br />
verborgenen Ron in den Keller gingen.<br />
Obwohl sie ausgemacht hatten, <strong>das</strong>s Ron die St<strong>und</strong>e über neben<br />
der Wand stehen sollte, spürte <strong>Harry</strong> ihn immer wieder direkt neben sich<br />
heruml<strong>auf</strong>en.<br />
"Was machst du da?", flüsterte er einmal, als Ron sich neugierig<br />
über seinen Kessel gebeugt hatte <strong>und</strong> durch die <strong>auf</strong>steigenden Dämpfe<br />
hatte niesen müssen.<br />
"Sorry, aber mir ist langweilig!", murrte er leise.<br />
Plötzlich tauchte Snape neben <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>.<br />
"Führen wir jetzt schon Selbstgespräche?", höhnte er <strong>und</strong> schaute<br />
in <strong>Harry</strong>s Kessel. Ron zuckte erschrocken <strong>zur</strong>ück. Alarmiert blickte<br />
Snape mit seinen kalten schwarzen Augen genau dorthin, wo Ron sein<br />
musste. Da aber die Slytherins in Erwartung einer neuen Demütigung die<br />
Aufmerksamkeit ganz <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> gerichtet hatten, unterließ es Snape,<br />
nach einem möglicherweise nicht existenten Wesen zu tasten, sondern<br />
rümpfte über <strong>Harry</strong>s ersten Versuch eines Vielsafttrankes die Nase.<br />
"Noch einmal neu anfangen, <strong>Potter</strong>", meinte er genüsslich <strong>und</strong><br />
wischte mit seinem Zauberstab die zähe Flüssigkeit aus <strong>Harry</strong>s Kessel.<br />
Dieser wollte fast wütend <strong>auf</strong>springen, riss sich aber zusammen<br />
<strong>und</strong> dachte an nachher <strong>und</strong> an die Genugtuung, Snapes persönliche<br />
Notizen zu stehlen.<br />
Langsam vergingen die Minuten, <strong>und</strong> als <strong>Harry</strong> fast schon<br />
fürchtete, es würde bald klingeln <strong>und</strong> die Schüler gehen, womit sie ihr<br />
Vorhaben abbrechen müssten, klopfte jemand an die Tür. Snape sah<br />
stirnrunzelnd von Malfoys Kessel <strong>auf</strong> (dessen Inhalt er gerade als<br />
212
vorbildlichen Vielsafttrank präsentiert hatte, auch wenn dieser ganz<br />
anders aussah als der, den <strong>Harry</strong> aus seinem zweiten Jahr in Erinnerung<br />
hatte).<br />
"Herein", rief er mit deutlichem Missfallen in der Stimme.<br />
Die Tür öffnete sich <strong>und</strong> McGonagall trat ein. Oder besser Ginny,<br />
korrigierte sich <strong>Harry</strong> – aber es war kein Unterschied zum echten<br />
McGonagall zu bemerken. Der Vielsafttrank von Snape war zum Glück<br />
professionell gebraut gewesen. Mit dem für seinen Verteidigungslehrer<br />
so typischen Lächeln ging Ginny beschwingt <strong>auf</strong> Snape zu.<br />
"Severus", meinte sie so locker es ihr wohl möglich war, "ich muss<br />
Sie bitten, mir wegen einer dringenden Angelegenheit kurz vor die Tür zu<br />
folgen." Sie nickte zu den interessiert zu ihnen hinüberblickenden<br />
Schülern, um anzudeuten, <strong>das</strong>s sie dabei kein Publikum haben wollte.<br />
"Wenn Sie die Fre<strong>und</strong>lichkeit besitzen, bis nach dem Unterricht zu<br />
warten, McGonagall", knurrte Snape, sarkastisch jedes Wort betonend.<br />
Ginny lachte überzeugend unbeschwert <strong>auf</strong>.<br />
"Nein, es ist nötig, <strong>das</strong>s wir jetzt sofort gehen. Es gab einen kleinen<br />
– äh, Unfall." Sie schafft es sogar, einen einigermaßen gelungenen<br />
amerikanischen Akzent zu imitieren. Jedenfalls wäre <strong>Harry</strong> nicht dar<strong>auf</strong><br />
zu kommen, <strong>das</strong>s nicht der echte McGonagall vor ihnen stand, wenn er<br />
es nicht wüsste. Snape scheinbar auch nicht, denn zu <strong>Harry</strong>s<br />
unsäglicher Erleichterung ging er <strong>zur</strong> Tür <strong>und</strong> rief in die Klasse:<br />
"Räumen Sie <strong>auf</strong> <strong>und</strong> lesen Sie bis <strong>zur</strong> nächsten St<strong>und</strong>e Kapitel<br />
fünf. Und keine Ausflüchte, wer die Theorie nächste St<strong>und</strong>e nicht<br />
beherrscht, wird nachsitzen." Er ging zu Ginny, welche, nicht ohne <strong>Harry</strong><br />
vorher zuzuzwinkern, hinter den beiden die Tür schloss.<br />
"Los jetzt", flüsterte er in Richtung Ron, der aber schon nicht mehr<br />
da zu sein schien. Im allgemeinen Aufbruch, Kesselputzen <strong>und</strong><br />
Bücherräumen sah er aus den Augenwinkeln, wie die Tür zu Snapes<br />
Büro ein Stück <strong>auf</strong>gestoßen wurde. Niemand anders achtete dar<strong>auf</strong>.<br />
Er <strong>und</strong> Hermine packten bewusst langsam ihre Sachen, beständig<br />
<strong>auf</strong> <strong>das</strong> abermalige Schließen der Tür wartend, <strong>das</strong> ihnen von der<br />
Beendigung Rons Aufgabe kündigen würde. Stattdessen ging aber die<br />
Klassenraumtür wieder <strong>auf</strong> <strong>und</strong> Snape kam herein, wutschnaubend.<br />
Erschrocken sah <strong>Harry</strong> Hermine an, die Hände ringend <strong>und</strong> nicht gerade<br />
un<strong>auf</strong>fällig Snapes Büro beobachtete.<br />
"Ihr Großcousin schafft es sogar, Sie an Arroganz zu übertreffen,<br />
<strong>Potter</strong>", fauchte Snape mit so viel Hass, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> nicht umhin kam,<br />
Ginny in Gedanken für ihren Auftritt zu loben.<br />
Snape ging <strong>auf</strong> sein Büro zu. Schnell ließ <strong>Harry</strong> die Bücher fallen,<br />
die er noch in der Hand hielt – Snape fuhr herum, <strong>und</strong> in dieser Sek<strong>und</strong>e<br />
schloss sich hinter seinem Rücken leise die Bürotür.<br />
213
"Sorry", grinste <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> merkte, wie Ron wieder neben ihm<br />
stand. Snape bebte vor Wut, beherrschte sich aber <strong>und</strong> verschwand in<br />
seinem Arbeitszimmer.<br />
"Ich habe sie", zischte Ron leise in <strong>Harry</strong>s Ohr, <strong>und</strong> sie sahen zu,<br />
<strong>das</strong>s sie aus Snapes Sichtweite <strong>und</strong> <strong>auf</strong> die Gänge kamen. Dort riss Ron<br />
<strong>auf</strong>atmend den Tarnumhang herunter.<br />
„Das Ding kann einen nerven, ich muss ein Dutzend Mal darüber<br />
gestolpert sein. Furchtbar!“ Stolz überreichte er <strong>Harry</strong> eine<br />
Pergamentseite.<br />
„Mehr gab es nicht?“ Irgendwie hatte er erwartet, einen dicken<br />
Stapel Informationen zu bekommen – <strong>und</strong> nun stellte sich Snapes große<br />
Entdeckung als nicht einmal zehnzeiliges, offenbar in Hast<br />
geschriebenes Gekritzel heraus.<br />
„Du hast sicher <strong>das</strong> falsche Blatt!“, rief er tief enttäuscht, während<br />
er vergeblich versuchte, die für Snape untypisch unsaubere Schrift im<br />
L<strong>auf</strong>en zu entziffern.<br />
"Habe ich nicht, da steht nämlich "Mysterien des Lebens" drüber",<br />
verteidigte sich Ron. "Da habe ich es nicht für nötig gehalten, Snapes<br />
Büro <strong>auf</strong> weitere Seiten hin zu durchsuchen, die er in der Ahnung<br />
versteckt hatte, <strong>das</strong>s ich einmal in deinem Tarnumhang in sein Zimmer<br />
eindringen würde, während meine Schwester in der Gestalt unseres<br />
Verteidigungslehrers ihn festnagelt!"<br />
"Schon gut, <strong>das</strong> hast du toll gemacht", meinte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> auch<br />
Hermine nickte angesichts des Pergaments beifällig. "Der Kopierzauber<br />
ist sehr gut gelungen", lobte sie Ron, der gleich rot anlief, wie er es in<br />
letzter Zeit oft tat, wenn Hermine <strong>das</strong> Wort an ihn richtete.<br />
"Wo ist Ginny eigentlich?"<br />
"Im Raum der Wünsche", antwortete Hermine <strong>auf</strong> den ratlosen<br />
Blick der beiden. "Sie versteckt sich dort die nächste St<strong>und</strong>e, sie kann ja<br />
schlecht als McGonagall in der Schule heruml<strong>auf</strong>en. Jemand muss ihr<br />
noch ihre Sachen bringen, die hat sie im Geschichts-Klassenraum<br />
gelassen."<br />
"Das übernehme ich, kein Problem", bot <strong>Harry</strong> ein wenig zu schnell<br />
an, als <strong>das</strong>s Hermine ihm keinen ahnenden Blick zuwarf.<br />
"Gut, wir gehen derweil in den Gemeinschaftsraum", zog sie Ron<br />
mit sich, der sich schon angeschickt hatte, <strong>Harry</strong> zu folgen.<br />
"Aber –"<br />
"Du wolltest <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s ich deinen Kräuterk<strong>und</strong>e-Aufsatz<br />
durchlese", lockte sie.<br />
Ron zögerte, dann hellte sich seine Miene <strong>auf</strong>. "Ja, da gibt es<br />
einen ganz fiesen Absatz über Regenpflanzen, ich habe <strong>das</strong> nie ganz<br />
verstanden – regnet es nur, wenn man sie in einer Vollmondnacht<br />
ausgräbt oder nie, wenn man sie im Morgengrauen einpflanzt –"<br />
214
Hermine zwinkerte <strong>Harry</strong> zu, als sie mit dem schnatternden Ron hinter<br />
einer Biegung verschwand.<br />
Etliche Abkürzungen nutzend lief <strong>Harry</strong> zum Klassenrum von<br />
Binns, schnappte sich Ginnys Tasche <strong>und</strong> rannte hoch zum Raum der<br />
Wünsche.<br />
Die Aussicht, mit Ginny einmal alleine sein zu können, ließ seine<br />
Beine merkwürdigerweise zu Blei werden, während sich sein Bauch so<br />
anfühlte, als landeten dort mehrere Flugzeuge <strong>auf</strong> einmal. Hastig lief er<br />
drei Mal an der betreffenden Wand vorbei <strong>und</strong> trat durch die Tür in den<br />
DA-Raum. Er hatte richtig geraten: Dorthin hatte sich Ginny<br />
<strong>zur</strong>ückgezogen. Sie saß in einem Sessel, lässig <strong>zur</strong>ückgelehnt, <strong>und</strong><br />
blätterte in einem Buch über Verteidigungszauber.<br />
"Hi."<br />
Wie dämlich. Konnte er nicht etwas Intelligenteres sagen?<br />
Ginny legte <strong>das</strong> Buch beiseite. "Hallo!", rief sie erfreut. Es fiel <strong>Harry</strong><br />
schwer, sich ein<strong>zur</strong>eden, <strong>das</strong>s Rons kleine Schwester vor ihm stand, wo<br />
sie <strong>doc</strong>h immer noch <strong>das</strong> Aussehen McGonagalls hatte.<br />
"Danke, du hast meine Sachen mitgebracht! Ich dachte schon, ich<br />
müsste nachher noch einmal runter. Wie ist es gel<strong>auf</strong>en? Hat alles<br />
geklappt?"<br />
„Äh, geklappt, ja –“ stammelte <strong>Harry</strong>. Er konnte kaum einen klaren<br />
Gedanken fassen. Einerseits war er mit Ginny alleine in diesem Raum,<br />
konnte ihre Präsenz spüren, aber ihr Aussehen irritierte ihn.<br />
„Ich dachte, Snape bringt mich um! Natürlich, zugegebenermaßen<br />
war die Idee, ihn wegen eines verunglückten Munterkeitszauber um Hilfe<br />
zu bitten auch nicht gerade originell, ich habe so getan, als würde ich<br />
ständig die Richtungen verwechseln, da hat er irgendeinen Gegenzauber<br />
gesprochen, nicht ohne eine Tirade über meine Unfähigkeit abzuhalten<br />
natürlich!“ Ginny lachte <strong>und</strong> stellte sich wohl jedes Detail der<br />
Unterhaltung noch einmal genießerisch vor.<br />
„Davon wird McGonagall nicht begeistert sein, wenn er <strong>das</strong> hört“,<br />
fürchtete <strong>Harry</strong>.<br />
„Ach wo, die beiden sind sich ohnehin nicht grün. Snape hält<br />
McGonagall statt wie bisher für einen arroganten Taugenichts für einen<br />
unfähigen, arroganten Taugenichts – was soll’s.“<br />
Sie wollte noch etwas sagen, hielt je<strong>doc</strong>h mit halb geöffnetem<br />
M<strong>und</strong> inne.<br />
„Was ist?“, fragte <strong>Harry</strong> argwöhnisch, aber dann sah er es auch:<br />
Die Wirkung des Vielsafttrankes ließ nach. Ginny wurde rasch kleiner, ihr<br />
Umhang rutschte ihr über die Füße, ihr Gesicht nahm wieder die<br />
gewohnten Züge an, die Brille fiel <strong>auf</strong> den Boden, <strong>und</strong> ihre Haarfarbe<br />
wechselte von pechschwarz zu flammend rot.<br />
215
„Na Gott sei Dank“, seufzte sie. „Diese Brille hat mich irre<br />
gemacht.“ Sie errötete leicht, als <strong>Harry</strong> die Augenbrauen hob. „So meine<br />
ich <strong>das</strong> nicht, es ist einfach nur ungewohnt –“<br />
Ginny leicht verlegen zu sehen ließ sie irgendwie noch hübscher<br />
aussehen als sonst, <strong>und</strong> auch wenn sie in dem übergroßen Umhang<br />
etwas lächerlich wirkte, so schien es <strong>Harry</strong>, als habe er nie etwas<br />
Schöneres gesehen. Wieso denke ich so?, fragte er sich verwirrt. Das<br />
kann nicht sein, sie ist Rons Schwester, er würde mich umbringen.<br />
Auch Ginny schien sich über irgendwas Gedanken zu machen,<br />
dann aber zog die den zu großen Umhang aus <strong>und</strong> ihren eigenen an <strong>und</strong><br />
trat einen Schritt <strong>auf</strong> ihn zu.<br />
Obwohl ein kleiner, je<strong>doc</strong>h schnell ignorierter Teil von ihm<br />
behauptete, es sei unschicklich, die Schwester seines besten Fre<strong>und</strong>es<br />
so anzusehen, wie er es momentan tat, konnte <strong>Harry</strong> die Augen nicht<br />
von Ginnys eindringlichem Blick lösen. Unfähig, sich einen Millimeter zu<br />
bewegen stand er stocksteif da, während sie sich ihm weiter näherte, bis<br />
sie nur noch eine Handbreit trennte.<br />
Er spürte ihre Nähe nun fast wie Feuer, einerseits wärmend,<br />
andererseits versengend, <strong>und</strong> ohne seinen Willen noch durch Vernunft<br />
oder Verstand beeinflussen zu können, machte er den letzten Schritt <strong>auf</strong><br />
sie zu.<br />
Als er eine Viertelst<strong>und</strong>e später in den Gemeinschaftsraum trat (er<br />
hatte der Fetten Dame einige Worte vorgenuschelt, die in seinen Ohren<br />
entfernt nach Passwörtern klangen, bis sie sich erbarmt hatte <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />
Portrait hatte <strong>auf</strong>schwingen lassen), stellte er fest, <strong>das</strong>s die gewohnte<br />
Umgebung <strong>auf</strong> einmal ganz anders aussah als sonst. Die Schüler<br />
schienen viel fröhlicher zu sein, die Haus<strong>auf</strong>gaben, die vor ihm lagen,<br />
stellten nur eine herausfordernde, Spaß beinhaltende Arbeit dar, <strong>und</strong><br />
selbst die nächste Zaubertrankst<strong>und</strong>e sah er vor sich wie eine viel<br />
versprechende Verheißung. Was konnte noch schlecht oder belastend<br />
sein, wenn er nur an Ginny zu denken brauchte, um vom vollkommenen<br />
Glück erfüllt zu sein?<br />
Gedankenverloren setzte er sich in einen Sessel neben Ron <strong>und</strong><br />
Hermine, ohne zu merken, <strong>das</strong>s er keinen der beiden angesehen oder<br />
begrüßt hatte. Er schaute in <strong>das</strong> Funken schlagende Feuer <strong>und</strong> verglich<br />
es mit der Farbe von Ginnys Haar –<br />
„Hey, du musst <strong>das</strong> hier unbedingt lesen!“, knallte Ron ihm einen<br />
Fetzen Pergament <strong>auf</strong> den Schoß.<br />
Unendlich langsam senkte <strong>Harry</strong> den Kopf <strong>und</strong> betrachtete <strong>das</strong><br />
beigefarbene Blatt. Was immer <strong>das</strong> auch war, wie konnte es je wichtig<br />
sein?<br />
„Was ist <strong>das</strong>?“, fragte er <strong>und</strong> hielt <strong>das</strong> Pergament falsch herum<br />
hoch, ahnungslos, wie Ron ihn jetzt mit so was beschäftigen konnte.<br />
216
Der starrte ihn perplex an.<br />
In diesen Sek<strong>und</strong>en fiel <strong>Harry</strong> irgendwo in den hinteren Regionen<br />
seines Gedächtnisses ein, <strong>das</strong>s es ja noch die Notizen von Snape gab,<br />
die er lesen wollte.<br />
„Ach so, <strong>das</strong> meint ihr“, seufzte er. Er warf einen beiläufigen Blick<br />
<strong>auf</strong> <strong>das</strong> Gekritzel (<strong>das</strong> immer noch <strong>auf</strong> dem Kopf stand) <strong>und</strong> schaute<br />
wieder in die Flammen.<br />
"Mmmhh", meinte er <strong>und</strong> ließ <strong>das</strong> Pergament einen halben Meter<br />
neben den Tisch fallen.<br />
"<strong>Harry</strong>?", hörte er Hermines vorsichtige Stimme.<br />
Auf einmal schwang <strong>das</strong> Portrait wieder <strong>auf</strong> <strong>und</strong> Ginny trat in den<br />
Raum. <strong>Harry</strong> schien es, als ginge die Sonne <strong>auf</strong>.<br />
"Hi", grüßte sie in die R<strong>und</strong>e <strong>und</strong> lächelte ein wenig befangen,<br />
<strong>zur</strong>ückhaltender als sonst. Nur <strong>Harry</strong> sah sie ohne eine Spur von<br />
Schüchternheit an. Einige Sek<strong>und</strong>en begegneten sich die Blicke der<br />
beiden, <strong>und</strong> es schien <strong>Harry</strong>, als wäre eine ganze Ewigkeit vergangen,<br />
bis Ginny sich <strong>zur</strong> Wendeltreppe wandte <strong>und</strong> mit flatterndem Umhang<br />
verschwand.<br />
"Also so läuft <strong>das</strong>!"<br />
Ron klang so wütend, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> erschrocken zusammenzuckte.<br />
"Ich setze alles <strong>auf</strong>s Spiel, um dir diese blödsinnigen Notizen zu<br />
beschaffen, <strong>und</strong> zu verführst in der Zwischenzeit meine Schwester!" Sein<br />
bester Fre<strong>und</strong> schlug ihm <strong>das</strong> schon arg mitgenommene Pergament <strong>auf</strong><br />
die Brust, trat gegen <strong>Harry</strong>s Sessel <strong>und</strong> hastete schnurstracks ohne ein<br />
weiteres Wort zu sagen in den Schlafsaal.<br />
"Aber –", stammelte <strong>Harry</strong> hilflos. Was hatte er falsch gemacht?<br />
Gut, er hatte nicht gewollt, <strong>das</strong>s gleich die ganze Schule wusste, <strong>das</strong>s er<br />
<strong>und</strong> Ginny ein Paar waren, was sich angesichts der vielen Gryffindors,<br />
die während Rons Ausbruch fasziniert die Luft angehalten hatten, um<br />
sich auch ja kein Wort entgehen zu lassen, jetzt kaum würde vermeiden<br />
lassen – aber irgendwann wäre es ohnehin herausgekommen, denn er<br />
hatte nicht vor, aus ihrer Beziehung ein großes Geheimnis zu machen.<br />
Irgendwie fand er, <strong>das</strong>s er mit 16 Jahren <strong>das</strong> Recht dazu hatte, mit<br />
Mädchen auszugehen.<br />
"Das war sicher nicht sehr klug", stellte Hermine fest.<br />
"Ja, aber muss ich denn Ron um Erlaubnis fragen, ob ich mit<br />
seiner Schwester gehen darf?", fauchte <strong>Harry</strong> sie an.<br />
Hermine seufzte <strong>und</strong> klappte <strong>das</strong> Buch zu, <strong>das</strong> vor ihr lag.<br />
"Ron ist in solchen Sachen leicht steinzeitmäßig. Glaube mir, ich<br />
muss es wissen." <strong>Harry</strong> sah sie prüfend an, <strong>und</strong> sein Verdacht, <strong>das</strong>s Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine schon eine Weile mehr Interesse aneinander zeigten, als<br />
es für normale Fre<strong>und</strong>e der Fall war, bestätigte sich.<br />
"Du weißt von mir <strong>und</strong> Ginny schon länger, oder?", fragte er ruhig.<br />
217
"Vermutlich schon bevor ihr es richtig wusstet", meinte Hermine<br />
unbescheiden. "Aber im Gegensatz zu Ron sehe ich daran nichts<br />
Ungehöriges. Lass ihn einfach, er wird es sicher verkraften."<br />
"Könntest du nicht –"<br />
"Nein", antwortete sie fest. "Ich werde Ron sicher nicht dazu<br />
bringen, seinen Verstand einzuschalten. Erwachsen werden darf er<br />
alleine."<br />
<strong>Harry</strong> ließ sich trübe in seinen Sessel sinken.<br />
Den restlichen Tag verbrachte er wie Hermine im<br />
Gemeinschaftsraum, während von draußen heftiger Regen gegen die<br />
Fenster klatschte <strong>und</strong> die Dunkelheit über sie früh hereinbrach. Deshalb<br />
erleuchteten abends Dutzende von Kerzen <strong>das</strong> gemütlich wirkende<br />
Zimmer, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Kaminfeuer verströmte die wohlige Wärme, die <strong>Harry</strong><br />
so sehr mit Winterabenden <strong>auf</strong> Hogwarts assoziierte – auch wenn es<br />
noch nicht einmal November war. Das Pergament hatte er bisher keinen<br />
Blickes gewürdigt, sondern hatte seine Aufmerksamkeit lieber <strong>auf</strong><br />
wirklich dringliche Haus<strong>auf</strong>gaben gerichtet. Als Hermine spätabends<br />
endlich mit müden Augen ihre Bücher schloss, legte sie die Hand <strong>auf</strong><br />
<strong>das</strong> Papier.<br />
"Ehrlich gesagt, du solltest <strong>das</strong> hier wirklich lesen", meinte sie,<br />
bevor sie sich verabschiedete <strong>und</strong> zu Bett ging.<br />
Nachdenklich nahm <strong>Harry</strong> den Fetzen an sich. Er war mittlerweile<br />
alleine im Gemeinschaftsraum, alle anderen schliefen schon längst selig<br />
in ihren Betten. Mit dem Knacken der letzten Glut des Kaminfeuers in<br />
den Ohren versuchte er, von dem langen Tag erschöpft, die ungewohnt<br />
krakeligen Buchstaben Snapes zu entziffern.<br />
Der Fall des Hexers von Hexham ist wahr. Nach allem, was in dem<br />
Kapitel über den Tod steht, gab es wenigstens eine Person, die durch<br />
<strong>das</strong> <strong>Tor</strong> wieder in die Welt der Lebenden <strong>zur</strong>ückgekehrt ist. Die<br />
Verbindung <strong>zur</strong> Totenwelt besteht zu jedem Zeitpunkt, <strong>und</strong> Lebende<br />
können unbeschadet durch <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> treten.<br />
Es war enttäuschend wenig. Nur einige Sätze, die in wilder Hast<br />
niedergeschrieben worden waren <strong>und</strong> an <strong>und</strong> für sich nicht allzu viel Sinn<br />
ergaben. Aber <strong>Harry</strong> wusste in diesem Moment ganz genau, was er<br />
würde tun müssen.<br />
218
KAPITEL ZWÖLF<br />
Durch den Schleier<br />
Nachdem <strong>Harry</strong> am nächsten Tag früh <strong>auf</strong>gestanden war <strong>und</strong> von<br />
Ron kurzer Hand vollkommen ignoriert worden war, zog er Hermine noch<br />
vor dem Frühstück beiseite.<br />
"Du hast gelesen, was <strong>auf</strong> Snapes Zettel stand", beharrte er, mit<br />
einem unzweifelhaften Ausdruck in der Stimme.<br />
"Ja habe ich, aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll",<br />
meinte sie <strong>und</strong> musterte ihn prüfend.<br />
"Zumindest wirst du wissen, <strong>das</strong>s ich keine andere Wahl habe."<br />
Hermine riss die Augen <strong>auf</strong> <strong>und</strong> stellte sich gegen die Wand,<br />
vielleicht, um vor Schreck nicht umzufallen. "Das kannst du nicht denken<br />
– nicht im Ansatz kannst du an so etwas denken!", rief sie, eine Furcht<br />
im Blick, die <strong>Harry</strong> an ihr nicht kannte.<br />
"Es geht nicht anders", beharrte er. "Ich werde beim morgigen DA-<br />
Treffen nachfragen, wer mitkommen will. Wenn es sein muss, gehe ich<br />
alleine. Es ist meine Aufgabe."<br />
Hermine richtete sich nun <strong>auf</strong> <strong>und</strong> sah ihn mit mühsam <strong>auf</strong>recht<br />
erhaltener Direktheit an. "Wenn du <strong>das</strong> wirklich vorhast, werde ich<br />
Dumbledore informieren", sagte sie ruhig.<br />
<strong>Harry</strong> spürte seine Wut <strong>auf</strong>steigen wie Lava in einem kurz vor dem<br />
Ausbruch stehenden Vulkan.<br />
"Dazu hast du kein Recht!", schrie er. Einige vorbeikommende<br />
Schüler sahen neugierig zu ihm, so<strong>das</strong>s er leiser weiter sprach.<br />
"Hermine, ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber in diesem Fall<br />
hast du dich einfach nicht einzumischen. Ich kann nicht so tun, als hätte<br />
ich nie etwas von dem Rosier-Buch gehört. Er hätte <strong>das</strong>selbe für mich<br />
getan."<br />
219
Seine Fre<strong>und</strong>in schüttelte nun verzweifelt den Kopf. "Ich kann nicht<br />
zulassen, <strong>das</strong>s du dorthin gehst!", beharrte sie mit Tränen in den Augen.<br />
"Du könntest sterben!"<br />
"Nun", meinte <strong>Harry</strong> betont lässig, auch wenn sich in ihm bei<br />
diesem Gedanken alles verkrampfte, "<strong>das</strong> ist der ganze Sinn."<br />
Er hatte die halbe Nacht wach gelegen <strong>und</strong> darüber gegrübelt. Die<br />
letzten Wochen waren mit Arbeit so zugeschüttet gewesen, <strong>das</strong>s er so<br />
gut wie nicht mehr an Sirius gedacht hatte. Es war so viel leichter<br />
gewesen, die Erinnerungen an ihn zu meiden <strong>und</strong> sich stattdessen ganz<br />
dem Alltag zu widmen. Je<strong>doc</strong>h hatte er die ganze Zeit über gewusst,<br />
<strong>das</strong>s er nur vor der Vergangenheit floh. Und <strong>das</strong>s sie ihn irgendwann<br />
einholen würde. Außerdem drückte ihn schlimmer als je zuvor die Schuld<br />
an Sirius' Tod. Natürlich, jeder, mit dem er darüber gesprochen hatte –<br />
was nur sehr wenige Personen gewesen waren, Dumbledore <strong>und</strong> Ron<br />
sowie Hermine – hatte ihn davon überzeugen wollen, <strong>das</strong>s er selbst mit<br />
Sirius' Schicksal nichts zu tun hatte. Dass es Bellatrix gewesen war, die<br />
ihn ins Stolpern gebracht hatte, so<strong>das</strong>s er durch diesen Bogen gefallen<br />
war, diesen Bogen, den <strong>Harry</strong> von Sek<strong>und</strong>e zu Sek<strong>und</strong>e mehr hasste<br />
<strong>und</strong> fürchtete. Besonders, seitdem ihm klar geworden war, was er tun<br />
wollte. Doch der Weg <strong>zur</strong>ück war ihm versperrt. Vielleicht hatte er keine<br />
klassische Schuld an Sirius' Tod – dennoch ließ sich nicht leugnen, <strong>das</strong>s<br />
sein Pate nur deshalb ins Ministerium geeilt war, um ihm zu helfen. Und<br />
selbst wenn er keine persönliche Schuld gespürt hätte, hätte <strong>Harry</strong> sich<br />
so entschieden, wie er es jetzt getan hatte. Niemand sonst <strong>auf</strong> der Welt<br />
würde diesen Weg <strong>auf</strong> sich nehmen. Außer ihm, <strong>und</strong> wenn er alleine<br />
gehen musste, so würde er es tun. Eigentlich wollte er auch nicht, <strong>das</strong>s<br />
ihn jemand begleitete, denn Hermine hatte absolut Recht: Er würde<br />
sterben.<br />
Die nächsten St<strong>und</strong>en betrübte <strong>und</strong> erschreckte ihn diese Aussicht<br />
so sehr, <strong>das</strong>s ihm sein Vorhaben stets aberwitziger vorkam. Dennoch<br />
hielt er trotzig daran fest.<br />
Ohne seine Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> ganz seinen düsteren Überlegungen<br />
überlassen trat er in den Raum der Wünsche ein, weil <strong>das</strong> wöchentliche<br />
Treffen wegen des morgigen Quidditch-Spiels vorverlegt worden war.<br />
Völlig in sich versunken bemerkte er gar nicht, <strong>das</strong>s Ginny sich neben<br />
ihn stellte <strong>und</strong> sprach, als sich alle um ihn versammelt hatten, die DA-<br />
Mitglieder ausdruckslos <strong>und</strong> beinahe automatisch an.<br />
"Heute habe ich eine besondere Aufgabe. Sicher werden nicht alle<br />
von euch überzeugt sein davon, was ich vorhabe, aber <strong>das</strong> will ich auch<br />
gar nicht. Jedem von euch bleibt überlassen, ob er meinen Vorschlag<br />
vernünftig findet <strong>und</strong> ob er sich ihm anschließen möchte.“<br />
220
Er hielt inne <strong>und</strong> beobachtete gespannt die Gesichter, die ihn<br />
umringten. Hermine hatte die Arme abweisend vor der Brust verschränkt<br />
<strong>und</strong> schaute sehr böse drein, Ron wirkte mit ganz anderen Dingen<br />
beschäftigt als mit <strong>Harry</strong>s Ansprache, Luna machte wie üblich einen sehr<br />
verträumten Eindruck. Aber die meisten der übrigen DA-Angehörigen<br />
hörten ihm atemlos zu.<br />
"Bisher haben wir noch nichts unternommen, als uns gegen<br />
Umbridge zu wehren. Doch jetzt halte ich den Zeitpunkt für gekommen,<br />
an dem wir unseren ersten richtigen Auftrag übernehmen."<br />
Ein Raunen begleitete seine Worte.<br />
"Wie viele von euch wissen, wurde im Juni ein Mitglied des<br />
Phönixordens, welcher bekanntermaßen gegen Voldemort kämpft" – er<br />
versuchte, <strong>das</strong> plötzliche Aufstöhnen zu überhören – "getötet. In<br />
neuester Zeit wurden mir allerdings Informationen zugänglich, die<br />
beweisen, <strong>das</strong>s Sirius Black nicht tot ist, sondern vermutlich nur in der<br />
Welt der Toten gefangen ist. Und mein Ziel ist es, ihn von dort zu<br />
befreien. Wer von euch dabei helfen möchte, ist gerne dazu angehalten."<br />
Innerhalb weniger Sek<strong>und</strong>en war der ganze Raum von<br />
erschrockenen Rufen, angstvollen Gesichtern <strong>und</strong> ungläubigem Staunen<br />
erfüllt. <strong>Harry</strong> hob die Hand, um wieder Ruhe zu bekommen. Nur<br />
widerwillig ebbte <strong>das</strong> Geschnatter ab.<br />
"Dabei geht es für die DA nicht darum, zusammen mit mir Sirius zu<br />
suchen. So eine Bitte könnte ich an niemanden richten. Wobei ihr mich<br />
allerdings unterstützen könnt, ist, ins Ministerium einzubrechen."<br />
Wieder schwoll der Geräuschpegel an.<br />
"Wie soll <strong>das</strong> aussehen?", fragte ihn Dean.<br />
"Ähnlich wie am Ende des letzten Schuljahres", antwortete <strong>Harry</strong>,<br />
der bereits eine Art Plan entwickelt hatte. "Wir fliegen mit den Thestralen<br />
hin <strong>und</strong> müssen es schaffen, bis in die Mysteriumsabteilung<br />
vorzustoßen. Den restlichen Weg gehe ich dann ohne euch weiter."<br />
Eine fiese kleine Stimme in seinem Inneren hoffte, <strong>das</strong>s jemand<br />
widersprechen würde <strong>und</strong> ihm zusicherte, mitzugehen ... aber wer würde<br />
<strong>das</strong> wollen? Es war reiner Wahnsinn, <strong>und</strong> <strong>das</strong> wusste er auch.<br />
"Nur, damit <strong>das</strong> klar ist", hörte er die piepsige Stimme von Colin<br />
Creevey. "Du hast vor, in – äh, in –" Er vermochte die Worte nicht zu<br />
Ende zu sprechen.<br />
"In <strong>das</strong> Reich der Toten zu gehen", vollendete <strong>Harry</strong> düster.<br />
Die nächsten zwei St<strong>und</strong>en diskutierten sie wild über <strong>Harry</strong>s Plan.<br />
Die meisten DA-Mitglieder versuchten, ihm <strong>das</strong> Vorhaben aus<strong>zur</strong>eden,<br />
einige drohten wie Hermine damit, zu Dumbledore zu gehen. Ginny, die<br />
sonst Feuer <strong>und</strong> Flamme für verrückte Sachen war <strong>und</strong> gewiss keine<br />
falsche Zurückhaltung kannte, saß nur bleich neben ihm <strong>und</strong> sagte kaum<br />
221
ein Wort. Ihr Kummer nagte an <strong>Harry</strong>s Nerven <strong>und</strong> ließ seine Zuversicht<br />
wanken. Tat er <strong>das</strong> Richtige?<br />
Schließlich einigten sie sich dar<strong>auf</strong>, <strong>das</strong>s drei Personen <strong>Harry</strong><br />
begleiten <strong>und</strong> einen Zugang zum Ministerium schaffen sollten. Fast alle<br />
meldeten sich freiwillig, <strong>und</strong> diese große Teilnahmebereitschaft<br />
verscheuchte für eine Weile die dunklen Gedanken, die <strong>Harry</strong> quälten.<br />
Trotz der Gefahr, geschnappt zu werden <strong>und</strong> ungeachtet aller<br />
Regelbrüche wollten so viele Schüler ein großes Risiko <strong>auf</strong> sich nehmen,<br />
um im Namen der DA zu helfen, einen Menschen zu befreien, den keiner<br />
von ihnen persönlich kannte, von Ron <strong>und</strong> Hermine einmal abgesehen.<br />
Es war keine Überraschung, <strong>das</strong>s auch Luna, Neville <strong>und</strong> Ginny<br />
mitkommen wollten, <strong>und</strong> da sie im Juni schon einmal im Ministerium<br />
gewesen waren, entschieden die DA-Mitglieder, <strong>das</strong>s die drei die<br />
Begleiter von <strong>Harry</strong> sein sollten.<br />
Am Ende des Treffens herrschte betretenes Schweigen.<br />
"<strong>Harry</strong>", begann Hannah. Er sah sie an, wissend, was jetzt<br />
kommen würde.<br />
"Was ist, wenn du –", flüsterte sie. Auch Ernie <strong>und</strong> etliche der<br />
anderen schauten ihn stumm an, mit Mienen, als wohnten sie einer<br />
Beerdigung bei. Aber war es nicht auch so ähnlich?, musste sich <strong>Harry</strong><br />
mit einem humorlosen Lachen fragen.<br />
"Du redest von der <strong>Unterwelt</strong>, verdammt!", rief Neville. "Da spaziert<br />
man nicht einfach rein <strong>und</strong> dann wieder raus! Weißt du, was wir<br />
eigentlich tun sollten? Dich hier im Raum an irgendetwas sehr Großem<br />
festbinden <strong>und</strong> Dumbledore holen."<br />
Er hatte Recht, <strong>und</strong> <strong>das</strong> bedrückte <strong>Harry</strong> am meisten. Er zwang<br />
seine Fre<strong>und</strong>e indirekt, ihn in den Tod gehen zu lassen.<br />
Er holte tief Luft.<br />
"Es stimmt, was ihr sagt. Wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich<br />
ebenfalls darüber nachdenken, alles einem Lehrer zu erzählen. Aber all<br />
<strong>das</strong>, was mir in meinem Leben widerfahren ist, hat mir deutlich gemacht,<br />
<strong>das</strong>s niemand anders die Verantwortung für mich <strong>und</strong> meine Taten hat<br />
als ich selbst. Wenn ich also Sirius retten will, dann habe ich die<br />
Berechtigung dazu. Glaubt mir, ich habe mir die Sache gut überlegt.<br />
Genauso wenig wie irgendjemand in diesem Raum möchte ich sterben.<br />
Aber wenn ein Weg in die Welt der Toten führt, den man ohne zu<br />
sterben betreten kann – <strong>und</strong> nichts anderes ist Sirius passiert – dann<br />
führt auch wieder ein Weg heraus."<br />
"Woher weißt du, <strong>das</strong>s Black nicht gestorben ist?", fragte ihn<br />
Seamus zweifelnd. "Für mich klingt diese Bogensache eher so, als<br />
verließen durch ihn die Toten unsere Welt." Erregtes Gemurmel<br />
unterstützte ihn.<br />
"Wir haben gesehen, wie Sirius fiel, <strong>und</strong> in diesem Moment war er<br />
noch am Leben", erklang <strong>auf</strong> einmal Hermines Stimme. "Ihn hat zwar<br />
222
vorher ein Zauberspruch von Bellatrix Lestrange getroffen, aber kein<br />
Avada Kedavra <strong>und</strong> somit kein tödlicher. Er ist nur ins Stolpern<br />
gekommen <strong>und</strong> aus Versehen durch den Bogen gefallen." Sie war<br />
genauso blass wie Ginny, wirkte aber gleichzeitig entschlossen. "Ich<br />
glaube <strong>Harry</strong>. Dieser Bogen führt in die <strong>Unterwelt</strong>, <strong>und</strong> es gibt Hinweise,<br />
<strong>das</strong>s es einige Leute wieder <strong>zur</strong>ückgeschafft haben."<br />
"So einen Unsinn habe ich noch nie gehört!", ließ Smith<br />
vernehmen. Er fläzte selbstzufrieden <strong>auf</strong> einem großen Kissen, <strong>das</strong> sie<br />
sonst für Lähmzauber verwendeten <strong>und</strong> schien als einziger im Raum<br />
nicht entsetzt von <strong>Harry</strong>s Vorhaben zu sein. "Niemand kommt von den<br />
Toten <strong>zur</strong>ück, aber bitte schön, <strong>Potter</strong>, wenn du denkst dir gelingt es,<br />
darfst du es gerne versuchen." Er grinste höhnisch.<br />
"<strong>Harry</strong> wird <strong>zur</strong>ückkommen", widersprach ihm Luna ohne die<br />
Absicht, einen Streit anzufangen – sie sagte es vielmehr, als wäre es<br />
<strong>das</strong> Normalste der Welt, aus der <strong>Unterwelt</strong> wieder in die der Lebenden<br />
zu treten. "Wenn jemand einen Weg findet, dann er." Ihr Optimismus<br />
konnte <strong>Harry</strong> zwar nicht ganz überzeugen, aber er fühlte sich gestärkt.<br />
"Und wenn <strong>doc</strong>h nicht?", bohrte Smith weiter. "Dann brauch die DA<br />
einen neuen Anführer."<br />
"Wenn alles, woran du denken kannst, deine Chance ist, <strong>Harry</strong><br />
seinen Posten wegzuschnappen, dann verschwindest du besser gleich!",<br />
fauchte Ginny mit vor Abscheu funkelndem Blick.<br />
„Sollte ich wirklich nicht wieder kommen, dann bin ich sicher, <strong>das</strong>s<br />
ihr gemeinschaftlich einen neuen Anführer finden werdet“, schlichtete<br />
<strong>Harry</strong>, womit <strong>das</strong> Thema vom Tisch war.<br />
„Und wann soll es losgehen?“, fragte Ginny.<br />
Auch darüber hatte er nachgedacht.<br />
„Am nächsten Donnerstag", erklärte er, "an Halloween. Das ganze<br />
Schloss wird mit der Feier beschäftigt sein, <strong>und</strong> da arbeitsfrei ist, werden<br />
im Ministerium nur die Sicherheitsleute anwesend sein. Wenn wir eine<br />
Chance haben, dort hineinzukommen, dann an einem Feiertag."<br />
Die folgenden Minuten, in denen die DA-Mitglieder den Raum der<br />
Wünsche verließen (<strong>Harry</strong> kontrollierte mit Hilfe der Karte der<br />
Rumtreiber, wann sie gefahrlos gehen konnten, zwar war die<br />
Organisation nicht mehr illegal, rachsüchtige Slytherins wollten sie aber<br />
auch nicht <strong>auf</strong> sich <strong>auf</strong>merksam machen) verliefen ungewohnt bedrückt.<br />
Irgendwie hatten die Schüler begonnen, in <strong>Harry</strong>s Nähe nur noch zu<br />
flüstern, als befände er sich bereits in der Welt der Toten. Schließlich<br />
ging er mit Hermine <strong>und</strong> Ron <strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum. Wo er<br />
<strong>doc</strong>h schon kurz davor stand, von dieser Welt zu treten, beschloss <strong>Harry</strong><br />
reinen Tisch zu machen.<br />
"Ron –", begann er. Sein Fre<strong>und</strong> wandte sich trotzig von ihm ab.<br />
223
"Das mit Ginny <strong>und</strong> mir ist unsere Entscheidung. Es ist absolut<br />
nachvollziehbar, <strong>das</strong>s du deine Schwester schützen willst –"<br />
"Sie soll nicht mit jedem aus dieser Schule herumknutschen, wer<br />
weiß, an welche Typen sie gerät!", entfuhr es Ron.<br />
"Dann solltest du aber", meinte <strong>Harry</strong> ruhig, "froh sein, <strong>das</strong>s sie<br />
sich entschieden hat, mit mir zu gehen, denn ich bin nicht irgendein Typ.<br />
Und außerdem habe nicht ich sie verführt, sie hat die Initiative ergriffen."<br />
Ron nuschelte etwas vor sich hin.<br />
"Was?", fragte <strong>Harry</strong>.<br />
"Es ist einfach nur komisch, dich <strong>und</strong> meine Schwester zu sehen –<br />
<strong>auf</strong> diese Art eben. Sie weiß vielleicht gar nicht, was sie tut."<br />
<strong>Harry</strong> schnaubte, halb vor Entrüstung, halb vor Lachen.<br />
"Wenn ich je jemanden getroffen habe, der weiß, was er tut, dann<br />
Ginny. Ich glaube, sie hat einiges mehr von Fred <strong>und</strong> George als du."<br />
"Ja, ich bin eher nach dir missraten", grinste Ron, noch ein wenig<br />
unsicher, ob die Funkstille zwischen ihm <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> nun vorbei war.<br />
"Was wir beide natürlich nur Hermine zu verdanken haben, die uns<br />
nach ihrem verdorbenen Vorbild immer wieder in neue Regelbrüche<br />
getrieben hat", neckte <strong>Harry</strong> sie.<br />
Hermine antwortete nur mit einem schwachen Lächeln.<br />
"Was ist?", fragte Ron <strong>und</strong> stieß sie fre<strong>und</strong>schaftlich in die Seite.<br />
"Was ist?", entgegnete sie entgeistert. "<strong>Harry</strong> will in die Welt der<br />
Toten, <strong>und</strong> du tust, als wäre nichts passiert?"<br />
"Ach ja, <strong>das</strong> habe ich ganz vergessen", stöhnte Ron. "Auch gut,<br />
dann beeilen wir uns jetzt, damit ich meinen Aufsatz für Flitwick noch<br />
beginnen kann."<br />
<strong>Harry</strong> runzelte die Stirn. "Was hat dein Aufsatz denn mit Sirius zu<br />
tun?"<br />
"Na, ich kann ihn ja schlecht am Freitag abgeben. Ich schätze, ich<br />
werde ihn Neville überantworten. Das solltest du auch tun."<br />
"He, warte mal! Was soll <strong>das</strong> heißen? Wieso kannst du ihn Flitwick<br />
nicht selbst geben?"<br />
"Weil wir natürlich mit dir kommen", sagte Ron ernst <strong>und</strong> in einem<br />
Ton, als ginge es darum, der Eulerei einen Besuch abzustatten. "Du<br />
musst schon ein großer Trottel sein, wenn du denkst, wir lassen dich da<br />
unten alleine."<br />
"Halt, Sek<strong>und</strong>e. Ihr könnt nicht mitkommen", rief <strong>Harry</strong> hitzig <strong>und</strong><br />
spürte Wut in sich <strong>auf</strong>steigen. Er wollte seine Fre<strong>und</strong>e nicht mit in die<br />
Sache hineinziehen, er konnte nicht von ihnen erwarten, <strong>das</strong>s sie für ihn<br />
den Kopf hinhielten.<br />
"Doch, können wir", meinte Hermine schlicht. "Du hast es selbst<br />
gesagt: Niemand hat <strong>das</strong> Recht, dir vorzuschreiben, was du zu tun hast.<br />
Und uns auch nicht. Es ist unsere Entscheidung, dir zu helfen, <strong>und</strong> nach<br />
dem, was im Juni passiert ist, solltest du erstens wissen, <strong>das</strong>s du es<br />
224
alleine kaum schaffen kannst, <strong>und</strong> zweitens, <strong>das</strong>s du uns sowieso nicht<br />
<strong>auf</strong>halten kannst."<br />
<strong>Harry</strong> sagte ein paar Sek<strong>und</strong>en nichts, sondern merkte <strong>auf</strong> einmal,<br />
wie sehr er <strong>auf</strong> diese Worte gehofft hatte, nicht einmal bewusst, aber<br />
irgendwo tief in seinem Inneren war <strong>das</strong>, was ihn am meisten bei der<br />
Aussicht <strong>auf</strong> einen Abstieg in die Welt der Toten geängstigt hatte, die<br />
Tatsache gewesen, <strong>das</strong>s er es ganz allein tun musste, ohne seine<br />
Fre<strong>und</strong>e, ohne irgendjemanden, der ihm <strong>zur</strong> Seite stand. Vor<br />
Erleichterung spürte er seine Knie leicht zittrig werden.<br />
"Danke", war alles, was er vorbringen konnte, aber Ron <strong>und</strong><br />
Hermine verstanden ihn.<br />
Durch seine Entscheidung, Sirius zu suchen, hatte er vollkommen<br />
<strong>das</strong> Quidditch-Spiel am Sonntag gegen Slytherin vergessen. Da Malfoy<br />
geflohen war, hatte Grabbe die Kapitänsrolle übernommen <strong>und</strong> Pansy<br />
Parkinson als Sucherin ins Team geholt – die Hoffnung, <strong>das</strong>s diese<br />
irgendein Talent im Quidditch <strong>auf</strong>weisen würde, schienen die Slytherins<br />
aber nicht zu haben. Obwohl <strong>Harry</strong> in Gedanken schon halb im<br />
Ministerium war, schien seinem Team seine geistige Abwesenheit nicht<br />
<strong>auf</strong>zufallen. Nach den guten Trainingsleistungen der letzen Wochen<br />
setzten sie ihr Potential auch im Spiel um: Die beiden Slytherin-Jäger<br />
Vaisy <strong>und</strong> Zabini schossen zusammen 16 <strong>Tor</strong>e, Ron ließ nur einen<br />
Quaffel durch, <strong>und</strong> <strong>das</strong> auch nur, weil Grabbe vorher Ernie mit dem<br />
Klatscher umgenietet hatte. <strong>Harry</strong> fing den Schnatz, als er fand, <strong>das</strong>s<br />
sein Team nun genug Wettkampfpraxis gesammelt hatte, ohne<br />
Anstrengung <strong>und</strong> beinahe <strong>auf</strong> Augenhöhe mit Pansy, die den kleinen<br />
goldenen Ball wohl nicht einmal bemerkt hätte, wenn er vor ihr Tango<br />
getanzt hätte.<br />
Unter dem tosenden Beifall von allen Zuschauern – jedes Haus<br />
hatte ja ein oder zwei Spieler, die es anfeuern konnte – lagen sich die<br />
Gryffindors mit den Ravenclaws <strong>und</strong> den Hufflepuffs in den Armen, <strong>und</strong><br />
sogar Vaisy <strong>und</strong> Zabini schlugen <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die Schulter.<br />
Nur die Slytherins quittierten den Jubel mit Pfiffen, auch wenn zwei<br />
aus ihrem Haus mit in <strong>Harry</strong>s Team spielten – sie akzeptierten<br />
anscheinend nur ihre eigene, von einem Slytherin-Kapitän angeführte<br />
Mannschaft.<br />
<strong>Harry</strong> war <strong>das</strong> alles egal. So gleichgültig wie heute hatte er noch<br />
nie einem Quiddich-Sieg gegenüber gestanden, mittlerweile gab es in<br />
seinem Leben genügend andere <strong>und</strong> wichtigere Dinge, die ihn<br />
beschäftigen, als den goldenen Schnatz zu fangen. So beteiligte er sich<br />
an der abendlichen, ausgelassenen Feier im Gemeinschaftsraum auch<br />
nur mit halben Herzen, trank ein oder zwei Butterbier <strong>und</strong> musste etwa<br />
ein Dutzend Mal erläutern, wie genau er Pansy den Schnatz<br />
weggeschnappt hatte – aber er ging früh zu Bett, eine ausgelaugt<br />
225
wirkende Hermine über ihren Büchern <strong>zur</strong>ücklassend. Bevor er<br />
einschlief, probierte er in Gedanken viele Male verschiedene<br />
Möglichkeiten durch, in <strong>das</strong> Ministerium einzubrechen, aber <strong>das</strong><br />
Ergebnis war stets gleich: Es war beinahe unschaffbar.<br />
Der restliche Sonntag verging für <strong>Harry</strong> wie in einem Nebel. Er<br />
fühlte sich, als wäre er gar nicht mehr Teil des alltäglichen Abl<strong>auf</strong>s <strong>auf</strong><br />
Hogwarts; als würde er als Geist durch die dunklen, Kerzen<br />
beschienenen Gänge wandern, als würde er <strong>das</strong> Essen beim Abendbrot<br />
nicht mehr schmecken können, als würde jemand anders für ihn die<br />
Zauber für die Verwandlungshaus<strong>auf</strong>gaben sprechen. Beinahe glaubte<br />
er, bereits in der Welt der Toten zu sein, so sehr lastete sein Vorhaben<br />
<strong>auf</strong> ihm. Schließlich wusste er nicht, ob er all <strong>das</strong> hier wieder sehen<br />
würde. Was, wenn er in der <strong>Unterwelt</strong> feststecken würde? So wie Sirius?<br />
Dieser war nun seit Monaten hinter dem <strong>Tor</strong>bogen verschw<strong>und</strong>en, <strong>und</strong><br />
dennoch nicht <strong>zur</strong>ückgekommen ... Diese Erkenntnis erschreckte <strong>Harry</strong><br />
so sehr, <strong>das</strong>s er nur noch mit gesenktem Kopf <strong>und</strong> unbeschreibbarer, ihn<br />
von innen heraus <strong>auf</strong>zehrender Furcht seinen Aufgaben nachging.<br />
Am Abend ging er betrübt ins Klassenzimmer für Verteidigung, er,<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine hatten McGonagall versprochen, ihm bei einer<br />
Probeunterrichtsst<strong>und</strong>e von Franbery beizustehen, die der<br />
Verteidigungslehrer sich heute anhören musste <strong>und</strong> die morgen dann die<br />
Schüler Hogwarts entzücken sollte.<br />
In diesen St<strong>und</strong>en, nachdem sie <strong>auf</strong> den Stühlen des<br />
Klassenraums Platz genommen hatten, war es dann soweit: Er konnte<br />
sich gar nicht mehr <strong>auf</strong> den Probeunterricht konzentrieren. Auch Ron<br />
stierte nur dumpf in die Luft <strong>und</strong> vergaß sogar, Hermine wegen deren<br />
ständigen Blicke zu McGonagall böse anzusehen. Selbst Hermine<br />
schien nicht bei der Sache zu sein.<br />
Rick Franbery erläuterte unterdessen die Theorie der Anwendung<br />
von ungesagten Zaubern, sogar ohne irgendwelche abstrusen<br />
Bemerkungen über elegante Zauberei, schläferte sie dabei aber alle ein,<br />
so<strong>das</strong>s sie am Ende vor sich hinschnarchten <strong>und</strong> <strong>das</strong> Ende des Vortrags<br />
beinahe verpassten. Auch McGonagall hatte nicht viel mitbekommen, da<br />
er selbst den Kopf <strong>auf</strong> die Arme gelegt hatte <strong>und</strong> döste.<br />
Bevor <strong>Harry</strong> je<strong>doc</strong>h hinter seinen Fre<strong>und</strong>en aus der Tür gehen<br />
konnte, rief ihn sein Großcousin zu sich.<br />
"<strong>Harry</strong>, könnte ich dich noch einmal kurz sprechen?", fragte er in<br />
ungewohnt besorgtem Ton, <strong>und</strong> als <strong>Harry</strong> sich umdrehte <strong>und</strong> Hermines<br />
schuldbewussten Gesichtsausdruck erblickte, ahnte er den Gr<strong>und</strong> für<br />
McGonagalls Bitte.<br />
Ohnmächtiger Zorn erfasste ihn, <strong>und</strong> am liebsten hätte er Hermine<br />
"Verräter!“ hinterher geschrieen, aber da hatte McGonagall auch schon<br />
226
die Tür hinter ihnen geschlossen <strong>und</strong> wies <strong>Harry</strong> mit einer Geste an, sich<br />
zu setzen. Gähnend ließ er sich selbst am Tisch nieder<br />
"Entschuldigung", kommentierte er leicht beschämt, "aber Ricks so<br />
genannte Unterrichtsst<strong>und</strong>e hinterlässt eben <strong>doc</strong>h ihre Spuren. Ich hatte<br />
ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich euch seinen Vortrag zugemutet<br />
habe, aber in seinem Ausbildungsvertrag steht, <strong>das</strong>s ich ihn ein paar<br />
St<strong>und</strong>en halten lassen muss. Wer immer diese Bestimmung geschrieben<br />
hat, weiß nichts von Ricks nicht vorhandenem Talent fürs Unterrichten.<br />
Ich werde dafür sorgen, <strong>das</strong>s er an einer amerikanischen oder<br />
kanadischen Schule unterkommt, dann besteht keine Gefahr, <strong>das</strong>s er<br />
sich hier bewirbt", grinste sein Großcousin nun wieder in altbekannter<br />
Manier.<br />
"Jamie –", begann <strong>Harry</strong>, leicht ungeduldig, weil er noch eine<br />
Menge Haus<strong>auf</strong>gaben zu erledigen hatte <strong>und</strong> über Franbery zu reden<br />
nicht seiner Vorstellung von Unterhaltung entsprach.<br />
McGonagall wurde plötzlich ernst <strong>und</strong> sprach ein wenig widerwillig<br />
weiter.<br />
"<strong>Harry</strong>, es gibt etwas, worüber ich mit dir reden muss", setzte er mit<br />
prüfendem Blick <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> an. "Deine Fre<strong>und</strong>in Hermine hat mir<br />
gegenüber ein paar Andeutungen gemacht, die ich nicht ganz<br />
verstanden habe. Sie kam gestern in mein Büro <strong>und</strong> meinte, ich solle<br />
unbedingt etwas mit dir bereden – sie sagte allerdings nicht genau, was.<br />
Nur, <strong>das</strong>s es dich in große Gefahr bringen kann."<br />
Na super, dachte <strong>Harry</strong>. Was soll <strong>das</strong> werden, eine<br />
Gewissensfrage? Er wollte nur zu gern wissen, was Hermine damit<br />
bezweckt hatte, ihn bei McGonagall anzuschwärzen. Erst erklärten sie<br />
<strong>und</strong> Ron ihm Treue, <strong>und</strong> gleich dar<strong>auf</strong> rannte sie zum nächst besten<br />
Lehrer! Manchmal nervte ihn Hermines hochmütiges Verhalten enorm,<br />
<strong>und</strong> heute war so ein Tag.<br />
McGonagall, der ihn die ganze Zeit besorgt angesehen hatte,<br />
lehnte sich <strong>zur</strong>ück.<br />
"Ich sagte dir einmal, du müsstest nicht darüber sprechen, was du<br />
lieber geheim halten möchtest – aber wenn schon Hermine Hilfe bei mir<br />
sucht, <strong>und</strong> sie kommt mir wie jemand vor, der hervorragend alleine<br />
<strong>zur</strong>echtkommt, dann muss es ernst sein. Dumbledore hat mir von<br />
Ereignissen erzählt, die sich hier in Hogwarts abgespielt haben <strong>und</strong> in<br />
die ihr den unbezwingbaren Drang gehabt zu haben scheint, verwickelt<br />
zu werden. Wenn ihr vorhabt, euch in irgendeine Gefahr zu stürzen,<br />
dann möchte ich darüber Bescheid wissen."<br />
"Du bist nicht mein Vater", platzte <strong>Harry</strong> genervt heraus. "Du<br />
kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe."<br />
"Nein, kann ich nicht", meinte McGonagall <strong>und</strong> klang leicht<br />
bedauernd. "Aber ich will nicht, <strong>das</strong>s dir etwas passiert. <strong>Harry</strong>, was es<br />
227
auch ist, <strong>das</strong> Hermine meinte, ich bitte dich, es mir mitzuteilen, oder ich<br />
gehe noch heute zu Dumbledore."<br />
<strong>Harry</strong> sprang <strong>auf</strong>. "Das ist unfair!", schrie er <strong>und</strong> sah seinen Lehrer<br />
böse an. "Wieso müssen sich ständig alle Leute in mein Leben<br />
einmischen?"<br />
"Vielleicht, weil sie dich mögen", entgegnete McGonagall geduldig.<br />
"Wieso vertraust du mir nicht? Glaubst du, ich renne zum<br />
Tagespropheten <strong>und</strong> erzähle alles Rita Kimmkorn?"<br />
"Nein", brummte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> sprach seine größte Befürchtung aus.<br />
"Aber wenn ich es dir sage, gehst du erst recht zu Dumbledore."<br />
"Ich werde zu ihm gehen, wenn du es mir nicht sagst, <strong>und</strong> zwar<br />
nicht um dir zu drohen, sondern, weil ich sonst niemanden mehr weiß,<br />
der dir helfen könnte."<br />
"Und was, wenn ich keine Hilfe brauche?", knurrte <strong>Harry</strong>.<br />
McGonagall lächelte. "So, wie du heute im Unterricht da gesessen<br />
hast, bedrückt dich etwas gewaltig, <strong>und</strong> ich wäre einfach ruhiger, wenn<br />
ich darüber im Bild wäre."<br />
Als <strong>Harry</strong> weiterhin schwieg, rief er <strong>auf</strong>munternd: "Komm schon, so<br />
schlimm wird es <strong>doc</strong>h nicht sein! Wollt ihr in den Verbotenen Wald oder<br />
heimlich nach Hogsmeade? Oder Snape einen knallrümpfigen Kröter ins<br />
Bett legen? Für Fall hätte ich den ultimativen Vorschlag, wie ihr in sein<br />
Schlafzimmer könntet", scherzte sein Lehrer.<br />
Wenn ich nur dorthin wollte, dachte <strong>Harry</strong> müde. Dann entschloss<br />
er sich, McGonagall die Wahrheit zu sagen. Wenn dieser zu Dumbledore<br />
ging, war es aus mit seinem Plan.<br />
"Wir wollen in die <strong>Unterwelt</strong>", meinte er tonlos, ohne McGonagall in<br />
die Augen zu schauen. Er betrachtete stattdessen ein paar<br />
Schreibfedern <strong>auf</strong> dem Tisch.<br />
Als sein Lehrer nach ein paar Sek<strong>und</strong>en immer noch nichts gesagt<br />
hatte, blickte er <strong>auf</strong>. McGonagall war totenbleich geworden, als hätte er<br />
wieder ein paar Liter Blut verloren. Mit <strong>auf</strong>gerissenen Augen starrte er<br />
<strong>Harry</strong> an <strong>und</strong> schien sich nicht entscheiden zu können, ob der es ernst<br />
meinte oder ihn nur <strong>auf</strong> den Arm nahm.<br />
"Wir wollen versuchen, Sirius <strong>zur</strong>ückzuholen. Im Ministerium steht<br />
ein Bogen, durch den der Eingang <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong> führt, <strong>und</strong> dort wollen<br />
wir durch."<br />
"Ihr wollt also Selbstmord begehen?" McGonagall hatte seine<br />
Stimme nicht mehr vollständig unter Kontrolle.<br />
"Nein, natürlich nicht."<br />
"Aber wenn ihr diesen Bogen durchschreitet, seid ihr tot! Es gibt<br />
niemanden, der je wieder herausgetreten wäre!"<br />
"Doch, wir haben Hinweise, <strong>das</strong>s es einigen gelungen ist. Und<br />
deswegen glauben wir daran, <strong>das</strong>s es einen Weg <strong>zur</strong>ück gibt."<br />
228
"Selbst wenn es ihn gäbe – ihr werdet ihn nicht finden. Seid<br />
Jahrtausenden sterben Menschen, Muggel wie Zauberer, <strong>und</strong> wenn es<br />
nur ein oder zweien gelungen ist, wieder ins Leben zu finden, dann ist<br />
dieser Weg so gut versteckt, <strong>das</strong>s ihr ewig danach suchen werdet."<br />
Daran hatte er nicht gedacht. Verzweiflung drohte ihn zu<br />
überkommen, aber er unterdrückte sie. Er hatte keine Wahl. Er musste<br />
versuchen, Sirius retten, sonst würde er sein Leben lang keine Ruhe<br />
finden, weil er diese eine Möglichkeit nicht wahrgenommen hatte. Wie<br />
sollte er in einigen Jahren glücklich sein, leben, arbeiten, essen, wenn er<br />
dabei <strong>das</strong> ständige Gefühl hatte, Sirius im Stich gelassen zu haben?<br />
"Ich werde ins Ministerium gehen", meinte er deswegen bloß. "Ron<br />
<strong>und</strong> Hermine begleiten mich. Wir haben vor, nach ein paar Tagen wieder<br />
hier zu sein."<br />
"Ihr würdet nie <strong>zur</strong>ückkommen." McGonagall stand <strong>auf</strong>. "Ihr würdet<br />
für immer in der Welt der Toten gefangen sein. Tut mir Leid, <strong>Harry</strong>",<br />
meinte er mit einem so unglücklichen Ausdruck im Gesicht, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />
einen Stich bekam. "Aber ich muss zu Dumbledore."<br />
Er ging <strong>zur</strong> Tür.<br />
Wenn ich ihn jetzt einfach gehen lasse, ist alles vorbei. Aus seinem<br />
Gehirn war jeder andere Gedanke, jede Vernunft verschw<strong>und</strong>en, nur der<br />
drohende Verrat durch McGonagall geisterte durch sein Bewusstsein.<br />
Ohne nachzudenken erhob er sich ebenfalls <strong>und</strong> ergriff seinen Stuhl. Er<br />
unternahm gar nicht erst den Versuch, seinen Lehrer mit Zauberei zu<br />
überwältigen, sondern schlug ihm den Stuhl mit aller Kraft gegen den<br />
Kopf.<br />
Ohne einen Laut von sich zu geben, sank McGonagall zu Boden.<br />
Schwer atmend <strong>und</strong> fassungslos <strong>auf</strong> sein Opfer hinab sehend<br />
stellte <strong>Harry</strong> den Stuhl wieder hin <strong>und</strong> beugte sich hinunter.<br />
Ich habe einen Lehrer angegriffen. Jemanden, der mir den Rücken<br />
zugewandt hatte, dachte er <strong>und</strong> fühlte sich miserabel. Irgendwann werde<br />
ich es ihm erklären.<br />
Wenn ich die Gelegenheit dazu haben werde.<br />
Wenn ich dieses Schloss je wieder betreten sollte.<br />
Er zog McGonagall den Umhang aus <strong>und</strong> legte ihn unter dessen<br />
Kopf. Ihm lief zwar etwas Blut die Schläfe entlang, aber die Verletzung<br />
sah nicht ernst aus. Schnell lief <strong>Harry</strong> aus dem Büro <strong>und</strong> <strong>auf</strong> dem<br />
kürzesten ihm bekannten Weg zum Gemeinschaftsraum hoch. Sie<br />
konnten nicht länger warten.<br />
„Was?!“, kreischte Hermine entsetzt, als er erzählte, was er getan<br />
hatte.<br />
„Hermine, ich hatte keine Wahl, er wäre sonst zu Dumbledore<br />
gegangen. Wir müssen sofort zum Ministerium <strong>auf</strong>brechen, denn<br />
irgendwann wacht er <strong>auf</strong>. Überhaupt wäre <strong>das</strong> alles nicht passiert, wenn<br />
du nicht gepetzt hättest!“, setzte er wütend hinzu.<br />
229
"Ich fand, jemand musste davon erfahren, um mit dir – andere<br />
Standpunkte auszutauschen. Ich dachte <strong>doc</strong>h nicht, <strong>das</strong>s er zu<br />
Dumbledore geht! Ich wollte unser Vorhaben nicht gefährden! Aber –<br />
aber du hast einen Lehrer hinterrücks niedergeschlagen!“<br />
"Keine Zeit zum Predigten halten, beeil dich!"<br />
Hermine schnappte nach Luft <strong>und</strong> schien zu überlegen, mit<br />
welchen Worten sie ihrem Ärger Luft machen konnte. Dann je<strong>doc</strong>h ging<br />
sie schweigend in ihren Schlafsaal, um ihre Sachen zu holen. <strong>Harry</strong><br />
rannte in seinen eigenen, wo er auch Ron traf. Schnell setzte er ihn ins<br />
Bild.<br />
"Wow", staunte er. "Das hätte ich dir nicht zugetraut."<br />
"Ihr benehmt euch alle so, als wäre ich ein Verbrecher – es war<br />
nun einmal unumgänglich." Hastig packte <strong>Harry</strong> seine Schulbücher aus<br />
der Tasche, stopfte seinen Tarnumhang hinein, die Karte der Rumtreiber<br />
(falls sie wieder unbemerkt ins Schloss wollten) <strong>und</strong> ein paar saubere<br />
Klamotten – wer wusste, wann sie wieder kamen.<br />
Zwei Minuten später trafen sie sich mit Hermine, Neville <strong>und</strong> Ginny<br />
vor dem Portrait. Ginny schaute <strong>Harry</strong> bew<strong>und</strong>ernd an. "Das hätte ich<br />
mich nicht getraut", meinte sie in Anspielung <strong>auf</strong> McGonagall.<br />
"Mit Trauen hat <strong>das</strong> nichts zu tun, ich musste es", entgegnete<br />
<strong>Harry</strong> knapp. "Aber jetzt haben wir wichtigere Dinge zu tun als über<br />
McGonagall zu diskutieren. Es geht ihm gut, <strong>und</strong> wenn wir nicht bald hier<br />
wegkommen, wird er noch zu Dumbledore gehen, sobald er <strong>auf</strong>wacht."<br />
Sie rannten <strong>zur</strong> Eingangshalle, wo sie Luna trafen, die Hermine<br />
mittels ihres Patronus gerufen hatte.<br />
"Oh, es geht schon los, <strong>das</strong> ist gut", war alles, was sie sagte,<br />
schien sich im Übrigen aber über nichts zu w<strong>und</strong>ern.<br />
Unbeachtet von den anderen Schülern traten sie durch <strong>das</strong><br />
Schlosstor. Die Sonne verschwand gerade hinter den Wipfeln des<br />
Verbotenen Waldes, ein goldener Schein lag über den hoch <strong>auf</strong>ragenden<br />
Mauern des Schlosses. Ohne zu warten gingen sie schnell <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />
Unterholz zu, wobei sie sich kurz verstecken mussten, um nicht von<br />
Hagrid gesehen zu werden, der im Garten hinter seiner Hütte eine Reihe<br />
von Riesenkürbissen begoss.<br />
Bald je<strong>doc</strong>h waren sie von den dunklen Bäumen <strong>und</strong> Büschen<br />
verschluckt <strong>und</strong> kämpften sich ihren Weg durch dorniges Gehölz frei.<br />
Nach einigen Minuten zügigen Gehens blieb <strong>Harry</strong> stehen <strong>und</strong><br />
versuchte abzuschätzen, wo sie die Thestrale <strong>das</strong> letzte Mal gesehen<br />
hatten.<br />
"Noch ein paar Schritte in diese Richtung", meinte Luna <strong>und</strong> zeigte<br />
<strong>auf</strong> einen kleinen Trampelpfad, der schnurstracks in schon völlig dunkle<br />
Teile des Waldes führte.<br />
230
Ron, der ständig furchtsame Blicke <strong>auf</strong> die Waldpflanzen um sich<br />
herum warf, schien nicht begeistert. "Geht es dort nicht auch zu<br />
Aragog?", fragte er mit leicht zitternder Stimme.<br />
"Nein, <strong>das</strong> war weiter vorne", beruhigte ihn <strong>Harry</strong>, obwohl er sich<br />
selbst nicht erinnern konnte.<br />
Wenige Augenblicke später betraten sie eine kleine Lichtung, <strong>auf</strong><br />
der sich mehrere dunkle Gestalten herumtrieben. <strong>Harry</strong> zuckte<br />
erschreckt zusammen, erkannte dann aber die sehnigen Beine, ledrigen<br />
Flügel <strong>und</strong> unheimlichen Köpfe der Thestrale. Vorsichtig näherte er sich<br />
einem Tier <strong>und</strong> streichelte es. Ohne zu zögern sprang er ihm <strong>auf</strong> den<br />
Rücken. Der Thestral bewegte sich nicht, sondern blieb ganz ruhig<br />
stehen, bis <strong>Harry</strong> sicher saß. Auch die anderen hatten mittlerweile<br />
jeweils ein Tier bestiegen.<br />
Gedämpft durch <strong>das</strong> dichte Buschwerk um sie herum hörten sie<br />
plötzlich laute Rufe vom Schloss her. Jemand kam <strong>auf</strong> den Wald zu.<br />
"Los", rief <strong>Harry</strong> leise <strong>und</strong> beugte sich zu den knochigen Ohren des<br />
Gespensterpferdes vor. "Wir möchten zum Zaubereiministerium!",<br />
flüsterte er, <strong>und</strong> als ob die Thestrale spürten, <strong>das</strong>s sie sehr leise sein<br />
mussten, galoppierten sie ein paar Schritte, machten dann einen<br />
mächtigen Satz <strong>und</strong> spannten ansatzlos die Schwingen, um sich mit<br />
mächtigen Flügelschlägen ohne einen Ton von sich zu geben in den<br />
Himmel zu erheben.<br />
Kühl strich <strong>Harry</strong> der raue Herbstwind über <strong>das</strong> Gesicht, <strong>das</strong> er in<br />
die dichte Mähne seines Thestrals drückte. Sie ließen die Bäume des<br />
Verbotenen Waldes unter sich <strong>zur</strong>ück, hinter denen sich <strong>das</strong> nun in<br />
völliger Dunkelheit liegende Schloss mit seinen unendlich vielen,<br />
erleuchteten Fenster in die Höhe erhob wie ein steinernes Denkmal. Mit<br />
Wehmut dachte <strong>Harry</strong> an die schönen St<strong>und</strong>en, die er darin erlebt hatte,<br />
an all seine Abenteuer mit Ron <strong>und</strong> Hermine. Wenn ich es zum letzten<br />
Mal sehen sollte, sollte ich es in schöner Erinnerung behalten, dachte er.<br />
Trauer erfasste ihn bei dem Gedanken, nie wieder durch die<br />
verwinkelten Gänge l<strong>auf</strong>en zu können, stets eine geheime Abkürzung im<br />
Sinne habend, nie wieder dem unterhaltsamen Geschnattere der vielen<br />
Gemälde zuhören zu können, nie wieder ein Festessen in der großen<br />
Halle genießen zu können ...<br />
Er wurde aus seinen trübsinnigen Überlegungen gerissen, als ihm<br />
weit unter sich eine dunkle Gestalt <strong>auf</strong>fiel, die scheinbar ziellos über die<br />
Länderein rannte <strong>und</strong> im schwachen Schein des Lumos-Lichts nicht zu<br />
erkennen war. Aber <strong>Harry</strong> war sich sicher, <strong>das</strong>s McGonagall <strong>auf</strong>gewacht<br />
war <strong>und</strong> nun nach ihm suchte; er fragte sich, wie lange es dauern würde,<br />
bis es seinem Lehrer bewusst wurde, <strong>das</strong>s er schon längst zum<br />
Ministerium <strong>auf</strong>gebrochen war. Nicht mehr allzu lange, fürchtete er. Sein<br />
gesamtes Vorhaben hing am seidenen Faden. McGonagall würde nicht<br />
nur Dumbledore informieren, die beiden konnten auch innerhalb von<br />
231
Sek<strong>und</strong>en nach London apparieren. Er versuchte sich an die Hoffnung<br />
zu klammern, <strong>das</strong>s McGonagall noch eine Weile über die Länderein irren<br />
<strong>und</strong> dann Dumbledore nicht sofort finden konnte. War der Schulleiter<br />
nicht kurzfristig verreist? <strong>Harry</strong> wusste es nicht mehr. Würde McGonagall<br />
alleine zum Ministerium finden? Er hatte keine Ahnung. Das Einzige,<br />
was ihm zu tun übrig blieb, war, so schnell wie es nur ging nach London<br />
zu fliegen.<br />
Der Flug schien ewig zu dauern. Unentwegt hörte <strong>Harry</strong> die dumpf<br />
schlagenden Flügel seines Pferdes neben sich, sah die unter ihm dahin<br />
rasenden wilden Heidelandschaften <strong>und</strong> schroffen, kargen Berge im<br />
Licht einiger weniger Sterne gespenstisch leuchten. Vor ihm flogen die<br />
anderen ruhig <strong>und</strong> konzentriert. Mit der Zeit wurden seine Hände taub<br />
vor Kälte, <strong>und</strong> als er <strong>das</strong> Gefühl hatte, für immer <strong>auf</strong> seinem Thestral<br />
angefroren zu sein, näherte sich ihnen ein riesiges Lichtermeer, <strong>das</strong> den<br />
Himmel in ein eigentümliches Violett färbte.<br />
Aufatmend stand <strong>Harry</strong> noch den Anflug <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Ministerium durch<br />
<strong>und</strong> betete inständig, <strong>das</strong>s sie keinem Muggel <strong>auf</strong>fallen würden. Er war<br />
sich nicht sicher hinsichtlich der Reaktionen von Muggeln, die sechs<br />
knochige Gespensterpferde mit Reitern vom Himmel kommen sähen.<br />
Aber vielleicht konnten Muggel Thestrale gar nicht sehen, so wie<br />
Dementoren. Na toll, dann sehen sie eben nur sechs Kinder, die vom<br />
Himmel fallen, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> musste leicht grinsen, auch wenn er<br />
sich durchaus bewusst war, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> nur an seiner angespannten<br />
Psyche lag. Im Allgemeinen betrachtet fand er seine Lage überhaupt<br />
nicht lustig. Im Gegenteil, er fragte sich, ob er <strong>doc</strong>h langsam verrückt<br />
wurde. Ich will in die <strong>Unterwelt</strong>. Mehr <strong>und</strong> mehr kam ihm dieser Plan vor<br />
wie die geistige Ausgeburt eines Irren. Es gibt wahrscheinlich nicht<br />
einmal eine <strong>Unterwelt</strong>, dachte er, schüttelte den Gedanken aber sofort<br />
ab.<br />
Geschickt landeten die Pferde nun in der vertrauten Seitenstraße.<br />
In einer Ecke stand immer noch ein übervoller Mülleimer neben der<br />
kaputten Telefonzelle. Die heruntergekommenen Häuserwände links <strong>und</strong><br />
rechts leuchteten orange im Licht der Straßenlaternen. <strong>Harry</strong> blickte sich<br />
nervös um, er erwartete jeden Moment, McGonagall oder Dumbledore<br />
hinter einer Ecke hervorspringen zu sehen, die Zauberstäbe <strong>auf</strong> sie<br />
richtend.<br />
Doch noch geschah nichts. Sie kletterten schweigend von den<br />
Thestralen. Neville, Luna <strong>und</strong> Ginny wiesen ihre an, <strong>auf</strong> sie zu warten,<br />
was diese erstaunlicherweise auch taten: Sie stellten sich einfach<br />
gegenüber der Telefonzelle <strong>auf</strong> <strong>und</strong> verharrten ruhig. <strong>Harry</strong> streichelte<br />
seinen Thestral kurz, dann quetschte er sich mit den anderen zusammen<br />
in die Telefonzelle. Irgendwie mussten sie den Sommer über gewachsen<br />
sein, jedenfalls schien ihm der beengte Raum noch kleiner zu sein als<br />
<strong>das</strong> letzte Mal. Wie ein wiederkehrender Albtraum kamen ihm die<br />
232
Erinnerungen an seinen letzten Besuch um Ministerium in den Sinn, <strong>auf</strong><br />
erschreckende Art wiederholte sich alles exakt noch einmal. Nun, dachte<br />
er grimmig, nur rette ich Sirius diesmal wirklich.<br />
Ungelenk gab Ron die Ziffern sechs, zwei, vier, vier drei ein,<br />
wor<strong>auf</strong>hin sie die ihm nun gut bekannte Frauenstimme <strong>auf</strong>forderte, ihre<br />
Namen <strong>und</strong> Anliegen zu nennen.<br />
"Dumbledores Armee", sagte <strong>Harry</strong>, "mit dem Ziel, jemanden – äh,<br />
schon wieder zu retten, der dummerweise durch euren Bogen in die<br />
<strong>Unterwelt</strong> gegangen ist!" Ginny lachte leise neben ihm.<br />
Gleich dar<strong>auf</strong> fielen die Plaketten aus dem Metallschacht unter<br />
dem Telefonhörer, <strong>und</strong> alle befestigten sie entschlossen an ihren<br />
Umhängen. Dumbledores Armee, Rettungsmission in der <strong>Unterwelt</strong>.<br />
Sie ließen <strong>das</strong> bekannte Prozedere über sich ergehen, warteten<br />
<strong>auf</strong> <strong>das</strong> Absenken des Bodens <strong>und</strong> warfen sich einen letzten,<br />
<strong>auf</strong>geregten Blick zu, als sich endlich <strong>das</strong> sanfte goldene Licht in die<br />
enge Kabine ergoss. Die Zauberstäbe griffbereit spähten sie blinzelnd in<br />
<strong>das</strong> riesige Atrium des Ministeriums, konnten zu ihrer Erleichterung aber<br />
niemanden erblicken. Als die Tür <strong>auf</strong>ging, stolperten sie ungeschickt aus<br />
der Zelle <strong>und</strong> sahen sich um.<br />
<strong>Harry</strong> konnte nur staunen. Obwohl genau hier vor einigen Monaten<br />
noch ein furchtbarer Kampf zwischen Dumbledore <strong>und</strong> Voldemort<br />
stattgef<strong>und</strong>en hatte, in dessen Zuge <strong>das</strong> Atrium völlig demoliert worden<br />
war, sah es nun haargenau so aus wie vorher: Die Kamine, die<br />
momentan nicht von Feuern erleuchtet waren, die sich an der Decke<br />
windenden Symbole, sogar in dem goldenen Brunnen mit den beiden<br />
Zauberern, dem Zentauren, dem Kobolds <strong>und</strong> des Hauselfen plätscherte<br />
fröhlich <strong>das</strong> Wasser, als wäre nichts gewesen.<br />
"Faszinierend, wie penibel man versuchen kann zu vertuschen,<br />
was man am liebsten ignorieren möchte", flüsterte Hermine angewidert.<br />
Leise, aber zügig rannten sie <strong>auf</strong> die goldenen Aufzüge zu, <strong>und</strong><br />
<strong>Harry</strong> wollte schon seine Hand nach dem "Abwärts"- Knopf ausstrecken,<br />
als er jemanden reden hörte.<br />
"Nein, man weiß momentan nicht viel darüber. Allerdings hat<br />
Dumbledore Gerüchte gehört, <strong>das</strong>s er wieder in Großbritannien ist",<br />
dröhnte eine tiefe Stimme durch <strong>das</strong> verlassene Gebäude.<br />
<strong>Harry</strong> fuhr herum, den Zauberstab in der Hand. Er konnte<br />
niemanden sehen.<br />
"Dort drüben", flüsterte Luna <strong>und</strong> wies <strong>auf</strong> einen Gang, der in <strong>das</strong><br />
Atrium mündete <strong>und</strong> der <strong>Harry</strong> bisher nicht <strong>auf</strong>gefallen war.<br />
"Das müssen Sicherheitszauberer sein", meinte Hermine leise <strong>und</strong><br />
sah sich unsicher um. Aber vergeblich, wir können uns hier nirgends<br />
verstecken, dachte <strong>Harry</strong>.<br />
"Gibt es Informationen darüber, was er vorhat?" Die Stimme eines<br />
zweiten Zauberers antwortete der ersten.<br />
233
"Nun, Dumbledore vermutet stark, <strong>das</strong>s nach dem ersten<br />
verunglückten Anschlag <strong>auf</strong> den Jungen nun der Hauptangriff folgen<br />
wird."<br />
"Ach ja, damals wurde nur ein Lehrer erwischt."<br />
"Ein Unfall. Jedenfalls hat der Orden Anlass zu glauben, <strong>das</strong>s Du-<br />
Weißt-Schon-Wer einen neuen Versuch unternehmen wird, an <strong>Potter</strong><br />
heranzukommen. Momentan werden die Sicherheitsvorkehrungen um<br />
Hogwarts <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Genaueste überprüft ..."<br />
"Aber hat unser Spitzel nichts über die Art des Angriffs gesagt?"<br />
Zwar kamen die Stimmen beständig näher, aber sowohl <strong>Harry</strong> als<br />
auch die anderen lauschten gespannt.<br />
"Nein, diesmal scheint es wirklich ernst. Du-Weißt-Schon-Wer hat<br />
niemanden eingeweiht, nicht einmal unseren Spion, dem er sonst<br />
vorbehaltlos traut."<br />
"Es heißt sogar, Dumbledore plant <strong>Potter</strong> von der Schule zu<br />
nehmen ... <strong>und</strong> an einen sicheren Ort zu bringen."<br />
"Sicherer als Hogwarts? Schwer."<br />
"Sicher, aber an einen Ort, an dem Du-Weißt-Schon-Wer ihn nicht<br />
vermuten wird."<br />
Die beiden Sicherheitszauberer waren nun so nahe, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />
ihre langsam näher rückenden Schatten sehen konnte.<br />
Sie konnten nicht länger warten.<br />
Ginny drehte sich zu ihm um.<br />
"Luna, Neville <strong>und</strong> ich lenken sie ab", flüsterte sie. "Ihr l<strong>auf</strong>t <strong>zur</strong><br />
Mysteriumsabteilung." Hermine <strong>und</strong> Ron nickten, nur <strong>Harry</strong> sah sie ohne<br />
Antwort an.<br />
"Ginny", sagte er leise <strong>und</strong> sah in ihre Augen.<br />
"Ich weiß, was du sagen willst, aber <strong>das</strong> darfst du nicht. Wir<br />
werden uns wieder sehen. Das weiß ich."<br />
<strong>Harry</strong> konnte sie nur niedergeschlagen umarmen, ein vielleicht<br />
letztes Mal in seinem Leben. Auf einmal wusste er nicht mehr, wieso er<br />
überhaupt hier war. Was tat er?<br />
Er hatte keine Zeit, näher darüber nachzudenken, denn schon löste<br />
sich Ginny von ihm, warf ihm einen letzten, verzweifelten Blick zu <strong>und</strong><br />
rannte dann mit Luna <strong>und</strong> Neville, wild alle möglichen Zaubersprüche um<br />
sich werfend, in Richtung des Ausgangs davon.<br />
Die Sicherheitszauberer traten in diesem Moment in <strong>das</strong> Atrium<br />
<strong>und</strong> schauten erschrocken zu den Eindringlingen, ohne die drei<br />
Gestalten zu bemerken, die zusammengedrängt in einem der Fahrstühle<br />
abwärts fuhren.<br />
Das letzte, was <strong>Harry</strong> von Ginny sah, war ein gut ausgeführter<br />
Flederwichtfluch <strong>auf</strong> einen der Sicherheitszauberer, der ihn unwillkürlich<br />
zum Grinsen brachte.<br />
234
Oben aus dem Atrium erklang zum Glück noch so viel Getöse,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Scheppern des Fahrstuhls darin unterging. Vereinzelte<br />
Stimmen drangen an <strong>Harry</strong>s Ohr, die aber immer schwächer worden, bis<br />
alles, was sie hörten, <strong>das</strong> Geräusch des sich bewegenden Fahrstuhls<br />
war. Schließlich schwang <strong>das</strong> Gitter <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schloss sich, als sie<br />
ausgestiegen waren, wieder mit einem Knall.<br />
"Hoffentlich haben sie uns nicht gehört", sorgte sich <strong>Harry</strong>.<br />
"Unmöglich, bei dem Krach", versicherte Hermine, während sie mit<br />
raschen Schritten <strong>auf</strong> die schwarze Tür am Ende des Ganges zugingen,<br />
der lediglich von einigen Kerzen beleuchtet war. Anscheinend war außer<br />
den Sicherheitszauberern niemand im Ministerium.<br />
"Dennoch sollten wir zusehen, <strong>das</strong>s wir den Raum mit dem Bogen<br />
so schnell wie möglich finden, nur für den Fall, <strong>das</strong>s die beiden <strong>auf</strong> die<br />
Idee kommen, <strong>das</strong> ganze Gebäude dar<strong>auf</strong>hin abzusuchen, ob sich noch<br />
mehr Eindringlinge hier <strong>auf</strong>halten."<br />
"Das dauert <strong>doc</strong>h ewig", meinte Ron lässig.<br />
Hermine rümpfte die Nase. "Dir ist noch nicht in den Sinn<br />
gekommen, <strong>das</strong>s wir uns im Zaubereiministerium <strong>auf</strong>halten, wo es als<br />
selbstverständlich gilt, Zauberei einzusetzen, oder?"<br />
<strong>Harry</strong> wollte den <strong>auf</strong>kommenden Streit unterbrechen, als die drei in<br />
den völlig schwarzen, r<strong>und</strong>en Raum aus spiegelndem Marmor traten.<br />
Das blaue Kerzenlicht ließ ihre Gesichter bleich leuchten.<br />
"Gut." Hermine atmete tief durch. Ihre Nervosität steckte auch<br />
<strong>Harry</strong> an.<br />
"Keine Sorge", lächelte er mit aller Überzeugung, die er <strong>auf</strong>bringen<br />
konnte. "Diesmal sind keine Todesser hier, <strong>und</strong> niemand erwartet uns<br />
hinter diesen Türen."<br />
"Ich weiß, es ist nur so, <strong>das</strong>s es hier so viele seltsame <strong>und</strong><br />
gefährliche Dinge gibt", erschauderte Hermine. "Dinge, die wir nicht<br />
verstehen."<br />
"Müssen wir auch nicht", meinte Ron <strong>und</strong> ging schnurstracks <strong>auf</strong><br />
eine der schwarz glänzenden Türen zu. "Wir müssen nur den<br />
Bogenraum wieder finden."<br />
Den Todesraum, dachte <strong>Harry</strong>, aber niemand von uns will es<br />
aussprechen.<br />
Mit einem polternden Geräusch begannen die Türen zu rotieren,<br />
nur <strong>das</strong>s sie diesmal nicht davon erschreckten.<br />
„<strong>Harry</strong>, was sollte <strong>das</strong> heißen, <strong>das</strong>s Du-Weißt-Schon-Wer den<br />
finalen Angriff <strong>auf</strong> dich plant?“, fragte Ron vorsichtig.<br />
„Na ist <strong>doc</strong>h klar, er will mich endlich erledigen“, knurrte <strong>Harry</strong>. Er<br />
ärgerte sich darüber, <strong>das</strong>s Dumbledore Pläne mit ihm hatte, die ihm<br />
niemand mitgeteilt hatte. „Ich werde Hogwarts jedenfalls nicht<br />
verlassen.“<br />
235
„Meinst du, es ist klug, unter diesen Voraussetzungen, äh –“ Ron<br />
wies <strong>auf</strong> die sich immer noch bewegenden Türen – „jetzt Alleingänge zu<br />
unternehmen <strong>und</strong> uns außerhalb Hogwarts’ <strong>auf</strong>zuhalten?“<br />
„Ron“, stöhnte <strong>Harry</strong>, „wenn es einen Ort gibt, an dem Voldemort<br />
nicht nach mir suchen wird, dann ist es die <strong>Unterwelt</strong>. Dumbledore sollte<br />
sich freuen, dort sind wir vor den Todessern sicher.“<br />
Hermine neben ihm lächelte.<br />
Die blauen Lichtstriemen verschwanden nun langsam wieder aus<br />
<strong>Harry</strong>s Blick, als die Türen zum Stillstand kamen.<br />
"Nun gibt es kein Zurück mehr, jedenfalls nicht so einfach", sagte<br />
<strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> tatsächlich konnten sie die Tür, durch die sie<br />
hereingekommen waren, nicht mehr von den anderen unterscheiden.<br />
Entschlossen schritt er zu Ron <strong>und</strong> öffnete die Tür, die ihm am nächsten<br />
war. Sie ging problemlos <strong>auf</strong>.<br />
Die drei traten in einen Raum, den sie noch nie gesehen hatten.<br />
Eigentlich traf <strong>das</strong> Wort "Raum" gar nicht zu. <strong>Harry</strong> hatte eher <strong>das</strong><br />
Gefühl, in einer Menge Räume gleichzeitig zu sein – überall erblickte er<br />
Perspektiven, die es im Gr<strong>und</strong>e gar nicht geben durfte. Vor ihnen<br />
standen einige Tische mit seltsamen Apparaten <strong>und</strong> ein paar Stühle, die<br />
ihm vorkamen, als wären sie mehrere Kilometer entfernt. Je<strong>doc</strong>h konnte<br />
er sie leicht berühren, als er die Hand ausstreckte.<br />
"Unglaublich", murmelte Ron neben ihm. Er hielt ein Buch in der<br />
Hand, <strong>das</strong> aussah wie aus einem Zeichentrickfilm. Dann dämmerte es<br />
<strong>Harry</strong> auch, wieso: Es war zweidimensional.<br />
"Der Raum", hörte er Hermine ehrfürchtig hinter sich flüstern. "Hier<br />
werden die Eigenschaften des Raumes untersucht."<br />
Sie widerstand der Versuchung, sich genauer umzusehen, sondern<br />
ging <strong>auf</strong> eine Tür am anderen Ende des Zimmers zu. <strong>Harry</strong> kam diese<br />
Idee dumm vor, denn die Tür musste mindestens einen Kilometer weit<br />
weg sein. Dennoch kam Hermine schon nach wenigen Schritten an <strong>und</strong><br />
öffnete sie.<br />
"Kommt, <strong>das</strong> sind nur Sinnestäuschungen."<br />
Zögernd, als könnten sie jeden Moment umfallen, staksten <strong>Harry</strong><br />
<strong>und</strong> Ron hinter Hermine aus dem merkwürdigen Raum. Der nächste war<br />
taghell erleuchtet, aber auch hier waren sie alleine, wie <strong>Harry</strong> erleichtert<br />
registrierte.<br />
Langsam sah er sich um. Hier war er ganz sicher noch nie<br />
gewesen. Die gesamten Wände schienen aus Spiegeln zu bestehen.<br />
Große, kleine, schmale <strong>und</strong> dicke, klobige <strong>und</strong> filigrane, welche mit<br />
kunstvollem Rahmen <strong>und</strong> welche, die einfach nur aus einer Glasscheibe<br />
bestanden, säumten die mit weißen Fließen verputzten Wände. Das<br />
Licht musste aus den Spiegeln selbst kommen, jedenfalls sah <strong>Harry</strong><br />
nirgends Kerzen oder ein Feuer. Die Decke <strong>und</strong> der Fußboden, welcher<br />
236
mit dicken Teppichen ausgelegt war, wurden von den sonnenhellen<br />
Strahlen kaum erfasst.<br />
"Wo sind wir hier?", fragte Ron misstrauisch.<br />
"Keine Ahnung", meinte <strong>Harry</strong>. "Aber schau lieber nicht in die<br />
Spiegel. Vielleicht sind sie <strong>Tor</strong>e in andere Welten oder so was." Ihn<br />
würde in dieser Abteilung nichts überraschen, <strong>und</strong> bisher hatte er noch<br />
nichts Gutes hier drin erlebt.<br />
"Das glaube ich nicht", erwiderte Hermine nachdenklich. "Sie<br />
machen <strong>auf</strong> mich den Eindruck gewöhnlicher Spiegel."<br />
"Seit wann ist in der Zaubererwelt irgendetwas gewöhnlich?",<br />
fragte <strong>Harry</strong>. "Und ich weiß nicht, ob die Unsäglichen sich mit normalen<br />
Spiegeln beschäftigen –"<br />
Er hielt inne. Aus Versehen hatte sein Blick einen der hell<br />
erleuchteten Spiegel gestreift, <strong>und</strong> er sah die Widerspiegelung eines<br />
Stuhls darin. Aber irgendwie sah es nicht aus wie ein alltäglicher,<br />
langweiliger Stuhl, sondern wie eine Art Kunstwerk. Obwohl <strong>das</strong> Objekt<br />
als nichts anderes als Stuhl beschrieben werden konnte, so wirkte <strong>das</strong><br />
Holz fast unmöglich glatt <strong>und</strong> geschmeidig, die Farbe war von so einem<br />
satten Goldbraun, <strong>und</strong> die sanft geschwungene Lehne war so einladend,<br />
<strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> sich beherrschen musste, um nicht zu dem Stuhl zu gehen<br />
<strong>und</strong> sich zu setzen. Er fand ihn einfach w<strong>und</strong>ervoll.<br />
Erwartungsfroh drehte er sich um, um den richtigen Stuhl zu<br />
sehen, zuckte aber verwirrt <strong>zur</strong>ück.<br />
"Was ist?", fragte Ron.<br />
"Dieser Stuhl", meinte <strong>Harry</strong> irritiert <strong>und</strong> näherte sich einem alten,<br />
wurmzerfressenen Stuhl aus mattbraunem fleckigen Holz <strong>und</strong> einer<br />
angeknacksten Lehne.<br />
"Was ist an einem alten hässlichen Stuhl so interessant?"<br />
"Schaut mal in den Spiegel – darin wirkt er perfekt, <strong>und</strong> in<br />
Wirklichkeit ist er reif für den Müll."<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine staunten eine Weile über <strong>das</strong> seltsame<br />
Spiegelbild.<br />
"Vielleicht zeigen diese Spiegel <strong>das</strong>, was wir gern sehen würden",<br />
überlegte Hermine.<br />
"So wie der Spiegel Nerhegeb?"<br />
"Nicht ganz – wir sehen eher ein idealisiertes Abbild der Realität –<br />
seltsam." Sie klang beunruhigt. "Lasst uns lieber verschwinden, dort ist<br />
eine weitere Tür."<br />
Und richtig, wieder gab es einen zweiten Ausgang. Die Räume der<br />
Mysteriumsabteilung waren alle miteinander verb<strong>und</strong>en.<br />
"Komisch, <strong>das</strong>s man hier nicht spürt, wie sich die Räume<br />
bewegen", grübelte Ron. "Eigentlich müssten wir uns alle paar Minuten<br />
im Kreis bewegen."<br />
237
Hermine verdrehte die Augen. "Natürlich bewegen nicht wir uns,<br />
sondern nur die Türen in dem r<strong>und</strong>en Raum. Alles andere wäre auch<br />
unpraktisch."<br />
Ron murrte vor sich hin, während sie <strong>auf</strong> die Tür zugingen.<br />
Unterwegs schaute <strong>Harry</strong> immer wieder neugierig aus den Augenwinkeln<br />
<strong>auf</strong> die Spiegel <strong>und</strong> erblickte dort Dinge des täglichen Gebrauchs –<br />
Papiere, eine Standuhr, einen Tisch – die sich in ihnen spiegelten <strong>und</strong><br />
eine eigentümliche, anziehende Schönheit besaßen, obwohl ihm<br />
mittlerweile klar geworden war, <strong>das</strong>s in der Mitte des Raums nur<br />
Gerümpel herumstand. Einmal erwischte er sogar einen Blick <strong>auf</strong> sein<br />
eigenes Spiegelbild, was ihn zutiefst erschreckte – nicht, weil er<br />
irgendwie deformiert aussah, sondern im Gegenteil – nun ja, gut. Zu gut.<br />
In dem Spiegel schien er sich weder zu klein <strong>und</strong> dünn zu sein, noch<br />
störte seine Blitznarbe <strong>das</strong> Gesamtbild, nein, sie schien eher<br />
dazuzugehören wie ein Pinselstrich in einem meisterhaften Gemälde. Er<br />
wandte sich schnell ab. Das ist nicht normal. Und was nicht normal ist,<br />
verbirgt etwas.<br />
Als sie <strong>auf</strong> die Tür zutraten, fiel ihnen ein riesiger, alles<br />
überragender Spiegel <strong>auf</strong>, mit einem dicken Goldrahmen versehen <strong>und</strong><br />
von innen heraus leicht bläulich schimmernd. Die Lichtreflexe <strong>auf</strong> seiner<br />
Oberfläche erinnerten an goldenes Sonnenlicht, <strong>das</strong> über ein<br />
blassblaues Meer flutete.<br />
Er musste vor diesen Spiegel. Es ging nicht anders. Wie von einer<br />
unsichtbaren Kraft gezogen machte <strong>Harry</strong> ein paar Schritte vorwärts <strong>und</strong><br />
stellte sich vor <strong>das</strong> schimmernde Glas.<br />
Was er sah, verw<strong>und</strong>erte ihn zutiefst.<br />
Ginny stand vor ihm. Zumindest sah sie beinahe so aus wie Ginny,<br />
bis <strong>auf</strong> ein paar kleine Unterschiede: Ihre Nase war eine winzige Spur<br />
gerader als in Wirklichkeit, sie war ein paar Zentimeter größer <strong>und</strong> ...<br />
erwachsener, so<strong>das</strong>s ihre weiblichen Formen weiter entwickelt waren.<br />
Insgesamt waren diese Abweichungen aber so winzig, <strong>das</strong>s sie niemand<br />
bemerkt hätte, der Ginny nicht genau kannte.<br />
Leider taten <strong>das</strong> Ron <strong>und</strong> Hermine.<br />
"Was zum Teufel –"<br />
Ron trat staunend an <strong>das</strong> Spiegelglas heran. "Wieso sieht Ginny so<br />
komisch aus? So – perfekt?"<br />
"Sie ist auch in ihrer wirklichen Gestalt perfekt", meinte <strong>Harry</strong> hitzig,<br />
auch wenn ihm die Spiegel-Ginny durchaus gefiel.<br />
"Ja, klar, aber wieso zeigt der Spiegel sie so?" Ron starrte den<br />
goldenen Rahmen an, als würde der <strong>das</strong> Geheimnis preisgeben.<br />
"Ich glaube ich weiß, warum", antwortete Hermine mit einem<br />
seltsamen Ausdruck im Gesicht. "Der Spiegel zeigt uns <strong>das</strong>, was wir<br />
unter wahrer Schönheit verstehen."<br />
238
"Echt krass", hauchte Ron ehrfürchtig. <strong>Harry</strong> war es mittlerweile<br />
peinlich, <strong>das</strong>s Ron <strong>und</strong> Hermine die Spiegel-Ginny anstarrten <strong>und</strong> fühlte<br />
sich unwohl, als hätte ihm jemand etwas sehr Privates entrissen. Hastig<br />
trat er einen Schritt <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> stupste Ron vor den Spiegel.<br />
Bevor der reagieren konnte, erschien Hermines Abbild vor ihm.<br />
"Na dann lass mal sehen, was an mir verbesserungswürdig ist",<br />
scherzte Hermine, um den peinlichen Moment herunterzuspielen. Als sie<br />
näher trat, wurde sie genauso rot wie Ron.<br />
Die Hermine in dem Spiegel entsprach exakt ihrem realen Vorbild.<br />
Dasselbe buschige Haar, dieselbe leicht besserwisserische Miene ...<br />
Nicht ein Detail war schöner oder idealer dargestellt, als es von Natur<br />
aus beschaffen war.<br />
Einige Sek<strong>und</strong>en sprach keiner der drei. Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
versuchten angestrengt, in entgegen gesetzte Richtungen zu schauen<br />
<strong>und</strong> sich nicht zu nahe zu kommen. <strong>Harry</strong> brach schließlich den Bann.<br />
"Kommt, suchen wir die Todeskammer", rief er <strong>und</strong> ging <strong>zur</strong> Tür.<br />
"Ron", sagte Hermine leise. Der schüttelte den Kopf, offenbar<br />
unsicher, was er tun sollte.<br />
"Ich wusste nicht, <strong>das</strong>s – also, <strong>das</strong>s –"<br />
"He, kommt, ich glaube, ich habe den Bogenraum gef<strong>und</strong>en", rief<br />
<strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>geregt dazwischen, teils, weil er den beiden <strong>das</strong> verlegene<br />
Gespräch ersparen wollte, teils, weil er endlich in dem Raum stand, den<br />
sie hatten <strong>auf</strong>finden wollen.<br />
Er hatte zwar <strong>das</strong> störende Gefühl, <strong>das</strong>s irgendetwas an dem<br />
Raum ihn irritierte, aber es schien keinen Zweifel zu geben: Dieselben<br />
steinernen Treppen führten abwärts zu demselben Podest, <strong>auf</strong> dem<br />
derselbe schwarze Bogen –<br />
<strong>Harry</strong> blinzelte <strong>und</strong> schaute noch einmal hin.<br />
Der Bogen war nicht schwarz, sondern weiß.<br />
Verw<strong>und</strong>ert ging er die Stufen hinunter zu dem schwach<br />
beleuchteten Podium. Da war er, der uralte, rissige Steinbogen, nur war<br />
der zerrissene, in einer nicht spürbaren Brise wehende Schleier von<br />
einem fleckigen Weiß.<br />
"Pass <strong>auf</strong>", warnte ihn Hermine, die mit Ron näher kam.<br />
"Wieso ist er nicht mehr schwarz?", fragte Ron.<br />
Hermine betrachtete den Raum <strong>auf</strong>merksam. "Weil wir nicht im<br />
Bogenraum sind", erklärte sie. "Schaut dort rüber."<br />
Und dann sah auch <strong>Harry</strong> die in der Wand hinter dem weißen<br />
Bogen eingelassenen Türen, die es in dem anderen Raum ganz sicher<br />
nicht gegeben hatte.<br />
<strong>Harry</strong> näherte sich dem alten Steinbogen. Die eigentümliche<br />
Anziehungskraft, die der schwarze Bogen <strong>auf</strong> ihn gehabt hatte, fehlte<br />
vollkommen. Der leise hin- <strong>und</strong> her schwingende Schleier wirkte fast<br />
239
lächerlich normal, <strong>und</strong> als er angestrengt lauschte, hörte er auch keine<br />
Stimmen hinter dem zerschlissenen Stoff, so wie in dem anderen Raum.<br />
"Da drin flüstert niemand", meinte er fast enttäuscht. Was, wenn<br />
die Ministeriumsleute die Bögen ausgetauscht hatten? Wenn der<br />
schwarze Bogen gar nicht mehr existierte? Wie sollte er dann Sirius<br />
finden?<br />
Hermine machte ein komisches Gesicht, als sie <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Podium<br />
kam <strong>und</strong> bis <strong>auf</strong> einen Schritt an den Schleier herantrat.<br />
"Hermine, was tust du da?", rief <strong>Harry</strong>. "Komm sofort wieder her!"<br />
"Halt, gehe nicht dadurch!", schrie Ron in Angst.<br />
Aber es war zu spät. Hermine war durch den Schleier geschritten.<br />
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> neben ihm Ron starrten eine Sek<strong>und</strong>e ungläubig <strong>auf</strong> den<br />
Schleier, der wieder leicht in der Luft flatterte. Panisch rannten sie um<br />
den Bogen herum, auch wenn <strong>Harry</strong> keine Hoffnung hatte, Hermine je<br />
wieder zu sehen, sie war verschw<strong>und</strong>en, so wie Sirius –<br />
"Hi", meinte sie lässig <strong>und</strong> ging ihnen entgegen. Scheinbar war sie<br />
wirklich nur durch den Bogen getreten <strong>und</strong> am anderen Ende wieder<br />
herausgekommen.<br />
"Was –"<br />
"Wie –"<br />
"Aber Sirius –"<br />
<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron redeten vor Erleichterung <strong>und</strong> Aufregung wild<br />
durcheinander, bis sich alle drei ein wenig beruhigt hatten.<br />
"Wisst ihr, ich dachte, wenn der schwarze Bogen in die Welt der<br />
Toten führt, dann führt der weiße –"<br />
"In die Welt der Lebenden!", stieß <strong>Harry</strong> eifrig hervor.<br />
"Genau", meinte Hermine lächelnd. "Und da wir bereits in der Welt<br />
der Lebenden sind, können wir gefahrlos durchgehen. Für uns ist er<br />
nichts weiter als ein ganz gewöhnliches Stück Mauer mit einem<br />
Stofffetzen daran."<br />
<strong>Harry</strong>s Magen machte einen Salto rückwärts. "Aber <strong>das</strong> würde<br />
bedeuten, <strong>das</strong>s –"<br />
"Es auch einen Weg aus der Welt der Toten in diesen Raum gibt,<br />
richtig", vollendete Hermine grimmig. "Dann lasst uns den anderen<br />
Bogenraum suchen."<br />
Da es keinen weiteren Ausgang gab als die Tür, durch die sie<br />
hineingekommen waren <strong>und</strong> die vielen Türen hinter dem Bogen, nahmen<br />
sie eine von denen. Sie führte in ein kleines, voll gestopftes Büro, über<br />
dessen Innentür "Zeit" stand.<br />
"Das sind sicher die Büros, die mit dem Raum der Zeit verb<strong>und</strong>en<br />
sind!", sagte Ron. "Wir müssten bald da sein."<br />
Sie schauten <strong>zur</strong> Bestätigung kurz durch eine Quertür, die den<br />
Blick in ein anderes, fast gleich aussehendes Büro freigab, nur <strong>das</strong>s über<br />
dessen Türrahmen "Intelligenz" stand.<br />
240
"Die stehen für die einzelnen Abteilungen", murmelte Hermine.<br />
Sie kämpfte sichtbar gegen den Drang an, die Schreibtische <strong>und</strong><br />
Schränke einer genauen Analyse zu unterziehen. Verklärt strich sie über<br />
die leicht staubigen Regalflächen.<br />
"Hermine, wir müssen gehen", dränge <strong>Harry</strong> sie.<br />
"Stellt euch nur einmal vor, was wir hier alles finden könnten – die<br />
Ergebnisse Jahrh<strong>und</strong>erte langer Forschung über die elementarsten<br />
Dinge der Welt!" Sie glühte vor Begeisterung, als sie eine Bürotür nach<br />
der anderen öffnete. "Das Wissen, welches hier gespeichert wird,<br />
übertrifft die Vorstellungskraft dessen, was Zauberer sich jemals haben<br />
erträumen lassen –"<br />
"Hermine", seufzte <strong>Harry</strong> wieder. "Selbst wenn wir alle Zeit der<br />
Welt hätten <strong>und</strong> uns die Sicherheitszauberer nicht vielleicht <strong>auf</strong> der Spur<br />
wären, würdest du deine Zeit bloß verschwenden. Du weißt <strong>doc</strong>h, was<br />
Lupin über Schriften in der Ministeriumsabteilung gesagt hat – es gibt<br />
keine!"<br />
Zögernd blieb Hermine stehen <strong>und</strong> drehte sich um, offensichtlich<br />
getroffen.<br />
"Das habe ich ganz vergessen", meinte sie enttäuscht. Dann<br />
strahlte ihr Gesicht <strong>auf</strong>. "Wartet mal, stand in dem Rosier-Buch nicht<br />
etwas über die Aufbewahrung eines Schriftzeugnisses über den Hexer<br />
von Hexham?"<br />
<strong>Harry</strong> erinnerte sich verschwommen an die Seiten aus dem Kapitel<br />
über den Tod. Ein Zeuge, der den Hexer gesehen hatte, wie er aus dem<br />
Bogen trat ... der später von einem Verwirrungszauber getroffen wurde<br />
... Sperrschrank ...<br />
"Zweite Schublade Sperrschrank!", rief er <strong>auf</strong>geregt, als Hermine<br />
auch schon an Ron vorbeisprintete, der ihr kopfschüttelnd nachsah.<br />
"Sie wird sich nie ändern."<br />
Sie liefen Hermine nach in <strong>das</strong> Büro, in dem sich die Unsäglichen<br />
mit dem Tod befassten, <strong>und</strong> gewahrten Hermine neben einem<br />
gewaltigen, metallenen Schrank stehend, mit der einen Hand gegen die<br />
Wand gestützt, mit der anderen ein Stück Pergament umklammernd, <strong>das</strong><br />
sie aus der nun offen stehenden zweiten Schublade von oben gezogen<br />
hatte.<br />
"Warte mal, wenn die Unsäglichen nichts <strong>auf</strong>schreiben dürfen, wo<br />
kommt dann <strong>das</strong> Blatt her?", wollte Ron misstrauisch wissen.<br />
Hermine zuckte mit den Schultern. "Vermutlich haben sie es<br />
<strong>auf</strong>gehoben, weil es Original-Beweismaterial ist. Ich denke, solche<br />
Sachen von besonderem Wert werden gut gesichert <strong>auf</strong>bewahrt."<br />
"Ja, sehr gut gesichert, wenn sogar drei Schüler Hogwarts<br />
rankommen", höhnte Ron, beugte sich aber über Hermines Schulter, um<br />
mitzulesen.<br />
241
"Das hier ist bloß eine Abschrift der Aussage des Hexer-Zeugen –<br />
Bryan Williamson hieß er –, die allerdings keine weiteren Informationen<br />
enthält als die, die wir bereits haben – er sah den Hexer durch den<br />
Bogen <strong>zur</strong>ück ins Leben treten, seinen Aussagen wurde aber kein<br />
Glauben geschenkt."<br />
Sie runzelte die Stirn, als sie ein an <strong>das</strong> Pergament geheftetes<br />
kleineres Blatt entfaltete <strong>und</strong> es las.<br />
<strong>Harry</strong> schwante Böses, als er ihrem unbeschreiblich erstaunten<br />
Blick folgte. Mit jeder Sek<strong>und</strong>e, die sie las, wurde sie betroffener.<br />
"Was ist los?", fragte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> hörte sein eigenes Herz immer<br />
schneller klopfen.<br />
"Es ist, wie ich vermutet habe", antwortete Hermine leise. "Die<br />
Unsäglichen haben Williamson mit einem Verwirrungszauber belegt,<br />
damit ihm niemand <strong>das</strong> abk<strong>auf</strong>te, was er über den Hexer erzählte. Hier<br />
steht, <strong>das</strong>s sie zum Schutze der Gemeinschaft einen dreitägigen Zauber<br />
<strong>auf</strong> ihn gelegt haben. Als sich seine Verwirrung erst einmal<br />
herumgesprochen hatte, hat ihm ohnehin keiner mehr geglaubt."<br />
"Und warum haben sie <strong>das</strong> getan?", schrie <strong>Harry</strong> lauter, als ihm<br />
bewusst war. "Oder denken die Unsäglichen genauso wie du über den<br />
Tod, nämlich <strong>das</strong>s er berechtigt <strong>und</strong> nötig ist?" Seine Stimme war<br />
sarkastisch geworden, <strong>und</strong> Hermine sah ihn mit zusammengekniffenen<br />
Augen an, genau wie er den Streit am Grimmauldplatz im Kopf.<br />
"Lass uns nicht wieder mit Streiten anfangen, akzeptiere einfach,<br />
<strong>das</strong>s ich meine Meinung habe <strong>und</strong> du deine", meinte sie ruhig.<br />
"Du hast keine Meinung, du hast einfach nur noch nicht erlebt, wie<br />
jemand, den du magst, gestorben ist!", redete <strong>Harry</strong> hitzig weiter.<br />
Obwohl er wusste, <strong>das</strong>s jetzt der unpassendste Augenblick war, sich<br />
über verschiedene Weltsichten zu zoffen, quollen die Worte aus ihm<br />
heraus. "Sonst würdest du nicht so leichtfertig über den Tod sprechen!"<br />
"Nur weil ich niemanden näher kannte, der gestorben ist, heißt <strong>das</strong><br />
nicht, <strong>das</strong>s ich nicht meinen Kopf benutzen kann, um mit<br />
angemessenem Abstand darüber zu urteilen", schoss Hermine <strong>zur</strong>ück.<br />
"Im Gegenteil, gerade weil ich nicht durch eigene, überemotionale <strong>und</strong><br />
blind machende Erfahrungen beeinträchtigt bin, bin ich derjenige von uns<br />
beiden, der eine realitätsnahe Ansicht über den Tod hat."<br />
Die beiden sahen sich mit zornigen Blicken an, auch wenn <strong>Harry</strong><br />
langsam die Ahnung überkam, <strong>das</strong>s sie vermutlich Recht hatte.<br />
"Hey Leute, hört <strong>auf</strong> damit", griff Ron ein. "Ihr habt beide aus euren<br />
Perspektiven gesehen Recht. Ist <strong>doc</strong>h immer so, oder, Menschen haben<br />
verschiedene Meinungen <strong>und</strong> sind stets überzeugt, ihre sei die einzig<br />
richtige ... weil sie die Argumente <strong>und</strong> Ansichten des anderen nicht<br />
nachvollziehen können. Sie haben eben einen anderen Charakter, eine<br />
andere Art, andere Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. Aber so wie<br />
ich <strong>das</strong> sehe, hat jeder die Berechtigung, er selbst zu sein, oder?" Er<br />
242
schaute die anderen unsicher an. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine waren über seine<br />
Rede so verdutzt, <strong>das</strong>s sie ganz vergaßen, weiter zu streiten.<br />
Ron fuhr ermutigt fort. "Und deswegen ist es unsere Pflicht, den<br />
anderen als den zu akzeptieren, der er ist. Ihm die Freiheit zu geben,<br />
sein eigenes Leben zu führen."<br />
Für ein oder zwei Minuten sagte niemand etwas.<br />
Dann stand Hermine <strong>auf</strong>. "Ron", meinte sie, "<strong>das</strong> war <strong>das</strong><br />
Vernünftigste, was ich je von dir gehört habe." Sie schüttelte den Kopf<br />
<strong>und</strong> wandte sich <strong>Harry</strong> zu. "Lass uns <strong>das</strong> hier vergessen <strong>und</strong> unsere<br />
Standpunkte gegenseitig respektieren ", bot sie an <strong>und</strong> streckte die Hand<br />
aus.<br />
Er nickte <strong>und</strong> ergriff sie. Eins musste er aber noch wissen.<br />
"Hermine, wenn du den Tod für notwendig hälst, wieso bist du<br />
dann hier, um einen Toten zu retten?"<br />
Sie sah ihn ernst an.<br />
"Weil du mein Fre<strong>und</strong> bist", meinte sie nur. Verlegen schaute sie zu<br />
Ron. "Und jetzt lasst uns hier verschwinden, sonst kommen die<br />
Sicherheitszauberer wirklich noch an."<br />
Ohne sich noch mit anderen Sachen <strong>auf</strong>zuhalten, verließen sie die<br />
Büros <strong>auf</strong> die andere Seite hinaus (Hermine hatte <strong>das</strong> Pergament <strong>zur</strong>ück<br />
in den Sperrschrank gelegt <strong>und</strong> alles wieder so hergerichtet, <strong>das</strong>s<br />
niemand ihr Eindringen bemerken würde) <strong>und</strong> gelangten tatsächlich in<br />
den Zeitraum. Der große Schrank mit den Zeitumkehrern war<br />
verschw<strong>und</strong>en, wie <strong>Harry</strong> wusste, waren alle bei ihrem Kampf mit den<br />
Todessern kaputt gegangen. Er bedauerte es nicht.<br />
Wenige Sek<strong>und</strong>en später standen sie im Bogenraum, <strong>und</strong> diesmal<br />
war es der richtige: Mit mulmigem Gefühl stolperte <strong>Harry</strong> über die<br />
Steintreppen <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Podium, wo er mit Ron <strong>und</strong> Hermine eine Weile<br />
verharrte <strong>und</strong> wieder den starken Sog des matt in der Luft flatternden<br />
Schleiers spürte. Sein Verlangen, hindurchzugehen, stieg, wie damals,<br />
als seine Fre<strong>und</strong>e ihn nur schwer davon hatten abhalten können. Und<br />
nun wollten sie alle hinein.<br />
<strong>Harry</strong> atmete tief durch.<br />
"Bereit?", fragte Hermine unsicher. Er nickte. Sie wandte sich an<br />
Ron. "Fertig?"<br />
Er sagte nichts, sondern schaute den Bogen ängstlich an. <strong>Harry</strong><br />
verstand ihn. Zwar empfand er keine Furcht, aber ihm war mulmig zu<br />
Mute, da er keine Ahnung hatte, was sie <strong>auf</strong> der anderen Seite<br />
erwartete, noch, ob sie je <strong>zur</strong>ückkommen würden. Er wünschte, er hätte<br />
es den anderen beiden versprechen können.<br />
"Es ist nur", begann Ron langsam, "wir sind so überstürzt<br />
<strong>auf</strong>gebrochen, <strong>das</strong>s meine Familie – nun, wenn wir – wenn wir nicht<br />
wiederkommen, werden sie nicht wissen, was passiert ist."<br />
<strong>Harry</strong> fühlte sich elend.<br />
243
"Wenn du nicht möchtest, brauchst du nicht mitkommen", meinte<br />
er. "Und daran wäre auch nichts Feiges. Wir gehen wissentlich in den<br />
Tod ohne die Gewissheit, <strong>zur</strong>ückkommen zu können. Das ist verrückt.<br />
Ich würde es verstehen."<br />
Ron schüttelte heftig den Kopf. "Nein, Mann, ich komme natürlich<br />
mit. Ich frage mich nur, ob je jemand weiß, was mit uns geschehen ist."<br />
Hermine legte ihm den Arm <strong>auf</strong> die Schulter. "Ich habe einen Brief<br />
geschrieben", beruhigte sie ihn. "Ich dachte einfach, vorsichtshalber ...<br />
Ginny hat ihn. Sollten wir in einigen Tagen nicht <strong>zur</strong>ück sein, gibt sie ihn<br />
deinen Eltern, Dumbledore oder wer sonst über uns Bescheid wissen<br />
will."<br />
"Außerdem weiß Jamie, was wir vorhaben", fiel <strong>Harry</strong> ein. „Und die<br />
ganze DA …“<br />
Ron sah schon um einiges erleichterter aus.<br />
"Na dann, wor<strong>auf</strong> warten wir?", versuchte er, beschwingt zu wirken,<br />
was nicht ganz gelang. Jeder von ihnen hatte Angst, auch wenn sie es<br />
nicht zugaben, wie sie vor dem uralten, schwarzen Bogen standen, der<br />
<strong>das</strong> <strong>Tor</strong> zu einer anderen Welt markierte. Zu einer, in die niemand will,<br />
dachte <strong>Harry</strong>. Außer uns.<br />
Die mysteriösen, flüsternden Stimmen, von denen er mittlerweile<br />
wusste, <strong>das</strong>s sie von Toten stammten, beklemmten ihn. Er trat einen<br />
zögernden Schritt nach dem anderen in Richtung Bogen, bis er nur noch<br />
eine Handbreit davon entfernt war. Er spürte den zerschlissenen<br />
Schleier sein Gesicht berühren, eine gleichsam beruhigende wie Angst<br />
machende Erfahrung. Stärker denn je wisperten die Stimmen zu ihm,<br />
<strong>und</strong> er wusste, <strong>das</strong>s er sich ihnen nicht mehr entziehen konnte, dafür<br />
war es längst zu spät. Noch einmal drehte er sich zu Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
um.<br />
"Wir sehen uns gleich", murmelte er.<br />
Dann trat er durch den Bogen.<br />
244
KAPITEL DREIZEHN<br />
Im Feldlager<br />
Zuerst war es, als ginge er nur unter einem gewöhnlichen, alten<br />
Schleier hindurch. Der Stoff streifte über seinen Kopf, <strong>und</strong> auch wenn die<br />
flüsternden Stimmen immer näher zu kommen schienen, konnte <strong>Harry</strong><br />
nichts Ungewöhnliches feststellen. Er stürzte in keinen bodenlosen<br />
Schl<strong>und</strong>, keine Tür fiel hinter ihm zu <strong>und</strong> schloss ihn für immer in der<br />
<strong>Unterwelt</strong> ein, <strong>und</strong> er spürte auch kein Feuer, wie es in den<br />
Kindermärchen der Muggel immer hieß. Stattdessen fiel der Schleier<br />
nach hinten weg, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> überkam eine klamme Kälte, die ihn sogleich<br />
zittern ließ. Nachdem der Stoff seine Augen nicht mehr bedeckte,<br />
schaute er sich hektisch um, den Zauberstab erhoben, falls sich jemand<br />
in der Nähe befand. Er hatte nicht die blasseste Ahnung, was er erwartet<br />
hatte zu sehen. Doch was er wahrnahm, schien ihm irgendwie nicht in<br />
die <strong>Unterwelt</strong> zu passen: Dicker Nebel umschwaberte eine dunkle, kahle<br />
<strong>und</strong> menschenlose Landschaft, von der er freilich nicht viel sehen<br />
konnte. Kleine Kiesel bedeckten den feuchten Boden, <strong>und</strong> vor ihm verlief<br />
sich ein kleiner Trampelpfad in <strong>das</strong> <strong>und</strong>urchdringliche Grau. Die<br />
Stimmen waren mit einem Mal verschw<strong>und</strong>en, so<strong>das</strong>s sich eine fast<br />
unnatürliche Stille über ihn gelegt hatte.<br />
Nach Ron <strong>und</strong> Hermine suchend drehte er sich um. Der Bogen<br />
hinter ihm sah genauso aus wie der im Ministerium, nur <strong>das</strong>s er in einer<br />
ganz anderen Umgebung stand. <strong>Harry</strong> biss sich <strong>auf</strong> die Lippen <strong>und</strong><br />
schritt kurz entschlossen noch einmal durch den Schleier, nur um am<br />
anderen Ende wieder in der nebeligen, trostlosen Landschaft<br />
herauszukommen. Wie Hermine sagte, dachte er, für mich ist <strong>das</strong> jetzt<br />
ein stinknormaler <strong>Tor</strong>bogen. Ich bin in der <strong>Unterwelt</strong>, <strong>und</strong> hier geht es<br />
nicht mehr heraus.<br />
245
In dem Moment kamen Ron <strong>und</strong> Hermine fast gleichzeitig aus dem<br />
Bogen gestolpert <strong>und</strong> schlugen sofort die Arme um ihre Körper, als die<br />
eisige Kälte sie traf.<br />
"Wahnsinn", hauchte Ron <strong>und</strong> schaute sich ungläubig um. "Wir<br />
sind in der Hölle, stellt euch <strong>das</strong> mal vor!"<br />
"Nicht gerade bemerkenswert hier", kommentierte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />
versuchte vergeblich, einen Himmel durch all den Nebel auszumachen.<br />
"Wo sind wir hier?", fragte Hermine.<br />
"Im Honigtopf", meinte Ron trocken. "Nicht zu übersehen."<br />
<strong>Harry</strong> lachte heiser, aber <strong>das</strong> Geräusch wirkte eher beängstigend<br />
als fröhlich. Der Nebel erstickte alle Töne <strong>und</strong> verzerrte sie zu etwas<br />
Unheimlichen.<br />
"Wir müssen Menschen finden", schlug Hermine vor. "Ich würde<br />
sagen, wir folgen dem Pfad, er wird bestimmt zu einer Ansiedlung<br />
führen. Und dort fragen wir, ob uns jemand <strong>auf</strong> der Suche nach Sirius<br />
helfen kann."<br />
"Und was, wenn es hier keine Menschen gibt?" Ron starrte<br />
skeptisch in die Nebelsuppe. "Das ist die <strong>Unterwelt</strong>, woher willst du<br />
wissen, ob die hier Ansiedlungen kennen, <strong>und</strong> vielleicht treffen wir <strong>auf</strong><br />
Teufel oder Hadesschlangen oder was weiß ich, was alles in den<br />
Märchen <strong>und</strong> Sagen geschrieben steht ..."<br />
"Du kannst auch hier stehen bleiben, bis der nächste Zauberer<br />
beschließt, durch den Bogen zu gehen", fauchte Hermine. "Ich jedenfalls<br />
gehe, denn was anderes fällt mir nicht ein."<br />
Als <strong>Harry</strong> sich zu dem Bogen umdrehen wollte, zuckte er<br />
zusammen.<br />
„Er ist weg!“, keuchte er. Wo gerade noch <strong>das</strong> unheimliche<br />
Bauwerk gestanden hatte, war nun nichts als Neben zu sehen.<br />
„Hier finden wir definitiv nicht <strong>zur</strong>ück“, meinte Hermine fest.<br />
So setzten sie sich in Bewegung, denn auch <strong>Harry</strong> wusste nichts<br />
Besseres, als dem Pfad zu folgen. Eine Weile liefen sie schweigend,<br />
frierend in der kalten Luft, bald durchnässt von dem feuchten Nebel. Er<br />
konnte nicht sagen, wie lange sie bereits unterwegs waren, als vor ihnen<br />
<strong>das</strong> Plätschern von Wasser zu hören war.<br />
"Da muss ein Fluss sein", murmelte er, <strong>und</strong> schon wenige Schritte<br />
später standen sie am schlammigen Ufer eines langsam fließenden<br />
Stromes mit trüb-braunem Wasser, in dem einige Algen <strong>und</strong> seltsame<br />
graue, schleimige Fische schwammen.<br />
"Ui, lecker", meinte Ron. "Da schwimmt ihr aber alleine durch."<br />
"Schaut, dort!", rief Hermine <strong>und</strong> deutete <strong>auf</strong> einen Punkt ein Stück<br />
fluss<strong>auf</strong>wärts. Dort befand sich ein b<strong>auf</strong>älliger, mit Algen verschmierter<br />
Steg, an dessen Ende ein kleines Boot im Wasser schaukelte. Und nicht<br />
nur <strong>das</strong>: In dem Boot saß ein Mann <strong>und</strong> schien mit aller Seelenruhe <strong>auf</strong><br />
sie zu warten.<br />
246
"Also ich habe <strong>das</strong> Wassertaxi nicht bestellt", stieß Ron in<br />
misstrauischem Ton hervor.<br />
"Ob der was von uns will?", fragte sich <strong>Harry</strong>.<br />
Hermine kniff die Augen zusammen. "Er macht den Eindruck, als<br />
würde er <strong>auf</strong> uns warten ..."<br />
"Hermine, <strong>das</strong> ist Blödsinn!", rief Ron. "Er konnte <strong>doc</strong>h gar nicht<br />
wissen, <strong>das</strong>s wir durch den Bogen gekommen sind. Wahrscheinlich<br />
angelt er nur ..."<br />
Das kam <strong>Harry</strong> aber äußerst unwahrscheinlich vor. Er musste<br />
insgeheim Hermine Recht geben, der Mann sah <strong>auf</strong> eine beunruhigend<br />
wissende <strong>und</strong> gleichzeitig entspannte Art zu ihnen hinüber, als erwarte<br />
er sie zum Nachmittagstee.<br />
"Gehen wir hin", wandte er sich an seine Fre<strong>und</strong>e. "Er wird uns<br />
zumindest sagen können, wo wir sind."<br />
So gingen sie am glitschigen Ufer entlang <strong>auf</strong> den Steg zu <strong>und</strong><br />
betraten die alten, löchrigen Planken. Alle drei hielten ihre Zauberstäbe<br />
bereit, falls sich der Bootsführer als feindselig herausstellen sollte.<br />
Wenigstens diese Befürchtung fiel von ihnen ab, als sie näher<br />
kamen: Der Mann war sehr alt, er wirkte fast gebrechlich in dem kleinen<br />
Boot, <strong>das</strong> mit zwei Rudern ausgestattet war.<br />
"Hallo?", sprach <strong>Harry</strong> ihn an.<br />
Das zerfurchte Gesicht, <strong>das</strong> seit Minuten jede ihrer Bewegungen<br />
genau verfolgt hatte, verzog sich zu einem Lächeln.<br />
"Hallo, mein Junge. Bereit für die große Fahrt?"<br />
<strong>Harry</strong> verstand nicht.<br />
"Was für eine Fahrt? Wir wollen nicht über den Fluss – na ja,<br />
vielleicht <strong>doc</strong>h, wir wissen im Moment noch gar nicht, wohin wir gehen<br />
müssen. Wir haben gehofft, sie würden uns helfen –"<br />
"Oh, <strong>das</strong> tue ich, dafür bin ich da", unterbrach ihn der Alte immer<br />
noch lächelnd. "Ich bringe euch über den großen Fluss, <strong>das</strong> ist mein<br />
Job."<br />
"Nein, nein!", schüttelte <strong>Harry</strong> ungeduldig den Kopf. "Sie können<br />
<strong>doc</strong>h gar nicht wissen, wohin wir wollen. Sagen Sie, wo befinden wir uns<br />
gerade?"<br />
"In der <strong>Unterwelt</strong>, mein Junge", antwortete der Fährmann ruhig.<br />
"Ja, <strong>das</strong> ist schon klar", schaltete sich nun Hermine ein. "Aber<br />
sehen Sie, wir suchen einen Fre<strong>und</strong> von uns, <strong>und</strong> es wäre nett, wenn Sie<br />
uns sagen könnten, wo wir genau sind!"<br />
"In der <strong>Unterwelt</strong>", meinte der Alte stoisch <strong>und</strong> nun etwas verwirrt.<br />
"In der <strong>Unterwelt</strong> ist es egal, wo man ist."<br />
"Wie egal? Wo sind die anderen Toten?", fragte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>gebracht.<br />
Dieser Ort wurde ihm immer unheimlicher. Die Kälte laugte ihn aus, er<br />
wollte Sirius finden <strong>und</strong> so schnell wie möglich wieder umkehren.<br />
247
"Auf der anderen Seite des Flusses", meinte der Fährmann. "So<br />
wie alle, die den Weg in die Welt der Toten beschreiten. Und meine<br />
Aufgabe ist es, sie über den Fluss zu begleiten. Also steigt ein."<br />
"Woher wussten sie eigentlich, <strong>das</strong>s wir kommen?" Ron schaute<br />
misstrauisch in <strong>das</strong> Boot, als würde dort die Antwort liegen.<br />
"Ich weiß immer, wann jemand die Welt der Lebenden verlässt<br />
<strong>und</strong> wo er die hiesige betritt", zuckte der Alte nur mit den Schultern.<br />
"Auch wenn relativ selten Kinder dabei sind. Kommt, macht es euch<br />
bequem."<br />
Bequem war ein Wort, mit dem <strong>Harry</strong> andere Dinge assoziierte als<br />
zu viert in einem engen, schmutzigen Holzboot gequetscht zu sitzen <strong>und</strong><br />
über einen unheimlichen, düsteren Fluss zu fahren, aber zumindest<br />
hatten sie alle Platz. Sobald sie saßen, stieß der Alte <strong>das</strong> Boot vom<br />
Anlegesteg ab <strong>und</strong> tauchte die Ruder in <strong>das</strong> trübe Wasser des Flusses.<br />
Das andere Ufer war durch den Nebel nicht zu sehen.<br />
Ron erzitterte. "Ich hätte nicht gedacht, <strong>das</strong>s es in der <strong>Unterwelt</strong> so<br />
kalt ist", maulte er. "Da wäre mir ein schönes gemütliches Höllenfeuer<br />
<strong>doc</strong>h lieber."<br />
"Wir haben Oktober, was habt ihr denn gedacht?", lachte der Alte,<br />
der langsam, aber stetig die Ruder durch die Fluten zog.<br />
"Hier unten gibt es Jahreszeiten?", fragte <strong>Harry</strong> überrascht.<br />
"Natürlich, warum nicht? Im Gr<strong>und</strong>e ist es hier nicht viel anders als<br />
in der Welt der Lebenden. Nur haben alle viel mehr Zeit. Es gibt keine<br />
Vergänglichkeit."<br />
Er schüttelte sich. "Und vor ein paar Tagen haben wir einen<br />
richtigen Herbsteinbruch gehabt, allerdings soll es laut Voraussage<br />
morgen schon wieder besser werden."<br />
<strong>Harry</strong> schwirrte der Kopf. Es gab in der <strong>Unterwelt</strong><br />
Wettervorhersagen?<br />
"Ihr sucht also einen Fre<strong>und</strong>?", fragt der Alte sie fre<strong>und</strong>lich.<br />
"Ja", meinte <strong>Harry</strong> ohne große Lust, ihr Vorhaben einem Fremden<br />
anzuvertrauen. "Er ist vor einigen Monaten gestorben, <strong>und</strong> nun möchten<br />
wir ihn wieder sehen."<br />
Der alte Mann nickte verständnisvoll. "Vielen, die hierher kommen,<br />
ergeht es ähnlich. Jeder sucht einen Bruder, die Eltern, einen Fre<strong>und</strong> ...<br />
Wenn sie erst einmal realisiert haben, <strong>das</strong>s sie tot sind, denken sie<br />
zuallererst an bereits verschiedene Verwandte oder Bekannte."<br />
"Ja, nur suchen wir unseren Fre<strong>und</strong>, um mit ihm wieder in die Welt<br />
der Lebenden zu gehen", meinte Ron arglos.<br />
Die Ruder klatschten ins Wasser, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Boot stoppte.<br />
"Zurückkehren wollt ihr?" Der Alte schaute sie vollkommen<br />
überrumpelt an.<br />
<strong>Harry</strong> nickte nur.<br />
248
Der Alte fing laut an zu lachen <strong>und</strong> schaffte es eine Minute lang<br />
nicht, wieder <strong>auf</strong>zuhören. <strong>Harry</strong> hätte ihm am liebsten durchgeschüttelt,<br />
<strong>und</strong> nach Rons Miene zu urteilen, erging es ihm ähnlich.<br />
Dann wurde er wieder ruhig.<br />
"Ihr könnt nicht <strong>zur</strong>ück", meinte er schlicht.<br />
Wider besseres Wissen ließ sich <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> eine Diskussion ein.<br />
"Wieso nicht?"<br />
"Weil ihr tot seid, verdammt! Das soll nicht unhöflich klingen, aber<br />
es ist die Wahrheit, akzeptiert sie."<br />
"Wir sind NICHT tot", beharrte <strong>Harry</strong>. Ron nickte zustimmend. "Wir<br />
sind durch den Bogen in diese Welt gekommen – aber gestorben sind<br />
wir nicht, sind nicht tödlich verletzt oder krank gewesen oder ähnliches."<br />
Nun schaute der Alte sie neugierig an, während er <strong>das</strong> Rudern<br />
wieder <strong>auf</strong>genommen hatte.<br />
"Nicht tot? Mmm, vor einigen Jahrh<strong>und</strong>erten hatten wir schon<br />
einmal jemanden, der ebenfalls durch den Bogen kam <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />
behauptete. War ein wenig begriffsstutzig <strong>und</strong> wollte nicht wahrhaben,<br />
<strong>das</strong>s er in der Welt der Toten ist. Armer Kerl."<br />
"Und was ist mit ihm passiert?", fragte <strong>Harry</strong> schnell.<br />
"Na, was wohl, er ist noch hier", zuckte der alte Mann die<br />
Schultern. "Man kann nicht mehr von hier weg. Kinder, kapiert es, ihr<br />
seid in der <strong>Unterwelt</strong>! Leute, die sterben, kommen hierher, aber es gibt<br />
keine Möglichkeit, den Prozess umzukehren."<br />
Entgeistert sank <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die harte Holzbank <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> starrte in<br />
Hermines <strong>und</strong> Rons bleiche Gesichter. "Aber ...", stammelte er, "wir<br />
haben von jemandem gehört, der durch den Bogen in unsere Welt<br />
<strong>zur</strong>ückgekehrt ist – der Hexer von Hexham, den müssen Sie <strong>doc</strong>h<br />
kennen!"<br />
"Nie gehört", winkte der Alte ab. "Ich weiß nicht, was die Leute<br />
machen, nachdem ich sie übergesetzt habe. Gehen ihren eigenen Weg,<br />
führen ihr eigenes Dasein. Ich betrete die Ufer nie."<br />
Hoffnungsvoll beugte er sich vor. "Ihr habt nicht zufällig ein kleines<br />
Trinkgeld dabei? Seht ihr, die Überfahrt ist nicht gebührenpflichtig, aber<br />
gegen eine Erkenntlichzeigung hätte ich nichts einzuwenden. Früher war<br />
<strong>das</strong> anders, die alten Griechen wussten, was Höflichkeit ist ... hatten alle<br />
eine Münze für mich dabei, wenn ihre Zeit gekommen war <strong>und</strong> sie am<br />
Ufer standen."<br />
<strong>Harry</strong> hatte keine Ahnung, von was der Alte sprach, aber Hermine<br />
klatschte sich mit der Hand <strong>auf</strong> die Stirn. "Natürlich!", rief sie <strong>auf</strong>geregt<br />
<strong>und</strong> begann in ihrer Tasche zu kramen. "Das ist der Totenfluss, <strong>und</strong><br />
jeder, der darüber fährt braucht eine Münze für den Fährmann ..." Sie<br />
schaute <strong>auf</strong>. "Also für Sie."<br />
"Brauchen nicht, aber wie gesagt, nett wäre es ..."<br />
249
Hermine reichte dem Alten eine goldene Galleone, die er dankend<br />
annahm.<br />
"Die gebe ich einem Fre<strong>und</strong>, er k<strong>auf</strong>t mir dafür ab <strong>und</strong> an ein wenig<br />
Tabak, ich darf ja nicht an Land gehen."<br />
<strong>Harry</strong> war zu erschöpft <strong>und</strong> erschlagen von dieser Welt, um sich zu<br />
w<strong>und</strong>ern, <strong>das</strong>s man im Reich der Toten auch Dinge k<strong>auf</strong>en konnte <strong>und</strong><br />
starrte nur trübsinnig in den Nebel. Was, wenn sie tatsächlich nicht mehr<br />
von hier wegkamen?<br />
"Bald sind wir da", kündigte der Fährmann an. "Ihr l<strong>auf</strong>t einfach die<br />
Pfade entlang, dann kommt ihr in eure Zeit."<br />
"In unsere Zeit?", fragte <strong>Harry</strong> verwirrt.<br />
"Klar. Alle, die sterben, haben ihre eigene Zeit. Oder glaubt ihr, die<br />
alten Ägypter würden gerne mit Jungvolk wie euch Neuzeitlichen<br />
zusammenwohnen? Ihr könntet euch nicht einmal verständigen. Auch<br />
wenn natürlich mittlerweile die meisten wenigstens Englisch<br />
beherrschen, ist die einfachste <strong>und</strong> gängigste Sprache der Menschen ..."<br />
<strong>Harry</strong> fühlte sich Minute mehr wie in einem Irrenhaus. Altägypter,<br />
die Englisch konnten ... eigene Zeiten ... wir finden hier nie wieder raus,<br />
dachte er niedergeschlagen.<br />
"Folgt nur den Wegen, dann kommt ihr in <strong>das</strong> Zeitalter, in <strong>das</strong> ihr<br />
gehört. Die anderen sind sowieso sehr weit entfernt, ich brauche sie<br />
nicht mehr anzusteuern, es stirbt ja niemand mehr aus diesen Zeiten.<br />
Ach, da ist <strong>das</strong> Ufer."<br />
Etwa h<strong>und</strong>ert Meter entfernt schälte sich ein Landsteg aus dem<br />
etwas lichter gewordenen Nebel, als sie plötzlich von rechts ein lautes<br />
Getöse hörten.<br />
Entsetzt fuhr der Alte herum. "Oh nein, nicht schon wieder! Die<br />
letzte hatten wir <strong>doc</strong>h erst vor dreih<strong>und</strong>ert Jahren!"<br />
"Die letzte was?", rief <strong>Harry</strong> panisch. Das ohrenbetäubende Grollen<br />
schien ihm eine gewaltige Kraft anzukündigen, die direkt <strong>auf</strong> dem Weg<br />
zu ihnen war.<br />
"Eine Sturmwelle", erklärte der Alte bedrückt. "Alle paar Zeitalter<br />
fegt sie den Fluss entlang <strong>und</strong> bringt alles durcheinander."<br />
"Aber was können wir tun? Werden wir kentern?", fragte Hermine<br />
ängstlich. Die Aussicht, in dem trüben Wasser von einer Riesenwelle<br />
erdrückt zu werden, war wenig verlockend. Plötzlich fragte sich <strong>Harry</strong>, ob<br />
sie denn sterben konnten – ging <strong>das</strong>, obwohl sie schon in der <strong>Unterwelt</strong><br />
waren?<br />
"Tun? Mein liebes Mädchen, da kann man gar nichts tun, nur<br />
ausharren!"<br />
Zwei Sek<strong>und</strong>en später brach aus dem Nebel eine gigantische<br />
Flutwelle hervor <strong>und</strong> riss sie mit sich. <strong>Harry</strong> sah <strong>und</strong> hörte nichts mehr<br />
außer dem Wasser, <strong>das</strong> <strong>das</strong> kleine Boot mit sich schleuderte wie ein<br />
Blatt im Wind. Er klammerte sich verzweifelt an die Reling, knallte mit<br />
250
dem Kopf mehrmals gegen den Holzboden <strong>und</strong> glaubte, zu ersticken, als<br />
die Flut ihn unter die Oberfläche drückte. Mit zusammengekniffenen<br />
Augen krallte er sich am Holz fest, so gut es ging <strong>und</strong> versuchte einfach,<br />
durchzuhalten. Die Welle je<strong>doc</strong>h schien <strong>das</strong> wehrlose Boot nicht mehr<br />
hergeben zu wollen <strong>und</strong> trieb sie ab, bis <strong>Harry</strong> nicht mehr zu sagen<br />
vermochte, ob es noch andere Dinge <strong>auf</strong> der Welt gab außer Wasser,<br />
Wind <strong>und</strong> nasses Holz. Dann wurde er ohnmächtig.<br />
Ein Zischen in seinem Ohr weckte ihn. Wild um sich schlagend<br />
versuchte er, sich vor einer schwarzen, großen Gestalt zu verteidigen,<br />
bis er feststellte, <strong>das</strong>s diese Gestalt Ron war, der sich zu ihm<br />
hinabbeugte.<br />
"Hey Mann, alles in Ordnung?", fragte er verwirrt, als <strong>Harry</strong><br />
seufzend die Arme fallen ließ.<br />
"Ja", atmete er mit klopfenden Herzen durch <strong>und</strong> sah sich um. "Wo<br />
ist Hermine?"<br />
"Hier!“, hörte er ihre Stimme hinter sich. Er drehte sich um <strong>und</strong><br />
erblickte sie <strong>auf</strong> einem zugewachsenen Trampelpfad, der sich im<br />
Gebüsch verlor. Erstaunt registrierte er, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wetter bedeutend<br />
besser geworden war; der Nebel war verschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> offenbarte eine<br />
karge, mit hartem Gras bewachsene offene Landschaft, die von sanften<br />
Hügeln durchzogen war. Wolken bedeckten den Himmel, aber dann <strong>und</strong><br />
wann rissen sie <strong>auf</strong> <strong>und</strong> ließen die Sonne wärmend <strong>auf</strong> sie hinab<br />
scheinen. <strong>Harry</strong> verschwendete erst gar keine Zeit damit, sich zu fragen,<br />
wie es denn in der <strong>Unterwelt</strong> eine Sonne geben konnte. Scheinbar ging<br />
es.<br />
"Wo sind wir?" Das war die entscheidende Frage.<br />
Ron zuckte mit den Schultern.<br />
"Keine Ahnung, ich bin eben gerade <strong>auf</strong>gewacht – habe einen<br />
Schlag von dem Boot abbekommen."<br />
"Das Boot! Wo ist es?" <strong>Harry</strong> schaute in alle Richtungen. Links von<br />
ihnen lag der Fluss, also waren sie am anderen Ufer gestrandet. Von<br />
einem Boot war aber keine Spur zu sehen.<br />
"Ich weiß nicht", erwiderte Hermine, die nun zu ihnen trat. Genau<br />
wie er <strong>und</strong> Ron war sie durchnässt, ihr Umhang hing nass um ihre Beine.<br />
"Ich habe den alten Mann seit dem Ausbruch des Unwetters nicht mehr<br />
gesehen."<br />
"Ist auch egal, wir sind am richtigen Ufer", meinte Ron. "Nun lasst<br />
uns "unsere Zeit" finden, was immer <strong>das</strong> auch ist."<br />
Hermine machte ein bedrücktes Gesicht. "Es gibt Schwierigkeiten",<br />
erklärte sie in einem seltsamen Ton.<br />
Sie erzählte, wie sie den Trampelpfad ein Stück entlang gegangen<br />
war. "Die Landschaft hier erinnert mich an nichts, was ich in unserer Welt<br />
251
isher gesehen habe. Auch wenn ich es nur ungern sage, aber ich<br />
glaube, wir haben uns verirrt."<br />
"Unsinn", widersprach <strong>Harry</strong> in dem Versuch, sich nicht verrückt<br />
machen zu lassen. "Woher sollen wir wissen, wie es hier aussieht,<br />
vielleicht ist <strong>das</strong> die Gegend, die Verstorbene aus unserer Zeit<br />
bewohnen."<br />
Die waldlosen Hügel <strong>und</strong> <strong>das</strong> braune Gras schienen ihm Hohn zu<br />
sprechen.<br />
"Lasst uns gehen", schlug er vor. "Irgendwo gibt es hier sicher<br />
Menschen."<br />
Bedächtig setzten sie sich in Bewegung, nach allen Seiten<br />
spähend, um keine unliebsame Überraschung zu erleben. Die Gegend<br />
schien je<strong>doc</strong>h ausgestorben zu sein, der kleine Weg wand sich zwischen<br />
sanften Hügeln durch die Steppe hindurch. Am Horizont war von weitem<br />
ein riesiges Gebirge zu sehen.<br />
"Ich frage mich, wie die Toten so leben", sinnierte Ron <strong>und</strong> kickte<br />
einen kleinen Stein aus dem Weg. "Ich meine, müssen sie essen <strong>und</strong><br />
trinken? Können sie sich verletzten?"<br />
"Weiß nicht", meinte <strong>Harry</strong> erschöpft. Er war zu müde, um noch viel<br />
nachdenken zu können.<br />
"Schaut mal, da vorne ist jemand!", flüsterte Hermine plötzlich.<br />
<strong>Harry</strong> riss sich zusammen <strong>und</strong> richtete den Blick in die Richtung, in die<br />
sie zeigte. Richtig, eine große Staubwolke näherte sich ihnen, die<br />
scheinbar von den Hufen vieler Pferde verursacht wurde.<br />
"Wer ist <strong>das</strong>?" Ron versuchte, sich zu ducken, aber es war längst<br />
zu spät; die Reiter hatten sie gesichtet.<br />
Hermine verdrehte die Augen. "Sehe ich so aus, als wüsste ich<br />
<strong>das</strong>? Jedenfalls niemand, den ich kenne."<br />
Das war bald festzustellen. Die in mörderischem Tempo näher<br />
preschenden Reiten ähnelten keinen Menschen, die <strong>Harry</strong> je gesehen<br />
hatte: Sie trugen lange, aus dickem Material bestehende Umhänge in<br />
bunten Farben, <strong>und</strong> ihre ziemlich kleinen <strong>und</strong> struppigen Pferde waren<br />
prächtig mit goldenem Zaumzeug geschmückt. Was <strong>Harry</strong> am meisten<br />
beunruhigte, waren je<strong>doc</strong>h die langen Speere, die die Reiter in den<br />
Händen hielten <strong>und</strong> die ausnahmslos <strong>auf</strong> sie gerichtet waren.<br />
Ohne viel ausrichten zu können, waren sie bald dar<strong>auf</strong> von den<br />
fremdartigen Menschen umringt, die Zauberstäbe in der Hand. Doch was<br />
könnten sie gegen so viele schon ausrichten?<br />
Der Reiter <strong>auf</strong> dem größten Pferd, einem gescheckten Hengst,<br />
gekleidet in einen besonders <strong>auf</strong>fälligen Mantel, starrte sie aus bösen,<br />
dunklen Augen an <strong>und</strong> sagte etwas in einer Sprache, die <strong>Harry</strong> an Troll<br />
erinnerte.<br />
"Wir verstehen Sie leider nicht", sagte Hermine fest, auch wenn<br />
<strong>Harry</strong> ihre leicht zitternde Hand durchaus bemerkte.<br />
252
Leider auch ihr Gegenüber. "Engländer", presste er in einem<br />
enorm schwer verständlichen <strong>und</strong> mit einem <strong>Harry</strong> völlig unbekannten<br />
Akzent versehenen Englisch heraus. Es folgte ein hinterlistiges Grinsen.<br />
"Ihr habt euch wohl verl<strong>auf</strong>en, was?" Seine Männer lachten siegesfroh.<br />
"Na, wenn <strong>das</strong> keine vorzüglichen Sklaven sind ... Meine Gattin wird sich<br />
freuen, die letzten zwei sind vor drei Tagen gestorben."<br />
<strong>Harry</strong> fragte lieber nicht, woran. An zu guter Behandlung sicher<br />
nicht.<br />
"Und <strong>das</strong> Mädchen würde ich gerne für mich behalten", stierte er<br />
Hermine lüstern an. "Eine kleine Britin nur für mich ... <strong>das</strong> versüßt einem<br />
<strong>doc</strong>h gleich den Tag!" Er lachte schallend, <strong>und</strong> Ron sprang vor Hermine,<br />
den Zauberstab <strong>auf</strong> den Anführer gerichtet.<br />
"Wag es nicht, sie an<strong>zur</strong>ühren!", schrie er.<br />
Bevor einer von ihnen auch nur eine Bewegung machen konnte,<br />
hatte der Anführer Ron den Zauberstab mit dem Speer aus der Hand<br />
geschlagen.<br />
"Oh, ein Zauberer, in der Tat", höhnte er. "Mit solchen wie dir<br />
können wir gut umgehen, keine Angst." Er nickte einem seiner Männer<br />
zu, der sogleich vom Pferd sprang <strong>und</strong> Ron schnappte, ehe <strong>Harry</strong> etwas<br />
unternehmen konnte. Diese Reiter waren unglaublich schnell. Ron wand<br />
sich, kam aber nicht frei.<br />
"Sollte einer von euch Mucken machen, stirbt euer Fre<strong>und</strong>", sagte<br />
der Anführer kalt. "Und nun gebt uns eure Zauberstäbe."<br />
<strong>Harry</strong> konnte es nicht fassen. Da befanden sie sich etwa eine<br />
St<strong>und</strong>e in der <strong>Unterwelt</strong> <strong>und</strong> wurden gleich von wilden<br />
Steppenbewohnern entführt. Und er konnte nichts unternehmen, wenn er<br />
Ron nicht in Gefahr bringen wollte.<br />
Wütend <strong>und</strong> vor Hass bebend streckte er seinen Zauberstab einem<br />
der widerwärtigen, dreckigen Burschen entgegen, der ihn grinsend<br />
nehmen wollte, als ein Pfeil durch die Luft segelte, <strong>Harry</strong> mit einem<br />
scharfen Zischen streifte <strong>und</strong> passgenau in der Brust des Reiters sein<br />
Ziel fand.<br />
"Runter!", schrie er <strong>und</strong> ließ sich fallen, während er neben sich<br />
Hermine <strong>und</strong> Ron hörte, die sich ebenfalls <strong>auf</strong> den Boden stürzten. Ein<br />
weiterer Pfeilhagel schoss <strong>auf</strong> sie nieder, der allerdings wie in Absicht<br />
nur die Reiter zu treffen schien.<br />
Der Anführer hatte sein widerwärtiges Grinsen verloren, seine<br />
Miene war nur noch von Abscheu <strong>und</strong> Enttäuschung verzerrt. Seine<br />
Gefangenen hatte er völlig vergessen.<br />
"Die Schwadron ist im Anmarsch!", stieß er hervor, wendete<br />
ruckartig sein wieherndes Pferd <strong>und</strong> gab Befehle in der trollartigen<br />
Sprache. <strong>Harry</strong>, immer noch <strong>auf</strong> den Boden gedrückt, sah, wie die<br />
Steppenreiter eine Angriffslinie bildeten <strong>und</strong> ihre Schilder vor sich<br />
253
hielten, die Speere <strong>auf</strong> etwas gerichtet, <strong>das</strong> sich in seinem Rücken<br />
befand. Von Panik ergriffen wagte er einen Blick <strong>zur</strong>ück.<br />
Was er sah, überzeugte ihn endgültig davon, in der Hölle<br />
angekommen zu sein: Ein riesiges, wildes, scheinbar ungezähmt<br />
galoppierendes Pferd, schwarz wie die Nacht, preschte mit gewaltigen<br />
Sprüngen <strong>auf</strong> sie zu. Erst glaubte <strong>Harry</strong>, <strong>das</strong> Tier stürmte ganz alleine<br />
über die Steppe, dann aber registrierte er einen Reiter, der sich dicht<br />
über der Mähne des Rappen hielt, in der einen Hand die Zügel, in der<br />
anderen ein langes Schwert hoch erhoben <strong>und</strong> <strong>auf</strong> die Steppenreiter<br />
gerichtet. Hinter ihm folgten zwei Dutzend andere Reiter, genau wie er<br />
im Gegensatz zu den wilden Steppenreitern <strong>auf</strong> ihren Ponys <strong>auf</strong> großen<br />
Schlachtrössern sitzend.<br />
<strong>Harry</strong> wollte sich Ron <strong>und</strong> Hermine schnappen <strong>und</strong> schnell<br />
verschwinden, <strong>doc</strong>h da hatten sie die angreifenden Reiter bereits<br />
erreicht <strong>und</strong> fegten ohne ihr Tempo zu verlangsamen an ihnen vorbei<br />
<strong>und</strong> in die Schlachtreihe der Steppenreiter hinein, mit denen sie ein<br />
hartes Gefecht begannen. Das Klirren von Schwertern zusammen mit<br />
dem schnaubenden Wiehern der Pferde mischte sich mit Schreien von<br />
sterbenden Männern, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> war froh, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Gemetzel bald von<br />
einer <strong>auf</strong>gewirbelten Staubwolke verdeckt wurde.<br />
Er suchte Hermines <strong>auf</strong>geschreckten Blick <strong>und</strong> gab ihr <strong>und</strong> Ron zu<br />
verstehen, <strong>das</strong>s sie sich wegschleichen sollte. Geduckt entfernten sie<br />
sich von dem Kampfgetümmel <strong>und</strong> hatten bald einen kleinen Abstand<br />
zwischen sich <strong>und</strong> die verfeindeten Reitern gebracht.<br />
"Puh, <strong>das</strong> war knapp", seufzte Ron. "Wer die wohl sind?"<br />
Hermine sah ratlos aus. "Irgendwelche wilden Stämme, vermute<br />
ich." Sie sah verzweifelt in die Gegend <strong>und</strong> sprach aus, was <strong>Harry</strong><br />
bereits seit einiger Zeit schwante. "Auf jeden Fall ist <strong>das</strong> hier nicht<br />
unsere Zeit."<br />
Verloren standen sie zwischen den Hügeln in dem wogenden,<br />
hohen, vertrockneten Gras <strong>und</strong> wussten nicht, wohin sie gehen sollten.<br />
"Na, wenigstens sind wir die Ritter los", brummte Ron <strong>und</strong> klopfte<br />
sich Staub vom Umhang.<br />
"Das würde ich nicht so sagen", meinte <strong>Harry</strong> düster, denn gerade<br />
hatte sich der Dunst über dem Schlachtfeld gelegt, <strong>und</strong> es wurde<br />
ersichtlich, <strong>das</strong>s die neu hinzugekommenen Reiter gesiegt hatten: Die<br />
übrig gebliebenen Steppenreiter <strong>auf</strong> ihren kleinen Pferden flüchteten in<br />
die endlose Grasebene hinaus, sie hatten wohl eingesehen, <strong>das</strong>s sie<br />
ihren Angreifern hoffnungslos unterlegen waren. Die Sieger je<strong>doc</strong>h<br />
verfolgten sie nicht, sondern wendeten ihre mit Staub <strong>und</strong> Blut<br />
bedeckten Pferde <strong>und</strong> galoppierten <strong>auf</strong> dem Weg <strong>zur</strong>ück, den sie<br />
gekommen waren – genau <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine zu.<br />
"Weg hier!", schrie <strong>Harry</strong> erschrocken <strong>und</strong> packte Hermine am<br />
Ärmel. Freilich rannte er nur aus Instinkt, ihm war längst klar, <strong>das</strong>s sie<br />
254
gegen die Schlachtrösser keine Chance haben würden. Seine Lunge<br />
brannte, während er über Grashügel <strong>und</strong> kleine Löcher sprang. Plötzlich<br />
erhob sich direkt vor ihm ein gewaltiger Schatten aus schlagenden Hufen<br />
<strong>und</strong> schnaubendem Grunzen, der ihn zwang, aus dem L<strong>auf</strong> heraus<br />
schlagartig anzuhalten. Er taumelte, stolperte <strong>und</strong> knallte direkt in Ron<br />
hinein, mit dem er zusammen in <strong>das</strong> weiche, hohe Gras fiel.<br />
"<strong>Harry</strong>, Ron!", quiekte Hermine <strong>und</strong> versuchte, ihnen hoch zu<br />
helfen. Erstarrt standen alle drei vor dem großen, schwarzen Pferd, <strong>das</strong><br />
<strong>Harry</strong> vorhin schon <strong>auf</strong>gefallen war, er brauchte nur die Hand<br />
auszustrecken, um es an den Nüstern zu berühren. Die weit<br />
<strong>auf</strong>gerissenen Augen des Tieres, <strong>das</strong> mit Blut bedeckte Fell <strong>und</strong> die<br />
nervös scharrenden Hufe hielten ihn dabei noch am wenigsten ab, es<br />
war eher sein Reiter, der nun hoch <strong>auf</strong>gerichtet im Sattel saß, <strong>das</strong> vor<br />
Blut triefende Schwert in der Hand.<br />
Klasse, dachte <strong>Harry</strong>, wenn es einen Menschen gibt, der noch<br />
Furcht einflößender wirkt als der Steppenreiter, dann dieser.<br />
"<strong>Harry</strong>", hörte er Ron neben sich wispern, sich erst gar keine Mühe<br />
gebend, den ängstlichen Unterton zu verbergen.<br />
<strong>Harry</strong> trat entschlossen vor <strong>und</strong> erhob seinen Zauberstab gegen<br />
den Reiter des schwarzen Pferdes. Er war sich durchaus dessen<br />
Gefährten bewusst, die zu etwa zwei Dutzend Stellung um sie bezogen<br />
hatten. Dennoch sagte er fest: "Wenn Sie uns versklaven wollen, dann<br />
müssen Sie uns schon töten." Seine Stimme zitterte leicht, weswegen er<br />
innerlich fluchte.<br />
"Versklaven?", fragte der Reiter mit etwas, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> fast<br />
ungläubig als Erstaunen identifizierte. "Warum sollte ich euch versklaven<br />
wollen? Ihr scheint mir kein immenses Reich zu besitzen, <strong>das</strong> ich<br />
erobern könnte, was also hätte ich von eurer Gefangenschaft?" Sein<br />
Englisch klang besser als <strong>das</strong> des Steppenreiters, wenn auch mit einem<br />
seltsamen Akzent behaftet.<br />
"Sie wollen uns nicht – verschleppen?", erk<strong>und</strong>igte sich Hermine<br />
zaghaft.<br />
"Nein!", lachte der Reiter <strong>und</strong> sprang nun von seinem Pferd. Er trug<br />
eine silberne Rüstung, die allerdings zum Großteil mit Blut bespritzt war.<br />
Sein Schwert befestigte er am Sattel, dann nahm er seinen mit Federn<br />
geschmückten Helm ab.<br />
Was immer <strong>Harry</strong> auch erwartet hatte, es war sicher nicht <strong>das</strong>, was<br />
er nun erblickte: Der Reiter war noch jung, vielleicht Ende zwanzig oder<br />
Anfang dreißig, hatte ein schmales, recht hübsches Gesicht, blau-grüne<br />
Augen <strong>und</strong> dunkelblonde Haare. Außerdem war er überraschend klein,<br />
sogar ein paar Zentimeter kleiner als <strong>Harry</strong>, der selbst nicht zu den<br />
Größten seines Alters gehörte.<br />
255
Er nickte <strong>Harry</strong> zu. "Ich lade dich <strong>und</strong> deine Fre<strong>und</strong>e ein, in mein<br />
Lager zu kommen, dort wird man euch zu essen <strong>und</strong> trinken geben. Ihr<br />
seht mitgenommen aus."<br />
<strong>Harry</strong> kam es komisch vor, diese Worte von jemandem zu hören,<br />
der selbst aussah, als hätte man ihn im Blut ertränkt, wusste aber nicht<br />
viel anderes zu tun als zu nicken.<br />
"Vielleicht ist <strong>das</strong> eine Falle!", zischte ihm Ron zu.<br />
"Falle?", grinste der Reiter. "Ich stelle seit tausenden von Jahren<br />
keine Fallen mehr, <strong>das</strong> lohnt sich nicht, wenn man tot ist. Hier kann man<br />
nicht sterben."<br />
Hermine blickte skeptisch zu den tot wirkenden Steppenreitern<br />
<strong>zur</strong>ück, die in ihren eigenen Blutlachen regungslos am Boden lagen.<br />
"Ach die, die wachen beim nächsten Tagesanbruch wieder <strong>auf</strong>, als<br />
wäre nichts gewesen. Ist mir selbst viele Male so ergangen. Wie gesagt,<br />
wir sind tot, was soll schon noch passieren?"<br />
Dann trat er näher an <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine heran <strong>und</strong> fixierte<br />
sie mit einem stechenden Blick. Von ihm ging etwas aus, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> am<br />
ehesten mit ungeheurer Macht beschreiben konnte, ein Charisma, <strong>das</strong><br />
ihn völlig in den Bann schlug.<br />
"Ich spüre in eurer Gegenwart etwas Eigenartiges", meinte er mit<br />
leicht schief gelegtem Kopf. "Ihr seid nicht wie die anderen Toten."<br />
"Nein, weil wir nicht tot sind", erklärte <strong>Harry</strong>. Wenn ihnen in dieser<br />
absurden Welt jemand helfen konnte, dann war <strong>das</strong> dieser Mann,<br />
jedenfalls war die Chance, beim nächsten Mal wieder an einen<br />
mordlüsternen Wilden zu geraten, ihm zu hoch. "Wir sind nur in die<br />
<strong>Unterwelt</strong> gekommen, um jemanden zu suchen."<br />
Sein Gegenüber strahlte, als hätte <strong>Harry</strong> ihm eine äußerst<br />
erfreuliche Neuigkeit überbracht. "Außergewöhnlich! Davon habe ich<br />
noch nie gehört. Ihr müsst unbedingt mit mir kommen <strong>und</strong> mir alles<br />
erzählen. Ich werde ein Fest zu euren Ehren geben."<br />
Ein Fest in dieser Einöde?<br />
"Und was soll es da geben? Hartes Gras?", flüsterte ihm Ron ins<br />
Ohr. "Mann, ich will lieber von hier verschwinden als mitten in der Wüste<br />
ein ominöses Festessen abzuhalten."<br />
Auch wenn der Reiter diese Worte glücklicherweise nicht gehört zu<br />
haben schien, unterstrich er seine Einladung noch einmal. "Mein Lager<br />
befindet sich drei St<strong>und</strong>en von hier entfernt, dort findet ihr alles, was man<br />
nur suchen könnte. Ist <strong>das</strong> in Ordnung?<br />
<strong>Harry</strong> nickte.<br />
"Dann kommt, die Sonne geht bald unter!"<br />
Er sprang <strong>auf</strong> sein schwarzes Ross, <strong>das</strong> er, wie <strong>Harry</strong> registrierte,<br />
ohne Steigbügel ritt.<br />
"Nehmt einige der Pferde dort", schlug der Reiter vor, <strong>und</strong> es klang<br />
fast wie ein Befehl. Er nickte seinen Gefährten zu, wor<strong>auf</strong>hin einer von<br />
256
ihnen absprang <strong>und</strong> drei der kleinen, struppigen Pferde der<br />
Steppenreiter einfing, die reiterlos über die Steppe irrten.<br />
"Aber <strong>das</strong> sind nicht Ihre!", rief Hermine empört. "Sie stehlen sie!"<br />
Ron boxte sie in die Seite. "Jetzt fang nicht einen Streit über<br />
Moralvorstellungen an, wir sind hier in der Steinzeit oder so! Die haben<br />
sich <strong>doc</strong>h gegenseitig umgebracht, wenn es nur um ein Stück<br />
Hammelkeule ging oder so –"<br />
Hermine verdrehte die Augen, sagte aber nichts, obwohl es auch<br />
für <strong>Harry</strong> offensichtlich war, <strong>das</strong>s sie nicht in der Steinzeit gelandet<br />
waren.<br />
"Das ist Kriegsbeute", antwortete ihr der Reiter <strong>auf</strong> dem schwarzen<br />
Pferd gelassen. "Die Skythen züchten die Pferde in Massen, drei mehr<br />
oder weniger macht da keinen Unterschied. Beeilt euch." Die letzten<br />
Worte kamen wieder in dem Befehlston, von dem <strong>Harry</strong> annahm, <strong>das</strong>s<br />
ihn der Reiter gewohnt war.<br />
Unter dem ungeduldigen Blick ihres Retters kletterte er ungeschickt<br />
<strong>auf</strong> ein hellbraunes Pony, <strong>das</strong> ihn dumpf anstarrte. Hermine hatte es sich<br />
im eleganten Sitz <strong>auf</strong> einem hübschen Schimmel bequem gemacht,<br />
während Ron schn<strong>auf</strong>end versuchte, <strong>auf</strong> den Rücken einer grauen Stute<br />
zu kommen, bis er schließlich rückwärts <strong>auf</strong> dem Tier saß.<br />
Einige der Reiter hielten sich vor Lachen kaum noch <strong>auf</strong> ihren<br />
eigenen Pferden, <strong>und</strong> Ron, der sich schwerfällig umgedreht hatte, wurde<br />
puterrot. "Dann <strong>doc</strong>h lieber einen Thestral", murrte er <strong>und</strong> grinste<br />
Hermine verlegen an.<br />
Die nächsten St<strong>und</strong>en ritten sie über die endlose Ebene, über<br />
einige Hügel <strong>und</strong> Flüsse hinweg, bis <strong>Harry</strong> der Hintern weh tat <strong>und</strong> die<br />
Sonne den Horizont wie eine Feuerwand aussehen ließ, die ihr warmes,<br />
goldenes Licht über die Graslandschaft warf <strong>und</strong> sie <strong>auf</strong> einmal<br />
w<strong>und</strong>erschön, wild, frei <strong>und</strong> romantisch zugleich wirken ließ. Doch immer<br />
noch hatte er keine Ahnung, wohin sie eigentlich ritten. Von Minute zu<br />
Minute kam es <strong>Harry</strong> unwahrscheinlicher vor, irgendwo in dieser Wildnis<br />
ein Lager anzutreffen. Er trieb sein Pony an, bis es neben dem viel<br />
größeren Rappen des Anführers trabte. "Wohin reiten wir genau?", fragte<br />
er.<br />
"In mein Lager", antwortete dieser unbeirrt.<br />
"Aber können wir <strong>das</strong> Lager nicht schon hier <strong>auf</strong>schlagen?" <strong>Harry</strong><br />
war müde, <strong>und</strong> ein kleines Lagerfeuer traute er sich allemal zu, errichten<br />
zu können.<br />
"Nein", lächelte der Reiter. "Es ist nicht mehr weit, <strong>und</strong> im Lager<br />
findet ihr allen Komfort. Außerdem erwarten mich meine Soldaten<br />
<strong>zur</strong>ück."<br />
<strong>Harry</strong> drehte sich zu den etwa 20 Reitern um, die ihnen folgten.<br />
"Sie haben noch mehr Soldaten?", fragte er neugierig.<br />
257
Der Reiter fing laut an zu lachen, bis er es kaum noch schaffte,<br />
sein Pferd unter Kontrolle zu halten. "Hey, Hephaistion!", rief er, <strong>und</strong> ein<br />
Reiter <strong>auf</strong> einem Fuchs hob fragend den Kopf. "Dieser Junge will wissen,<br />
ob unser Heer aus noch mehr Soldaten besteht –"<br />
"Mal abgesehen davon, <strong>das</strong>s die sich den ganzen Tag mit Wein<br />
<strong>und</strong> Frauen vergnügen, während wir Skythen jagen – ein tolles Heer, in<br />
der Tat“, lachte der angesprochene Reiter.<br />
Sie erreichten jetzt eine Hügelkuppe, hinter der <strong>Harry</strong> eine weitere<br />
Grasebene erwartete. Doch was er sah, als sein Pony die Anhöhe<br />
erklommen hatte, ließ sein Herz für einen Augenblick aussetzen:<br />
Vor ihnen befand sich eindeutig <strong>das</strong> besagte Lager, je<strong>doc</strong>h<br />
bestand es nicht aus ein paar Zelten mit Soldaten, die um ein Lagerfeuer<br />
saßen, sondern aus einer weiten Grasfläche, die schwarz vor Menschen<br />
war – <strong>und</strong> sich bis weit an den Horizont ausdehnte.<br />
"Bei Merlin", hauchte Ron, <strong>und</strong> Hermine hielt ihr Pferd an. "Das ist<br />
kein Lager, sondern ein ganzes Land!"<br />
Auch wenn er zehn Augen gehabt hätte, hätte <strong>Harry</strong> gar nicht all<br />
<strong>das</strong> erfassen können, was sich ihnen bot: Tausende <strong>und</strong> abertausende<br />
von Menschen hausten hier in einfachen Holzhütten oder Zelten aus Fell<br />
oder Leinen. Sie saßen in der Abenddämmerung <strong>und</strong> kochten ihr Essen<br />
oder aßen getrocknetes Fleisch <strong>und</strong> Früchte, Kinder jagten einander in<br />
den verwinkelten Gassen zwischen den Behausungen, h<strong>und</strong>erte von<br />
Pferden standen angepflockt vor Futtereimern oder wurden gerade<br />
gestriegelt. Auch war <strong>das</strong> Hämmern von Hufschmieden zu hören, <strong>das</strong><br />
Prasseln von hohen Feuern, <strong>das</strong> schallende Lachen von Männern, die<br />
sich einen Krug Wein genehmigten oder <strong>das</strong> Geschwätz von Frauen, die<br />
in Gruppen zusammen standen. <strong>Harry</strong> sah auch etwas, <strong>das</strong> ihn an eine<br />
Bäckerei erinnerte, wo Brote in mehreren Steinöfen buken. Auf<br />
mehreren kleinen Bühnen wurden Schauspiele <strong>auf</strong>geführt, <strong>und</strong> aus einer<br />
Hütte, an der sie vorbeikamen, drangen Stöhnlaute, die keinen Zweifel<br />
daran ließen, um was für einen Ort es sich handelte.<br />
"Das gehört alles Ihnen?", fragte er überwältigt den Reiter <strong>auf</strong> dem<br />
schwarzen Pferd, dem fast alle Menschen zunickten, als er an ihnen<br />
vorbei ritt.<br />
"Ja", erwiderte er bloß. "Das sind mein Heer <strong>und</strong> die Menschen, die<br />
mir folgen, <strong>und</strong> die, die denen folgen, die mir folgen – so war es immer."<br />
"Aber <strong>das</strong> ist eine Stadt!", rief Hermine. "Wie viele Menschen<br />
wohnen hier wohl?"<br />
"Eigentlich wohnen sie nicht hier", antwortete der Reiter des<br />
Fuchses. "Sie ziehen mit uns. Wir haben unser Lager nur für die<br />
nächsten Wochen hier <strong>auf</strong>geschlagen. Und da du es wissen willst, <strong>das</strong><br />
Heer besteht aus etwa 70.000 Soldaten, zu Fuß <strong>und</strong> zu Pferd, <strong>und</strong> noch<br />
einmal fast 40.000 Handwerkern, Bäckern, Frauen, Künstlern, Bettlern ...<br />
wen so ein Heer halt alles anzieht."<br />
258
"Aber was macht ihr? Die <strong>Unterwelt</strong> erobern?"<br />
Der Reiter zuckte nur mit den Schultern. "Wir tun, was wir zu<br />
unseren Lebzeiten getan haben. Was anderes könnten wir gar nicht."<br />
Ihr Anführer drehte sich zu ihnen um. "Wir sind da", verkündete er<br />
<strong>und</strong> zeigte <strong>auf</strong> ein Zelt, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> eher wie ein Palast vorkam: Es war<br />
riesig, aus braunen Leinen <strong>und</strong> mit Fell überhangen, mit einem dicken,<br />
rot-goldenen Teppich, der aus dem halb offenem Eingang hervorlugte,<br />
den mehrere Soldaten bewachten. Auf der Spitze wehte eine rote Fahne,<br />
<strong>auf</strong> der ein vielzackiger goldener Stern abgebildet war.<br />
"Wow! Dagegen kann Tante Muriels Zelt einpacken!", meinte Ron<br />
neidisch. "Dort würde ich gerne einmal hineingehen!"<br />
"Es wäre mir eine Ehre, euch drei heute Abend zum Essen<br />
einzuladen", bot der Anführer höflich an, auch wenn es ersichtlich war,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Angebot weniger als eine Bitte als vielmehr als eine Anweisung<br />
gemeint war. "Man wird euch euer Quartier zeigen – dort findet ihr neue<br />
Kleidung <strong>und</strong> könnt euch waschen. Ich lasse euch später holen."<br />
Er stieg von seinem Pferd <strong>und</strong> gab es einem Stallburschen, der<br />
<strong>das</strong> mit Schweiß <strong>und</strong> Blut bedeckte Tier wegführte. Ein anderer wies sie<br />
an, mit ihm zu kommen. Nach einem letzten Blick <strong>auf</strong> den blonden<br />
Reiter, der ihnen ermunternd zulächelte, folgten sie dem Mann zu einem<br />
kleineren, aber sehr gemütlichen Zelt mit drei Schlafpritschen aus Holz,<br />
die mit weichen Fellen <strong>und</strong> Leinen ausgelegt waren <strong>und</strong> zwar einfach,<br />
aber einladend wirkten. Weiterhin wurden ihnen große Zuber mit<br />
warmem Wasser gebracht <strong>und</strong> Kleider, die <strong>Harry</strong> im Normalfall nicht im<br />
Traum gedachte, anzuziehen. Kurz dar<strong>auf</strong> wurden sie allein gelassen.<br />
Ron ließ sich <strong>auf</strong> eins der Betten plumpsen.<br />
"Wer hätte gedacht, <strong>das</strong>s die <strong>Unterwelt</strong> <strong>auf</strong>regender ist als die<br />
unsrige!", grinste er <strong>und</strong> betrachtete interessiert <strong>das</strong> Geschirr, <strong>das</strong> <strong>auf</strong><br />
einem kleinen Holztisch stand.<br />
"Unsinn", fauchte Hermine. "Wir müssen hier so schnell wieder<br />
raus, wie es nur irgend geht. Lasst uns Sirius finden <strong>und</strong> dann<br />
verschwinden. Wir haben keine Ahnung, in was wir geraten sind!"<br />
"Genau", meldete sich <strong>Harry</strong> zu Wort. "Wer sind diese Leute?<br />
Steinzeitmenschen jedenfalls nicht", beeilte er sich zu sagen, als Ron<br />
schon den M<strong>und</strong> öffnete.<br />
"Ich weiß nicht", seufzte Hermine erschöpft <strong>und</strong> lud ihre dreckige<br />
Tasche <strong>auf</strong> eines der Betten ab. "Sie reden miteinander etwas, <strong>das</strong> für<br />
mich wie Griechisch klingt. Und sie scheinen sehr früh gestorben zu<br />
sein, bestimmt vor Christi Geburt."<br />
"Vor wessen Geburt?", fragte Ron verwirrt, aber Hermine winkte<br />
nur ab.<br />
"Auf jeden Fall denke ich, <strong>das</strong>s sie uns weiterhelfen können.<br />
Deswegen sollten wir unbedingt zu diesem Abendessen gehen."<br />
259
"Vor allem, da uns der Blonde <strong>auf</strong> seinem Schwert <strong>auf</strong>spießen<br />
wird, sollten wir es nicht tun", meinte <strong>Harry</strong> düster.<br />
"Ich muss aus diesen Sachen heraus!", warf Hermine ein <strong>und</strong><br />
brachte sie damit <strong>auf</strong> andere Gedanken. Sie alle waren nach dem<br />
unfreiwilligen Bad im Fluss verschmutzt, <strong>und</strong> ihre Sachen zerrissen. Ron<br />
schaute nachdenklich <strong>auf</strong> die Waschzuber.<br />
"Also, äh, wir gehen raus <strong>und</strong> du kannst dich waschen", bot er an.<br />
Hermine nickte dankbar, wor<strong>auf</strong>hin <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron für eine Weile nach<br />
draußen traten <strong>und</strong> mit großen Augen <strong>das</strong> geschäftige Treiben um sich<br />
herum verfolgten. Kurze Zeit später kam Hermine ebenfalls durch den<br />
Zeiteingang geschritten,<br />
Sie machte ein komisches Gesicht, <strong>und</strong> es war ersichtlich, warum:<br />
Statt Hosen <strong>und</strong> ihrem schwarzen Umhang trug sie eine Art helles,<br />
leichtes Kleid, <strong>das</strong> ihr nur bis zu den Knien ging. Auch wenn es nicht<br />
sehr geeignet schien, die Kälte abzuhalten, stand es ihr sehr gut.<br />
"Interessant", grinste Ron.<br />
"Wartet nur, bis ihr eures seht", grinste Hermine fies <strong>zur</strong>ück.<br />
Was sie meinte, sah <strong>Harry</strong>, als er <strong>und</strong> Ron sich gewaschen hatten<br />
<strong>und</strong> sie ihre neuen Sachen anziehen wollten.<br />
"Also, damit würde ich nicht einmal vor Grawp herumtanzen",<br />
beschwerte sich Ron <strong>und</strong> drehte ein großes Stück Stoff hilflos in- <strong>und</strong><br />
her. "Ich ziehe meine eigenen Sachen an!"<br />
"Das lässt du schön bleiben!", wies ihn Hermine <strong>zur</strong>echt <strong>und</strong> hielt<br />
ihm <strong>das</strong> Kleidungsstück richtig herum hin. "Wir müssen uns den hiesigen<br />
Bräuchen anpassen, oder willst du ein Schwert in deiner Seite stecken<br />
haben?", kicherte sie ungewöhnlich heiter.<br />
"Deswegen wird mich ja keiner ermorden", brummte Ron, probierte<br />
den Umhang, als den sich <strong>das</strong> Kleidungsstück herausstellte, aber an. Er<br />
fiel ihm bis fast an die Knöchel <strong>und</strong> wurde mit einem Gürtel um die Taille<br />
zusammen gehalten.<br />
"Wahnsinn, wenn ich in dem Zeitalter gelebt hätte, wäre ich<br />
gestorben", knurrte er <strong>und</strong> betrachtete sich von allen Seiten.<br />
"Bist du ja auch quasi", meinte Hermine trocken, während <strong>Harry</strong><br />
seinen eigenen Umhang anzog. Er fühlte sich ungewohnt, aber auch<br />
bequem an. "Geht <strong>doc</strong>h", konstatierte er, als ein Bote den Zelteingang<br />
anhob <strong>und</strong> ihnen ausrichtete, <strong>das</strong>s der König sie nun erwarte.<br />
"König?", fragte Ron. "Von was, den Zombies?" Zum Glück schien<br />
der Bote kaum Englisch zu verstehen.<br />
Sie wurden zu dem prächtigen Zelt geführt, in <strong>das</strong> sie nun<br />
staunend eintraten: Ein langer Tisch, gedeckt für bestimmt zwei Dutzend<br />
Personen, füllte <strong>das</strong> geräumige Innere aus. Auf ihm standen Teller,<br />
Becher <strong>und</strong> Besteck aus Silber, <strong>und</strong> flankiert wurde er von Liegen statt<br />
von Stühlen.<br />
"Was, schlafen die hier beim Essen?", höhnte Ron.<br />
260
"Nein, wir sind es nur gewohnt, so zu speisen", erklang hinter ihnen<br />
die Stimme des Reiters, der sie gerettet hatte. <strong>Harry</strong> fuhr herum. Er trug<br />
einen ähnlichen Umhang wie sie, nur <strong>das</strong>s sein Gürtel mit Gold<br />
beschlagen war. Ein ebenfalls goldener Stirnreif hielt seine blonden<br />
Locken aus dem Gesicht. Zwar fiel <strong>Harry</strong> wieder die geringe Größe<br />
seines Gegenüber <strong>auf</strong>, aber er kam gar nicht <strong>auf</strong> den Gedanken, sich<br />
irgendwie überlegen zu fühlen: Dieser Mann strahlte eine ähnlich<br />
natürliche Autorität aus, wie er es sonst nur von Dumbledore kannte.<br />
"Setzt euch neben mich", bat er <strong>und</strong> ließ sich <strong>auf</strong> einer der Liegen<br />
nieder. Vorsichtig setzten sich die drei, wobei es <strong>Harry</strong> zwar sehr<br />
entspannend, aber auch seltsam vorkam, bei Tisch zu liegen.<br />
"Tut mir Leid, <strong>das</strong>s wir uns noch nicht vorgestellt haben",<br />
entschuldigte sich ihr Gastgeber. "Mein Name ist Alexander."<br />
<strong>Harry</strong> dachte sich nicht viel dabei. "Ich bin <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> <strong>das</strong> sind<br />
meine Fre<strong>und</strong>e Ron <strong>und</strong> Hermine", erläuterte er. „Der Mann, der uns<br />
abgeholt hat, meinte, Sie sind König“, redete er weiter, ohne groß<br />
nachzudenken.<br />
„Ja, bin ich“, lächelte Alexander. „König der Makedonen.<br />
Erstaunlich, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Leben <strong>und</strong> der Tod sich nicht viel nehmen.“<br />
Hermine verschluckte sich <strong>und</strong> fing fürchterlich an zu husten. Ron<br />
schlug ihr helfend <strong>auf</strong> den Rücken.<br />
"Dann sind Sie – Alexander der Große?", fragte sie ungläubig.<br />
Verlegen senkte er den Blick. "Ich weiß, <strong>das</strong>s ich von späteren<br />
Völkern so genannt wurde, aber eigentlich gefällt der Name mir nicht – er<br />
ist aus ersichtlichen Gründen wenig passend."<br />
Hermine ließ sich <strong>auf</strong> die Liege <strong>zur</strong>ücksinken. Sie wirkte völlig<br />
fassungslos.<br />
"Wenn es hier irgendwo Wein gibt, dann brauchte ich jetzt ein<br />
Glas!", stieß sie hervor.<br />
Alexander lachte <strong>und</strong> gab einen Befehl, wor<strong>auf</strong>hin eine Reihe<br />
junger Sklaven – zumindest hielt <strong>Harry</strong> sie dafür – etliche Krüge<br />
anbrachte, in denen er Wein vermutete – was sich bestätigte, als der<br />
Becher vor ihm mit einer dunkelrot schimmernden Flüssigkeit gefüllt<br />
wurde.<br />
Mit hoch gezogenen Augenbrauchen begutachtete <strong>Harry</strong> den<br />
Becher in seiner Hand, unschlüssig, ob er seinen Gastgeber beleidigen<br />
würde, wenn er nicht trank, als Ron sich zu ihm hinüberbeugte.<br />
"Hey, du weißt ja, <strong>das</strong>s wir Zauberer mit Muggelgeschichte nichts<br />
am Hut haben. Wer ist der Kerl?"<br />
"Keine Ahnung", gab <strong>Harry</strong> zu. "Weißt du, im Geschichtsunterricht<br />
meiner alten Muggelschule habe ich noch weniger <strong>auf</strong>gepasst als bei<br />
Binns."<br />
"Das geht?", fragte Ron ehrfurchtsvoll, als Alexander die Stimme<br />
erhob.<br />
261
"Meine Gäste – <strong>das</strong> bedeutet, zum Großteil meine engsten<br />
Fre<strong>und</strong>e – werden in den nächsten Minuten erscheinen, da diese junge<br />
Frau aber den ausdrücklichen Wunsch geäußert hatte, bereits unseren<br />
vorzüglichen Wein zu probieren, möchte ich jeden ermuntern, sich zu<br />
bedienen." Dies war vor allem an die Gäste gerichtet, die in den letzten<br />
Minuten <strong>das</strong> Zelt betreten hatten – allesamt Soldaten, wie <strong>Harry</strong><br />
annahm, auch wenn sie keine Rüstung trugen. Bald füllte sich <strong>das</strong> Zelt,<br />
<strong>und</strong> ein lautes Stimmengemurmel erhob sich, während die ersten Becher<br />
Wein vernichtet wurden. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron hatten von dem schweren,<br />
süßlichen Getränk nur genippt, <strong>und</strong> auch <strong>das</strong> reichte bereits, um <strong>Harry</strong><br />
leicht schwummrig zu machen. Alexander schien je<strong>doc</strong>h keine Probleme<br />
damit zu haben, in kurzer Zeit zwei Kelche davon zu trinken, ohne <strong>das</strong>s<br />
er betrunken wirkte.<br />
Als endlich alle Plätze besetzt waren, beugte sich ein<br />
dunkelhaariger Mann halb über den Tisch <strong>und</strong> fragte <strong>Harry</strong> neugierig<br />
etwas in seiner eigenen Sprache. <strong>Harry</strong> konnte nur hilflos den Kopf<br />
schütteln.<br />
"Wie ich sehe, sind nun alle eingetroffen", blickte sich Alexander<br />
prüfend um. "Nun denn, es ist an der Zeit, <strong>das</strong>s ich euch denjenigen<br />
vorstelle, denen wir heute dieses Fest zu verdanken haben", sagte er <strong>auf</strong><br />
Englisch.<br />
"Ja, wer ist es denn diesmal?", fragte grinsend einer der Soldaten.<br />
"Vorgestern war der Besuch deiner Mutter der Anlass, gestern war es die<br />
Nichte von Ptolemäus, nicht zu vergessen Aristoteles letzte Woche ..."<br />
Das ganze Zelt grölte. Alexander grinste, wurde dann aber wieder<br />
ernst. "Das sind nicht drei gewöhnliche Kinder", verkündete er. "Meine<br />
Schwadron hat sie gef<strong>und</strong>en, als sie von Skythen angegriffen wurden,<br />
von demselben Stamm, der unsere Grenzen bedroht <strong>und</strong> wegen dem wir<br />
ausgeritten sind. Doch von allen Toten, die wir in den letzten<br />
Jahrtausenden getroffen haben, heben sie sich ab. Sie sind nämlich<br />
nicht tot."<br />
Auf einmal waren alle Menschen im Zelt still.<br />
"Wie – nicht tot? Das ist die <strong>Unterwelt</strong>, wie sollen sie hierher<br />
gekommen sein, wenn nicht durch den Tod?", fragte sie der<br />
dunkelhaarige Soldat von gegenüber.<br />
"Eine gute Frage." Alexander drehte sich zu <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong><br />
Hermine um. "Ich denke, ihr habt einiges zu erklären."<br />
<strong>Harry</strong> seufzte. Am liebsten würde er ihre Geschichte für sich<br />
behalten – was, wenn sie ihnen nicht glaubten? Würden sie dann als<br />
Betrüger versklavt werden? Angesichts der zwei Dutzend Soldaten um<br />
sie herum, von denen sie jeder einzelne gespannt anblickte, kannte er<br />
aber keine Alternative, als sich ihnen anzuvertrauen. So erzählte er von<br />
Sirius' Tod, ohne allerdings groß <strong>auf</strong> die Todesser <strong>und</strong> Voldemort<br />
262
einzugehen, er erläuterte, wie sie <strong>das</strong> Rosier-Buch gef<strong>und</strong>en hatten <strong>und</strong><br />
wie sie schließlich durch den Bogen in die <strong>Unterwelt</strong> gelangt waren.<br />
Als er geendet hatte, schwieg <strong>das</strong> gesamte Zelt, bevor ein wildes<br />
Stimmenwirrwarr ausbrach.<br />
Alexander hob die Hand, wor<strong>auf</strong>hin wieder Ruhe einkehrte.<br />
"Ihr seid wirklich freiwillig in den Tod gegangen?", fragte er<br />
skeptisch.<br />
"Mit dem Willen, wieder <strong>zur</strong>ückzukehren", stellte <strong>Harry</strong> richtig. "Ich<br />
musste es tun, ich hätte jede noch so kleine Chance ergriffen, Sirius zu<br />
retten. Hätten Sie <strong>das</strong> für Ihre Fre<strong>und</strong>e nicht auch getan?"<br />
Alexander nickte, während sein Blick den dunkelhaarigen Soldaten<br />
streifte.<br />
"Doch, <strong>das</strong> hätte ich. Allerdings höre ich heute <strong>das</strong> erste Mal von<br />
diesem Bogen. Aber Nicht-Zauberern steht er wohl nicht offen."<br />
Bei diesen Worten wurde <strong>Harry</strong> plötzlich bewusst, was ihn die<br />
ganze Zeit gestört hatte, was an ihm genagt hatte <strong>und</strong> in seinem<br />
Hinterkopf herumgeschwirrt war, seid sie die Schwadron am Nachmittag<br />
gerettet hatte.<br />
"Ihr seid alle Muggel!", keuchte er, was Verwirrung auslöste.<br />
"Was ist ein Muggel?", wollte ein alter Soldat wissen.<br />
"Nicht-Magier", erklärte Hermine. "Gab es in eurem Heer denn<br />
keine Zauberer oder Hexen?"<br />
Für ein paar Sek<strong>und</strong>en schreckte in <strong>Harry</strong> der Gedanke hoch, sie<br />
hätten soeben <strong>das</strong> internationale Geheimhaltungsabkommen gebrochen,<br />
dann aber wurde ihm klar, wie absurd <strong>das</strong> war – schließlich waren sie im<br />
Reich der Toten.<br />
"Doch, einige", überlegte Alexander. "Aber ich glaube, echte Magie<br />
beherrschten auch sie nicht. Zeigt mir mal einen Zauberspruch!", forderte<br />
er die drei mit leuchtenden Augen <strong>auf</strong>. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
beschworen dar<strong>auf</strong>hin ihre Patroni, die ausgelassen durch <strong>das</strong> Zelt<br />
tollten.<br />
"Fantastisch!", rief Alexander begeistert <strong>und</strong> beobachtete die<br />
silbernen Tiere, bis sie schließlich schwächer wurden <strong>und</strong><br />
verschwanden.<br />
Dann wandte er sich ernst an <strong>Harry</strong>. "Ich werde euch helfen, euren<br />
Fre<strong>und</strong> zu finden. Zusammen mit ein paar Reitern könnte ich euch<br />
gefahrlos durch die Zeit <strong>und</strong> den Raum bringen."<br />
"Zeit <strong>und</strong> Raum?", hiekste Ron, der ein oder zwei Schluck zuviel<br />
von dem schweren Wein getrunken hatte.<br />
"Aber ihr wisst <strong>doc</strong>h gar nicht, wo wir hingehen, oder was uns<br />
erwartet!", wandte <strong>Harry</strong> ein.<br />
Doch Alexander schüttelte nur den Kopf.<br />
"Genau darum", meinte er.<br />
263
Das restliche Fest bestand aus Ess- <strong>und</strong> Trinkgelagen, was dazu<br />
führte, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine frühzeitig <strong>zur</strong>ück zu ihrem Zelt<br />
gingen, alle drei leicht beschwipst. Sie waren bis unter die Ohren voll<br />
gestopft mit Fasan, Spanferkel, gebratenem Ochsen, leckeren<br />
Fischgerichten, allerlei interessant zubereitetem Obst <strong>und</strong> Gemüse <strong>und</strong><br />
jeder Menge Brot, <strong>und</strong> den Nachtisch, der aus verschiedenstem<br />
verlockenden Gebäck bestand, hatten sie nur noch mit Mühe<br />
nachgeschoben.<br />
"Was bin ich voll!", stöhnte Ron <strong>und</strong> ließ sich zufrieden <strong>auf</strong> sein<br />
Bett fallen. "In dieser <strong>Unterwelt</strong> könnte man es glatt aushalten. Wer hätte<br />
gedacht, <strong>das</strong>s es hier möglich ist, solches Essen zuzubereiten?"<br />
"Ich weiß nicht", antwortete Hermine, die dabei war, die Sachen<br />
aus ihrem Rucksack zu ordnen <strong>und</strong> zum Trocknen auszulegen, da sie<br />
vom unfreiwilligen Bad im Fluss noch feucht waren. "Mir kam es so vor,<br />
als würde ich nicht Huhn <strong>und</strong> Fisch essen, sondern –" sie suchte nach<br />
einem passenden Wort – "Abbilder, Kopien, unwirkliche Ideen davon.<br />
Klar, es hat so geschmeckt wie Huhn, <strong>und</strong> sah aus wie Huhn, aber es<br />
fehlte –"<br />
"Das Wirkliche", versuchte <strong>Harry</strong> auszudrücken, was auch ihm<br />
beim Essen <strong>auf</strong>gefallen war.<br />
"Genau", nickte Hermine. "Das alles ist nicht echt. Was wir sehen,<br />
die Menschen, <strong>das</strong> Lager, die Steppe – <strong>das</strong> alles existiert eigentlich<br />
nicht. Es sind nur Vorstellungen."<br />
"Halt mal", unterbrach sie Ron. "Wie soll <strong>das</strong> alles nur eingebildet<br />
sein – wo wir <strong>doc</strong>h exakt <strong>das</strong> Gleiche sehen. Dazu müssten wir drei <strong>das</strong><br />
gleiche Wissen <strong>und</strong> die gleichen Wünsche haben, was wir sehen<br />
wollen."<br />
Hermine dachte nach. "Was wir sehen, sind nicht unsere<br />
Vorstellungen, sondern die der Toten. Sie befinden sich in einer Welt,<br />
wie sie sie aus dem Leben kannten, dieses Reich ist ihre Konstruktion<br />
<strong>und</strong> sie verhalten sich genauso wie in ihrem Leben. Und wir sind mitten<br />
hineingeraten."<br />
"Vorstellungen, Abbilder – ihr könnte euch ja den Kopf darüber<br />
zerbrechen, alles, was ich weiß, ist <strong>das</strong>s wir uns in einem riesigen Heer<br />
aus vorchristlicher Zeit befinden <strong>und</strong> einen Weg in unser Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
finden müssen, um Sirius zu finden", meinte <strong>Harry</strong>, der keine Lust hatte,<br />
sich länger als nötig an diesem unheimlichen Ort <strong>auf</strong>zuhalten. Nicht,<br />
<strong>das</strong>s er sich unwohl oder von den Soldaten bedroht fühlte, aber Hermine<br />
hatte Recht – man hatte stets <strong>das</strong> Gefühl, mitten in einem Film zu sein,<br />
in dem keiner der Akteure wusste, <strong>das</strong>s er nur eine Rolle spielte – außer<br />
ihnen. Das Lager schien wie eine riesige Kulisse für eine Aufführung,<br />
deren Unwirklichkeit nur ihnen <strong>auf</strong>fiel.<br />
Ron streckte sich <strong>auf</strong> seinem Bett aus <strong>und</strong> zog die Leinendecke<br />
über den Kopf. "Hermine", nuschelte er müde.<br />
264
"Ja?" Auch Hermine <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> hatten sich nun hingelegt,<br />
vollkommen erschöpft von dem langen Tag <strong>und</strong> dem gewaltigen Essen.<br />
"Wer ist dieser Typ nun eigentlich? Alexander? Muss man den<br />
kennen?"<br />
"Nicht wirklich", gähnte Hermine. "Er ist nur einer der größten<br />
Herrscher <strong>und</strong> Eroberer der Muggelgeschichte."<br />
"Na dann", brummte Ron, ohne die Stichelei noch zu bemerken,<br />
denn im nächsten Moment war er eingeschlafen.<br />
<strong>Harry</strong>, den vor allem der Wein schläfrig machte, versuchte noch,<br />
die ganzen Eindrücke des Tages zu verarbeiten <strong>und</strong> darüber<br />
nachzudenken, wie ihre Situation einzuschätzen war – aber ein paar<br />
Minuten später war auch er weggetreten.<br />
Hämmern, <strong>das</strong> Klirren von Metall <strong>auf</strong> Metall <strong>und</strong> Schwertgeräusche<br />
weckte sie früh am nächsten Morgen. Erst fuhr <strong>Harry</strong> verschlafen <strong>und</strong><br />
erschrocken zugleich hoch – hatten die Skythen angegriffen? Oder ein<br />
anderes Heer?<br />
Dann aber wurde ihm bewusst, <strong>das</strong>s alles, was ihn geweckt hatte,<br />
<strong>das</strong> langsam erwachende Lager war – Hufschmiede begannen ihre<br />
Arbeit, Soldaten übten sich im Kampf. Langsam zog er sich an. Er hatte<br />
leichte Kopfschmerzen, die er als leichten Kater interpretierte.<br />
Ron neben ihm regte sich.<br />
"Bei Merlin, mein Schädel dröhnt!", jammerte er <strong>und</strong> ließ sich<br />
<strong>zur</strong>ück ins Bett fallen.<br />
"Selber Schuld, so viel, wie du getrunken hast", stellte Hermine<br />
mitleidlos fest.<br />
"Das sagst gerade du, wo <strong>doc</strong>h du nach Wein gerufen hast!"<br />
Das Gekabbel der beiden ging noch eine Weile weiter, dann waren<br />
sie angezogen <strong>und</strong> verließen <strong>das</strong> Zelt. Strahlender Sonnenschein<br />
überflutete <strong>das</strong> Lager, in dem die Menschen zwar ruhig, aber zügig ihrer<br />
Arbeit nachgingen.<br />
"Wenn ich tot bin, dann verrichte ich keinen Handschlag mehr",<br />
meinte Ron. "Wozu die Mühe?"<br />
"Weil wir <strong>das</strong>, was wir essen, trinken <strong>und</strong> sonst zum Erhalt des<br />
Lagers brauchen, nicht geschenkt bekommen", hörten sie eine Stimme<br />
hinter sich. Alexander hatte scheinbar gewartet, bis sie ausgeschlafen<br />
hatten <strong>und</strong> kam ihnen nun entgegen.<br />
"Außerdem – am Anfang haben viele von uns auch nur gefaulenzt,<br />
bis ihnen <strong>auf</strong>ging, <strong>das</strong>s sie vor Langeweile fast den Verstand verloren.<br />
So tun sie wenigstens etwas Sinnvolles.“<br />
"Aber welches Reich könnte dieses Heer erobern?", fragte Hermine.<br />
"Na welches wohl, <strong>das</strong> Perserreich", meinte Alexander. "Das hat es<br />
in seinem Leben getan, nun tut es dies im Tod."<br />
265
"Ja – aber wenn ihr es erst einmal eingenommen habt, ist euer Ziel<br />
<strong>doc</strong>h erfüllt – für alle Zeit!", widersprach Hermine.<br />
"Nein", lächelte Alexander. "In den letzten zweieinhalbtausend<br />
Jahren habe ich <strong>das</strong> Perserreich insgesamt 218 Mal erobert. Die<br />
Perserkönige haben mich 53 Mal geschlagen. Nun, so fahren wir fort."<br />
<strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine starrten ihn ungläubig an.<br />
"Wie soll <strong>das</strong> gehen?"<br />
"Ganz einfach, nach jedem Sieg geben wir die gewonnenen<br />
Länderein <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> fangen von vorne an."<br />
"Welche Motivation habt ihr dann, immer wieder von Neuem zu<br />
kämpfen?", fragte Ron, fasziniert von dieser Unlogik.<br />
"Es macht uns Spaß, denn der Krieg ist unsere Bestimmung",<br />
erklärte Alexander. "Außerdem", grinste er, "muss der Verlierer ein<br />
einmonatiges Fest für beide Heere geben. Das kostet einiges an<br />
Aufwand <strong>und</strong> Vermögen."<br />
Ron schüttelte unverständlich den Kopf.<br />
"Es wird Zeit, <strong>das</strong>s wir <strong>auf</strong>brechen." Sie folgten Alexander, bis sie<br />
<strong>das</strong> Heerlager verlassen hatten <strong>und</strong> nur noch die weite, offene<br />
Grasfläche vor sich hatten. Dort hatten sich einige Dutzend Reiter<br />
versammelt, allesamt in Rüstung, die etliche Packpferde mit sich führten.<br />
Ihnen wurden drei Pferde zugewiesen, wor<strong>auf</strong>hin Ron stöhnte.<br />
"Nicht schon wieder reiten! Wieso gibt es hier keine Besen? Wir<br />
hätten unsere mitnehmen sollen." Mit misstrauischem Blick betrachtete<br />
er sein Pferd, als könnte es sich im nächsten Moment in ein Feuer<br />
speiendes Ungeheuer verwandeln.<br />
"Was hast du gegen Pferde?", fragte Hermine grinsend, die schon<br />
wieder bequem im Sattel saß.<br />
"An unsere Besen hätten wir allerdings denken sollen", stimmte<br />
<strong>Harry</strong> zu.<br />
"Was wollt ihr denn mit Besen?" Alexander sah sie erstaunt an.<br />
"Ich habe welche im Lager – aber hier in der Wildnis ... ich weiß nicht."<br />
"Keine normalen Besen", erklärte <strong>Harry</strong>. "Unsere können fliegen."<br />
"Fliegende Besen!", lachte Alexander laut, "so einen Unsinn habe<br />
ich noch nicht gehört!" Die anderen Reiter grinsten ebenfalls spöttisch zu<br />
ihnen hinüber.<br />
"Gleich beteuert ihr noch, <strong>das</strong>s es auch fliegende Pferde gibt –"<br />
Auf einmal schoss etwas über sie hinweg, etwas Großes <strong>und</strong>, wie<br />
<strong>Harry</strong> aus den Augenwinkeln geglaubt hatte zu sehen, Weißes. Verdutzt<br />
schauten sich die Soldaten um, die Lanzen gegen einen unsichtbaren<br />
Gegner erhoben. <strong>Harry</strong> konnte erst nichts sehen außer dem tiefblauen,<br />
wolkenlosen Steppenhimmel, dann aber rief Hermine: "Dort drüben!"<br />
Und da erkannte er ein Abraxas-Pferd, <strong>das</strong> gerade ein Stück von<br />
ihnen entfernt gelandet war. Es galoppierte aus <strong>und</strong> kam direkt <strong>auf</strong> sie<br />
zu.<br />
266
"Angriffsreihe!", schrie Alexander <strong>und</strong> ritt vor die Soldaten, welche<br />
sogleich vor <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine stürmten <strong>und</strong> eine Linie bildeten.<br />
Freilich griffen sie nicht an, ein Pferd, <strong>und</strong> sei es auch geflügelt, konnte<br />
50 Soldaten kaum gefährlich werden. Deshalb ritt Alexander mit zwei<br />
anderen Reitern dem Abraxas-Pferd entgegen.<br />
"Da sitzt jemand dr<strong>auf</strong>", flüsterte Ron neben <strong>Harry</strong>.<br />
"Richtig", rief er <strong>auf</strong>geregt. "Ob es ein Zauberer ist?"<br />
"Bestimmt", vermutete Hermine, "Muggel wissen nichts von der<br />
Existenz von Abraxas-Pferden, geschweige denn, <strong>das</strong>s sie <strong>auf</strong> ihnen<br />
reiten würden."<br />
Gespannt verfolgten sie, wie <strong>das</strong> große, silberfarbene Tier näher<br />
kam, die beiden riesigen Flügel angelegt. Sein Reiter trug einen<br />
schwarzen Umhang, der <strong>Harry</strong> irgendwie bekannt vorkam. Allerdings<br />
standen sie zu weit hinter den Soldaten, um viel sehen zu können.<br />
Kurz dar<strong>auf</strong> teilten sich die Reihen, <strong>und</strong> Alexander kam <strong>auf</strong> sie zu.<br />
"Dieses Pferd –" Er warf einen ungläubigen Blick <strong>zur</strong>ück, als könne<br />
er dem nicht trauen, was er sah – "Wird von jemandem geritten, der<br />
behauptet, euch zu suchen."<br />
"Uns?", platzte <strong>Harry</strong> heraus. Wer sollte ausgerechnet hier <strong>auf</strong> der<br />
Suche nach ihnen sein? Sie befanden sich in der <strong>Unterwelt</strong>, irgendwo im<br />
dritten Jahrtausend vor der Zeitwende in einer unendlich großen Steppe<br />
am Rand der Welt.<br />
"Wer denn?"<br />
"Na, was glaubst du denn? Deine Tante <strong>und</strong> dein Onkel mit<br />
Sicherheit nicht", hörte <strong>Harry</strong> eine Stimme, die ihn abgr<strong>und</strong>tief entsetzte.<br />
Das konnte nicht sein! Er war am wahrscheinlich unmöglichsten Ort aller<br />
Welten gelandet <strong>und</strong> traf die Person, der er <strong>auf</strong> gar keinen Fall so schnell<br />
wieder hatte begegnen wollen.<br />
267
KAPITEL VIERZEHN<br />
Durch Zeit <strong>und</strong> Raum<br />
"Jamie!", stieß er mit einem krächzenden Quaken aus. Sein<br />
Verteidigungslehrer sprang von dem Abraxas-Pferd, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> nun als<br />
<strong>das</strong> Exemplar identifizierte, <strong>das</strong> Hagrid ihnen im Unterricht gezeigt hatte.<br />
Plötzlich vermisste er Hogwarts so sehr, <strong>das</strong>s es wehtat, <strong>und</strong> eine<br />
Sek<strong>und</strong>e sah er die tiefgrünen Wiesen <strong>und</strong> <strong>das</strong> alte, verwinkelte Schloss<br />
vor sich.<br />
Dann aber stand McGonagall vor ihm, den Zauberstab in der Hand<br />
<strong>und</strong> sich argwöhnisch zu den Soldaten umsehend, die sie keine<br />
Sek<strong>und</strong>e aus den Augen ließen. Er sah ziemlich mitgenommen aus; sein<br />
Umhang hatte Risse, <strong>und</strong> er trug einen weißen Verband um den Kopf,<br />
der an einer Stelle mit Blut getränkt war. Unter Hermines zutiefst<br />
vorwurfsvollen Blick wäre <strong>Harry</strong> am liebsten im Boden versunken.<br />
"Ich, äh", stammelte er <strong>und</strong> wusste nicht, was er sagen sollte.<br />
"Sind Sie – tot?", fragte Ron vorsichtig, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> war ihm dankbar<br />
für die Ablenkung.<br />
"Ich habe dir schon <strong>das</strong> letzte Mal gesagt, <strong>das</strong>s wir uns duzen<br />
können", meinte McGonagall erstaunlicherweise munter. "Und nein, ich<br />
denke nicht, <strong>das</strong>s ich tot bin. Zumindest nicht toter als ihr, <strong>und</strong> euch<br />
scheint es ganz gut zu gehen."<br />
"Dann bist du auch durch den Bogen gegangen?", presste <strong>Harry</strong><br />
heraus, immer noch nicht in der Lage, seinem Großcousin in die Augen<br />
zu sehen.<br />
"Ja, Dumbledore hat mich gleich hinter euch hergeschickt, als ich<br />
ihm erzählt habe, was ihr vorhabt."<br />
"Und <strong>das</strong> Abraxas-Pferd?" <strong>Harry</strong> hatte Mühe, sich vorzustellen, wie<br />
ein riesiges geflügeltes Pferd ins Ministerium gelangen konnte.<br />
268
"Ach, Marius?" McGonagall schien traurig. "Nein, er ist tatsächlich<br />
gestorben. Ich bin mit ihm zum Ministerium geflogen – ich kann keine<br />
Thestrale sehen, <strong>und</strong> die lassen sich dann schwer finden – <strong>und</strong> da<br />
haben sie <strong>auf</strong> uns gewartet."<br />
"Wer?", fragten alle drei gleichzeitig.<br />
"Todesser", meinte McGonagall trübe. "Sie müssen im Ministerium<br />
mitbekommen haben, <strong>das</strong>s ihr eingedrungen seid, <strong>und</strong> irgendein Spion<br />
hat dies an Voldemort weitergegeben, der dann gleich seine Schergen<br />
geschickt hat, um euch zu suchen. Als ich ankam, sind drei oder vier von<br />
denen <strong>auf</strong> mich zu – gab einen hübschen Kampf. Mich haben sie zwar<br />
nicht erwischt, aber Marius hat einen Avada Kedavra abgekommen. Uns<br />
ist es zum Glück gelungen, bis <strong>zur</strong> Mysteriumsabteilung zu flüchten <strong>und</strong><br />
durch den Bogen zu gehen. Noch eine Minute länger, <strong>und</strong> wir wären <strong>auf</strong><br />
regulärem Weg hier gelandet", meinte er mit einem Grinsen.<br />
Hermine schrie leise <strong>auf</strong>. „Hoffentlich sind Ginny, Luna <strong>und</strong> Neville<br />
rechtzeitig herausgekommen!“<br />
<strong>Harry</strong>s Magen fühlte sich an, als ob er plötzlich mit Ziegelsteinen<br />
gefüllt worden wäre. Ginny …<br />
„Waren sie auch mit?“, fragte McGonagall verblüfft.<br />
„Ja, sie haben uns Rückendeckung gegeben“, erklärte Hermine<br />
Hände ringend. „Oh Gott, wenn sie unseretwegen …“ Sie konnte den<br />
Gedanken nicht zu Ende führen.<br />
„Keine Angst, ich bin sicher, es geht ihnen gut“, beruhigte sie<br />
McGonagall. „Als wir ankamen, haben wir keine Kinder mehr gesehen.<br />
Und auch keine Thestrale, also sind sie zu dem Zeitpunkt wohl schon<br />
weggeflogen gewesen. Obwohl, natürlich kann ich Thestrale sowieso<br />
nicht sehen“, grübelte er.<br />
"Wir?", echote <strong>Harry</strong>.<br />
"Na, Snape <strong>und</strong> ich", zuckte McGonagall die Schultern.<br />
"Snape? Was macht er hier? Wo ist er?"<br />
"Dumbledore hat ihn ebenfalls geschickt, um euch zu suchen.<br />
Offiziell handelt er <strong>auf</strong> Befehl Voldemorts, scheinbar hat der keinen<br />
anderen seiner so tapferen Gefolgsleute überreden können, in die<br />
<strong>Unterwelt</strong> zu gehen. Wenn ich es mir recht überlege, war Snape sogar<br />
kaum zu halten."<br />
Klar, dachte <strong>Harry</strong>, der will seit Wochen hierher. Über den Gr<strong>und</strong><br />
wollte er lieber nicht nachdenken.<br />
"Wo er hin ist, weiß ich aber nicht", sagte McGonagall, ohne<br />
darüber allzu großes Bedauern zu empfinden. "Am Fluss trafen wir einen<br />
Alten in einem Boot, der meinte, vor kurzem seien er <strong>und</strong> drei Kinder von<br />
einem Sturm überrascht worden. Er hat mir die Stelle genannt, wo ihr<br />
gekentert seid, <strong>und</strong> ich bin <strong>auf</strong> Marius her geflogen. Snape wollte<br />
inzwischen in <strong>das</strong> neuzeitliche England gehen."<br />
"Dort müssen wir auch hin", meinte <strong>Harry</strong> schnell.<br />
269
"Aber wie?", fragte Hermine hilflos. "Von hier bis England sind es<br />
tausende Kilometer!"<br />
"Außerdem", fiel <strong>Harry</strong> mit Schrecken ein, "kommen wir <strong>doc</strong>h im<br />
England des vierten Jahrh<strong>und</strong>erts vor Christus an!"<br />
"Da kann ich euch helfen", schaltete sich nun Alexander ein. "Ich<br />
bin schon einmal durch die Zeit gereist. Es ist im Gr<strong>und</strong>e ganz einfach;<br />
ihr müsst euch nur ganz genau vorstellen, wo ihr hinwollt – wie es dort<br />
aussieht, sich anfühlt, was es dort für Geräusche gibt. Dazu ist eine hohe<br />
Konzentration nötig, <strong>und</strong> am Ende müsst ihr eine kurze Drehung<br />
machen, was dann dazu führen sollte, <strong>das</strong>s ihr im richtigen Zeitalter<br />
angelangt seid."<br />
"Klingt fast wie Apparieren", nickte Hermine, froh, <strong>das</strong>s sich <strong>das</strong><br />
Gespräch um etwas Bekanntes drehte.<br />
"Ich kann aber nicht apparieren!", maulte Ron. "Dann bleibe ich für<br />
immer hier in der Steppe <strong>und</strong> warte <strong>auf</strong> euch, bis ihr irgendwann einmal<br />
sterbt <strong>und</strong> wiederkommt."<br />
"Erzähl keinen Unsinn, Ronald Weasley!", fauchte Hermine.<br />
"Ich weiß nicht einmal, was Apparieren ist, geschweige denn <strong>das</strong>s<br />
ich es kann", beruhigte ihn Alexander. "Und dennoch habe ich <strong>das</strong><br />
Reisen durch den Raum geschafft."<br />
"Womit immer noch nicht klar ist, wie wir überhaupt nach England<br />
kommen!", wandte <strong>Harry</strong> ein.<br />
"Vielleicht mit dem hier?", grinste McGonagall <strong>und</strong> ging zu einem<br />
Bündel, <strong>das</strong> er dem Abraxas-Pferd <strong>auf</strong> den Rücken geschnallt hatte <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> <strong>Harry</strong> erst jetzt <strong>auf</strong>fiel. Heraus holte er vier Besen – darunter <strong>Harry</strong>s<br />
Feuerblitz <strong>und</strong> Rons Sauberwisch.<br />
Mit Freudenschreien stürzten sie sich dar<strong>auf</strong>. "Damit dürften wir in<br />
einem Tag da sein", meinte McGonagall. "Ich würde sagen, wir brechen<br />
auch gleich <strong>auf</strong>."<br />
Alexander sprang von seinem Pferd. "So wie ich es sehe, reitet<br />
dann niemand mehr <strong>das</strong> geflügelte Pferd. Wenn ihr nichts dagegen habt,<br />
würde ich mit euch kommen."<br />
McGonagall warf <strong>Harry</strong> einen fragenden Blick zu, so<strong>das</strong>s er mit<br />
einem Nicken versicherte, <strong>das</strong>s dies in Ordnung sei. Immerhin hatte<br />
Alexander ihnen <strong>das</strong> Leben gerettet – obwohl er selbst nicht wusste, ob<br />
sie es in der <strong>Unterwelt</strong> überhaupt verlieren konnte. Wer weiß, vielleicht<br />
hatten sie auch schon keins mehr.<br />
"Gut, dann mal los!", rief ihr Verteidigungslehrer <strong>und</strong> schwang sich<br />
<strong>auf</strong> seinen Besen. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine bestiegen ihre ebenfalls, <strong>und</strong><br />
mit einem jäh <strong>auf</strong>kommenden Glücksgefühl spürte <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> erste Mal<br />
seit zwei Tagen, <strong>das</strong>s er irgendwo war, wo er wirklich hingehörte.<br />
Alexander derweil besprach noch einige Dinge mit seinen Soldaten,<br />
dann sprang er mühelos <strong>auf</strong> den großen Schimmel, der sich sogleich in<br />
die Luft erhob, durch die Schläge seiner mächtigen Flügel Staub<br />
270
<strong>auf</strong>wirbelnd. Auch <strong>Harry</strong> stieß sich vom Boden ab <strong>und</strong> hätte vor<br />
Begeisterung fast los geschrieen – endlich konnte er wieder fliegen,<br />
endlich nahmen sie Kurs <strong>auf</strong> ihr Ziel, <strong>und</strong> nun war auch noch<br />
McGonagall bei ihnen. Bei dem Gedanken an diesen verdüsterte sich<br />
sein Gesicht allerdings. Er dachte kurz nach, dann manövrierte er seinen<br />
Besen geschickt neben den von McGonagall.<br />
"Jamie", begann er stockend.<br />
"Ja?", fragte dieser.<br />
"Ich wollte mich entschuldigen – für die Sache in deinem Büro. Ich<br />
wollte dich nicht verletzen, aber in dem Moment, als du zu Dumbledore<br />
gehen wolltest, stand alles <strong>auf</strong> der Kippe – ich wusste nicht, was ich tat."<br />
"Doch, <strong>das</strong> wusstest du", korrigierte ihn McGonagall, lächelte dabei<br />
aber.<br />
"Es tut mir Leid", murmelte <strong>Harry</strong> zu seinem Besenstiel.<br />
"Ist schon in Ordnung, ich denke, nein, ich weiß, <strong>das</strong>s ich in deiner<br />
Situation <strong>das</strong>selbe getan hätte", entgegnete McGonagall, der ein wenig<br />
schreien musste, um den Wind zu übertönen.<br />
<strong>Harry</strong> sah überrascht <strong>auf</strong>. "Du hast auch einmal jemanden<br />
niedergeschlagen?"<br />
McGonagall grinste. "Na ja, in meinem siebten Schuljahr wollte<br />
Snape uns – also die Rumtreiber <strong>und</strong> mich – verpetzen, weil wir einen<br />
Unsichtbar-Glatteis-Zauber vor dem Lehrerzimmer gesprochen haben,<br />
also habe ich ihm eine Ohrfeige verpasst, <strong>das</strong>s er zu Boden ging.<br />
Anschließend kam noch ein Amnesia-Zauber dazu, damit er uns nicht<br />
einfach später verrät."<br />
<strong>Harry</strong> stellte mit Genugtuung fest, <strong>das</strong>s er dieses Verhalten<br />
widerlich fand. Seines war es nämlich auch nicht besser gewesen, <strong>und</strong><br />
scheinbar im Gegensatz zu McGonagall war ihm <strong>das</strong> wenigstens<br />
bewusst.<br />
"Also vergessen wir die Sache, wer austeilt, der muss auch<br />
einstecken können. Denke aber nicht, <strong>das</strong>s ich dir nicht böse bin, weil du<br />
in die <strong>Unterwelt</strong> gegangen bist. Das war unsinnig, <strong>und</strong>urchdacht <strong>und</strong> im<br />
höchsten Grad verantwortungslos."<br />
<strong>Harry</strong> fragte sich ernsthaft, wieso ausgerechnet McGonagall ihm<br />
etwas von Verantwortung sagen wollte, schluckte seinen Ärger aber<br />
hinunter. Immerhin ist er hergekommen, um mir zu helfen.<br />
"Mein ganzes Leben habe ich Dinge getan, die andere als<br />
<strong>und</strong>urchdacht <strong>und</strong> verantwortungslos dargestellt haben. Aber weißt du<br />
was? Ich habe es nie bereut. Weil ich stets der vollen Überzeugung<br />
gewesen war, <strong>das</strong>s es <strong>das</strong> Richtige ist. Und meistens hat es sich auch<br />
als richtig herausgestellt", verteidigte er sich.<br />
McGonagall schaute ihn schräg an, <strong>Harry</strong> hätte aber schwören<br />
können, <strong>das</strong>s er dabei ganz leicht grinste.<br />
271
Dann schüttelte er den Kopf <strong>und</strong> meinte munter: "Nun aber erzähle<br />
mir, wen ihr dort <strong>auf</strong>gegabelt habt!", während er <strong>auf</strong> Alexander deutete,<br />
der über Marius vollkommen begeistert war <strong>und</strong> dauernd staunend zum<br />
weit entfernten Boden sah, was Hermine scheinbar nicht mit ansehen<br />
konnte. Sie saß wie immer mit einem nichts als Unwohlsein<br />
ausdrückendem Gesicht <strong>auf</strong> ihrem Besen, dar<strong>auf</strong> bedacht, nicht unter<br />
sich zu blicken.<br />
So nutzte <strong>Harry</strong> die lange noch vor ihnen liegende Flugzeit, um<br />
McGonagall über ihr bisheriges <strong>Unterwelt</strong>-Abenteuer ins Bild zu setzen.<br />
Als er geendet hatte, stöhnte sein Lehrer <strong>auf</strong>. "<strong>Harry</strong>, du bist der<br />
einzige Mensch, dem ich zutrauen würde, <strong>das</strong>s er stets schnurstracks<br />
<strong>zur</strong> nächsten sich bietenden Gefahr rennt <strong>und</strong> dann von einem der<br />
größten Herrscher der Geschichte gerettet wird."<br />
"Wo fliegen wir eigentlich genau hin?", fragte <strong>Harry</strong>.<br />
"Gute Frage", überlegte McGonagall. "Wir müssen grob ins<br />
England des 4. Jahrh<strong>und</strong>ert vor Christus kommen, also der Zeit, in der<br />
wir uns befinden, <strong>und</strong> am besten beim ersten Auftauchen der Küste<br />
durch die Zeit apparieren. Danach finden wir London leichter."<br />
"London ...", murmelte <strong>Harry</strong>. "Ob sich Sirius dort <strong>auf</strong>hält?" Nun, wo<br />
sie entgegen aller Wahrscheinlichkeiten tatsächlich eine gewisse<br />
Chance hatten, seinen Paten zu erreichen, fiel <strong>Harry</strong> ein, <strong>das</strong>s er nicht<br />
sagen konnte, wo sich Sirius in der <strong>Unterwelt</strong> <strong>auf</strong>halten würde. Vielleicht<br />
war er sogar selbst durch die Zeit gereist <strong>und</strong> machte Urlaub im<br />
Mittelalter?<br />
"Weiß ich nicht", meinte McGonagall kurz angeb<strong>und</strong>en. Vermutlich<br />
machte auch er sich Sorgen. "Wen würde denn Sirius in der <strong>Unterwelt</strong><br />
<strong>auf</strong>suchen?", fragte er sich selbst ebenso wie <strong>Harry</strong>.<br />
In der einen Sek<strong>und</strong>e hatte <strong>Harry</strong> noch halb verträumt einen<br />
Wolkenfetzen vor ihnen betrachtet, <strong>doc</strong>h als McGonagalls Frage in sein<br />
Gehirn vordrang, wäre er beinahe von seinem Besen gefallen. Wieso<br />
hatte er nicht längst daran gedacht? Hatte er sich vielleicht keine<br />
übereilten Hoffnungen machen wollen? Oder hatte er am Ende sogar<br />
Angst davor?<br />
"Meine Eltern", presste er hervor, <strong>und</strong> alles drehte sich um ihn. Er<br />
konnte seine Eltern sehen ... Auf einmal wusste er nicht mehr, ob er<br />
noch in der <strong>Unterwelt</strong> sein wollte. Was würde ihn erwarten?<br />
McGonagall sah ihn ruhig an <strong>und</strong> sagte nichts, wohl wissend, <strong>das</strong>s<br />
<strong>Harry</strong> lieber nicht reden wollte. So flogen sie schweigend nebeneinander<br />
her, viele St<strong>und</strong>en, ohne <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> sagen konnte, wo sie waren. Die<br />
ewige Steppe war zwischendurch in fruchtbares Küstenland<br />
übergegangen, <strong>und</strong> einmal überflogen sie ein großes, blaues Meer,<br />
bevor etliche Zeit später unter ihnen grüne Wälder <strong>auf</strong>tauchten, die sich<br />
bis an den Horizont ausdehnten. Kaum ein Sonnenstrahl schien<br />
zwischen ihnen hindurch <strong>auf</strong> den Boden. Allerdings ging im Westen, also<br />
272
vor ihnen, allmählich die Sonne unter, <strong>und</strong> sie mussten sich ein Lager für<br />
die Nacht suchen.<br />
"Wie wäre es damit?", schrie <strong>Harry</strong> gegen den stärker<br />
<strong>auf</strong>kommenden Wind an <strong>und</strong> zeigte <strong>auf</strong> ein Gebirgsmassiv, <strong>das</strong> vor<br />
ihnen in den Himmel <strong>auf</strong>ragte.<br />
"Das sind die Alpen", erklärte McGonagall leicht besorgt. "Dort gab<br />
es um diese Zeit bereits Riesen ... aber du hast Recht, wir müssen<br />
rasten."<br />
Sie suchten sich einen geschützten Platz unter einer<br />
vorhängenden Felswand, der von unten nur schwer bestiegen werden<br />
konnte. Jetzt wo die Sonne untergegangen war, war es war klirrend kalt.<br />
Nur wenige Meter weiter oben waren die Felswände mit Schnee<br />
bedeckt.<br />
Zitternd verstauten sie die Besen in einer kleinen Höhle, in die sie<br />
selbst aber nicht hineingepasst hätten.<br />
"Lasst uns hier ruhen", meinte McGonagall gähnend <strong>und</strong> legte sich<br />
in den Schatten der dunkler werdenden Berge. Einzelne, noch blasse<br />
Sterne waren am Himmel erschienen <strong>und</strong> beleuchteten die<br />
gespenstische Landschaft voller Wildheit, aber auch eine einzigartige<br />
Schönheit, die sich an den kargen Bergwiesen widerspiegelte.<br />
"Versuch zu schlafen", meinte Hermine zu <strong>Harry</strong>. Sie selbst sah<br />
erschöpft <strong>und</strong> müde aus, <strong>und</strong> auch <strong>Harry</strong> fühlte sich nicht <strong>auf</strong> der Höhe<br />
seiner Kräfte. Kein W<strong>und</strong>er, sie waren quasi den ganzen Tag über<br />
geflogen.<br />
"Hier ist es so kalt", zitterte er <strong>und</strong> sah sich zwischen den<br />
Felsbrocken vergeblich nach einem wärmeren Platz um. Er trug nur<br />
seinen Schulumhang <strong>und</strong> darunter einen Pullover <strong>und</strong> eine Hose.<br />
"Ich weiß", flüsterte Hermine. "Aber wir müssen ein wenig schlafen<br />
... wir dürfen kein Feuer machen, um keine Kreaturen anzulocken, die<br />
hier hausen. Binns meint, in früheren Zeitaltern gab es noch<br />
unangenehmere Wesen als Riesen in den Bergen."<br />
<strong>Harry</strong> lächelte sie an, irgendwie dankbar dafür, <strong>das</strong>s sie selbst hier<br />
einen Anflug an Heimat herbeirufen konnte, nur indem sie von<br />
Geschichte der Zauberei sprach.<br />
"Ich bin froh, <strong>das</strong>s ihr bei mir seid", sagte er ruhig.<br />
"Wo sollten wir sonst sein?", fragte sie mit einem schrägen<br />
Lächeln. "Wir sind deine Fre<strong>und</strong>e."<br />
"Ja, ich weiß." Er legte sich nun abtastend <strong>auf</strong> den harten Boden,<br />
suchte eine Stelle, an der nicht allzu viele Steine lagen.<br />
"Und es gibt nichts Schöneres <strong>auf</strong> der Welt, <strong>und</strong> auch in dieser, als<br />
dieses Wissen", sagte er ernst, während er zähneklappernd seinen<br />
Umhang um sich zog <strong>und</strong> sich ausstreckte.<br />
"Schlaf gut", nuschelte Hermine.<br />
273
"Sicher", antwortete <strong>Harry</strong> in dem sicheren Gefühl, kein Auge zutun<br />
zu können.<br />
Zwei Sek<strong>und</strong>en später war er eingeschlafen.<br />
Er konnte nicht sagen, was ihn geweckt hatte. Möglicherweise war<br />
es ein absurder Traum gewesen, in dem Neville seinen Zaubertrank<br />
umgestoßen hatte <strong>und</strong> sich <strong>Harry</strong> die ganze Zeit gefragt hatte, wieso<br />
dieser überhaupt in Snapes Unterricht <strong>auf</strong>tauchte, vielleicht war es auch<br />
die eisige Kälte, die sich in den letzten St<strong>und</strong>en noch verschärft zu<br />
haben schien.<br />
Mit einem Gefühl tiefer Verlorenheit starrte er halb erfroren in den<br />
klaren Sternenhimmel <strong>und</strong> erkannte <strong>das</strong> Sternbild des Großen H<strong>und</strong>es.<br />
Was mache ich hier nur, seufzte er <strong>und</strong> versuchte, seinen Umhang um<br />
seine Füße zu ziehen, die er fest an den steinigen Boden angefroren<br />
glaubte.<br />
Sirius suchen, was sonst.<br />
Nur, in dieser Einöde, fernab aller Welten, die ihm vertraut waren,<br />
kam er sich seinem Ziel ferner vor als je zuvor. Es ist so kalt.<br />
Plötzlich hörte er ein leises Knacken, <strong>das</strong> er sofort als <strong>das</strong><br />
Geräusch identifizierte, welches ihn geweckt hatte.<br />
Erschreckt fuhr er hoch <strong>und</strong> sah sich nach allen Seiten um. Rechts<br />
von ihm schliefen Hermine <strong>und</strong> Ron, seltsamerweise eng aneinander<br />
gekuschelt, links lag einige Meter entfernt McGonagall <strong>und</strong> schien<br />
ebenso tief im Schlaf versunken. Abseits von ihnen hatte sich Marius an<br />
eine Felswand geschmiegt, <strong>und</strong> Alexander hatte sich an <strong>das</strong> Pferd<br />
gelegt, um etwas mehr Wärme zu haben. Sie schienen die einzigen<br />
Lebewesen weit <strong>und</strong> breit zu sein.<br />
Beruhigt legte sich <strong>Harry</strong> wieder hin. Da knackte es erneut, <strong>und</strong><br />
diesmal eindeutig näher. Er widerstand dem Wunsch nach Licht <strong>und</strong><br />
rührte seinen Zauberstab nicht an, sondern lauschte angestrengt in alle<br />
Richtungen. Einmal glaubte er einen Schatten nicht weit entfernt von<br />
ihnen vorbeihuschen zu sehen, beim genaueren Hinschauen aber lagen<br />
die Felsbrocken wieder genauso still da wie zuvor.<br />
Sollte er McGonagall wecken? Aber <strong>das</strong> war Unsinn. Er<br />
phantasierte. McGonagall schlief seelenruhig, <strong>und</strong> er hatte keinen<br />
Gr<strong>und</strong>, ihn dabei zu stören. Müde warf <strong>Harry</strong> einen letzten Blick zu<br />
seinem Verteidigungslehrer <strong>und</strong> erstarrte.<br />
Eine Gestalt, fast größer als der Felsvorsprung, beugte sich über<br />
McGonagall.<br />
Bevor <strong>Harry</strong> überhaupt registrierte, <strong>das</strong>s er einen echten Riesen<br />
vor sich hatte, war er auch schon <strong>auf</strong> die Beine gesprungen <strong>und</strong> schrie:<br />
"Stupor!"<br />
274
Die rote Flamme schoss <strong>auf</strong> den Riesen zu, der <strong>Harry</strong> aus seinen<br />
dumpfen Augen nur blöd anglotzte, prallte aber an dessen zähen Haut<br />
ab.<br />
Verdammt.<br />
Neben ihm waren Ron <strong>und</strong> Hermine mit einem Ruck <strong>auf</strong>gewacht,<br />
<strong>und</strong> auch McGonagall war <strong>auf</strong>gefahren, erstarrt beim Anblick des<br />
Riesen, der ihn nur eine Handbreit entfernt verdutzt ansah.<br />
Dann brüllte der Riese <strong>und</strong> stürzte sich <strong>auf</strong> McGonagall. Dieser<br />
sprang behände beiseite <strong>und</strong> rannte schnell weg, aber der Riese blieb<br />
ihm <strong>auf</strong> den Fersen. Einige Zaubersprüche aus McGonagalls Zauberstab<br />
trafen <strong>das</strong> graue Ungetüm an den absurd kleinen Kopf, zwischen die<br />
baumstammdicken Beine <strong>und</strong> an den Hals, aber keiner reichte, um ihn<br />
auch nur langsamer zu machen. Mittlerweile rasend vor Wut hieb der<br />
Riese nach McGonagall aus <strong>und</strong> verfehlte ihn zwei Mal.<br />
Beim dritten Mal traf er ihn an der Schulter. McGonagall flog<br />
mehrere Meter durch die Luft <strong>und</strong> blieb schwer atmend liegen.<br />
<strong>Harry</strong> wollte zu ihm l<strong>auf</strong>en, aber Ron hielt ihn fest.<br />
"Wir können nichts machen!", meinte er, leise, um die<br />
Aufmerksamkeit des Riesen nicht zu erwecken.<br />
"Vielleicht nicht, aber wir können ihn auch nicht einfach sterben<br />
lassen!", rief <strong>Harry</strong> verzweifelt.<br />
In dem Moment beugte sich der Riese über McGonagall, der<br />
bewusstlos am Boden lag <strong>und</strong> packte ihn, dümmlich grinsend ob der<br />
Dinge, die er mit seiner Beute würde anstellen können.<br />
In dem Moment, als er den Verteidigungslehrer hochheben wollte,<br />
zuckte er zusammen, verdrehte seine Riesenaugen <strong>und</strong> taumelte<br />
rückwärts. Ein Schwert steckte in seiner Seite.<br />
Dumpf starrte der Riese <strong>das</strong> Stück Metall an <strong>und</strong> murmelte etwas<br />
in einer Sprache, die klang, als rumpelten Steine über einen Berghang.<br />
Das Schwert wurde wieder herausgezogen, <strong>und</strong> nun sah <strong>Harry</strong><br />
Alexander, der sich abwartend vor den Riesen gestellt hatte. Ungeachtet<br />
der tiefen W<strong>und</strong>e in seiner Seite sprang der Riese <strong>auf</strong> Alexander zu <strong>und</strong><br />
versuchte, ihn mit seinen Pranken zu schlagen.<br />
Der König wich geschickt aus <strong>und</strong> verfolgte jeden einzelnen Schritt<br />
des Riesen mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Mit der Sicherheit des<br />
geübten Kämpfers duckte er sich geduldig stets ein paar Zentimeter<br />
unter den ungeheuer starken Händen des Riesen weg. Langsam schien<br />
der Koloss müde zu werden, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> begann zu hoffen, <strong>das</strong>s er bald<br />
genug haben <strong>und</strong> verschwinden würde. In seinem nicht allzu hoch<br />
entwickelten Riesenhirn spielten sich scheinbar dieselben Gedanken ab,<br />
denn die graue Masse an Haut <strong>und</strong> Kleidungsfetzen brüllte enttäuscht<br />
<strong>auf</strong> <strong>und</strong> blieb hilflos stehen.<br />
In der nächsten Sek<strong>und</strong>e sah <strong>Harry</strong> je<strong>doc</strong>h einen großen<br />
Steinbrocken durch die Luft fliegen. Ohne erkennbaren Ansatz hatte der<br />
275
Riese in seiner rasenden Wut einen passenden Stein ergriffen <strong>und</strong> ihn<br />
mit der Kraft eines sechs Meter hohen, tobenden Geschöpfes <strong>auf</strong><br />
Alexander geworfen. Zwar war nicht anzunehmen, <strong>das</strong>s der Riese<br />
wirklich gezielt hatte, dennoch traf der Brocken genau dessen Kopf.<br />
Alexander taumelte <strong>und</strong> fiel rückwärts, während der Riese mit<br />
Triumphgeheul <strong>auf</strong> seine Beute zusprang <strong>und</strong> versuchte, ihn mit den<br />
Angst einflößenden Händen zu zerfetzen.<br />
<strong>Harry</strong> wollte vorstürmen <strong>und</strong> Alexander helfen, aber Hermine hielt<br />
ihn abermals <strong>zur</strong>ück.<br />
"Warte!"<br />
"Wieso, wenn wir nichts tun, stirbt er!"<br />
Im selben Moment merkte er, wie dämlich seine Worte klangen.<br />
"Er ist seit Jahrtausenden tot", meinte Hermine ruhig.<br />
"Wir sollten zusehen, <strong>das</strong>s wir abhauen", drängelte Ron <strong>und</strong><br />
schleppte ihre Besen an. "Alexander wird <strong>das</strong> schaffen ... wie Hermine<br />
sagt, er ist bereits tot. Aber wir könnten sterben, wer weiß? Wenn uns<br />
der Riese erwischt <strong>und</strong> tötet, können wir vielleicht nicht mehr <strong>zur</strong>ück in<br />
unsere Welt."<br />
"Aber wir kriegen McGonagall nie hier weg!", rief <strong>Harry</strong>. Der Lehrer<br />
lag immer noch bewusstlos <strong>auf</strong> dem Boden. Das war auch dem Riesen<br />
nicht entgangen, der plötzlich von Alexander abließ <strong>und</strong> sich neugierig<br />
<strong>auf</strong> sein erstes Opfer zu bewegte. <strong>Harry</strong> wollte nicht wissen, was er tun<br />
würde, wenn er ihn erreichte – in zwei Hälften teilen? Oder <strong>doc</strong>h in vier?<br />
Automatisch zückte er seinen Zauberstab <strong>und</strong> wollte dem Riesen<br />
entgegen gehen, da schrie <strong>das</strong> Wesen wieder <strong>auf</strong> <strong>und</strong> drehte sich ratlos<br />
um. In seinem Rücken steckte eine lange Lanze, nur der Schaft war<br />
noch zu sehen. Dunkle Ströme von Blut flossen aus der W<strong>und</strong>e, die der<br />
Riese vergeblich versuchte, mit seinen sch<strong>auf</strong>felradgroßen Händen<br />
abzudecken. Vor Schmerz <strong>und</strong> Wut durchdrehend wandte er sich<br />
Alexander zu, der die Lanze mit letzter Kraft geschleudert hatte. Lange<br />
würde der König allerdings nicht mehr aushalten können, denn er kniete<br />
bereits eher als <strong>das</strong>s er stand. Dennoch war sein silbernes Schwert nach<br />
wie vor <strong>auf</strong> den Riesen gerichtet.<br />
Die Kreatur blinzelte ein paar Mal <strong>und</strong> schien zwischen<br />
Unsicherheit <strong>und</strong> Irritation nicht zu wissen, was sie tun sollte, erinnerte<br />
sich aber anscheinend an die lange W<strong>und</strong>e, die <strong>das</strong> Schwert bereits an<br />
ihr hinterlassen hatte. Der Riese brüllte noch einmal <strong>auf</strong> <strong>und</strong> rannte dann<br />
unter lautem Schimpfen in der polternden Riesensprache über den<br />
Berghang davon. Nach einer Minute war nichts mehr zu hören.<br />
"Jamie!", rief <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> stürzte <strong>auf</strong> seinen Lehrer zu. Der hatte sich<br />
inzwischen <strong>auf</strong>gerichtet <strong>und</strong> betrachtete verwirrt seinen rechten Arm, der<br />
grotesk verrenkt an seiner Seite hing.<br />
"Verdammt!", fluchte <strong>Harry</strong>.<br />
276
"Ich weiß nicht, was passiert ist", nuschelte McGonagall <strong>und</strong><br />
wischte sich Blut aus den Augen. Durch den Schlag war anscheinend<br />
auch die W<strong>und</strong>e, die <strong>Harry</strong> ihm mit dem Stuhl zugefügt hatte, wieder<br />
<strong>auf</strong>gebrochen.<br />
"Da war ein Riese", erklärte <strong>Harry</strong>. "Aber er ist weg."<br />
"Ja, Alexander hat ihn verw<strong>und</strong>et", berichtete Hermine <strong>und</strong> beugte<br />
sich besorgt über McGonagalls Arm. "Es sieht so aus, als wäre er<br />
gebrochen – oh nein, ich wusste <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s ich den Knochenheilzauber<br />
noch hätte abarbeiten sollen ..."<br />
"Ist gut Hermine, <strong>das</strong> lässt sich nun auch nicht ändern", seufzte<br />
McGonagall. "Vielleicht kann man ihn schienen ..."<br />
"Es sieht für mich nicht so aus, als wäre der Arm wirklich<br />
gebrochen", erklang plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Alexander<br />
wankte <strong>auf</strong> sie zu, scheinbar kurz vor dem Zusammenbrechen. Er hinkte,<br />
was ihn aber am schlimmsten getroffen zu haben schien war der Stein,<br />
denn die linke Hälfte seines Kopfes war dunkel, was <strong>Harry</strong> vermuteten<br />
ließ, <strong>das</strong>s er wenigstens eine schwere Kopfw<strong>und</strong>e erlitten hatte.<br />
Als Hermine bei seinem Anblick <strong>auf</strong>keuchte, winkte er ab. "Keine<br />
Sorge, beim nächsten Sonnen<strong>auf</strong>gang werden meine W<strong>und</strong>en heilen.<br />
Bei euch bin ich aber nicht so sicher. Ist einer von euch gestern<br />
verw<strong>und</strong>et worden?"<br />
Die Frage kam <strong>Harry</strong> sinnlos vor, es ging schließlich jetzt nicht um<br />
sie, sondern um McGonagall.<br />
"Ja, ich bin <strong>auf</strong> der Flucht vor diesen Halsabschneidern hingefallen<br />
<strong>und</strong> habe mir <strong>das</strong> Knie <strong>auf</strong>geschlagen", meinte Ron <strong>und</strong> streckte<br />
demonstrativ sein Bein vor. Hermine rief "Lumos!" <strong>und</strong> hielt den<br />
Zauberstab daran. Der Kratzer war nicht groß, aber eindeutig zu sehen.<br />
"Ihr seid tatsächlich anders als die Toten", nickte Alexander. "Eure<br />
W<strong>und</strong>en heilen nicht mit dem nächsten Tagesanbruch. Wir müssen<br />
seinen Arm behandeln."<br />
"Aber wie sollen wir <strong>das</strong> anstellen?", fragte Hermine erschöpft. "Ein<br />
gebrochener Arm braucht Wochen, bis er heilt – na, wenigstens <strong>auf</strong><br />
Muggelart."<br />
"Wie ich schon sagte, der Arm ist nicht gebrochen", berichtigte sie<br />
Alexander. Hermine sah ihn mit einem Ausdruck leichter Beleidigung an.<br />
Er nahm den Arm vorsichtig in die Hand, während McGonagall ihn<br />
skeptisch beäugte.<br />
"Er ist nur ausgekugelt." Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen<br />
oder eine Sek<strong>und</strong>e Zeit zu verlieren renkte er die Schulter mit<br />
unbewegtem Gesicht wieder ein. McGonagall schrie <strong>auf</strong> <strong>und</strong> machte für<br />
einen Augenblick den Eindruck, als wollte er Alexander schlagen.<br />
Stattdessen riss er erstaunt die Augen <strong>auf</strong>.<br />
"Es tut nicht mehr weh!" Verblüfft tastete er seinen Arm ab. "Wo<br />
hast du <strong>das</strong> gelernt?", wollte er wissen. Alexander zuckte mit den<br />
277
Schultern. "Ein paar Jahrtausende in der Schlacht machen gewisse<br />
Kenntnisse notwendig", meinte er nur.<br />
Ron sah ihm ehrfürchtig hinterher, als der König <strong>zur</strong>ück zu Marius<br />
ging, immer noch unsicher <strong>auf</strong> den Beinen. "Es ist <strong>das</strong> Beste, wir fliegen<br />
gleich weiter", meinte er in einem Befehlston, der wenig Zweifel daran<br />
ließ, <strong>das</strong>s er es gewohnt was, <strong>das</strong> Kommando zu übernehmen. "Der<br />
Riese könnte sich bei seiner Horde beschweren <strong>und</strong> sie zum Angriff <strong>auf</strong><br />
uns anstacheln. Wenn sie kommen, möchte ich gerne woanders sein."<br />
<strong>Harry</strong> verwendete erst gar keine Energie dar<strong>auf</strong>, ihm zu<br />
widersprechen. Obwohl er h<strong>und</strong>emüde war, bestieg er seinen Besen <strong>und</strong><br />
atmete die scharfe, frische Luft ein, um wach zu werden. Ron neben ihm<br />
murmelte etwas von seinem Bett in Hogwarts mit frischen Laken <strong>und</strong><br />
weichen Decken, während Hermine McGonagall, der noch immer etwas<br />
unbeholfen wirkte, <strong>auf</strong> seinen Besen half.<br />
"Haben wir nicht einmal etwas zum Frühstück?", maulte Ron,<br />
misstrauisch den schwarzen Nachthimmel betrachtend. Vom<br />
Tagesanbruch war nichts zu sehen.<br />
"Du kannst ja die Riesen fragen, ob sie dich einladen", schnappte<br />
Hermine laut, vielleicht auch nur, um ihren knurrenden Magen zu<br />
übertönen.<br />
"Sobald wir in eurem England sind, finden wir sicher etwas",<br />
ermunterte sie Alexander, der <strong>auf</strong> Marius zu ihnen geritten kam. "Wenn<br />
es dämmert, können wir Wasser suchen. Was je<strong>doc</strong>h Essen angeht,<br />
müssen wir wohl noch einige St<strong>und</strong>en dar<strong>auf</strong> verzichten."<br />
"Wie kannst du eigentlich essen wollen – brauchen Tote unbedingt<br />
Nahrung?", fragte <strong>Harry</strong>, dem es komisch vorkam, <strong>das</strong>s ein Geist noch<br />
Essen benötigen sollte. Die Geister Hogwarts KONNTEN gar nicht mehr<br />
essen, auch wenn sie wollten.<br />
Alexander lächelte. "Nein, wir brauchen natürlich keine. Wir essen<br />
zwar gerne, aber zum – Existieren ist es nicht wichtig."<br />
"Ich glaube, ich will <strong>doc</strong>h nicht tot sein", murmelte Ron. Er stieß<br />
sich nun vom Boden ab <strong>und</strong> folgte den anderen in den schwarzen<br />
Himmel hin<strong>auf</strong>. In der Ferne glaubte <strong>Harry</strong> irgendwo zwischen den<br />
dunklen Bergtälern ein schauriges Gebrüll zu hören <strong>und</strong> war froh, vor<br />
den Riesen sicher zu sein.<br />
St<strong>und</strong>enlang flogen sie, bis die ersten Streifen der Dämmerung den<br />
Horizont erhellten <strong>und</strong> die Sterne allmählich verblassten. <strong>Harry</strong> spürte<br />
mittlerweile weder seine Hände noch seine Füße mehr, beide waren sie<br />
vor Kälte taub. Außerdem fielen ihm ständig die Augen zu, <strong>und</strong> er<br />
musste <strong>auf</strong>passen, <strong>das</strong>s er nicht von seinem Besen fiel.<br />
Endlich ging im Osten die Sonne <strong>auf</strong> <strong>und</strong> warf ein sanftes,<br />
goldenes Licht <strong>auf</strong> die mit geschwungenen grünen Hügeln durchzogene<br />
Landschaft unter ihnen. In der Nähe eines großen Stromes gingen sie<br />
schließlich nieder.<br />
278
"Wenn ich mich nicht täusche, müsste <strong>das</strong> der Rhein sein", meinte<br />
Hermine in dem Ton, den sie auch für Antworten <strong>auf</strong> Lehrerfragen parat<br />
hatte.<br />
"Mhm", brummte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> versuchte, sein verkrampftes Bein über<br />
den Besenstiel zu heben.<br />
"Das heißt, wir sind vielleicht noch vier oder fünf Flugst<strong>und</strong>en von<br />
England entfernt", rümpfte Hermine die Nase über seine Unwissenheit.<br />
Ron verdrehte die Augen. "Wenigstens in der <strong>Unterwelt</strong> könntest<br />
du diese Besserwisserei ja sein lassen."<br />
"Ach ja? Wenn ich nicht wäre, wüsstest du nicht einmal, in welche<br />
Himmelsrichtung wir fliegen müssen!", konterte Hermine.<br />
"Na wo schon hin – halt zum Meer", sagte Ron <strong>und</strong> zeigte<br />
überzeugt in eine Richtung, in der <strong>Harry</strong> Spanien vermutete. Hermine<br />
gab es <strong>auf</strong>.<br />
"Essen gibt es hier zwar keins, es sei denn, ihr habt Lust, einen<br />
Hirsch zu jagen", rief ihnen McGonagall zu, der zum Ufer des Flusses<br />
ging. "Aber zumindest haben wir Wasser." <strong>Harry</strong> kam misstrauisch näher<br />
<strong>und</strong> starrte in die grün-blauen Fluten. "Keine Angst, ihr könnt es trinken.<br />
In der Zeit, in der wir uns befinden, war es noch nicht verschmutzt."<br />
<strong>Harry</strong> schöpfte also <strong>das</strong> kalte Wasser <strong>und</strong> trank, da er wirklich<br />
Durst hatte, es schmeckte fast wie Quellwasser. Im heutigen England<br />
würde ich mir nicht trauen, einfach aus Gewässern zu trinken, dachte er<br />
erschaudernd.<br />
Auch Marius trank begeistert am Ufer <strong>und</strong> ließ sich dann<br />
<strong>auf</strong>stöhnend ins weiche, noch taunasse Gras fallen.<br />
"Aufstehen!", gab ihm Alexander einen Klapps <strong>auf</strong> den Hintern.<br />
Von den Verletzungen, die er in der vergangenen Nacht erlitten hatte,<br />
war nichts mehr zu merken: Weder hinkte er, noch konnte man eine<br />
W<strong>und</strong>e am Kopf sehen, obwohl <strong>Harry</strong> hätte schwören können, <strong>das</strong>s der<br />
Stein ihm den Hinterkopf zerschmettert hatte.<br />
Alexander, der nun <strong>Harry</strong>s erstaunte Blicke bemerkte, lachte. "Wie<br />
ich sagte, Tote können nicht mehr verletzt werden. Wenigstens ein<br />
Vorteil – nun, wenn ich so darüber nachdenke, dann hat der Tod<br />
verglichen mit dem Leben wahrlich eine Menge Vorteile."<br />
<strong>Harry</strong> richtete wortlos seinen Zauberstab <strong>auf</strong> Alexanders Kleider,<br />
die völlig zerrissen waren.<br />
"Reparo!" Sofort flickten sich die Risse von selbst.<br />
"Danke", meinte Alexander <strong>und</strong> fügte mit plötzlich trauriger Stimme<br />
an: "Ich werde nie so zaubern können, oder? Es gibt keinen Weg, <strong>das</strong> zu<br />
erlernen?"<br />
<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf. Noch nie hatte er sich mit einem Muggel<br />
darüber unterhalten, was es bedeutete, Zauberei zu beherrschen, <strong>und</strong><br />
stellte <strong>auf</strong> einmal fest, <strong>das</strong>s ihm eine Fähigkeit gegeben war, um die ihn<br />
andere beneideten. Auch <strong>das</strong> war ein neues Gefühl, wo <strong>doc</strong>h die<br />
279
Dursleys als einzige Muggel, die von seiner Gabe wussten, ihn nur als<br />
Aussätzigen behandelten.<br />
"Das Gelernte darf einer von euch gerne anwenden", sagte<br />
McGonagall, der den Verband von seiner Kopfw<strong>und</strong>e genommen hatte.<br />
Immer noch blutete sie leicht.<br />
"Wozu habe ich euch denn die Heilzauber beigebracht? Zeigt mal,<br />
was ihr könnt!"<br />
<strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Alexander verfolgten gebannt Hermine, die ruhig<br />
mit dem Zauberstab <strong>auf</strong> McGonagall zeigte <strong>und</strong> "Episkey!" rief. Die<br />
W<strong>und</strong>e schloss sich sofort.<br />
"Sehr gut", lobte sie ihr Lehrer, wor<strong>auf</strong>hin Hermine leicht rot anlief<br />
<strong>und</strong> Ron dazu brachte, sich demonstrativ näher an sie heran zu stellen.<br />
"Wenn <strong>das</strong> Wasser nicht so elendig kalt wäre", murmelte<br />
McGonagall <strong>und</strong> strich sich <strong>das</strong> mit Blut verschmierte Haar aus dem<br />
Gesicht. "Aber da kriegen mich keine zehn Abraxas-Pferde rein."<br />
"Dann sollten wir weiter fliegen", meinte <strong>Harry</strong>, dem diese völlig<br />
menschenleere Umgebung mit der Zeit unheimlich wurde.<br />
Wahrscheinlich wohnten irgendwo in der Nähe wilde Urmenschen, die<br />
nur dar<strong>auf</strong> warteten, sie <strong>auf</strong>spießen zu können.<br />
"Hier bin ich noch nie gewesen", erklärte Alexander <strong>und</strong> sah<br />
wehmütig in die Ferne, als wolle er tatsächlich losziehen <strong>und</strong> sie<br />
erk<strong>und</strong>en.<br />
"Und ich will hier auch nie mehr sein", stellte Ron klar, der besorgt<br />
seinen Bauch betrachtete, welcher in den letzten Minuten immer<br />
beunruhigendere Geräusche fabriziert hatte.<br />
Kurze Zeit später saßen sie wieder <strong>auf</strong> den Besen <strong>und</strong> flogen, bis<br />
sie ein relativ schmales blaues Meer unter sich sahen.<br />
"Der Kanal!", schrie Hermine <strong>und</strong> deutete nach vorne. "Dort ist die<br />
englische Südküste!"<br />
Weiße Steilküsten erhoben sich vor ihnen unter einer grauen<br />
Regenwand <strong>und</strong> gingen in hellgrüne Wiesen über.<br />
"Ihr wisst, <strong>das</strong>s es im frühen England Unmengen von Drachen gab,<br />
oder?", erk<strong>und</strong>igte sich McGonagall. <strong>Harry</strong> nahm an, <strong>das</strong>s es eine<br />
rhetorische Frage war <strong>und</strong> schwieg lieber.<br />
Sie landeten <strong>auf</strong> den windigen Steilküsten <strong>und</strong> mussten ihre Besen<br />
festhalten, damit der Wind sie nicht fortwehte.<br />
"Das Beste wäre, wir apparieren sofort durch die Zeit", meinte<br />
Alexander. "Wie sieht es denn im England des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts aus?"<br />
"Eigentlich so wie hier", meinte <strong>Harry</strong> unschlüssig. Irgendwo an<br />
dieser Küste würde später Dover liegen, <strong>das</strong> er allerdings nur aus dem<br />
Fernsehen kannte. "Nur befindet sich hier eine Stadt mit einem großen<br />
Hafen ...“<br />
280
"Ich bin mit meinen Eltern durch Dover gekommen, als wir in<br />
Frankreich Urlaub gemacht haben", meinte Hermine <strong>und</strong> trat vor die<br />
anderen.<br />
"Dort werden die großen Docks sein ... weiße Passagierschiffe, vor<br />
denen Autos in Reihen warten, um geladen zu werden ...“ Sie schwieg,<br />
als sie Alexanders verwirrte Miene sah.<br />
"Schiffe ... nicht solche wie zu deinen Zeiten, sondern riesige,<br />
segellose."<br />
"Schiffe ohne Segel?" Der König starrte sie an, als wäre sie ein<br />
zweibeiniges Nashorn. "So etwas gibt es nicht!"<br />
Die vier anderen setzten ihn dar<strong>auf</strong>hin eine viertel St<strong>und</strong>e lang<br />
über moderne Schifffahrt, Personenkraftverkehr <strong>und</strong> zeitgenössische<br />
Sitten in Kenntnis.<br />
"Wir bräuchten eigentlich andere Kleidung für dich", meinte<br />
McGonagall besorgt <strong>und</strong> schaute <strong>auf</strong> Alexanders helles Gewand von der<br />
Sorte, wie es <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron vorgestern Abend auch getragen hatten.<br />
"Wir werden <strong>auf</strong>fallen wie Zirkustiere."<br />
Hastig kramte <strong>Harry</strong> in seinem Rucksack <strong>und</strong> holte den<br />
Tarnumhang heraus. "Damit sollte es gehen!", schlug er vor, <strong>und</strong><br />
Alexander verschwand unter dem fließenden Stoff. McGonagall<br />
verpasste Marius zudem einen eigenartigen Zauber, durch den seine<br />
Flügel unsichtbar worden, <strong>und</strong> er außerdem ein Halfter <strong>und</strong> einen<br />
modernen Sattel bekam, so<strong>das</strong>s er aussah wie ein normaler Schimmel.<br />
Dennoch, dachte <strong>Harry</strong> verzweifelt, wird es schwer werden<br />
unterzutauchen. Ihre Besen hatten sie schließlich auch noch.<br />
"Sobald wir drüben sind", wies sie McGonagall an, "gehen zwei von<br />
uns in die Stadt <strong>und</strong> holen neue Kleidung, Essen <strong>und</strong> Trinken. Die<br />
anderen warten außerhalb. Wenn wir alles haben, verpasse ich euch<br />
einen Desillusionszauber <strong>und</strong> wir fliegen nach London."<br />
"Aber –", setzte <strong>Harry</strong> an, als ihm etwas einfiel.<br />
"Was?"<br />
"Wir haben kein Muggelgeld!"<br />
"Doch, ich habe welches. Und auch eine Kreditkarte", vernahm er<br />
mit Erleichterung McGonagalls Antwort. "Ich bin es eben gewohnt, unter<br />
Muggeln zu leben ..."<br />
"Und wer soll gehen?", fragte Ron <strong>und</strong> sah sich misstrauisch um,<br />
als fürchte er, mit einem ungarischen Hornschwanz alleine gelassen zu<br />
werden.<br />
"Am besten Hermine <strong>und</strong> ich – sie kennt sich in Dover ein bisschen<br />
aus. Wir werden <strong>zur</strong>ückkommen, so schnell es uns möglich ist",<br />
versprach McGonagall, als er Rons finstere Miene sah.<br />
"Aber jetzt lasst uns durch die Zeit reisen!"<br />
<strong>Harry</strong> atmete tief durch. Er war noch nie aus eigenen Kräften<br />
appariert <strong>und</strong> hatte auch keine Ahnung, wie man <strong>das</strong> anstellen sollte. Er<br />
281
fasste Hermines Hand, welche wiederum Ron festhielt. McGonagall <strong>und</strong><br />
Alexander schlossen sich an, so<strong>das</strong>s sie einen Kreis bildeten, die Besen<br />
in der Mitte. McGonagall hatte sich noch die Zügel von Marius ums<br />
Handgelenk geschlungen <strong>und</strong> forderte sie nun <strong>auf</strong>, sich <strong>das</strong> moderne<br />
Dover so genau wie möglich vorzustellen.<br />
"Versucht, es vor euch zu sehen ... die Häuser, die Autos, die<br />
Menschen <strong>und</strong> Straßen."<br />
<strong>Harry</strong> kniff die Augen zusammen <strong>und</strong> stellte sich einen großen<br />
Hafen mit Fähren <strong>und</strong> Passagieren vor, mit bunten Autos <strong>und</strong> Bussen<br />
<strong>und</strong> regenverhangenen Häuserfassaden –<br />
"Und vergesst eure Besen nicht!", erinnerte sie McGonagall, <strong>und</strong><br />
als <strong>Harry</strong> dar<strong>auf</strong>hin geschwind seinem Gedankenbild den Feuerblitz<br />
hinzufügte, spürte er ein kurzes, unangenehmes Reißen in der<br />
Magengegend. Er traute sich nicht, die Augen zu öffnen, denn ein Wirbel<br />
an Farben <strong>und</strong> Linien drang durch die Dunkelheit <strong>und</strong> zog ihn nach oben.<br />
Ihm war, als schwebe er <strong>auf</strong>wärts, die Hand von Hermine immer noch<br />
fest umklammert. Mit dem Appariergefühl, <strong>das</strong> er kannte, hatte <strong>das</strong><br />
Zeitreisen nicht viel zu tun, es war eher, als fuhr man in einem Fahrstuhl<br />
sanft in die Höhe.<br />
Plötzlich hatte er wieder festen Boden unter den Füßen <strong>und</strong><br />
vernahm <strong>das</strong> laute Hupen eines Autos. Erschrocken riss er die Augen<br />
<strong>auf</strong>.<br />
Sie standen mitten <strong>auf</strong> einer stark befahrenen Straße. Ein grauer<br />
Laster vor ihnen schlingerte, als der Fahrer hektisch <strong>auf</strong> die Bremse trat,<br />
wor<strong>auf</strong>hin mehrere Autos ineinander krachten in dem Versuch, ihnen<br />
auszuweichen.<br />
Das war ihr Glück, denn wären sie erwischt worden, wären sie<br />
gestorben <strong>und</strong> für immer an die <strong>Unterwelt</strong> gefesselt gewesen, ohne <strong>das</strong>s<br />
die Lebenden Bescheid gewusst hätten, was ihnen widerfahren war.<br />
"Weg hier!", schrie McGonagall <strong>und</strong> stieß sie panisch in Richtung<br />
Bürgersteig, ihre Besen in der einen <strong>und</strong> Marius an der anderen Hand.<br />
"Gr<strong>und</strong>gütiger, wir mussten ja auch <strong>auf</strong> die Hauptstraße<br />
apparieren!", beschwerte sich Ron, als er gegen einen Laternenpfahl<br />
taumelte.<br />
"Tja, sorry, <strong>das</strong> habe ich natürlich nicht ahnen können", keuchte<br />
McGonagall bei dem Versuch, Marius zu beruhigen, dem die vielen<br />
Autos nicht zusagten.<br />
"<strong>Harry</strong>, in Deckung!", zischte er plötzlich, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> verschwand<br />
schnell mit unter dem Tarnumhang. Im nächsten Moment kamen<br />
Muggelpolizisten <strong>auf</strong> sie zu.<br />
"Haben Sie diesen Aufruhr verursacht?", fragte der erste, in einer<br />
dunkelgrünen Uniform <strong>und</strong> mit einem Funksprechgerät bewaffnet.<br />
"Nein, ich meine ja, aber <strong>das</strong> war keine Absicht", stammelte<br />
McGonagall.<br />
282
"Verdächtige gef<strong>und</strong>en. Wir werden sie <strong>auf</strong>s Hauptquartier<br />
bringen", sprach der zweite Polizist in sein Funkgerät.<br />
"Warten Sie, <strong>das</strong> geht nicht", fuhr Ron <strong>auf</strong>.<br />
"Wieso?", wollte der Polizist wissen <strong>und</strong> wandte sich ihm mit einem<br />
fragenden Blick zu.<br />
"Weil wir – etwas erledigen müssen", meinte Ron trotzig, was die<br />
Muggel in einen Lachanfall ausbrechen ließ.<br />
"Sie haben etwas vor! Wie putzig. Weißt du was, Junge? Wir<br />
haben auch etwas vor, nämlich euch festzunehmen, da ihr gerade einen<br />
echten Auffahrunfall verursacht habt."<br />
"Aber sie sind <strong>doc</strong>h schon tot", argumentierte McGonagall<br />
verzweifelt <strong>und</strong> wies <strong>auf</strong> mehrere Leute, die nun aus den kaputten Autos<br />
gezogen wurden. Es waren allesamt Muggel, <strong>und</strong> alle hatten sie<br />
Verletzungen erlitten, die in der Welt der Lebenden als tödlich<br />
bezeichnet worden wären.<br />
"Nur weil hier niemand mehr sterben kann, heißt <strong>das</strong> nicht, <strong>das</strong>s<br />
Sie sich wie Rowdys benehmen dürfen!", explodierte der Polizist <strong>und</strong><br />
legte McGonagall so schnell Handschellen an, <strong>das</strong>s dieser nur noch<br />
verblüfft <strong>auf</strong> die Eisen um seine Handgelenkte schauen konnte.<br />
"In diesem Land gibt es genauso Gesetze wie in der Welt der<br />
Lebenden, kapiert ihr <strong>das</strong> nicht? Ich wette, wir haben hier auch die<br />
Schuldigen für die Karambolage in der West Street von letzter Woche",<br />
triumphierte er.<br />
"Mit Sicherheit nicht, denn wir sind erst seit zwei Tagen – äh, hier",<br />
fauchte McGonagall <strong>und</strong> versuchte vergeblich, die Handschellen zu<br />
lösen. Ron zückte seinen Zauberstab, um ihm zu helfen, fand ihn eine<br />
Zehntelsek<strong>und</strong>e später aber in der Hand der Polizisten wieder.<br />
"Ah, wir haben hier Zauberer", grinste der Beamte selbstzufrieden.<br />
"Dann gib schön deinen Zauberstab her, Mädchen", forderte er Hermine<br />
<strong>auf</strong>. „Und keinen Widerstand, ja?“ Er deutete mit dem Finger <strong>auf</strong> eine<br />
Handfeuerwaffe, die griffbereit an seinem Gürtel hing.<br />
Hermine schien eine Weile zu überlegen, ob sich ein Angriff lohnte,<br />
sah aber schließlich die Ausweglosigkeit ihrer Situation ein <strong>und</strong> übergab<br />
widerwillig <strong>und</strong> mit zusammengekniffenen Augen ihren Weinholzstab.<br />
Auch McGonagall wurde der Zauberstab abgenommen.<br />
"Und nun folgt mir, ohne Mucken zu machen", befahl der Polizist<br />
<strong>und</strong> stieß sie in ein Polizeiauto.<br />
McGonagall trat einen Schritt <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> schaute in die Richtung,<br />
in der er wohl <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Alexander vermutete.<br />
"Ihr müsst uns hier rausholen!", flüsterte er <strong>und</strong> warf ihnen mit<br />
seinen gefesselten Händen ungeschickt ein Portemonnaie zu.<br />
"Mach, <strong>das</strong>s du rein kommst", blökte der Polizist <strong>und</strong> packte ihn<br />
grob an den Haaren, bevor er ihn unsanft ins Auto beförderte.<br />
283
Nachdem <strong>das</strong> Polizeiauto mit schrillender Sirene abgefahren war,<br />
bedeutete <strong>Harry</strong> Alexander, vorsichtig mit ihm zu kommen, so<strong>das</strong>s sie<br />
den Tarnumhang nicht verloren. Ein Stück weiter fanden sie in einer<br />
Nebenstraße einen kleinen Park. <strong>Harry</strong> vergewisserte sich, <strong>das</strong>s sie<br />
allein waren <strong>und</strong> riss den Umhang von sich.<br />
"Verdammter Mist!", fluchte er <strong>und</strong> trat vor Wut gegen eine<br />
Mülltonne, die scheppernd umfiel.<br />
"Mach keinen Krach, sonst verhaften sie uns auch noch", warnte<br />
ihn Alexander. Marius war mit ihnen gekommen <strong>und</strong> trottete <strong>auf</strong> der<br />
Suche nach Gras über den zertrampelten Boden des Parks.<br />
"Diese dummen Muggelpolizisten", fluchte er weiter.<br />
"Die zeitgenössischen Ordnungshüter sind tatsächlich etwas stur",<br />
drückte es Alexander höflicher aus. "Aber es ist geschehen, was<br />
geschehen ist, wir müssen nun einen Weg finden, sie zu befreien.<br />
Schließlich kannst du zaubern."<br />
"Aber die Muggel hier wissen von Zauberei! Du hast <strong>doc</strong>h<br />
gesehen, wie schnell sie Ron den Zauberstab abgenommen haben",<br />
meinte <strong>Harry</strong> verzweifelt.<br />
"Gut, aber du wirst <strong>doc</strong>h auch aus der Ferne zaubern können.<br />
Oder willst du damit sagen, <strong>das</strong>s du mit Magie nichts ausrichten kannst?<br />
Das wäre nicht schlimm, ich werde einen anderen Weg finden."<br />
"Natürlich kann ich zaubern", meinte <strong>Harry</strong> patzig.<br />
"Dann ist ja gut", entgegnete Alexander ruhig. "Ich schlage vor, <strong>das</strong><br />
Hauptlager der grünen Leute zu finden."<br />
"Sie heißen Polizisten, <strong>und</strong> sie haben eine Hauptzentrale",<br />
verbesserte ihn <strong>Harry</strong> müde. Nach der letzten Nacht befand er sich<br />
ohnehin nicht <strong>auf</strong> der Höhe seiner Kräfte, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s sie nun auch noch<br />
Ron, Hermine <strong>und</strong> McGonagall verloren hatten, gab ihm den Rest. Er<br />
konnte nicht begreifen, wie Alexander noch so munter Pläne schmieden<br />
konnte, wo er zudem auch noch vor wenigen St<strong>und</strong>en von einem Riesen<br />
halb tot geprügelt worden war.<br />
"Gut, dann frage ich jetzt jemanden, wo sich die Zentrale befindet",<br />
kündigte der König an <strong>und</strong> wollte losgehen, als <strong>Harry</strong> ihn <strong>zur</strong>ückrief.<br />
"Was ist?"<br />
"Du kannst unmöglich so unter die Leute gehen. Wir dürfen nicht<br />
<strong>auf</strong>fallen. Mich kennt man in dieser Zeitepoche. Wenn <strong>das</strong> Gerücht<br />
entsteht, <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> sei tot, dann gibt es einen gewaltigen Aufruhr –<br />
<strong>und</strong> ich habe eigentlich nicht vor, jemandem erklären zu müssen, was<br />
wir hier vorhaben."<br />
"Wieso bist du berühmt?", fragte Alexander neugierig.<br />
"Ach, wegen nichts Besonderem", wiegelte <strong>Harry</strong> ab. Die Lust,<br />
seine Stellung in der Zaubererwelt mit einem eigentlich seit zwei<br />
Jahrtausenden toten Makedonenkönig zu diskutieren, ging gegen Null.<br />
284
"Wir müssen zusehen, <strong>das</strong>s wir die anderen wieder finden. Eher<br />
können wir nicht nach London." Er stellte sich Ron <strong>und</strong> Hermine in einem<br />
engen, kalten Gefängnis vor, ohne Hoffnung, herauszukommen <strong>und</strong><br />
verloren in einer fremden Welt. Vielleicht wäre es klüger, erst Sirius zu<br />
suchen <strong>und</strong> dann mit der Hilfe eines erwachsenen Zauberers ins<br />
Gefängnis einzubrechen, <strong>doc</strong>h <strong>Harry</strong> wäre nie <strong>auf</strong> die Idee gekommen,<br />
seine Fre<strong>und</strong>e im Stich zu lassen.<br />
"Hier, zieh <strong>das</strong> an", wandte er sich an Alexander <strong>und</strong> holte eine<br />
Hose <strong>und</strong> einen Pullover aus seinem Rucksack, die einzigen noch<br />
sauberen Sachen, die er besaß. "Du hast fast dieselbe Größe wie ich ..."<br />
Alexander sah ihn etwas finster an, wohl, weil er eigentlich doppelt<br />
so alt war wie <strong>Harry</strong>. Schweigend zog er sich um <strong>und</strong> setzte am Ende<br />
noch eine Mütze <strong>auf</strong>, um die immer noch mit Blut beschmutzten Haare<br />
zu verdecken.<br />
"Was machen wir mit dem geflügelten Pferd?", fragte er <strong>und</strong> wies<br />
<strong>auf</strong> Marius.<br />
<strong>Harry</strong> dachte fieberhaft nach. Im Gr<strong>und</strong>e machte es wenig Sinn,<br />
<strong>das</strong> Abraxas-Pferd noch mitzunehmen – es war tot <strong>und</strong> konnte nicht<br />
mehr durch den Bogen <strong>zur</strong>ück.<br />
"Wenn du es möchtest, gehört es dir", bot er deswegen an. "Aber<br />
hier kann es nicht bleiben. Muggel sind nicht an Pferde gewöhnt, die <strong>auf</strong><br />
den Straßen umherl<strong>auf</strong>en ... es würde den Weg <strong>zur</strong>ück zu deinem Heer<br />
sicher finden", fügte er versucht überzeugend hinzu. Er hatte keine<br />
Ahnung, ob <strong>das</strong> stimmte, aber sie konnten sich nicht länger mit dem<br />
Hengst belasten. Und vor allem nicht mit ihm <strong>zur</strong> Polizeiwache gehen.<br />
Also trat Alexander an <strong>das</strong> Pferd heran, flüsterte ihm etwas ins<br />
Ohr, <strong>und</strong> es erhob sich wiehernd in die Luft. "Danke. Es wird in<br />
Frankreich <strong>auf</strong> mich warten", erklärte er dem verdutzten <strong>Harry</strong>.<br />
Dann traten sie wieder <strong>auf</strong> die Straße. <strong>Harry</strong> hoffte inständig, <strong>das</strong>s<br />
sie keinem Zauberer über den Weg liefen, der in ihm den Bezwinger<br />
Voldemorts wieder erkennen würde. Seinen schwarzen Umhang hatte er<br />
zusammen mit dem Tarnumhang in seiner Tasche verstaut <strong>und</strong> fiel unter<br />
den vielen Muggeln nicht weiter <strong>auf</strong>, mal abgesehen von den Besen, die<br />
er trug. Aber einem <strong>auf</strong>merksamen Beobachter wäre seine Stirnnarbe<br />
dennoch nicht entgangen, da machte er sich keine Illusionen.<br />
Unbehelligt fanden sie den Weg durch die vielen Straßen in die<br />
Innenstadt <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>igten sich nach dem Polizeirevier, <strong>das</strong> sie wenige<br />
Minuten später betraten.<br />
Ein gelangweilter Muggel hinter einem Schalter sah sie abwertend<br />
an.<br />
"Kinder haben hier nichts zu suchen", schnarrte er <strong>und</strong> erinnerte<br />
<strong>Harry</strong> unangenehm an Onkel Vernon.<br />
285
"Wir möchten zu den Gefangenen, die vor etwa einer St<strong>und</strong>e<br />
eingeliefert worden sind", forderte <strong>Harry</strong>. Der Beamte lachte hässlich <strong>und</strong><br />
beugte sich zu ihm hinunter. "Verschwindet von hier, sonst lasse ich<br />
euch rauswerfen. Geht wieder spielen!"<br />
Da trat Alexander an den Wachmann heran, die Augen schwarz<br />
vor Wut. "Wir wollen wissen, wohin die Gefangenen gebracht worden<br />
sind", zischte er leise, aber so bedrohlich, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong>s Haare sich im<br />
Nacken <strong>auf</strong>richteten. Auf einmal verstand er, wie Alexander einer der<br />
größten Herrscher der Geschichte hatte werden können.<br />
"Nun ja, sie sind verhört worden <strong>und</strong> dann – dann in die<br />
Untersuchungshaft geschafft worden ... ", stotterte der Beamte <strong>und</strong> sah<br />
Alexander erschrocken an.<br />
"Gut, dort können wir sie besuchen, oder?"<br />
"Eigentlich nur Verwandte, wissen Sie", beeilte sich der Polizist zu<br />
sagen, offensichtlich in Angst, mit einer negativen Antwort Alexanders<br />
Zorn zu verstärken.<br />
"Prima, denn wir sind mit einem dieser Gefangenen verwandt, mit<br />
Jamie McGonagall", behauptete Alexander, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> musste sich<br />
zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Der Muggelbeamte kniff die<br />
Augen zusammen <strong>und</strong> sah die beiden prüfend an.<br />
"Dir glaube ich <strong>das</strong>", nickte er zu <strong>Harry</strong>, was diesen wenig<br />
verw<strong>und</strong>erte, da er ja tatsächlich mit McGonagall verwandt war. "Doch<br />
ich fresse einen Besen, wenn <strong>das</strong> auch <strong>auf</strong> Sie zutrifft."<br />
Wortlos schnappte sich Alexander Rons Sauberwisch <strong>und</strong> hielt ihn<br />
wie eine wurfbereite Lanze, nur wenige Zentimeter von dem Gesicht des<br />
Beamten entfernt.<br />
„Das lässt sich einrichten“, meinte er lässig <strong>und</strong> lächelte Unheil<br />
verkündend. „Ich habe in meinem Leben h<strong>und</strong>erte, tausende von<br />
Menschen getötet, <strong>und</strong> ich versichere dir, keiner davon war so<br />
jämmerlich wie du. Du kannst dich entscheiden: Entweder begleitest du<br />
uns zu den Gefangenen, oder du verbringst den Rest des Tages<br />
bewusstlos zu, bis die <strong>auf</strong>gehende Sonne deine zerrissenen Gliedmaßen<br />
leider wieder zusammensetzt.“<br />
Die ganze Zeit sprach Alexander so ausdruckslos, als lese er die<br />
Speisekarte eines Restaurants vor.<br />
Der Beamte konnte sich vor Angst einige Sek<strong>und</strong>en weder rühren<br />
noch etwas sagen, sondern stammelte nur unverständliche Laute vor<br />
sich hin.<br />
"Was ist?", fragte Alexander hart.<br />
"Ich werde Sie hinführen, kein Problem", zitterte der Mann <strong>und</strong> tat<br />
<strong>Harry</strong> fast Leid. "Nur tun Sie mir nichts ... ich will nicht sterben, will nicht<br />
in die Dunkelheit versinken ... auch wenn ich morgen wieder erwache, ist<br />
es ein schreckliches Gefühl, so schrecklich ..."<br />
286
Alexander schnaubte. "So eine widerliche Furcht vor dem Tod ist<br />
erbärmlich. Ich wette, in deinem Leben hast du auch nichts anderes<br />
getan als vor dem Tag zu beben, an dem du es verlieren würdest."<br />
"Ja, ja, so ging es uns allen", nuschelte der Wachmann <strong>und</strong><br />
fingerte einen Schlüssel aus einer Schublade heraus.<br />
"Nein, eben nicht", widersprach Alexander kalt. "Wir alle mussten<br />
sterben, als es an der Zeit für uns war, aber nur jene, die den Tod nicht<br />
fürchteten, konnten ihr Leben wirklich zu etwas Sinnvollem nutzen."<br />
Abschätzend sah er den Beamten an. "Ich wette, du langweilst dich in<br />
deinem Job jeden Tag mehr, weißt nicht, wohin deine Existenz hier<br />
unten führen soll oder ob es irgendwann ein Ende des grauen Alltags<br />
gibt."<br />
Der Polizist zuckte gleichgültig mit den Schultern. "So ist es <strong>doc</strong>h<br />
bei vielen ... erst gestern beschwerte sich John White über <strong>das</strong> alles hier<br />
... er arbeitet als Tellerwäscher in einem Cafe <strong>und</strong> sieht keinen Ausweg.<br />
Ich meine, wir können <strong>doc</strong>h nicht immer <strong>das</strong> tun, was wir machen, immer<br />
arbeiten, selbst im Tod, oder?", grinste er Alexander in einem furchtbar<br />
schief gegangenen Versuch des Witzigseins an, <strong>das</strong> Gesicht <strong>zur</strong><br />
Grimasse verzerrt. Der Makedone sah ihn an, als wäre er eine<br />
besonders eklige Kakerlake.<br />
"Genau <strong>das</strong> ist der Unterschied zwischen Leuten wie dir <strong>und</strong> mir",<br />
stellte er sachlich fest. "Ich führe seit zweitausendfünfh<strong>und</strong>ert Jahren<br />
Krieg, <strong>und</strong> soll ich dir was sagen? Es wird mir nie langweilig. Jeder Tag<br />
ist für mich eine neue Herausforderung, ein neues Abenteuer. Ich<br />
genieße jede Sek<strong>und</strong>e."<br />
Der Beamte wusste kaum noch, in welchen Winkel er<br />
verschwinden sollte, so sehr versuchte er Abstand zwischen sich <strong>und</strong><br />
Alexander zu bekommen.<br />
"Weil ich bereits in meinem Leben meine Bestimmung gef<strong>und</strong>en<br />
habe, entdeckt habe, was mich wirklich erfüllt. Hier unten kann man es<br />
nicht mehr lernen", erklärte Alexander, jetzt eher an <strong>Harry</strong> gerichtet.<br />
"Wie meinst du <strong>das</strong> –", fragte <strong>Harry</strong> verwirrt, aber in dem<br />
Augenblick öffnete der Beamte eine große, eiserne Tür vor ihnen, die<br />
über Treppen in <strong>das</strong> Untergeschoss des Gebäudes führte.<br />
Unten angekommen wurden sie in einen engen, aber gut<br />
beleuchteten grauen Steinkorridor geleitet, an dessen Seiten Metalltüren<br />
eingelassen worden waren, in die man durch eine Glasscheibe<br />
hineinblicken konnte. Offensichtlich wurden hier die Gefangenen<br />
gehalten.<br />
Alexander flüsterte in <strong>Harry</strong>s Ohr. "Kannst du ihn außer Gefecht<br />
setzen?", fragte er leise. <strong>Harry</strong> nickte. Er hätte wetten können, <strong>das</strong>s sie<br />
der Beamte im Normalfall <strong>auf</strong> Zauberstäbe hin durchsucht hätte, aber<br />
der war so verängstigt durch Alexanders Auftreten, <strong>das</strong>s er gar nicht <strong>auf</strong><br />
die Idee kam, irgendwelche Forderungen zu stellen. Die gesamte Zeit<br />
287
ehielt er argwöhnisch den Besenstil in Alexanders Hand im Auge wie<br />
eine Maus, die von einer Schlange verfolgt wird.<br />
Vor der letzten Tür blieben sie stehen.<br />
"Hier sind die Gefangenen, äh, Jamie McGonagall, Hermine<br />
Granger <strong>und</strong> Ron Weasley", las er von einem Formular ab.<br />
"Öffne die Tür", forderte Alexander.<br />
"Das kann ich nicht –"<br />
"Öffne die Tür, oder der Besen wird in dir stecken."<br />
"Mir ist es nicht erlaubt –"<br />
Alexander erhob den Besen.<br />
"Mann, schon gut, aber klopft, wenn ihr wieder raus wollt!", rief er<br />
hektisch <strong>und</strong> schloss ungeschickt die Zelle <strong>auf</strong>. Die Tür schwang beiseite<br />
<strong>und</strong> Ron, der dagegen gelehnt hatte, purzelte mit überraschtem<br />
Gesichtsausdruck <strong>auf</strong> den Gang.<br />
"Begeben Sie sich sofort wieder in die Zelle, Sie haben Besuch",<br />
herrschte ihn der Beamte an.<br />
Alexander hob die Augenbrauen. "Ach, seit wann gibst du hier die<br />
Befehle?", höhnte er <strong>und</strong> nickte <strong>Harry</strong> zu. Der richtete flink den<br />
Zauberstab <strong>auf</strong> den verblüfften Beamten.<br />
"Stupor!", schrie er, <strong>und</strong> der Mann fiel ohne Ansatz nach hinten<br />
weg <strong>und</strong> schlug hart <strong>auf</strong> dem Boden <strong>auf</strong>.<br />
"Gute Arbeit", lobte Alexander.<br />
"<strong>Harry</strong>!"<br />
Hermine kam aus der Zelle gerannt <strong>und</strong> fiel ihm um den Hals.<br />
"Wir dachten schon, wir hätten euch verloren ... als uns die<br />
Polizisten weggeführt haben, haben sie etwas von einem ewig langen<br />
Prozess erzählt, Jamie hat ihnen mit dem Premierminister gedroht, aber<br />
da haben sie sich nur tot gelacht ..."<br />
"Ja, ich habe ganz vergessen, <strong>das</strong>s der Knabe noch lebt", grinste<br />
McGonagall <strong>und</strong> blickte zu dem bewusstlosen Polizisten. "Ich hatte<br />
eigentlich etwas Eleganteres erwartet", meinte er mit schief gelegtem<br />
Kopf, als benote er eine Hausarbeit. "Eine Geschichte mit Vielsafttrank,<br />
Animagi <strong>und</strong> Tarnumhängen mindestens."<br />
<strong>Harry</strong> sah ihn so verblüfft an, <strong>das</strong>s er lachten musste. "Einfach<br />
reinzuplatzen <strong>und</strong> den Dienst habenden Beamten zu lähmen passt nicht<br />
zu dir!"<br />
"Zu ihm nicht, aber zu mir", stellte Alexander schlicht fest.<br />
Alle lachten, zum Großteil aus Erleichterung, <strong>das</strong>s sie wieder<br />
zusammen waren.<br />
"Nun lasst uns hier verschwinden", forderte Ron endlich.<br />
"Folgt mir", befahl Alexander, als wäre jetzt Krieg <strong>und</strong> sie in einem<br />
feindlichen Gebiet.<br />
Ohne Komplikationen gelangten sie wieder <strong>auf</strong> die Straße,<br />
nachdem sie sich mit Hilfe der Schlüssel des geschockten Beamten die<br />
288
Zauberstäbe von Ron, Hermine <strong>und</strong> McGonagall aus einem Tresor<br />
<strong>zur</strong>ückgeholt hatten.<br />
"Ich würde sagen, wir fliegen ohne Umwege nach London, in Dover<br />
werden sie uns drei bald suchen", meinte McGonagall besorgt <strong>und</strong><br />
schaute sich <strong>auf</strong>merksam um.<br />
"Aber ich sterbe vor Hunger!", beschwerte sich Ron. Da merkten<br />
sie alle, wie hungrig sie waren <strong>und</strong> holten sich an einem Imbiss Fish and<br />
Chips. Alexander inspizierte <strong>das</strong> Fast Food mit hoch gezogenen<br />
Augenbrauen erst einmal eine Minute, bevor er aß.<br />
Als sie gestärkt waren, verteilte McGonagall die Besen. "Hermine<br />
setzt sich am besten mit zu <strong>Harry</strong>", meinte er, da sie einen Besen zu<br />
wenig hatten.<br />
Es war zwar ungewohnt, mit einem Beiflieger durch die Luft zu<br />
steuern, aber <strong>Harry</strong> merkte nach ein paar chaotischen Anfangsminuten,<br />
in denen er seinen Feuerblitz nicht deutlich genug in die entsprechenden<br />
Richtungen gelenkt hatte, <strong>das</strong>s er sich <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Mehrgewicht einzustellen<br />
begann. Auch Alexander hatte anfangs Schwierigkeiten, sich <strong>auf</strong> seinem<br />
wackelnden Schulbesen zu halten, aber dafür, <strong>das</strong>s es sein erstes Mal<br />
war, hielt er sich überraschend gut, so gut, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> ihn sich in<br />
Gedanken in seiner Quidditch-Mannschaft vorstellte.<br />
Schnell ließen sie die Küstenstraßen von Dover hinter sich <strong>und</strong><br />
flogen über grüne Wiesen <strong>und</strong> kleine Hügel mit Schafherden, zwischen<br />
denen kläffende H<strong>und</strong>e von Schafhirten angetrieben wurden.<br />
Als die ersten Vorstädte im Dunstkreis des gewaltigen London vor<br />
ihnen <strong>auf</strong>tauchten, spürte <strong>Harry</strong> sein Herz schneller schlagen. Hier<br />
würden sie hoffentlich Sirius finden. Und dann? Durch den weißen<br />
Bogen <strong>zur</strong>ück? Hieß <strong>das</strong>, <strong>das</strong>s sie schon wieder ins Ministerium<br />
eindringen mussten? Langsam war ihm dieses Gebäude ernsthaft<br />
verhasst.<br />
Unter ihnen rasten kleine Häuser vorbei, an geschwungene<br />
Straßen geschmiegt, in denen Autos wie endlose Kolonnen von Ameisen<br />
langsam vorwärts krochen.<br />
"Wo wollen wir landen?", rief ihnen McGonagall zu.<br />
"Ja, richtig, wir müssen überlegen, wo sich Sirius <strong>auf</strong>halten<br />
würde", schrie Hermine <strong>Harry</strong> von hinten so laut ins Ohr, <strong>das</strong>s er für ein<br />
paar Sek<strong>und</strong>en taub wurde.<br />
"Wie wäre es mit dem Grimmauldplatz?", schlug Ron vor.<br />
"Dort würde Sirius nie freiwillig hingehen", sagte <strong>Harry</strong> sofort. "Er<br />
hasst sein Zuhause – <strong>und</strong> seine Familie, vergiss nicht, die wird sicher in<br />
ihrem alten Heim leben."<br />
"Äh, also <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Original dieses widerwärtigen Gemäldes habe ich<br />
persönlich keine Lust", ätzte Ron <strong>und</strong> tat so, als würde er sich<br />
übergeben. McGonagall, der hinter ihm flog, riss erschrocken seinen<br />
Besen <strong>zur</strong> Seite <strong>und</strong> wäre fast herunter gefallen.<br />
289
„Entschuldige“, murmelte Ron <strong>und</strong> wurde rot.<br />
"Dann fragen wir lieber einmal im Tropfenden Kessel nach,<br />
vielleicht weiß man dort, wo sich Sirius <strong>auf</strong>hält", sagte Hermine schnell.<br />
Die Idee gefiel allen, <strong>und</strong> so flogen sie den Tropfenden Kessel an –<br />
Hermine <strong>und</strong> McGonagall kannten zum Glück den genauen Weg.<br />
Als sie vor dem Pub von den Besen sprangen, stockte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong><br />
alles zog sich in ihm krampfhaft zusammen. Etwas war gr<strong>und</strong>legend<br />
falsch. Das war nicht der Tropfende Kessel.<br />
290
KAPITEL FÜNFZEHN<br />
Das andere London<br />
Jedenfalls war er es nicht ganz. Vielmehr kam es <strong>Harry</strong> so vor, als<br />
stünde er vor einer ziemlich schlechten Kopie des berühmten Pubs für<br />
Zauberer <strong>und</strong> Hexen. Im Nachbarladen <strong>auf</strong> der einen Seite befand sich<br />
tatsächlich derselbe Buchladen, der ihm schon bei seinem ersten<br />
Besuch im Tropfenden Kessel vor nunmehr fünf Jahren <strong>auf</strong>gefallen war.<br />
Doch <strong>auf</strong> der anderen Seite schaute er nicht in den erwarteten<br />
Plattenladen, sondern in einen kleinen Schnellimbiss, in dem Muggel bei<br />
Kaffee <strong>und</strong> Kuchen saßen <strong>und</strong> unbeschwert schwatzten. Der Pub selbst<br />
wirkte nicht halb so schmuddelig, wie ihn <strong>Harry</strong> in Erinnerung hatte, <strong>und</strong><br />
auch <strong>das</strong> hölzerne Namensschild hatte andere Farben.<br />
"Wo sind wir?", fragte Ron mit komischer Stimme.<br />
"Das ist nicht der Tropfende Kessel unserer Zeit", hauchte<br />
Hermine, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> wurde es fast schlecht vor Angst. Wo waren sie in<br />
Wirklichkeit gelandet?<br />
McGonagall sah sie erstaunt an. "Was habt ihr denn, es sieht <strong>doc</strong>h<br />
genauso aus wie immer, oder?"<br />
Ron fiel die Kinnlade herunter.<br />
"In meiner Kindheit jedenfalls bin ich vor dem ersten Schultag<br />
immer hier durch, um in die Winkelgasse zu kommen." Er wollte durch<br />
die Tür treten. Hermine hielt ihn <strong>zur</strong>ück.<br />
"In deiner Kindheit", wiederholte <strong>Harry</strong> ungläubig. "Aber Jamie, <strong>das</strong><br />
ist 25 Jahre her!"<br />
"Wollt ihr damit sagen, wir sind in den 60er Jahren gelandet?",<br />
keuchte Ron entsetzt. "Wie kann <strong>das</strong> sein?"<br />
291
"Diese Welt ist eine Widerspiegelung der Erinnerungen <strong>und</strong> Bilder,<br />
die die Toten aus ihrem Leben mitgebracht haben", überlegte Alexander.<br />
„Nein, wie toll“, meinte Ron sarkastisch, aber der Makedone<br />
beachtete ihn nicht.<br />
"Wahrscheinlich sind aus eurer Generation noch nicht genügend<br />
Menschen gestorben“, fuhr er fort, „so<strong>das</strong>s wir uns in der Gedankenwelt<br />
eurer Vorgängergenerationen befinden. Ich habe <strong>das</strong> bei meinem Tod<br />
auch erlebt. In einigen Jahren wird sich die Umgebung hier verändern<br />
<strong>und</strong> sich der anpassen, die ihr gekannt habt. Den früher gestorbenen<br />
Menschen werdet ihr nach <strong>und</strong> nach nicht mehr begegnen, sondern<br />
neuen, späteren Toten, die dieselben Erinnerungen aus der Welt der<br />
Lebenden haben wir ihr. Und am Ende werdet ihr in der euch vertrauten<br />
Welt leben, <strong>und</strong> die ältere wird nur noch durch Zeitreisen erreichbar sein.<br />
Das ist hier unten der L<strong>auf</strong> der Dinge."<br />
"Also müssen wir uns jetzt im London der 60er <strong>zur</strong>echtfinden",<br />
stöhnte <strong>Harry</strong>.<br />
"Der 60er", bestätigte Alexander, "vermutlich aber bereits vermischt<br />
mit Elementen jünger verstorbener Menschen. Der Übergang ist<br />
fließend."<br />
Zögernd öffnete McGonagall die Tür zum Tropfenden Kessel. "Geh<br />
unter den Tarnumhang", flüsterte er <strong>Harry</strong> zu. "Wenn hier jemand<br />
mitkriegt, <strong>das</strong>s du in der Welt der Toten bist, dreht die ganze Zauberer-<br />
<strong>Unterwelt</strong> durch."<br />
Erleichtert warf sich <strong>Harry</strong> seinen fließenden Tarnumhang über <strong>und</strong><br />
folgte den anderen in den düsteren, schummrigen Pub, in dem einige<br />
Hexen <strong>und</strong> Zauberer bei einem Pint saßen. Den Wirt, ein kleines,<br />
unruhiges Kerlchen, kannte er nicht.<br />
"Hallo Michael", begrüßte ihn McGonagall fröhlich.<br />
Der Wirt guckte ihn einige Sek<strong>und</strong>en lang verwirrt an, dann lachte<br />
er laut. "Jamie, ich hätte dich beinahe nicht erkannt ... dachte für einen<br />
Moment, du seiest James <strong>Potter</strong>. Der alte Haudegen war erst vorgestern<br />
hier."<br />
<strong>Harry</strong> verlor die Kontrolle über seine Beine <strong>und</strong> sank nicht gerade<br />
geräuschlos <strong>auf</strong> einen Stuhl. Ron <strong>und</strong> Hermine versuchten, ihn<br />
un<strong>auf</strong>fällig zu stützen.<br />
"Was?", stammelte McGonagall, sichtlich bestürzt.<br />
"Hat es dich jetzt auch erwischt, was?", fragte Michael in einer<br />
gewöhnungsbedürftigen Mischung aus Mitleid <strong>und</strong> Unbeschwertheit.<br />
"Äh, sozusagen."<br />
"Na dann setzt dich! Ich lade dich <strong>auf</strong> ein Butterbier ein, immerhin<br />
habe ich dich nicht mehr gesehen, seit du 17 warst <strong>und</strong> kurz vor deinem<br />
letzten Hogwartsjahr standest."<br />
292
"Leider habe ich keine Zeit, ich muss jemanden suchen",<br />
unterbrach ihn McGonagall. "Sirius Black. Du hast nicht zufällig von ihm<br />
gehört?"<br />
"Sirius Black? Klar, mit dem seid ihr damals immer in die<br />
Winkelgasse gel<strong>auf</strong>en, um sämtlichen Verkäufern Streiche zu spielen ...<br />
Er hatte ganz schön was auszuhalten, als er <strong>das</strong> erste Mal hier ankam,<br />
sie alle haben es ihm <strong>zur</strong>ückgezahlt!" Der Wirt grinste <strong>und</strong> schenkte<br />
einer Hexe ein Butterbier ein.<br />
"Er ist seit etwa einer Woche in London, um seine Familie zu<br />
besuchen, ihr müsst also nur zum Grimmauldplatz gehen."<br />
"Seine Familie?", echote McGonagall überrascht. "Aber er hasst<br />
sie <strong>doc</strong>h!"<br />
"Eben, jetzt kann er ihnen einmal so richtig die Meinung sagen –<br />
was soll seine verkorkste Mutter schon noch machen? Ein richtiger<br />
Hausdrachen, <strong>das</strong> kann ich sagen. Außerdem hat er seid neuestem ein<br />
gutes Verhältnis zu seinem Bruder, ich glaube, sie wollen in ein paar<br />
Tagen <strong>auf</strong>brechen nach Godric's Hollow."<br />
"Dann müssen wir uns beeilen!", meinte McGonagall <strong>und</strong> richtete<br />
sich <strong>auf</strong>.<br />
"Wir?"<br />
McGonagall schaute zu Ron <strong>und</strong> Hermine, die immer noch am<br />
Tisch neben dem unsichtbaren <strong>Harry</strong> saßen.<br />
"Deine Kinder?", fragte der Wirt neugierig.<br />
"Nein, nein, nur – Bekannte."<br />
"Gut, dann viel Glück bei deiner Suche, <strong>und</strong> komm hier vorbei,<br />
wenn du Sirius gef<strong>und</strong>en hast. Dann können wir mal wieder in den alten<br />
Zeiten schwelgen ..."<br />
McGonagall nickte mit sichtbar schlechtem Gewissen. "Ich<br />
verspreche, <strong>das</strong>s ich wieder kommen werde. Aber verzeihe mir, wenn es<br />
etwas – länger dauert."<br />
"Immer habt ihr jungen Leute was zu tun." Der Wirt schüttelte den<br />
Kopf <strong>und</strong> wandte sich den nächsten K<strong>und</strong>en zu. McGonagall verließ den<br />
Pub, <strong>und</strong> die anderen folgten ihm.<br />
Draußen riss <strong>Harry</strong> sich den Tarnumhang herunter <strong>und</strong> rief<br />
vollkommen <strong>auf</strong>gelöst: "Mein Vater war hier! Wir müssen ihn finden, <strong>und</strong><br />
meine Mutter wird bei ihm sein! Endlich kann ich meine Eltern sehen!"<br />
"<strong>Harry</strong>, ich weiß nicht, ob <strong>das</strong> eine so gute Idee ist", sagte Hermine<br />
vorsichtig. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron schauten sie an, als wäre sie durchgeknallt.<br />
"Das ist <strong>doc</strong>h DIE Chance, Hermine", meinte Ron, verdutzt über<br />
Hermines Begriffsstutzigkeit. "Ich würde meine Eltern hier auch<br />
besuchen, wenn sie bereits tot wären."<br />
"Ich gebe Hermine Recht", schaltete sich McGonagall ein.<br />
293
"Ihr seid <strong>doc</strong>h alle nicht ganz dicht!", schrie <strong>Harry</strong> so wütend, <strong>das</strong>s<br />
sich einige Muggelpassanten nach ihm umdrehten. Doch ihm war egal,<br />
ob er Aufmerksamkeit erregte.<br />
"Ihr mögt eure Eltern den ganzen Tag um euch herum haben, ich<br />
habe meine noch nicht einmal richtig gesehen oder je mit ihnen<br />
gesprochen! Und nun, wo ich es kann, wollt ihr mich davon abhalten? Ich<br />
dachte, ihr seid meine Fre<strong>und</strong>e!"<br />
Hermine sah betroffen zu Ron, der böse <strong>zur</strong>ückstarrte. "Warum soll<br />
er seine Eltern nicht sehen?", beharrte er.<br />
"Weil ich nicht denke, <strong>das</strong>s er sich von ihnen trennen könnte",<br />
meinte sie leise <strong>und</strong> schaute nachdenklich zu <strong>Harry</strong>. "Oder?"<br />
<strong>Harry</strong> traten Tränen in die Augen, <strong>und</strong> er zwang sich, jetzt nicht vor<br />
allen loszuheulen. "Das wäre <strong>doc</strong>h dann auch egal", presste er heraus.<br />
"Wenn ich bei ihnen bin, brauche ich nicht mehr <strong>zur</strong>ück in eure<br />
bescheuerte Welt."<br />
"Unsere Welt?", wiederholte Ron beunruhigt.<br />
"Genau <strong>das</strong> meinte ich", erklärte McGonagall. "Unser Platz ist nicht<br />
in der <strong>Unterwelt</strong>, deswegen müssen wir <strong>auf</strong>passen, uns nicht an etwas<br />
oder jemanden zu binden, der uns davon abhält, <strong>zur</strong>ückzukehren."<br />
"Wieso <strong>zur</strong>ückkehren?", fauchte <strong>Harry</strong> unbeherrscht. "Ich will mit<br />
meinen Eltern leben, <strong>und</strong> ob ich es in der <strong>Unterwelt</strong> tue oder in der der<br />
Lebenden, ist <strong>doc</strong>h Nebensache."<br />
"Nein, ist es nicht", meinte Alexander <strong>und</strong> versuchte, ihm eine<br />
Hand <strong>auf</strong> die Schulter zu legen. <strong>Harry</strong> stieß ihn von sich.<br />
"Was weißt du schon davon?", brüllte er. "Du kennst weder meine<br />
Eltern noch mich!"<br />
"Nein, aber ich kenne den Tod", konterte der König, der sich<br />
sichtlich nur schwer beherrschen konnte, nachdem <strong>Harry</strong> ihn so rüde von<br />
sich gewiesen hatte.<br />
"Kannst du dich an <strong>das</strong> erinnern, was ich über <strong>das</strong> Leben gesagt<br />
habe? Dass man in ihm herausfinden muss, wer man ist <strong>und</strong> was man<br />
will, um in der <strong>Unterwelt</strong> <strong>auf</strong> ewig glücklich zu werden. Du hast diesen<br />
Beamten im Polizeihauptquartier gehört: Er wusste nicht, wer wirklich<br />
war <strong>und</strong> sein sollte. Dementsprechend ist er verloren gewesen."<br />
"Und was, wenn es meine Bestimmung ist, mit meinen Eltern<br />
zusammen zu sein?", knurrte <strong>Harry</strong> trotzig.<br />
"Was, wenn du stattdessen der beste Quidditch-Spieler der Welt<br />
werden solltest?", warf Ron vorsichtig ein.<br />
"Oder ein fantastischer Auror", fügte Hermine hinzu.<br />
"Oder Lehrer für Verteidigung", ergänzte McGonagall.<br />
"Oder Vater von drei Kindern", meinte Alexander.<br />
"Ihr seid doof", brummte <strong>Harry</strong>, der sich langsam abregte. Was,<br />
wenn sie Recht hatten? Musste er <strong>zur</strong>ück in die Welt der Lebenden, um<br />
seine Bestimmung zu finden?<br />
294
"Kannst du mit Sicherheit sagen, <strong>das</strong>s du weißt, was du vom<br />
Leben willst <strong>und</strong> es von dir?", fragte ihn Alexander mit so eindringlichem<br />
Blick aus den blau-grünen Augen, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> ihn nicht einfach so<br />
ignorieren konnte, wie er es gern gewollt hätte.<br />
Er dachte nach. Konnte er sich vorstellen, sein ganzes Leben<br />
Quidditch-Spieler zu sein? Irgendwie wollte er nicht glauben, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
alles sein sollte, was ihn erwartete. Oder Lehrer? Eine seltsame<br />
Vorstellung, auch wenn ihm die Arbeit mit der DA eine Menge Spaß<br />
machte. Aber was war mit Familie? Wäre ihm eine eigene wichtiger als<br />
alles andere? Die Antwort, so schwer er sie sich eingestehen mochte,<br />
war, <strong>das</strong>s er keine kannte. Er wusste nicht, was sein Leben ausfüllen<br />
konnte, er war sich noch nicht einmal ganz sicher, was es bisher<br />
ausgefüllt hatte.<br />
"Nein", erwiderte er deswegen ehrlich.<br />
"Dann ist es klar, du musst <strong>zur</strong>ück in die Oberwelt", meinte<br />
Alexander unbekümmert. "Also lasst uns diesen Sirius Black suchen!"<br />
Die anderen schwiegen. "Ist alles OK?", fragte ihn Hermine leise.<br />
<strong>Harry</strong> nickte.<br />
"Was ist nun mit deinen Eltern?", wollte Ron wissen.<br />
"Keine Ahnung", entgegnete <strong>Harry</strong>. Er wollte jetzt keine<br />
Entscheidung treffen. "Wir sprechen erst einmal mit Sirius."<br />
Alle schienen erleichtert. "Dann <strong>auf</strong> zum Grimmauldplatz", rief<br />
McGonagall <strong>und</strong> schwang sich <strong>auf</strong> seinen Besen. Die anderen folgten<br />
ihm.<br />
<strong>Harry</strong> musste während des Flugs über Londons Innenstadt über<br />
<strong>das</strong> Gesagte nachdenken. Würde er sich wirklich von seinen Eltern<br />
wieder trennen können? Es fiel ihm schwer, sich <strong>das</strong> vorstellen zu<br />
können. Vielleicht haben McGonagall <strong>und</strong> Hermine Recht, dachte er. Ich<br />
muss <strong>zur</strong>ück.<br />
Andererseits haben sie <strong>doc</strong>h keine Ahnung, was deine Eltern<br />
angeht, zischte eine leise verborgene Stimme in ihm.<br />
Aber McGonagall hat auch Eltern, die gestorben sind, <strong>und</strong> er zeigt<br />
keine Bemühungen, sie sehen zu wollen. Vielleicht weil er weiß, welche<br />
Gefahr dahinter steckt, entgegnete <strong>Harry</strong> für sich.<br />
Oder weil er seine Eltern nicht leiden kann, antwortete die leise<br />
Stimme.<br />
Unsinn, dachte <strong>Harry</strong>. Außerdem ... ich würde Ginny für eine sehr<br />
lange Zeit nicht wieder sehen, wenn ich hier bleiben würde. Auf einmal<br />
merkte er, wie sehr ihm Rons Schwester fehlte, <strong>und</strong> <strong>das</strong>, obwohl sie erst<br />
seit wenigen Tagen getrennt waren. Konnte er sie so einfach<br />
<strong>zur</strong>ücklassen? Er glaubte es nicht.<br />
Die Wolken vor ihnen zerrissen, <strong>und</strong> überrascht stellte er fest, <strong>das</strong>s<br />
sie sich bereits im Landeanflug <strong>auf</strong> den Grimmauldplatz befanden. Statt<br />
des bekannten schmuddeligen Gebäudes in einer dunklen, schmutzigen<br />
295
Straße kamen sie in einer noblen Wohngegend mit vornehmen alten<br />
Häusern an, die vor gepflegten grünen Gärten thronten. Die Straße<br />
schien vor der Nummer 12 besondern sauber <strong>und</strong> einladend zu wirken,<br />
in glatten Stein gehauene Stufen führten zu der aus schönem dunklen<br />
Holz gezimmerten Tür mit dem markanten Klopfer in Form einer<br />
silbernen Schlange, <strong>und</strong> die Fenster waren weder trübe noch<br />
eingeschlagen, sondern glänzten strahlend in der spätherbstlichen<br />
Sonne.<br />
"Sah früher ganz hübsch aus, was? Und wer klingelt nun?", fragte<br />
<strong>Harry</strong>. Es hatte unbeschwert klingen sollen, allerdings kamen ihm die<br />
Worte nur unnatürlich hoch über die Lippen.<br />
Alexander zuckte mit den Schultern <strong>und</strong> packte den Türklopfer. Ein<br />
lautes, schallendes Dröhnen ließ <strong>das</strong> Haus in seinen Gr<strong>und</strong>festen<br />
erbeben, <strong>und</strong> wenige Sek<strong>und</strong>en später wurde die Tür geöffnet. Eine<br />
große, beleibte Frau in mittleren Jahren stand vor ihnen <strong>und</strong> ließ ihren<br />
hochmütigen Blick über die <strong>auf</strong> offensichtliche Weise ungebetenen<br />
Gäste schweifen.<br />
"Was wollt ihr?", schnarrte sie, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> erkannte <strong>auf</strong> der Stelle<br />
Mrs. Black, die ihr eigenes Portrait im Grimmauldplatz Nummer 12 für<br />
die lebende (<strong>und</strong> leidende, dachte er grimmig) Nachwelt hatte verewigen<br />
lassen.<br />
Ihre gelbe Haut glich exakt der <strong>auf</strong> dem Bild, <strong>und</strong> auch die bösen<br />
schwarzen Augen kamen <strong>Harry</strong> unangenehm vertraut vor – ganz<br />
abgesehen von der hässlichen Stimme, die er gewohnt war,<br />
Schimpfwörter schreien zu hören.<br />
"Guten Tag, Frau – äh, Black", grüßte sie McGonagall in einem<br />
sogar für <strong>Harry</strong> hoffnungslos erscheinenden Versuch, Fre<strong>und</strong>lichkeit bei<br />
der Hausherrin erwecken zu wollen.<br />
Sie stierte ihre Besucher angewidert an. "Muggelgeborene" – der<br />
Blick aus den theatralisch verdrehten Augen streifte Alexander <strong>und</strong><br />
Hermine – "Schlammblüter" – nun sah sie McGonagall <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> Unheil<br />
verkündend an – "sowie Abkömmlinge von Schandflecken der<br />
Zaubererschaft. Was sollte ich mit Pack wie euch anfangen?"<br />
Für einen kurzen Augenblick kam sich <strong>Harry</strong> vor wie am<br />
Grimmauldplatz der Welt der Lebenden <strong>und</strong> wünschte sich, jemand<br />
würde die Vorhänge vor <strong>das</strong> Gemälde ziehen. Doch <strong>das</strong> Original<br />
wetterte weiter.<br />
"In mein nobles Haus", keifte Mrs Black, "hat Ungeziefer wie ihr<br />
keinen Zutritt. Verschwindet!"<br />
Alexander neben <strong>Harry</strong> griff an sein Schwert. Schnell packte er ihn<br />
am Arm, um folgenschwere Konfrontationen zu vermeiden. "Nicht!",<br />
zischte er. Der Makedone sah dafür statt Mrs Black ihn an, als wolle er<br />
ihn töten.<br />
296
McGonagall musste auch erst ein paar Sek<strong>und</strong>en seinen Ärger<br />
herunterschlucken, dann meinte er fest: "Wir suchen Ihren Sohn, Si –"<br />
"Regulus Black", rief <strong>Harry</strong> laut, einer Eingebung folgend.<br />
Hermine <strong>und</strong> Ron hielten ihre Überraschung gut <strong>zur</strong>ück, Alexander<br />
war ohnehin damit beschäftigt, <strong>Harry</strong> böse anzustarren, der immer noch<br />
dessen Schwerthand festhielt, nur McGonagall wirkte höchst verblüfft.<br />
Er sah <strong>Harry</strong> an. "Wer –?"<br />
"Wer sollte nicht ihren Sohn Regulus kennen – er wird in der<br />
<strong>Unterwelt</strong> regelrecht verehrt", beeilte sich <strong>Harry</strong> zu sagen.<br />
McGonagall schwieg verwirrt.<br />
"Wieso sollten Maden wie ihr unseren Regulus verehren?", fragte<br />
Mrs Black argwöhnisch.<br />
"Sähen Sie einen Gr<strong>und</strong>, <strong>das</strong> nicht zu tun?", schmeichelte<br />
Hermine.<br />
"Natürlich nicht!", meinte Mrs Black überzeugt <strong>und</strong> schnell genug,<br />
<strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> klar war, <strong>das</strong>s sie <strong>auf</strong> ihren Trick hereinfallen würde.<br />
"Er ist der perfekte Sohn – interessiert sich für die richtigen<br />
Themen, ist ein wahres Ass in den Dunklen Künsten! Und er umgibt sich<br />
nur mit den besten Leuten. Im Gegensatz zu diesem <strong>und</strong>ankbaren<br />
Wurm, den wir noch in die Welt gesetzt haben, weiß er, was es heißt, ein<br />
Black zu sein!"<br />
"Ja, genau", bestätigte <strong>Harry</strong>. "Wir sind zutiefst beeindruckt von<br />
seinem Wissen über Dunkle Künste <strong>und</strong> Muggelfoltermethoden." Er<br />
hoffte, <strong>das</strong>s es so etwas gab.<br />
"Ja, natürlich!", rief Mrs Black <strong>auf</strong>geregt. "Er hat letztens ein Buch<br />
dazu veröffentlicht" – <strong>Harry</strong> drehte sich der Magen um – "<strong>und</strong> heute eine<br />
Versammlung einberufen. Da wollen Sie sicher hin?", fragte sie, nun<br />
ganz die eifrige Gastgeberin.<br />
"Ja", sagte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> meinte eigentlich nein.<br />
"Dann kommen Sie, ich führe Sie zu ihm!"<br />
Er konnte schlecht zugeben, schon einmal in dem schmalen,<br />
finsteren Gang gewesen zu sein, den sie jetzt betraten, <strong>und</strong> heuchelte<br />
Begeisterung beim Anblick der mit Schlangen verzierten Leuchter <strong>und</strong><br />
der Trollbeine.<br />
"Diese geschmackvolle Einrichtung haben mein Mann <strong>und</strong> ich ganz<br />
allein zusammengetragen", erzählte Mrs Black stolz.<br />
"Ja, außergewöhnlich", bekräftigte Ron <strong>und</strong> tat so, als müsse er<br />
sich übergeben, als die Hausherrin ihnen den Rücken zuwandte.<br />
"Ich muss schon sagen, es ist ungewöhnlich, <strong>das</strong>s sich Muggel <strong>und</strong><br />
Muggelgeborene für Muggelfolter interessieren. Aber letztendlich erging<br />
es unserem heiligen Dunklen Lord auch so, nicht? Als Schlammblüter<br />
geboren, der Arme." Sie seufzte vor Mitleid.<br />
297
"Nun, hierher können Sie Ihre Jacken <strong>und</strong> Mäntel hängen", meinte<br />
sie galant <strong>und</strong> ging in Richtung der Küche. "Danach bitte ich Sie, mir <strong>auf</strong><br />
einen Begrüßungsdrink in die Küche zu folgen."<br />
"Danke für <strong>das</strong> Angebot", meinte McGonagall schnell <strong>und</strong><br />
entledigte sich seines Umhangs. "Aber wir möchten nur zu Si – äh,<br />
Regulus."<br />
"Keine Manieren mehr, diese Jugend", schüttelte sie den Kopf.<br />
"Aber gut, wenn Sie es so eilig haben ..." Im Licht der nun geöffneten<br />
Küche fiel ihr Blick genauer <strong>auf</strong> ihre Gäste. Erschrockenes Kreischen<br />
folgte.<br />
"So können Sie unmöglich vor meinen Sohn treten. Er legte Wert<br />
<strong>auf</strong> untadeliges Äußeres, so wie der Rest der Familie auch", meinte sie<br />
Nase rümpfend mit Blick <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s zerrissenen Umhang, McGonagalls<br />
Hose, die an einem Bein völlig zerfetzt war, <strong>und</strong> Hermines Rucksack, der<br />
auch schon bessere Tage gesehen hatte.<br />
"Benutzen Sie erst einmal <strong>das</strong> Gästebadezimmer, bevor Sie zu<br />
der Versammlung gehen", meinte sie hochmütig. Es war eher eine Art<br />
Befehl.<br />
Automatisch wollte sich <strong>Harry</strong> in Richtung der Treppen wenden, wo<br />
sich <strong>das</strong> Bad befand, <strong>das</strong> er bei seinen Besuchen im Black-Haus stets<br />
<strong>auf</strong>suchte, Hermine trat ihm je<strong>doc</strong>h <strong>auf</strong> den Fuß.<br />
"Hier entlang", schnarrte Mrs Black, <strong>und</strong> sie folgten ihr durch eine<br />
Tür in der Eingangshalle, die <strong>Harry</strong> bisher noch nicht <strong>auf</strong>gefallen war.<br />
Dahinter kamen sie in einen langen Gang, von dem mehrere Türen<br />
abzweigten. Das magisch vergrößerte Haus versetzte ihn wieder einmal<br />
in Staunen.<br />
Vor zwei Türen blieb die alte Frau stehen. "Drinnen finden Sie auch<br />
neue Kleidung – Sie können Sie behalten, für die Anhänger unseren<br />
Dunklen Lords haben wir immer gut gesorgt." Sie deutete eine kurze,<br />
lächerliche Verbeugung an <strong>und</strong> verschwand hinter einem Vorhang, von<br />
dem <strong>Harry</strong> beim besten Willen nicht hätte sagen könne, wo er hinführte.<br />
Hermine ging nun durch die linke Tür, <strong>Harry</strong>, Ron, McGonagall <strong>und</strong><br />
Alexander nahmen die rechte <strong>und</strong> traten in einen Raum ein, der <strong>Harry</strong><br />
wenigstens halb so groß wie die große Halle vorkam. Ein gigantisches<br />
Becken mit dunkelblau gekachelten Fließen hob sich sichtbar gemacht<br />
durch einige Kerzenleuchter an den Wänden <strong>und</strong> an der Decke von den<br />
pechschwarzen Fließen ab, die den übrigen Teil des Raumes bedeckten.<br />
Dicke weiße Handtücher hingen an Stangen neben dem Becken, <strong>und</strong> am<br />
anderen Ende des Bads waren ordentlich Umhänge in allen Größen in<br />
einen offenen Schrank gehängt worden.<br />
Das Bad hätte <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> seines Luxus gemütlich <strong>und</strong> einladend<br />
wirken können, aber die schwarzen Fließen, <strong>das</strong> wenige Licht <strong>und</strong> vor<br />
allem die grausigen Bilder an den Wänden ließen es für <strong>Harry</strong> eher wie<br />
eine Folterhölle aussehen: Überall waren Gemälde von Todessern in<br />
298
schwarzen Kutten <strong>und</strong> Masken angebracht, <strong>auf</strong> zweien wurden Muggel<br />
bis <strong>auf</strong>s Blut gefoltert, <strong>und</strong> <strong>auf</strong> einer riesigen Fotografie direkt ihnen<br />
gegenüber war der Angebetete selbst verewigt: Voldemort. Er sah noch<br />
nicht so schlangenartig <strong>und</strong> unmenschlich aus, wie <strong>Harry</strong> ihn kennen<br />
gelernt hatte, sondern ähnelte vielmehr dem Tom Riddle aus der<br />
Kammer des Schreckens. Dennoch durchdrang seine sehr lebensecht<br />
gemalte Bösartigkeit den gesamten Raum <strong>und</strong> ließ sie frösteln.<br />
"Gr<strong>und</strong>gütiger, was für ein Gruselkabinett!", keuchte McGonagall<br />
<strong>und</strong> sah sich unbehaglich um, als könnten sich Todesser in den Ecken<br />
verstecken.<br />
"Irgendwie habt ihr Zauberer einen seltsamen Geschmack, was<br />
Inneneinrichtungen angeht", klagte Alexander, der sich ebenfalls unwohl<br />
fühlte.<br />
"Was sollte <strong>das</strong> denn da draußen?", fragte Ron, der sich nicht<br />
weiter mit dem Raum beschäftigte, <strong>Harry</strong>.<br />
"Wegen dir müssen wir zu einer Versammlung über Muggelfolter,<br />
<strong>und</strong> wenn dieser Regulus uns sieht, wird er seine neuesten<br />
Forschungsergebnisse gleich an uns ausprobieren!"<br />
"Du hast die Black <strong>doc</strong>h gehört", verteidigte sich <strong>Harry</strong>. "Hätten wir<br />
nach Sirius gefragt, hätte sie uns die Tür vor der Nase zugeschlagen.<br />
Wer weiß, wann wir ihn dann zu Gesicht bekommen hätten."<br />
"Ach, <strong>und</strong> du denkst, an Muggelfoltersitzungen nimmt er teil?" Ron<br />
war entgeistert.<br />
"Natürlich nicht!", schnappte <strong>Harry</strong>.<br />
"<strong>Harry</strong> hat <strong>das</strong> clever gemacht", half ihm McGonagall. "Nur so<br />
konnten wir überhaupt in <strong>das</strong> Haus hineinkommen. Wir müssen Regulus<br />
nach seinem Bruder fragen – angeblich kommen sie ja derzeit gut<br />
miteinander <strong>zur</strong>echt. Vielleicht hilft er uns."<br />
"Und vielleicht übt er an uns den Eingeweide-Ausweidefluch",<br />
brummte Ron.<br />
Die nächsten Minuten sprach keiner von ihnen, vielmehr sahen sie<br />
zu, <strong>das</strong>s sie sauber wurden <strong>und</strong> die neuen Umhänge anprobierten – was<br />
sich als leicht schwierig erwies, da es kaum passende Größen für <strong>Harry</strong>,<br />
Ron <strong>und</strong> Alexander gab. Der Makedone schien zudem wenig zufrieden<br />
zu sein mit den schwarzen, langen Umhängen, die für Zauberer völlig<br />
normal waren.<br />
"Das ziehe ich nicht an", erklärte er angewidert.<br />
Ron schüttelte sich vor Lachen. "Das habe ich auch gesagt, als ich<br />
eure Toga vorgesetzt bekommen habe!", grinste er schadenfroh.<br />
Alexander schien für ein paar Sek<strong>und</strong>en zu überlegen, ob er sein<br />
Schwert gegen Ron erheben sollte, besann sich dann aber <strong>und</strong> zog mit<br />
saurer Miene den Umhang über <strong>Harry</strong>s Hose <strong>und</strong> Pullover.<br />
299
Wieder <strong>auf</strong> dem Gang angekommen trafen sie Hermine, die genau<br />
wie sie zwar sehr erschöpft war, dafür aber wieder sauber <strong>und</strong> schon<br />
etwas optimistischer als vorhin.<br />
"Wir suchen schnell diesen Regulus, fragen ihn, wo Sirius ist, <strong>und</strong><br />
verschwinden", flüsterte sie, anscheinend aus Angst, <strong>das</strong>s sie abgehört<br />
wurden.<br />
"Klar, oder dachtest du, wir führen danach noch eine<br />
Hausdurchsuchung durch?", wisperte Ron <strong>zur</strong>ück. "Ich habe bereits im<br />
Leben genug von diesem Gruselschuppen gehabt!"<br />
Langsam gingen sie in die Eingangshalle <strong>zur</strong>ück, wo Mrs Black sie<br />
schon erwartete. "Haben Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorgef<strong>und</strong>en?",<br />
fragte sie süßlich.<br />
McGonagall nickte, angestrengt seine Abscheu verbergend.<br />
"Dann bitte ich Sie, in den dritten Stock zu gehen – <strong>auf</strong> der linken<br />
Seite ist ein großes Versammlungszimmer, wo Sie unseren Regulus<br />
finden. Er hält sich strikt an Geheimhaltung, was angesichts der<br />
unvernünftigen Einstellung, die einige so genannte Zauberer gegenüber<br />
den Ideen des Dunklen Lords haben, leider auch nötig ist. Sie werden<br />
<strong>das</strong> Passwort ja kennen, mit dem sie in <strong>das</strong> Zimmer kommen."<br />
"Äh, ja, sicher", stotterte McGonagall <strong>und</strong> schaute <strong>Harry</strong> verzweifelt<br />
an.<br />
Mrs Black nickte ihnen noch einmal zu <strong>und</strong> watschelte dann <strong>zur</strong><br />
Küche.<br />
"Oh Gott, ein Passwort!", stöhnte Ron.<br />
"Lasst uns erst mal hochgehen", schlug Hermine vor. Im dritten<br />
Stock angekommen blieben sie vor einer großen, mit schwarzem Holz<br />
verkleideten Tür stehen, in die eine sich windende silberne Schlange<br />
eingraviert war. <strong>Harry</strong> wusste, <strong>das</strong>s sich dahinter ein langer, mit einem<br />
großen Tisch ausgestatteter Raum befand, war aber noch nie dort<br />
gewesen.<br />
"Und?", zischte McGonagall. "Sagt ihr jetzt <strong>das</strong> Passwort oder<br />
ich?"<br />
Unschlüssig standen sie davor.<br />
"Vielleicht ist es „Voldemort“", überlegte <strong>Harry</strong>, aber nichts<br />
geschah, als er den Namen des Dunklen Lords laut sprach.<br />
"Quatsch, die Todesser haben zu viel Angst, <strong>das</strong> auszusprechen",<br />
winkte Ron ab. "Wie wäre es mit "Dunkles Mal"?“<br />
Wieder tat sich nichts, die Tür blieb stumm.<br />
"Todesser", versuchte es Hermine.<br />
"Avada Kedavra", meinte McGonagall, peinlich dar<strong>auf</strong> bedacht,<br />
dabei seinen Zauberstab nicht zu berühren.<br />
"Slytherin."<br />
"Muggelfolter."<br />
"Dunkle Künste!"<br />
300
"Eingeweide-Ausweidefluch!"<br />
"Black", sprach Alexander <strong>das</strong> erste Mal. Alle sahen ihn an. Er<br />
zuckte mit den Schultern. "Meistens nehme ich den Namen einer<br />
beteiligten Person als Losungswort, wenn ich geheime Nachrichten<br />
verschicke."<br />
Nach einigen Variationen des Familiennamens ("Haus der Blacks!"<br />
"Regulus Black!") sanken sie erschöpft gegen die Wand.<br />
"Wie wäre es mit <strong>Potter</strong>?", schlug Alexander vor, der als einziger<br />
Spaß an dem Rätselraten zu haben schien.<br />
"<strong>Harry</strong>", meinte Ron lahm.<br />
"Hogwarts", gähnte Hermine.<br />
"Patronus", warf McGonagall ein, während er an seinem<br />
Zauberstab herumfingerte.<br />
"Phönixorden", nuschelte <strong>Harry</strong>, dem die ganze Sache langsam<br />
dämlich vorkam.<br />
Die Tür schwang <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schlug Ron ins Kreuz.<br />
"Phönixorden?", keuchte Hermine. "Aber wie –"<br />
Sie verstummte angesichts der vielen Augenpaare, die nun <strong>auf</strong> sie<br />
gerichtet waren. Der gesamte Versammlungsraum war voller Menschen;<br />
<strong>Harry</strong> überschlug vielleicht zwei Dutzend Todesser, die teils von ihren<br />
Stühlen <strong>auf</strong>gesprungen waren, welche einen alten, eleganten Holztisch<br />
umgaben, <strong>und</strong> sie sprachlos anstarrten. Alexander stürmte mit<br />
gezogenem Schwert in den Raum. <strong>Harry</strong> brachte es nicht übers Herz,<br />
um mitzuteilen, <strong>das</strong>s eine einfache Körperklammer ihn auch aus h<strong>und</strong>ert<br />
Metern Entfernung bewegungsunfähig machen konnte.<br />
"Wer seid ihr?", schallte eine laute, hart klingende Stimme durch<br />
den Raum. "Woher kennt ihr <strong>das</strong> Passwort?"<br />
<strong>Harry</strong> zwang sich, unverwandt in <strong>das</strong> Gesicht des Mannes zu<br />
sehen. Es gehörte einem noch recht jungen Zauberer in einem weinroten<br />
Umhang <strong>und</strong> mit kurzem, blondem Haar. <strong>Harry</strong> glaubte, ihn irgendwoher<br />
zu kennen, aber warum auch nicht, schließlich war er schon etlichen<br />
Todessern begegnet, von denen sich die meisten hinter Masken<br />
versteckt hatten.<br />
"Wir wollen Regulus Black sprechen", sagte er mit leicht zitternder<br />
Stimme. Flüchtig fiel ihm ein Banner mit einem rot-goldenen Phönix an<br />
der gegenüberliegenden Wand <strong>auf</strong>, welches er aber schnell überging.<br />
Was sollte ein Phönixbild im Haus der Blacks machen?<br />
"<strong>Harry</strong>?"<br />
Ihm stockte <strong>das</strong> Herz. Hier, bei einer Versammlung über<br />
Muggelfoltermethoden? Das konnte nicht sein. Was machte Sirius –<br />
"Wag es nicht, ihm zu nahe zu kommen!", schrie Alexander, der<br />
immer noch vor <strong>Harry</strong> stand, <strong>und</strong>, so klein er auch war, ihm die meiste<br />
Sicht <strong>auf</strong> den Raum nahm.<br />
301
"Nein, Alexander, es ist in Ordnung", wollte <strong>Harry</strong> noch schnell<br />
rufen, als ein roter Blitz <strong>auf</strong>leuchtete <strong>und</strong> den Makedonen ein paar Meter<br />
durch die Luft schleuderte.<br />
"Nein –!"<br />
Hermine beugte sich über seine bewusstlose Gestalt, als sich ein<br />
Zauberer aus der Versammlungsgruppe löste <strong>und</strong> langsam, beinahe<br />
zögerlich <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> zukam.<br />
Der grausame Hintergr<strong>und</strong> dieser Versammlung entschwand<br />
<strong>Harry</strong>s Gedanken, als er <strong>auf</strong> seinen Paten zulief, den er im Leben nicht<br />
geglaubt hatte, wieder sehen zu können.<br />
Was ja auch so gewesen war.<br />
"Sirius!" Ehe er es sich versah, lag er ihm in den Armen.<br />
Für ein paar Sek<strong>und</strong>en vergaß <strong>Harry</strong> alles, die Todesser um sich,<br />
die Tatsache, <strong>das</strong>s er sich in einem zutiefst schwarzmagischen Haus<br />
<strong>auf</strong>hielt <strong>und</strong> auch, <strong>das</strong>s er eigentlich in der Hölle war <strong>und</strong> keine Ahnung<br />
hatte, wie er wieder herauskommen konnte.<br />
"Ich hätte nie gedacht", murmelte er <strong>und</strong> merkte zu seiner<br />
Beschämung, <strong>das</strong>s seine Augen feucht waren, „<strong>das</strong>s wir uns so bald<br />
wieder treffen.“<br />
Aber auch Sirius schien sich nur schwer unter Kontrolle zu haben,<br />
denn er ließ <strong>Harry</strong> eine Ewigkeit nicht mehr los, <strong>und</strong> als er sprach, war<br />
seine Stimme belegt.<br />
"Dass du auch hier bist!" Er drehte sich mit einem Ausdruck von<br />
Verzweiflung zu den Todessern um, der <strong>Harry</strong> komisch vorkam,<br />
schließlich mussten die Schergen Voldemorts <strong>doc</strong>h froh sein, ihn hier zu<br />
sehen.<br />
"Ist <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>?", fragte eine große, ältere Frau. Der ganze<br />
Raum stöhnte <strong>auf</strong>.<br />
"Ich freue mich so, dich zu sehen, <strong>Harry</strong>", flüsterte Sirius bedrückt.<br />
"Aber unter diesen Umständen ... Musste es soweit kommen? Jetzt<br />
schon? Hat Voldemort endgültig gesiegt?"<br />
<strong>Harry</strong> konnte ihm nicht ganz folgen, zumindest aber den Gr<strong>und</strong> für<br />
seine Trauer beseitigen.<br />
"Ich bin nicht tot!", meinte er. "Ich bin nur durch den Bogen<br />
gegangen, so wie du. Wir kehren wieder <strong>zur</strong>ück. Zusammen."<br />
"Du bist nicht tot?", fragte Sirius entgeistert. "Was denkst du denn, was<br />
ich bin? Gefangen in der Welt der Toten. Es gibt keinen Weg <strong>zur</strong>ück."<br />
"Soll <strong>das</strong> heißen, <strong>das</strong>s du freiwillig in den Tod gegangen bist?",<br />
hörte er jemanden sagen. Sein Magen drehte sich um.<br />
"Cedric?", keuchte er, unfähig, noch mehr Überraschungen<br />
verkraften zu können. Er sah Hermine neben sich die Hände vor den<br />
M<strong>und</strong> schlagen <strong>und</strong> Ron, wie er einen Schritt <strong>zur</strong>ücktaumelte.<br />
"Erst Sirius <strong>und</strong> dann du!" Er konnte es nicht glauben. Waren die<br />
beiden Todesser geworden?<br />
302
"Was hast du?", fragte ihn sein Pate verwirrt.<br />
"Wieso nimmst du an schwarzmagischen Versammlungen teil, du<br />
widerwärtiger Kerl!", schrie <strong>Harry</strong>, der sich nicht mehr halten konnte. Alle<br />
schwiegen.<br />
Dann lachte Sirius laut <strong>auf</strong>. "Schwarzmagisch? Wer hat dir <strong>das</strong><br />
erzählt? Oh, sicher meine liebe Mum, aber ich kann dir schwören, sie hat<br />
keine Ahnung, was in ihrem Haus passiert."<br />
"Wieso, was –"<br />
"<strong>Harry</strong>." Sirius trat galant einen Schritt <strong>zur</strong>ück. "Darf ich dir den<br />
Phönixorden der <strong>Unterwelt</strong> vorstellen?"<br />
Verdutzt schaute sich <strong>Harry</strong> um. Plötzlich fiel ihm ein, woher er den<br />
Zauberer um weinroten Umhang kannte, Moody hatte ihm ihn einmal als<br />
Benjy Fenwick <strong>auf</strong> einem alten Photo des Ordens gezeigt. Und beim<br />
näheren Hinsehen erkannte er noch andere Gesichter des früheren<br />
Ordens wieder.<br />
"Dann seid ihr nichts weiter als eine Widerstandsgruppe gegen<br />
Voldemort?", hakte Ron nach.<br />
"Selbstverständlich, was glaubst du denn? Dass wir Muggel<br />
foltern?", lachte Sirius mit dem für ihn typischen lässigen, belustigten<br />
Grinsen <strong>und</strong> einem amüsierten, leicht hochmütigen Blick.<br />
"Aber dein Bruder war Todesser, deswegen dachten wir, er führt<br />
seine Hobbys auch in der <strong>Unterwelt</strong> fort", verteidigte sich <strong>Harry</strong>, der sich<br />
langsam blöd vorkam: Es war offensichtlich, <strong>das</strong>s sich kein Todesser im<br />
Raum <strong>auf</strong>hielt, alle anwesenden Hexen <strong>und</strong> Zauberer trugen Umhänge<br />
in verschiedenen Farben <strong>und</strong> nicht die schwarzen Kutten von<br />
Voldemorts Anhängern, er erkannte Edgar Bones, der mitsamt seiner<br />
ganzen Familie von Todessern ausgelöscht worden war, <strong>und</strong> Cara<strong>doc</strong><br />
Dearborn, dessen Leiche spurlos verschw<strong>und</strong>en gewesen war. Die<br />
Wände säumten Bilder von Phönixen, den Ordensmitgliedern,<br />
Dumbledore <strong>und</strong> – <strong>Harry</strong> wurde leicht rot – ihm selbst, wie er <strong>auf</strong> einem<br />
Besen flog.<br />
"Ja, ich dachte auch, er wäre ein Idiot", gab Sirius freimütig zu.<br />
"Aber es hat sich herausgestellt, <strong>das</strong>s er sich am Ende gegen Voldemort<br />
gestellt hat <strong>und</strong> aus seiner Gefolgschaft austreten wollte."<br />
"Und wenn es eines gibt, <strong>das</strong> man nicht tun darf, dann, den<br />
Dunklen Lord zu verraten", hörten sie eine dunkle Stimme, <strong>und</strong> ein sehr<br />
junger Zauberer bahnte sich seinen Weg durch die Ordensmitglieder. Er<br />
hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Sirius, auch wenn er kleiner <strong>und</strong><br />
dünner war <strong>und</strong> sein dunkles Haar kürzer trug. Allerdings war der etwas<br />
arrogante Ausdruck in seinem Gesicht unfehlbar dem Black'schen<br />
Geblüt zuzuordnen. Um den Hals hatte er einen grün-weißen Schal der<br />
Slytherins geschlungen.<br />
"Das ist mein Bruder Rex", sagte Sirius mit etwas in der Stimme,<br />
<strong>das</strong> für <strong>Harry</strong> seltsamerweise wie Stolz klang.<br />
303
"Hallo", gab <strong>Harry</strong> ihm die Hand <strong>und</strong> stellte fest, <strong>das</strong>s er den<br />
Jungen entgegen seiner Erwartung nicht unsympathisch fand – noch vor<br />
zwei Minuten hatte er ihn für einen fanatischen, grausamen Todesser<br />
vom Schlage seiner Mutter gehalten.<br />
"Willkommen im Haus meiner Familie", sagte Regulus etwas<br />
hochtrabend. "Ihr könnt unsere Gäste sein, so lange ihr wollt – wenn ihr<br />
es fertig bringt, vor meiner Mutter die perfekten Todesser zu spielen."<br />
"Kein Problem", erklärte Ron. "Sie ist ganz begeistert von uns."<br />
"Wir brauchten ein großes Versammlungszimmer für den Orden,<br />
<strong>und</strong> dieses ist nun einmal perfekt. Aber meine Mutter würde mit an die<br />
Gurgel springen, wenn sie wüsste, <strong>das</strong>s wir statt Muggelfolter den<br />
Widerstand gegen Voldemort diskutieren."<br />
<strong>Harry</strong> wollte etwas erwidern, wurde aber von Regulus Black an den<br />
Tisch geschoben. "Ihr seid natürlich Ehrenmitglieder", sagte er eindeutig<br />
traurig. "Auch wenn der Anlass furchtbar ist."<br />
Plötzlich stand Cedric neben ihnen.<br />
„Hi“, sagte er unsicher.<br />
„Hallo“, erwiderte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> wusste nicht ganz, wie er sich<br />
verhalten sollte. Er fühlte sich immer noch schuldig an Cedrics Tod.<br />
„Es tut mit Leid, was damals passiert ist!“, sprudelte es aus ihm<br />
heraus. „Du hättest den Pokal nicht berühren dürfen, ich …“<br />
„Beruhige dich“, grinste Cedric. „Du hast alles richtig gemacht. Du-<br />
Weißt-Schon-Wer hat mich eigentlich umgebracht.“<br />
„Schon, aber …“<br />
„Kein Aber!“, unterbrach ihn Cedric. „Der Tod ist nicht schlecht, im<br />
Gr<strong>und</strong>e sogar besser als <strong>das</strong> Leben, zumindest manchmal.“<br />
<strong>Harry</strong> nickte ihm dankbar zu <strong>und</strong> ließ sich <strong>auf</strong> einen Stuhl fallen.<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine, die alle bereits zu kennen schienen (<strong>Harry</strong> nahm<br />
an, <strong>das</strong>s Sirius von ihnen erzählt hatte), setzten sich unschlüssig, <strong>und</strong><br />
nun stand McGonagall, der Alexander vom Boden <strong>auf</strong>gehoben hatte, vor<br />
Sirius. Der starrte ihn für einige Sek<strong>und</strong>en perplex an, dann wieder<br />
<strong>Harry</strong>, dann wieder McGonagall.<br />
"Das gibt es <strong>doc</strong>h nicht", murmelte er. "Wer zum Teufel –"<br />
"Eigentlich sollte man meinen, <strong>das</strong>s du diejenigen erkennst, mit<br />
denen du einst einen Irrwicht unter Snapes Bett versteckt hast", grinste<br />
er.<br />
"Jamie?" Sirius trat einen Schritt <strong>zur</strong>ück, völlig überrumpelt wusste<br />
er anscheinend nicht, was er sagen sollte.<br />
"Kein anderer", feixte McGonagall.<br />
"Jamie Brown!"<br />
"Äh, eigentlich heiße ich McGonagall", erklärte dieser verlegen.<br />
"McGonagall?" Sirius schnaubte vor Lachen. "Du willst <strong>doc</strong>h nicht<br />
sagen, <strong>das</strong>s du mit unserer lieben Verwandlungslehrerin verwandt bist?"<br />
304
"Doch", nuschelte McGonagall. Sirius ging vor Lachen fast in die<br />
Knie.<br />
"So eine Schande, hätten wir <strong>das</strong> gewusst, dann wäre die<br />
Schulzeit noch lustiger gewesen – bei Merlin, da fallen mir eine<br />
Unmenge Streiche ein! Gleich erzählst du mir noch, <strong>das</strong>s du mit James<br />
<strong>Potter</strong> verwandt bist, es mag dir nicht <strong>auf</strong>gefallen sein, aber ihr seid euch<br />
zum Verwechseln ähnlich."<br />
"Na ja, ich bin sein Cousin."<br />
Sirius wusste sich kaum mehr zu bändigen. "Sein Cousin?", schrie<br />
er fast. "Du bist mit uns zwei Jahre durch die Schule gegangen <strong>und</strong><br />
warst die ganze Zeit über sein Cousin? Wusste er <strong>das</strong>?"<br />
"Nein, niemand wusste davon", erklärte McGonagall. "Ich sage dir<br />
später, warum."<br />
"Gut." Sirius nickte, immer noch ganz aus dem Häuschen. Dann<br />
fiel sein Blick <strong>auf</strong> Alexander.<br />
"Wer ist <strong>das</strong> denn?", fragte er. "Dein Sohn?"<br />
McGonagall lachte. "Nein, bei Merlin, er ist höchstens sieben oder<br />
acht Jahre jünger als ich. Ich habe ihn bei <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
getroffen, sie behaupten, er habe ihnen <strong>das</strong> Leben gerettet."<br />
"Tut mir Leid wegen des Stupor ... aber ich dachte, er wolle mich<br />
angreifen." Sirius warf einen argwöhnischen Blick <strong>auf</strong> <strong>das</strong> metallisch<br />
funkelnde Schwert, <strong>das</strong> <strong>auf</strong> dem Boden lag.<br />
"Er wird bald <strong>auf</strong>wachen", meinte McGonagall mit leichter Sorge in<br />
der Stimme. "Sein Schwert sollte dann in sicherer Entfernung sein." Er<br />
trug Alexander zu einer Couch, die in einer Ecke des Raums stand, <strong>und</strong><br />
legte ihn vorsichtig dar<strong>auf</strong>.<br />
"Wieso?", meinte Sirius unbeschwert, "ich glaube nicht, <strong>das</strong>s<br />
dieses Kind uns gefährlich werden kann."<br />
"Unterschätz ihn nicht", warnte McGonagall. "Er hat einen Riesen<br />
geschlagen sowie eine Polizeibehörde der Muggel ausgetrickst, <strong>und</strong><br />
besondern beherrscht würde ich ihn auch nicht nennen."<br />
Sirius warf Alexander einen unangenehm berührten Blick zu <strong>und</strong><br />
wandte sich dar<strong>auf</strong>hin lieber an <strong>Harry</strong>.<br />
"<strong>Harry</strong>, sag uns, was du Neues über Voldemort weißt", forderte er.<br />
"Die Haupt<strong>auf</strong>gabe dieses Phönixordens besteht darin, möglichst<br />
aktuelle Informationen über ihn zu beschaffen <strong>und</strong> über Wege zu<br />
beratschlagen, ihn zu stoppen."<br />
"Ich weiß nichts", meinte <strong>Harry</strong> hastig. "Aber wie wollt ihr etwas<br />
gegen Voldemort unternehmen? Ihr seid tot – oder gefangen in der Welt<br />
der Toten", verbesserte er sich schnell, als er Sirius ansah.<br />
"Wie ich schon sagte, versuchen wir, Neuigkeiten über Voldemort<br />
zu erfahren. Dazu stöbern wir jeden Tag nach neuen Toten, die vielleicht<br />
etwas über den Kampf gegen die Todesser wissen, was erst in den<br />
letzten Tagen geschehen ist. Das ist eine recht langwierige <strong>und</strong> gar nicht<br />
305
so einfache Aufgabe, denn die Toten erscheinen im Land, wo <strong>und</strong> wie es<br />
ihnen passt, wenn sie erst einmal den Fluss überquert haben.<br />
Außerdem beratschlagen wir noch Mittel, um gegen Voldemort<br />
vorzugehen – einige von uns, wie zum Beispiel Rex, wissen von Dingen,<br />
die noch kein Lebender erfahren hat <strong>und</strong> die dem lebenden Phönixorden<br />
wirklich weiterbringen können. Oder wir suchen verstorbene Todesser<br />
<strong>und</strong> bringen sie dazu, interne Informationen preiszugeben. Ohne ihren<br />
Anführer sind die meisten leicht einzuschüchtern."<br />
"Das ist völlig unsinnig", widersprach <strong>Harry</strong>. "Was bringt es, wenn<br />
ihr Pläne <strong>zur</strong> Vernichtung Voldemorts <strong>auf</strong>stellt – die Lebenden können<br />
<strong>doc</strong>h davon nichts erfahren."<br />
"Falsch", lächelte Regulus Black. "Am Tag der Toten werden wir<br />
einen von uns durch den Bogen schicken, um unsere Ergebnisse zu<br />
überbringen."<br />
"Am Tag der was?", platzte Ron heraus.<br />
"Davon habe ich schon in den Mysterien gelesen", fiel es <strong>Harry</strong><br />
plötzlich wieder ein. "Was ist <strong>das</strong> für ein Tag?"<br />
"Einmal im Jahr entsteht für einen Tag eine beidseitige Verbindung<br />
zwischen den Welten. Tote können dann durch den schwarzen Bogen<br />
<strong>zur</strong>ück in die Welt der Lebenden – was eine eklatante Ausnahme ist, da<br />
der Bogen an allen anderen Tagen des Jahres nur in die <strong>Unterwelt</strong> führt.<br />
Allerdings können sie nur in den Raum, in dem der schwarze Bogen<br />
steht."<br />
"Daher die vielen Sitzreihen!", hauchte Hermine. "Die Unsäglichen<br />
reden mit den Gestorbenen, um den Tod zu erforschen!"<br />
"Aber – aber <strong>das</strong> wäre <strong>doc</strong>h die Chance für jeden, der jemanden<br />
verloren hat, regelmäßig mit ihm zu sprechen!", meinte <strong>Harry</strong> hektisch.<br />
Er musste an seine Eltern denken. Waren sie jedes Jahr für einen Tag<br />
durch den Bogen <strong>zur</strong>ückgekehrt, um ihn zu sehen? Und er war nie dort<br />
gewesen!<br />
"Nein, der Zugang zum Todesraum ist nur den Unsäglichen<br />
gestattet. Es kann natürlich auch nicht die gesamte <strong>Unterwelt</strong><br />
<strong>zur</strong>ückkehren. Das Zaubereiministerium der <strong>Unterwelt</strong> entscheidet<br />
jährlich über die Personen, die gehen dürfen. Einen Verwandten oder<br />
Fre<strong>und</strong> zu sehen ist kein sachgemäßer Gr<strong>und</strong>, die <strong>Unterwelt</strong> verlassen<br />
zu dürfen", erklärte ein kleiner Zauberer im hinteren Teil des Raumes.<br />
"Das ist Alan Jones, er hat vor ein paar Jahrzehnten als<br />
Unsäglicher gearbeitet. Um ehrlich zu sein, tut er es immer noch."<br />
"Sachgemäßer Gr<strong>und</strong>!", rief <strong>Harry</strong> erbost. "Was ist mit den<br />
Menschen, die um jemanden trauern? Es würde ihnen enorm viel helfen,<br />
zu wissen, <strong>das</strong>s es den Toten gut geht, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s sie – <strong>das</strong>s sie sie eines<br />
Tages wieder sehen werden!"<br />
"<strong>Harry</strong>, jetzt fang nicht schon wieder damit an", tadelte Hermine<br />
<strong>und</strong> packte ihn bei der Schulter.<br />
306
"Das werden sie früh genug", erwiderte Jones. "Die Verbindung <strong>zur</strong><br />
<strong>Unterwelt</strong> wird daher genutzt, um Wissen auszutauschen, nicht nur <strong>auf</strong><br />
dem Gebiet des Todes. Auch die Zauberer in dieser Welt forschen <strong>und</strong><br />
möchten ihr Wissen mit der Oberwelt teilen. Man könnte den Bogen ein<br />
Forschungs-Joint-Venture nennen, wenn dir der Begriff etwas sagt."<br />
Das tat er durchaus, da <strong>Harry</strong> im Sommer mit den<br />
Expansionsplänen von Onkel Vernons Firma traktiert worden war, aber<br />
<strong>das</strong> war ihm jetzt egal.<br />
"Forschungs-Joint-Venture?", schrie er außer sich vor Wut. "Sie<br />
könnten die Trauer von so vielen Menschen lindern, <strong>und</strong> errichten ein<br />
Joint-Venture?" Verzweifelt versuchte er, sich Hermines <strong>und</strong> nun auch<br />
McGonagalls Griff zu entwinden, vermutlich, um Jones anzuspringen.<br />
"Werde mal nicht unsachlich, <strong>Harry</strong>", bat ihn sein Lehrer. "Die<br />
Mysteriumsabteilung ist streng abgesichert, dort darf keine Zivilperson<br />
hinein."<br />
"Dann stellt diesen blöden Bogen <strong>doc</strong>h woanders hin!"<br />
"Damit alle Zauberer <strong>und</strong> Hexen durch ihn hindurchgelockt<br />
werden? Das ist ein sehr gefährlicher Gegenstand, soweit ich Snapes<br />
Erzählung entnehmen konnte, wolltest du selbst fast hindurchgehen."<br />
<strong>Harry</strong> erinnerte sich an die seltsamen Stimmen, denen er im Juni<br />
beinahe gefolgt wäre.<br />
"Und wenn ich noch genauer überlege, bist du tatsächlich<br />
hindurchgegangen! Der Bogen gehört weggesperrt", beharrte<br />
McGonagall.<br />
"Aber wäre es nicht möglich, den Zauberern <strong>und</strong> Hexen<br />
mitzuteilen, <strong>das</strong>s es eine <strong>Unterwelt</strong> gibt?", fragte Ron. <strong>Harry</strong> hätte ihn<br />
umarmen können, Hermine je<strong>doc</strong>h schien ihn lieber mit einem<br />
Schweigezauber belegen zu wollen.<br />
"Nein, dann würde ja jeder an Halloween ins Ministerium wollen.<br />
Das ergäbe ein unsägliches Chaos", meinte Jones. "Außerdem, was<br />
denkst du, würde passieren, wenn jeder wüsste, <strong>das</strong>s er nach dem Tod<br />
weiterlebt ... niemand würde <strong>das</strong> Leben mehr ernst nehmen, keiner<br />
würde es mehr als einmalige Chance betrachten, die uns gegeben ist.<br />
Das wäre fatal. Denn die <strong>Unterwelt</strong> ist nur eine Erinnerung, ein Abbild<br />
der oberen Welt! Und wenn keiner mehr seine Lebenszeit nutzen würde,<br />
um seine Bestimmung zu finden, würde sich die <strong>Unterwelt</strong> in einen Ort<br />
für jammernde, leere, dumme, phantasielose <strong>und</strong> unzufriedene Muggel,<br />
Zauberer <strong>und</strong> Hexen entwickeln. Dann wären beide Welten verloren."<br />
"Sie reden schon wie Alexander", meinte <strong>Harry</strong> erbost. "Diese<br />
dämliche "Bestimmung" ..."<br />
"Ist der gr<strong>und</strong>legende Sinn des Lebens von jedem Einzelnen",<br />
vollendete Jones <strong>und</strong> schaute nickend zu dem immer noch bewusstlosen<br />
Makedonen. "Er ist weiser als du."<br />
307
"Na toll, jetzt sollen wir uns irgendwelchen schon ewig toten<br />
Monarchen beugen", nölte Ron.<br />
"Ach, halt die Klappe, Ron", seufzte Hermine.<br />
"Also", sprach <strong>Harry</strong> mit zusammengepressten Zähnen, nachdem<br />
er beschlossen hatte, <strong>das</strong>s dieser Streit zu nichts führen würde, "wollt ihr<br />
an Halloween einen Boten in die Oberwelt schicken, um ihm mitzuteilen,<br />
was der <strong>Unterwelt</strong>s-Phönixorden erarbeitet hat."<br />
"Ja. Es ist <strong>das</strong> erste Mal, <strong>das</strong>s wir so etwas tun. Erst Sirius hat<br />
nach seinem Tod den neuen Orden gegründet. Bei den Informationen<br />
geht es hauptsächlich darum, welche Ministeriumsmitarbeiter Voldemort<br />
eingeschleust hat, wie er mit seinen Todessern umgeht <strong>und</strong> seine Arbeit<br />
plant – <strong>und</strong> was wir von seinen kleinen Spielzeugen wissen, die ihn<br />
unsterblich machen sollen.“<br />
"Hä?", machte <strong>Harry</strong> unwillkürlich, musste aber im nächsten<br />
Augenblick gähnen. Er war h<strong>und</strong>emüde.<br />
"Das Beste wäre, ihr geht erst einmal schlafen", schlug Sirius vor.<br />
"Wir setzen die Sitzung morgen fort. Wir haben ja ewig Zeit", grinste er.<br />
"Du kapierst es nicht, oder?", fragte <strong>Harry</strong>, der langsam die Geduld<br />
verlor. "Wir gehen <strong>zur</strong>ück in die Oberwelt, <strong>und</strong> zwar mit dir. Und Snape<br />
müssen wir auch noch finden!", fiel ihm erschrocken ein.<br />
"Was?", fragte Sirius entgeistert. "Der ist auch hier? Wen habt ihr<br />
noch durch den Bogen geschleppt?"<br />
"Keinen weiter", antwortete <strong>Harry</strong> verschnupft. Da waren sie hier,<br />
um Sirius zu retten, <strong>und</strong> der wusste nichts Besseres, als ihnen Vorwürfe<br />
zu machen.<br />
"Vielleicht ist es besser, wir setzen uns <strong>doc</strong>h erst einmal hin <strong>und</strong><br />
erklären alles", schlug McGonagall vor. Obwohl er genauso müde<br />
aussah, wie <strong>Harry</strong> sich fühlte, ließ er sich <strong>auf</strong> einen Stuhl fallen.<br />
"Na gut", murmelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> setzte sich neben ihn. In der<br />
nächsten halben St<strong>und</strong>e lieferten sie einen genauen Bericht über die<br />
Gründe ihres Kommens ab. Die Reaktionen der Ordensmitglieder<br />
variierten zwischen mitleidigem Seufzen, erstaunten Rufen <strong>und</strong><br />
schließlich <strong>auf</strong>geregter Hoffnung.<br />
"Vielleicht können wir <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> tatsächlich wieder in die<br />
Oberwelt bringen", rief Fenwick <strong>und</strong> werkelte in seinen Unterlagen<br />
herum. "Dann kann er weiter gegen Voldemort kämpfen!"<br />
"Was dachtet ihr denn, was ich hier wollte?", stöhnte <strong>Harry</strong>. Waren<br />
sie alle so dumm <strong>und</strong> glaubten, er wäre freiwillig in den Tod gegangen,<br />
ohne wenigstens ein wenig Hoffnung, <strong>zur</strong>ückkehren zu können?<br />
"Aber wie kommt man <strong>zur</strong>ück? Geht man einfach durch den<br />
weißen Bogen? Das ist absurd, denn dann wäre <strong>doc</strong>h die ganze<br />
<strong>Unterwelt</strong> bereits leergefegt!", wandte eine junge Hexe ein, die <strong>Harry</strong><br />
nicht kannte.<br />
308
"Es gibt nur eine Möglichkeit", erklärte Jones, "wir müssen den<br />
Hexer von Hexham finden. Auch ich habe während meiner Arbeit von<br />
ihm gehört, da ich aber nicht über den Tod, sondern über die Zeit<br />
geforscht habe, weiß ich nichts Genaues."<br />
"Richtig!", rief <strong>Harry</strong> eifrig. "Der Hexer wird wissen, wie man<br />
<strong>zur</strong>ückgelangt."<br />
"Falls er tot ist", meinte Ron düster. "Wenn ich zwischen den<br />
Welten wandeln könnte, würde ich für immer in der Oberwelt leben<br />
wollen."<br />
"Also ich nicht. Dieses Zeitreisen ist <strong>doc</strong>h sehr interessant. Man<br />
trifft neue Gegenden, Gesellschaften <strong>und</strong> Menschen, <strong>und</strong> wenn man<br />
besonderes Glück hat, erwischt einen ein rotes Feuer, <strong>das</strong> einen zum<br />
Schlafen bringt", hörten sie eine mit Wut durchtränkte, sarkastische<br />
Stimme hinter sich. McGonagall fuhr herum.<br />
"Alexander!", begrüßte er ihn. "Schön, <strong>das</strong>s du –" Er verstummte<br />
angesichts des vor Zorn verzerrten Gesichts des Makedonen.<br />
"Tut mir Leid, Kumpel", entschuldigte sich Sirius, "ich dachte, du<br />
würdest mich angreifen."<br />
"Verhext ihr Zauberer prinzipiell alles, mit dem ihr nicht umgehen<br />
könnt?", höhnte Alexander <strong>und</strong> sah sich um. "Wo ist mein Schwert?<br />
Vielleicht hast du nichts gegen einen fairen Zweikampf, um die<br />
Positionen zu klären. Du <strong>und</strong> ich, ohne Zauberstab."<br />
"Also jetzt reicht es!", rief McGonagall. "Es geht hier nicht um<br />
Positionskämpfe, sondern darum, wie wir wieder in die Oberwelt<br />
kommen. Alexander, diese Zauberer <strong>und</strong> Hexen sind unsere Fre<strong>und</strong>e,<br />
<strong>und</strong> die werden nicht angegriffen. Du kannst dich wieder mit den Skythen<br />
kloppen, wenn du <strong>zur</strong>ück in deiner Zeit bist."<br />
<strong>Harry</strong> fürchtete für einen Augenblick, <strong>das</strong>s Alexander nun erst recht<br />
durchdrehen würde <strong>und</strong> McGonagall einfach erwürgen würde – was<br />
angesichts der Tatsache, <strong>das</strong>s dieser eigentlich noch lebte, fatal<br />
gewesen wäre. Aber er hielt sich <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> schluckte seinen Ärger<br />
runter.<br />
"Gut, dann schlage ich vor, wir kümmern uns morgen darum, wie<br />
wir an den Hexer kommen", meinte Jones. "Er ist übrigens gestorben,<br />
<strong>das</strong> Ministerium hat ihn nach seiner Rückkehr nicht aus den Augen<br />
gelassen. Irgendwann war er ganz normal tot."<br />
"Wie denn <strong>das</strong>? Wenn er den Weg aus dem Tod gef<strong>und</strong>en hat, wie<br />
kann er dann sterben?", empörte sich Ron.<br />
"Weil nur diejenigen in die Oberwelt <strong>zur</strong>ückkehren können, die sie<br />
durch den Bogen verlassen", erklärte Jones. "Denn ihr seid nicht im<br />
biologischen Sinne gestorben – ihr seid weder tödlich verletzt worden,<br />
noch seid ihr einer Krankheit erlegen, sondern wandelt sprichwörtlich<br />
lebendig unter den Toten." Er lehnte sich in seinem Stuhl <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong><br />
betrachtete die fünf mit fast akademischem Interesse.<br />
309
"Und bisher wusste keiner, <strong>das</strong>s es für Leute wie euch einen Weg<br />
<strong>zur</strong>ück gibt. Das Ministerium hat in früheren Jahrh<strong>und</strong>erten ab <strong>und</strong> zu<br />
einen Freiwilligen durch den Bogen geschickt, von denen aber keiner<br />
<strong>zur</strong>ückgekommen ist – bis <strong>auf</strong> den Hexer. Da dieser aber verschwand<br />
<strong>und</strong> keinem mitteilen wollte, was er gesehen hatte, gab man die<br />
Experimente <strong>auf</strong>. Keiner traute sich mehr in die <strong>Unterwelt</strong>."<br />
"Nun gut, dann ist der Hexer unsere einzige Hoffnung", seufzte<br />
McGonagall. "Das wird lustig."<br />
"Wieso?", fuhr <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>, Böses ahnend.<br />
"Weil der Hexer im Mittelalter gestorben ist", meinte Jones.<br />
"Niemand weiß, wo er jetzt ist."<br />
"Na klasse, wenn wir je eine Chance haben wollen, aus der<br />
Zombie-Welt zu entkommen, dann nur, wenn wir einen Kerl finden, der<br />
vor 800 Jahren gestorben ist!", wetterte Ron, als <strong>Harry</strong> später mit ihm<br />
<strong>und</strong> Hermine zu den von ihnen auch in der Oberwelt bewohnten<br />
Zimmern ging. Das Ordenstreffen war beendet, <strong>und</strong> die Mitglieder, nun in<br />
schwarzen Roben, hatten unter den stolzen Augen von Mrs Black <strong>das</strong><br />
Haus verlassen. Sirius schlief ebenfalls am Grimmauldplatz, <strong>und</strong> auch<br />
wenn <strong>das</strong> seinen Eltern sichtlich nicht passte, so duldeten sie ihn wegen<br />
seines angeblichen Interesses für Muggelfolter.<br />
"Wir müssen es eben versuchen", meinte Hermine nun müde <strong>und</strong><br />
blieb vor der Tür ihres Schlafzimmers stehen.<br />
"Wo ist eigentlich Snape?", warf <strong>Harry</strong> ein. "Wollte er nicht Sirius<br />
suchen?"<br />
"Keine Ahnung, vielleicht hat er sich verirrt", meinte Ron leichthin.<br />
"Ist <strong>doc</strong>h egal, oder? Wenn er in der <strong>Unterwelt</strong> bleibt, dann haben wir<br />
wenigstens vor ihm Ruhe."<br />
"Ich glaube, ich weiß, wo er ist", grübelte Hermine. "In Godric's<br />
Hollow."<br />
"Godric's Hollow?", echote Ron. "Dort wohnen <strong>doc</strong>h deine Eltern,<br />
oder?", fragte er <strong>Harry</strong>.<br />
Der nickte.<br />
"Was sollte denn Snape dort machen, Hermine, er hasst <strong>Harry</strong>s<br />
Vater!"<br />
"Ich spreche auch nicht von <strong>Harry</strong>s Vater", entgegnete sie<br />
vieldeutig <strong>und</strong> warf <strong>Harry</strong> einen vorsichtigen Blick zu. Dann schloss sie<br />
ihre Tür, nachdem sie den beiden eine gute Nacht gewünscht hatte.<br />
"Was sollte denn <strong>das</strong>?", w<strong>und</strong>erte sich Ron <strong>und</strong> warf sich <strong>auf</strong> sein<br />
Bett. "Wieso muss sie immer in Rätseln sprechen?"<br />
"Keine Ahnung", murmelte <strong>Harry</strong>. "Ich schlafe jetzt, ich bin<br />
h<strong>und</strong>emüde."<br />
Zwei Minuten später war auch von Ron nichts mehr zu hören, aber<br />
<strong>Harry</strong> konnte natürlich nicht so schnell einschlafen.<br />
310
War Snape wirklich bei seinen Eltern – bei seiner Mutter? Hatte er<br />
nach wie vor Interesse an ihr? Glühende Wut begann in ihm zu brodeln,<br />
als er sich vorstellte, wie Snape seine Eltern belästigte. Am liebsten wäre<br />
er nach Godric's Hollow geflogen, um sich zu vergewissern, <strong>das</strong>s alles in<br />
Ordnung war – aber McGonagalls Warnung hatte Eindruck hinterlassen.<br />
Würde er es je über sich bringen, sich von seinen Eltern wieder zu<br />
trennen, wenn er sie einmal getroffen hatte? Würde er den Willen<br />
<strong>auf</strong>bringen können, <strong>zur</strong>ück in die Oberwelt zu gehen, was ja eigentlich<br />
seine Aufgabe war?<br />
Langsam spürte er die Folgen der Anstrengungen des Tages <strong>doc</strong>h,<br />
<strong>und</strong> bevor der Schlaf über ihn kam, dachte er noch einmal an Sirius, der<br />
den ganzen Abend über ausgelassen <strong>und</strong> fröhlich gewesen war, unfähig,<br />
seine Freude über <strong>das</strong> Wiedersehen mit ihnen zu verbergen, selbst<br />
wenn er wusste, in welch prekärer Lage sie steckten. Immerhin einer war<br />
froh, <strong>das</strong>s wir hier sind, war sein letzter Gedanke, bevor er<br />
wegdämmerte.<br />
311
KAPITEL SECHZEHN<br />
Der Hexer<br />
<strong>Harry</strong> erwachte von einem Poltern in seinem Zimmer.<br />
Schlaftrunken öffnete er die Augen <strong>und</strong> suchte tastend nach seiner Brille.<br />
Blinzelnd registrierte er Ron, der gerade hineinkam <strong>und</strong> die Tür in die<br />
Angeln schlug.<br />
"Was machst du?", fragte er gähnend <strong>und</strong> wollte sich die Decke<br />
über die Ohren ziehen.<br />
"Ich war schon unten, es gibt gleich Frühstück", berichtete Ron mit<br />
einem komischen Gesichtsausdruck. "Danach wollen wir ins Mittelalter<br />
<strong>auf</strong>brechen. Sirius <strong>und</strong> sein Bruder kommen mit."<br />
"Frühstück? In der Küche?" Wenn ich die <strong>Unterwelt</strong> später einmal<br />
beschreiben müsste, dann als Anhäufung von Deja Vues aus der<br />
Oberwelt, dachte er grimmig.<br />
"Nein, die Blacks haben <strong>doc</strong>h einen eigenen, riesigen Speisesaal",<br />
grinste Ron. "Die essen nicht in der Hauselfen-Kaschemme, die wir<br />
immer benutzen."<br />
"Aber – erlauben die <strong>das</strong>?"<br />
"Das ist <strong>das</strong> Problem, Kumpel", raunte Ron düster. "Dieser<br />
Hausdrachen isst mit uns. Die nächste halbe St<strong>und</strong>e musst du so tun,<br />
als seiest du fanatischer Todesser."<br />
"Können wir nicht einfach gehen <strong>und</strong> unterwegs essen?", fuhr<br />
<strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>.<br />
"Nein, <strong>das</strong> gehört sich hier scheinbar nicht. Wir würden ihr<br />
"Misstrauen erwecken", wie Hermine sagt." Er rümpfte die Nase. "Wenn<br />
sie dahinter kommen, gehen sie uns an die Gurgel. Wir können noch<br />
sterben, vergiss <strong>das</strong> nicht."<br />
Ein paar Minuten später saßen sie in einem gigantischen, teuer<br />
eingerichteten Raum, der allerdings wie der Rest des Hauses viel zu<br />
düster war, um gemütlich zu wirken. Dunkle Holztäfelung an den<br />
312
Wänden ergab mit weiteren grausigen Bildern irgendwelcher borniert<br />
<strong>und</strong> böse aussehender Zauberer <strong>und</strong> Hexen längst vergangener Zeiten<br />
(vermutlich die lieben Ahnen, dachte <strong>Harry</strong>) eine bedrückte, belastende<br />
Atmosphäre, in denen sich die Blacks allerdings wohl zu fühlen<br />
schienen. Oder, besser gesagt, Mrs Black, denn Sirius <strong>und</strong> Regulus war<br />
es sichtbar unangenehm, sich hier <strong>auf</strong>zuhalten.<br />
"Entschuldigen Sie, <strong>das</strong>s mein Mann nicht hier sein kann, er ist seit<br />
zwei Tagen geschäftlich in Liverpool", knarrte Mrs Black. "Hat Ihnen die<br />
Versammlung gestern zugesagt?", erk<strong>und</strong>igte sie sich strahlend.<br />
"Äh, sehr interessant, in der Tat", bestätigte McGonagall, der<br />
appetitlos in einer Schüssel kunstvoll zubereiteten Obstsalates<br />
herumstocherte, welche ein Hauself vor einigen Minuten gebracht hatte.<br />
"Sie müssen wissen, <strong>das</strong>s es eine Ehre ist, im Hause Black zum<br />
Essen eingeladen zu sein", stellte Mrs Black zwischen zwei Löffeln<br />
Honigtorte mit Mandelcreme fest. "Nur Wenigen ist <strong>das</strong> vergönnt. Aber<br />
so lieben Fre<strong>und</strong>en unseres Regulus machen wir gerne eine Freude.<br />
Nur, sagen Sie, welches ist Ihre am meisten bevorzugte Art, Muggel zu<br />
foltern? Soweit ich informiert bin, war es <strong>das</strong> Ziel der gestrigen<br />
Versammlung, die schmerzvollste zu finden. Sind es langsam<br />
ausgeführte Eingeweide-Ausweideflüche, oder vielleicht diese<br />
Muggelart, Gliedmaßen nacheinander mit einer "Säge" abzutrennen?"<br />
Erwartungsvoll <strong>und</strong> neugierig schaute sie McGonagall an.<br />
Der war kalkweiß geworden <strong>und</strong> ließ seine Gabel fallen.<br />
"Sagen Sie, sind Sie sicher, <strong>das</strong>s es Ihnen gut geht?", hakte sie<br />
nach.<br />
Ron neben <strong>Harry</strong> schluckte <strong>und</strong> blickte beharrlich in seine<br />
Schüssel, <strong>und</strong> Hermine rang mit sich, ihrem Ekel keinen zu deutlichen<br />
Ausdruck zu geben. Sirius <strong>und</strong> Regulus waren solche Gespräche wohl<br />
gewohnt, denn der jüngere Black meinte sofort munter:<br />
"Wir sind noch zu keinem Abschlussergebnis gekommen, Mum",<br />
meinte er gespielt fröhlich. "Kann ich bitte die Erdbeermarmelade<br />
haben?"<br />
"Ach, komm, Schatz, ein wenig kannst du mir <strong>doc</strong>h verraten.<br />
Wolltet ihr euch für morgen nicht einen Muggel für Tests suchen?"<br />
<strong>Harry</strong> hatte eindeutig den Eindruck, <strong>das</strong>s McGonagall sich gleich<br />
übergeben würde. Sein Lehrer starrte die Obstschale an, als überlege er,<br />
ob es passend wäre, sie als Kloschüssel zu benutzen.<br />
Mrs Black bemerkte seinen Zustand nun auch <strong>und</strong> kniff die Augen<br />
zusammen. "Sagen Sie, eigentlich machen Sie mir nicht den Eindruck,<br />
als hätten Sie Interesse an Muggelfolter!"<br />
"Nein?", presste McGonagall in unnatürlich hohem Ton heraus.<br />
"Wer sind Sie?" Ihr Blick wurde unübersehbar misstrauisch.<br />
"Wir sind eine Forschungsgruppe, die Foltermethoden<br />
verschiedener Jahrh<strong>und</strong>erte untersucht", erklang <strong>auf</strong> einmal Alexanders<br />
313
Stimme, der bisher nichts gesagt hatte, sondern den Gesprächen<br />
neugierig zugehört hatte.<br />
"Was Sie nicht sagen", hob Mrs Black die Augenbrauen. "Dann<br />
können Sie sicher berichten, über was gestern im Versammlungsraum<br />
gesprochen wurde?"<br />
"Sicher", meinte Alexander leicht hochmütig <strong>und</strong> sah sie unbewegt<br />
an. Danach hielt er einen fast fünfzehnminütigen Vortrag über<br />
Foltermethoden der Antike, der so lebendig <strong>und</strong> detailliert war, <strong>das</strong>s<br />
<strong>Harry</strong> den Verdacht nicht los wurde, er beruhe <strong>auf</strong> eigenen Erfahrungen.<br />
McGonagall hatte sich entschlossen, für den Rest des Frühstücks die<br />
Hände vor <strong>das</strong> Gesicht zu schlagen, Hermine schaute angewidert der<br />
von ihrem Löffel tropfenden Milch zu, Ron starrte Alexander ungläubig<br />
an <strong>und</strong> die Black-Brüder schienen beeindruckt. Der Makedone jedenfalls<br />
schien seinen Auftritt zu genießen, schenkte Mrs Black galant neuen<br />
Kaffee ein <strong>und</strong> erzählte unbeschwert von Gräueltaten, über die <strong>Harry</strong><br />
noch nicht einmal nachdenken wollte.<br />
Hätte sich Mrs Black auch nur einmal von Alexanders Blick<br />
losreißen können, wäre ihr <strong>auf</strong>gefallen, <strong>das</strong>s ihre übrigen Gäste entsetzt<br />
über seinen Schilderungen waren, aber der Makedone hatte die<br />
Situation an sich gerissen <strong>und</strong> hielt die Hausherrin mühelos in seinem<br />
Bann.<br />
"Ach, wie schade, wir müssen schon <strong>auf</strong>brechen!", rief er später<br />
bedauernd <strong>und</strong> schaute aus dem Fenster, wo die Sonne zu sehen war.<br />
Uhren kennt er wohl nicht, überlegte <strong>Harry</strong>.<br />
"Es tut uns <strong>auf</strong>richtig Leid, Ihre vorzügliche Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />
verlassen zu müssen", sagte er mit so traurigem Blick, <strong>das</strong>s Mrs Black<br />
<strong>auf</strong>sprang.<br />
"Aber Sie können <strong>doc</strong>h jederzeit wiederkommen ... wenn Sie ihre<br />
Forschungsreise ins Mittelalter beendet haben, um – wie war <strong>das</strong> <strong>doc</strong>h<br />
gleich?"<br />
"Inquisitionsmethoden!", warf Regulus hilfreich ein.<br />
"Ach ja. Wenn Sie die untersucht haben, kommen Sie bitte wieder<br />
<strong>und</strong> setzen mich davon in Kenntnis. Ich bin immer an Wissenschaft<br />
interessiert, <strong>und</strong> ich wäre glücklich, Sie wieder in meinem Haus bewirten<br />
zu können."<br />
"Sicher", lächelte Alexander. "Ich zähle die Tage, bis wir ihre<br />
vornehme Gesellschaft wieder genießen dürfen."<br />
Mrs Black war restlos entzückt <strong>und</strong> wurde richtig gehend<br />
gesprächig, was dazu führte, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> vor Erleichterung tief<br />
durchatmete, als die Tür des Grimmauldplatzes ins Schloss fiel <strong>und</strong> sie<br />
die unermüdlich wiederholten Einladungen der Hausherrin los waren.<br />
"Bei Merlin, <strong>das</strong> war <strong>das</strong> furchtbarste Frühstück, <strong>das</strong> ich je <strong>das</strong><br />
Pech hatte, durchstehen zu müssen!", klagte McGonagall, der immer<br />
noch recht blass war.<br />
314
"Diese Person ist in der Tat abscheulich", bestätigte Alexander,<br />
dessen Fre<strong>und</strong>lichkeit verschw<strong>und</strong>en war.<br />
"Dann hast du all <strong>das</strong> nur vorgetäuscht?", fragte Regulus<br />
bew<strong>und</strong>ernd.<br />
"Natürlich."<br />
"Aber woher weißt du so gut über Folter Bescheid?"<br />
"Ich bin halt viel rumgekommen", meinte Alexander knapp. "Aber<br />
ich habe nie selbst jemandem aus Spaß Leid zugefügt, falls es <strong>das</strong> ist,<br />
was du wissen willst."<br />
"Das war eine brillante schauspielerische Leistung", nickte Sirius<br />
anerkennend. "Aber meine alte Mum wird enttäuscht sein, <strong>das</strong>s du nie<br />
wiederkommst ..."<br />
"Dann soll sie mich in Persien besuchen, dort kann sie die Folter,<br />
für die sie so schwärmt, einmal selbst austesten", entgegnete Alexander<br />
grimmig.<br />
"Genug davon!", rief Regulus. "Vergesst nicht, was unsere Aufgabe<br />
ist. Wir sollten bis heute Abend wissen, wie ihr <strong>zur</strong>ückgelangt."<br />
„Wieso bis heute Abend?“, fragte McGonagall stirnrunzelnd.<br />
„Weil es am besten ist, ihr verlasst die <strong>Unterwelt</strong> an Halloween.<br />
Dann werden viele Ministeriumsleute im Bogenraum anwesend sein, <strong>und</strong><br />
die Chance, einem von Voldemorts Schergen in den Weg zu l<strong>auf</strong>en, ist<br />
geringer.“<br />
"Ja, aber wie gelangen wir eigentlich ins Mittelalter?", fragte <strong>Harry</strong>.<br />
"Ich habe gestern noch alte Bücher aus unserer Bibliothek<br />
gef<strong>und</strong>en, in denen <strong>das</strong> mittelalterliche London Wort für Wort<br />
beschrieben ist", sagte Regulus. „Ihr werdet den Hexer suchen, während<br />
ich ins Ministerium gehe <strong>und</strong> mit einigen Ordensmitgliedern rede, die<br />
dort arbeiten. Wir warten <strong>auf</strong> euch. Sobald ihr kommt, gehen wir in die<br />
Mysteriumsabteilung zum weißen Bogen.“<br />
Dar<strong>auf</strong>hin schilderte er ihnen <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Genaueste, wie es in der<br />
Stadt vor knapp 800 Jahren ausgesehen hatte. Schließlich stellten sich<br />
alle dieses Szenario vor, schlossen die Augen, konzentrierten sich <strong>und</strong><br />
verschwanden mit einer abschließenden Drehung in der Vergangenheit.<br />
Sobald er wieder festen Stand hatte, riss <strong>Harry</strong> sofort die Augen<br />
<strong>auf</strong> <strong>und</strong> verscheuchte schnell die schwarzen <strong>und</strong> bunten Wirbel hinter<br />
seinen Augelidern, um nicht wieder eine unangenehme Überraschung<br />
<strong>auf</strong> sich zufahren zu sehen. Tatsächlich waren sie wieder <strong>auf</strong> einer<br />
Straße gelandet, neben ihm stolperten gerade Ron <strong>und</strong> Hermine<br />
ineinander, <strong>und</strong> vor ihm lag Sirius <strong>auf</strong> dem fest getrampelten Boden.<br />
Fahrzeuge waren zum Glück aber keine zu sehen.<br />
"Hab’s ein wenig mit dem Schwung übertrieben", grinste sein Pate<br />
<strong>und</strong> klopfte sich den Staub vom Umhang.<br />
Neugierig sahen sie sich um.<br />
315
"Wahnsinn", hauchte Hermine. "Seht euch nur die alten Häuser<br />
an!"<br />
"Sie sind nicht alt", belehrte Ron sie neckend. "Höchstens vor ein<br />
paar Jahren erbaut." Hermine stieß ihn leicht in die Seite.<br />
Dennoch kam sich <strong>Harry</strong> vor, als sei er in eines der künstlich<br />
hergerichteten Dörfer der Muggel geraten, in denen man sich ansehen<br />
konnte, wie <strong>das</strong> Leben noch vor einigen Jahrh<strong>und</strong>erten ausgesehen<br />
hatte. An die Straße aus festem Boden, <strong>auf</strong> der sie standen, schmiegten<br />
sich mit Stroh bedeckte Häuser aus Stein oder gebrannten Lehm mit<br />
niedlichen Türen <strong>und</strong> Fenstern, vor denen Blumen in großen<br />
Tongefäßen gediehen. In den kleinen, krummen Gassen, die von der<br />
Hauptstraße abgingen, rannten Kinder umher, offensichtlich zum<br />
Missfallen der Händler, welche ein Stück von ihnen entfernt vor den<br />
Eingängen ihrer kleinen Geschäfte <strong>und</strong> Werkstatten saßen <strong>und</strong> ihre<br />
Waren feilboten; von Gewürzen aus aller Welt über Seidenstoffe aus<br />
dem fernen China bis hin zu Holzarbeiten aus der Umgebung konnte<br />
man alles k<strong>auf</strong>en. Schwatzend liefen die Menschen von Stand zu Stand<br />
<strong>und</strong> begutachteten die Qualität der Produkte oder feilschten um den<br />
Preis.<br />
"Was steht ihr hier rum? Macht, <strong>das</strong>s ihr von der Straße kommt!",<br />
herrschte sie plötzlich eine laute Stimme an.<br />
<strong>Harry</strong> fuhr herum <strong>und</strong> sah sich Auge in Auge mit einem großen<br />
Ackergaul, der vor einer Karre voller geflochtener Körbe gespannt war<br />
<strong>und</strong> ihn anstierte. Der Mann <strong>auf</strong> dem Kutschbock hatte es scheinbar<br />
eilig, denn er rief wieder: "Was ist denn nun? Seid ihr festgewachsen?<br />
Manche Leute müssen auch arbeiten!"<br />
Schnell gingen sie <strong>zur</strong> Seite <strong>und</strong> liefen in die kleinen, engen<br />
Gassen hinein.<br />
"Wow, an Zeitreisen könnte ich mich glatt gewöhnen!", meinte Ron<br />
begeistert, der gar nicht genug bekommen konnte von der neuen Welt.<br />
„Hier ist es eindeutig angenehmer als in der großen Steppe!“<br />
"Es ist unglaublich, stellt euch nur vor, was man alles lernen<br />
könnte!", rief auch Hermine vollkommen hingerissen. "Man kann<br />
Bibliotheken <strong>auf</strong>suchen, die es gar nicht mehr gibt, <strong>und</strong> uralte, in unserer<br />
Zeit längst verschw<strong>und</strong>ene Bücher lesen – z.B. in Alexandria, <strong>das</strong> einst<br />
der reichste Ort der Welt war <strong>und</strong> dessen berühmte Bibliothek seit langer<br />
Zeit verschollen ist ..." Ihre Augen leuchteten, während sie über die<br />
Möglichkeiten, die sich ihr boten, nachdachte. "Man könnte sogar den<br />
Gründer der Stadt <strong>auf</strong>suchen, wenn man möchte ..."<br />
Alexander reichte ihr mit bemüht ernstem Gesicht die Hand. "Es ist<br />
mir eine Ehre."<br />
Erst schaute ihn Hermine verwirrt an, dann musste sie lachen.<br />
"Ach ja, <strong>das</strong> warst du ..."<br />
316
"Ich will eure Pläne ja nicht unterbinden, aber wir sind nur hier, um<br />
den Hexer zu suchen", erinnerte sie McGonagall, während sie an einer<br />
großen Kirche vorbeikamen, in die eine Unmenge Menschen strömten.<br />
Vermutlich war gerade Gottesdienst. "Wenn ihr Forschungsreisen<br />
unternehmen wollt, wartet bitte bis zu eurem richtigen Tod."<br />
"Aber nur ein kleiner Abstecher in die Bibliothek von –", wollte<br />
Hermine mit verklärtem Blick rufen, aber McGonagall sah sie warnend<br />
an.<br />
"In Ordnung", meinte sie kleinlaut.<br />
"Das hier ist kein Abenteuerausflug, sondern bitterer Ernst!",<br />
mahnte auch Sirius.<br />
Von fern schallte laute Musik zu ihnen.<br />
"Was zum Teufel –", begann McGonagall, als Ron <strong>auf</strong>geregt <strong>auf</strong><br />
ein Stück Pergament deutete, <strong>das</strong> an einen Baum genagelt war <strong>und</strong> in<br />
schräger Handschrift von einem am heutigen Tag stattfindenden Turnier<br />
kündigte.<br />
"Ein Ritterturnier!", rief er. "Lasst uns dahin gehen, die Muggel<br />
waren ganz wild dar<strong>auf</strong> – es war sozusagen <strong>das</strong> Quidditch des<br />
Mittelalters, meint Dad immer."<br />
Auch <strong>Harry</strong> konnte nicht umhin, sein Interesse zu unterdrücken.<br />
Die Dursleys hatten ihn nie mit <strong>auf</strong> die Ritterspiele genommen, für die<br />
Dudley so geschwärmt hatte, sondern ihn zu Mrs Figg abgeschoben ...<br />
<strong>und</strong> nun hatte er sogar die Chance, ein echtes Turnier zu sehen!<br />
"Kommt gar nicht in Frage!", beschied McGonagall, obwohl nicht zu<br />
übersehen war, <strong>das</strong>s auch er einen neugierigen Blick in Richtung des<br />
Lärms warf.<br />
"Wir suchen <strong>doc</strong>h den Hexer, oder?", fragte Ron langsam.<br />
"Klar, oder glaubst du, wir wollen wirklich die Inquisition<br />
untersuchen? Eher untersucht die uns ..."<br />
"Und der Hexer hat hier in London gelebt?", bohrte Ron weiter.<br />
"Ron, was –!", rief Hermine.<br />
"Ja, hat er, laut Jones", erklärte McGonagall argwöhnisch.<br />
"Na dann wird er sich <strong>doc</strong>h so ein Turnier nicht entgehen lassen!",<br />
präsentierte Ron zufrieden seine Schlussfolgerung.<br />
"Also ich weiß nicht", meinte Sirius zweifelnd.<br />
"Das ist eine Idee", grübelte Hermine, die nachdenklich <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />
Pergament schaute. "Sollte der Hexer nicht dort sein, kann uns vielleicht<br />
wenigstens jemand sagen, wo er ist."<br />
In den letzten Minuten hatten sich die Straßen <strong>und</strong> Gassen um sie<br />
herum geleert, die Händler schlossen ihre Geschäfte, <strong>und</strong> die Kinder<br />
hüpften <strong>auf</strong>geregt um ihre Eltern herum. Alle schien es zu dem<br />
Turnierplatz zu ziehen.<br />
"In Ordnung, einen Blick können wir ja riskieren", meinte<br />
McGonagall, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron strahlten. "Aber bleibt zusammen, ich<br />
317
habe keine Lust, später einen von euch im mittelalterlichen London<br />
suchen zu müssen." Stirnrunzelnd schaute er sich um. "Weiß jemand,<br />
wie diese Straße heißt? Wenn wir nachher durch die Zeit <strong>zur</strong>ückreisen<br />
wollen, wäre es am besten, wir kommen so genau wie möglich wieder<br />
dort an, wo wir gestartet sind."<br />
Sirius hielt einen kleinen Jungen an. "Hey, kannst du uns sagen, in<br />
welcher Straße wir uns befinden?"<br />
"Das Turnier ist dort hinten!", rief er <strong>und</strong> zeigte mit dem Finger <strong>auf</strong><br />
die Menschenmassen, die alle in eine Richtung gingen.<br />
"Schon klar, aber diese Straße?"<br />
"Korbflechtergasse", sagte der Junge, offenbar empört, <strong>das</strong>s sich<br />
die Fremden für so nichtige Dinge interessierten, <strong>und</strong> rannte davon.<br />
"Korbflechter", murmelte Sirius. "Wieder so ein bescheuertes<br />
Muggelwort. Kann <strong>das</strong> jemand <strong>auf</strong>schreiben?"<br />
<strong>Harry</strong> kramte ein Stück zerrissenes Pergament aus seinem<br />
Rucksack, hatte aber nichts zu schreiben mit.<br />
"Hat niemand eine Feder?", grollte Sirius.<br />
"Ich wollte meinen Aufsatz für Verteidigung nicht in der <strong>Unterwelt</strong><br />
schreiben", konterte Ron.<br />
"Hier." <strong>Harry</strong> gab ihm einen Bleistift, den er <strong>auf</strong> dem Boden seiner<br />
Tasche noch gef<strong>und</strong>en hatte, offenbar ein Überbleibsel aus dem<br />
Ligusterweg.<br />
Etwas linkisch kritzelte sein Pate <strong>das</strong> Wort <strong>auf</strong> den<br />
Pergamentfetzen <strong>und</strong> steckte ihn seine Hosentasche.<br />
Sie liefen nun den vielen Menschen nach, die alle dem Tosen von<br />
noch mehr Menschen folgten, bis sie am Rande eines großen, offenbar<br />
umzäunten Platzes zum Stehen kamen. <strong>Harry</strong> konnte nicht viel sehen,<br />
da sich vor ihm etliche kreischende <strong>und</strong> schreiende Menschenreihen<br />
drängten, aber Sirius hatte un<strong>auf</strong>fällig seinen Zauberstab gezückt <strong>und</strong><br />
brachte die Muggel vor ihnen dazu, erschreckt <strong>zur</strong>ückzuweichen. Schnell<br />
zwängten sie sich in die entstandenen Lücken.<br />
"Packt eure Zauberstäbe weg", flüsterte Hermine. "Die Muggel des<br />
Mittelalters waren gegenüber Zauberei nicht sehr tolerant! Denkt nur an<br />
die Hexenverbrennungen, die wir bei Binns hatten."<br />
<strong>Harry</strong> verstaute dar<strong>auf</strong>hin seinen Zauberstab lieber in der Tasche.<br />
"Und, wen fragen wir nun nach dem Hexer?", wollte McGonagall<br />
wissen <strong>und</strong> schaute sich zwischen den vielen Frauen, Kindern <strong>und</strong><br />
einigen männlichen Zuschauern um. Sie alle hatten aber nur Augen für<br />
den Turnierplatz, der aus einem Boden aus festgetretener Erde bestand<br />
<strong>und</strong> durch einen langen Holzbalken in zwei Hälften geteilt wurde.<br />
"Was soll diese seltsame Aufmachung?", w<strong>und</strong>erte sich Alexander.<br />
"Bei unseren Turnieren tragen wir Wettkämpfe im Ringen oder<br />
Schwertkampf aus."<br />
318
In dem Moment trieben zwei Reiter ihre Pferde in die Arena, <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> Publikum klatschte rasend Beifall. Der eine Reiter, <strong>auf</strong> einem<br />
schwarzen Tier sitzend <strong>und</strong> mit einer metallisch funkelnden Rüstung<br />
geschützt, ritt an <strong>das</strong> eine Ende des Holzbalkens <strong>und</strong> fixierte seinen<br />
Gegner, der ein hellbraunes Pferd ritt, <strong>das</strong> nervös mit den Hufen<br />
scharrte.<br />
"Irgendwie finde ich die Sitten der mittelalterlichen Krieger<br />
fragwürdig", klagte Alexander weiter.<br />
"Das sind keine Krieger, sondern Ritter!", meinte Ron entnervt.<br />
"Und sie haben auch nicht vor, sich gegenseitig umzubringen, sondern<br />
wollen nur <strong>das</strong> Turnier gewinnen."<br />
Der Makedone schien die Berechtigung eines solchen Zieles erst<br />
recht anzuzweifeln <strong>und</strong> starrte grimmig <strong>auf</strong> die beiden Flaggen, die ein<br />
Mann in Hosen <strong>und</strong> einem Lederwams, den <strong>Harry</strong> als Kampfrichter<br />
identifizierte, in die Höhe hielt: Gelb für den Reiter des schwarzen, lila für<br />
den des braunen Pferdes. Die beiden Farben waren auch durch Bänder<br />
am Halfter der Tiere dargestellt.<br />
Nun bekamen die beiden Reiter eine lange <strong>und</strong> offensichtlich sehr<br />
schwere Lanze in die Hand gedrückt, mit der sie <strong>auf</strong> ihren jeweiligen<br />
Gegner zielten.<br />
"So ein Unfug!", rief Alexander hitzig. "Mit solchen Waffen würden<br />
sie <strong>auf</strong> dem Schlachtfeld keine h<strong>und</strong>ert Meter weit kommen!"<br />
Ron verdrehte die Augen, konnte aber nichts erwidern, da die<br />
Leute um sie herum jetzt so einen Krach machten, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> die Ohren<br />
dröhnten. Dann folgten plötzlich einige Sek<strong>und</strong>en völlige Stille, als die<br />
Reiter ihre Pferde antrieben, die Lanzen nach wie vor <strong>auf</strong> den Gegner<br />
fixiert, <strong>und</strong> <strong>auf</strong> jeweils einer Seite des Holzbalkens <strong>auf</strong>einander zu ritten.<br />
Hermine kniff die Augen zusammen, als die Lanzen an den<br />
Rüstungen zersplitterten, <strong>und</strong> auch <strong>Harry</strong> zuckte bei dem Geräusch<br />
zerbrechenden Holzes <strong>und</strong> quietschenden Metalls zusammen.<br />
"Also ich hätte meinen Gegner problemlos vom Pferd geholt",<br />
schätzte Alexander mit schief gelegtem Kopf ein, da es beiden Reitern<br />
gelungen war, sich im Sattel zu halten. Derjenige <strong>auf</strong> dem braunen Pferd<br />
schien allerdings gewonnen zu haben, denn er reckte die Hand in die<br />
Luft, der Kampfrichter schwenkte seine lila Flagge, <strong>und</strong> die Menge<br />
kriegte sich nun gar nicht mehr ein.<br />
Während der Sieger eine Ehrenr<strong>und</strong>e ritt, meinte Hermine<br />
indigniert, <strong>das</strong>s es sich <strong>doc</strong>h gar nicht lohnte, wegen so eines Sportes<br />
derart aus dem Häuschen zu geraten.<br />
Ein Mann neben ihnen schaute sie an, als wären sie<br />
Geisteskranke.<br />
"Aber <strong>das</strong> sind die britannischen Meisterschaften, <strong>das</strong> wichtigste<br />
Turnier des Jahres!", erklärte er. Hermine schüttelte nur den Kopf.<br />
319
"Und <strong>das</strong> ist unser Londoner Vertreter, Bill Carter, er hat <strong>das</strong><br />
Turnier letztes Jahr schon gewonnen. War heute kein schlechter Sieg,<br />
aber nur eine Pflicht<strong>auf</strong>gabe, immerhin läuft erst die zweite R<strong>und</strong>e ..."<br />
<strong>Harry</strong> langweilte <strong>das</strong> Selbstgespräch des Mannes, <strong>und</strong> er wandte<br />
sich an Jamie. "Wie gehen wir weiter vor? Wer könnte uns hier<br />
weiterhelfen?" Irgendwie fiel es ihm schwer zu glauben, <strong>das</strong>s einer der<br />
turnierbegeisterten Zuschauer Lust hatte, sich mit ihnen <strong>auf</strong> ein<br />
ominöses Gespräch über den Hexer von Hexham einzulassen.<br />
"Wirklich einer der besten Turnierreiter Europas", schwärmte der<br />
Mann neben ihnen weiter, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> überlegte ernsthaft, ihm einen<br />
Schweigezauber zu verpassen.<br />
"Keine Ahnung", seufzte McGonagall. "He, Sirius –"<br />
"Und <strong>das</strong>, obwohl er nebenbei noch die Arbeit des Stadtverwalters<br />
innehat, auch kein leichter Posten, was?", grölte der Mann.<br />
"Könnten Sie –", setzte McGonagall mit eindeutig entnervtem<br />
Ausdruck an, wurde aber schlicht übergangen.<br />
"Muss sich um jeden Bürger der Stadt kümmern, nicht, eine<br />
verantwortungsvolle Aufgabe. Wenn jemand nach London zieht, <strong>das</strong><br />
Stadtrecht will, oder wegzieht ..."<br />
Ron hielt sich die Ohren zu, aber McGonagall drehte sich so abrupt<br />
zu dem Mann um, <strong>das</strong>s seine Halswirbel knackten.<br />
"Stadtverwalter?", echote er.<br />
"Das habe ich <strong>doc</strong>h gerade gesagt", murrte der Mann <strong>und</strong><br />
beobachtete zwei neue Reiter, die nun <strong>das</strong> Stadion betraten.<br />
"Heißt <strong>das</strong>, er kann Auskunft über jeden Einwohner der Stadt<br />
geben?", fragte Sirius eifrig.<br />
"Klar, was habe ich denn gesagt, aber seien Sie jetzt ruhig, nun<br />
kommt der niederländische Meister ..." Begierig lehnte sich der Mann<br />
über die Brüstung <strong>und</strong> hatte sie offensichtlich vergessen.<br />
"Los", flüsterte McGonagall, <strong>und</strong> sie folgten ihm aus der Menge<br />
heraus.<br />
"Wir müssen diesen Carter finden."<br />
Mit gewissen Schwierigkeiten bahnten sie sich ihren Weg durch die<br />
vielen Menschen, vorbei an einer kleinen Tribüne, <strong>auf</strong> der die begüterten<br />
Einwohner der Stadt zu sitzen schienen.<br />
"Wo könnte er sein?", fragte <strong>Harry</strong>.<br />
"Weiß ich nicht, wir müssen den Abreiteplatz finden – falls es so<br />
etwas gibt."<br />
Hektisch umr<strong>und</strong>eten sie den gesamten Turnierplatz, bis sie am<br />
Ausgang ankamen, durch den die Ritter verschw<strong>und</strong>en waren. Das neue<br />
Wettkampfpaar ritt in dem Moment gegeneinander, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Splittern der<br />
Lanzen durchschnitt die Luft.<br />
Hastig zwängten sich die sechs an <strong>das</strong> Gatter, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> sah zu<br />
seiner Erleichterung tatsächlich einen kleinen Platz hinter dem großen<br />
320
Turnierareal, <strong>auf</strong> dem sich mehrere Pferde samt Reiter tummelten,<br />
darunter auch der braune Hengst von Bill Carter.<br />
"He, wir müssen diesen Ritter dort sprechen!", rief McGonagall<br />
einem Aufpasser zu <strong>und</strong> deutete <strong>auf</strong> den Sieger des letzten Duells. Der<br />
schmierige, riesige Kerl grinste ihn verächtlich an.<br />
"Wer denkst du, bist du, <strong>das</strong>s du Bill Carter stören könntest?",<br />
höhnte er <strong>und</strong> stieß den Verteidigungslehrer von sich.<br />
"Es ist dringend, wirklich!", drängte Sirius.<br />
"Ha, dringlich! Das Einzige, was ich euch empfehle, ist <strong>auf</strong>s<br />
Dringlichste zu verschwinden, sonst landet ihr im Kerker."<br />
"Jetzt hör <strong>auf</strong>, dich wichtig zu machen, du Holzklotz!", schrie<br />
McGonagall so verzweifelt, <strong>das</strong>s Ron die Kinnlade herunterfiel. Der<br />
Wachposten verpasste ihm dar<strong>auf</strong>hin einen so heftigen Schlag in den<br />
Magen, <strong>das</strong>s McGonagall keuchend in die Knie ging.<br />
"Haut ab!", rief er warnend. Doch <strong>auf</strong> einmal entspannten sich<br />
seine verengten, bösen Augen, <strong>und</strong> seine M<strong>und</strong>winkel hingen schlaff<br />
herab. Einen Schritt bei Seite taumelnd wies er selig lächelnd <strong>auf</strong> den<br />
Abreiteplatz. "Wie Sie wünschen", nuschelte er. "Treten Sie nur ein, Ihr<br />
Wunsch ist mir Befehl."<br />
Irritiert fuhr <strong>Harry</strong> herum.<br />
"Wieso –" Er erblickte Sirius, der seinen Zauberstab <strong>auf</strong> den<br />
Riesen gerichtet hielt <strong>und</strong> mit der anderen Hand McGonagall hoch half,<br />
der sich am Gatter festhalten musste.<br />
"Sirius!", kreischte Hermine entsetzt. "Das ist ein unverzeihlicher<br />
Fluch!"<br />
"Unverzeihlich in der Welt, in der wir uns nicht befinden", brummte<br />
Sirius entschuldigend. "Was hätte ich tun sollen?"<br />
"Aber es ist verboten –"<br />
"Es wird niemand erfahren, es sei denn, du entscheidest dich dazu,<br />
mich zu verpetzen", knurrte <strong>Harry</strong>s Pate <strong>und</strong> lief an dem Aufpasser<br />
vorbei <strong>auf</strong> den Platz.<br />
<strong>Harry</strong> legte Hermine die Hand <strong>auf</strong> die Schulter. "Lass gut sein“,<br />
flüsterte er. "Es schadet dem Kerl <strong>doc</strong>h nicht." Dennoch machte<br />
Hermine ein zutiefst unglückliches Gesicht.<br />
Zumindest kamen sie durch Sirius' Gesetzesbruch endlich an den<br />
Ritter heran.<br />
"Bill Carter!", sagte McGonagall laut, als sie einen Meter hinter dem<br />
braunen Pferd zum Stehen kamen. Dessen Reiter drehte sich zu ihnen<br />
um. Er war vielleicht ein paar Jahre jünger als Alexander, mittelgroß <strong>und</strong><br />
hatte zerzauste, hellblonde Haare.<br />
"Was macht ihr hier?", fragte er argwöhnisch in demselben<br />
gewöhnungsbedürftigen Altenglisch, <strong>das</strong> alle Bewohner der Stadt zu<br />
sprechen schienen.<br />
321
"Wir müssen dich etwas fragen", erklärte Sirius. "Wir hoffen, <strong>das</strong>s<br />
du uns helfen kannst, jemanden zu finden, der von größter Wichtigkeit<br />
für uns ist. Wir haben gehört, <strong>das</strong>s du Stadtverwalter von London bist."<br />
"Könnt ihr nicht bis nach dem Turnier warten?", herrschte Bill<br />
Carter. "Es endet in zwei Wochen, dann nehme ich auch meine reguläre<br />
Arbeit wieder <strong>auf</strong>."<br />
"Das geht nicht, wir haben es eilig", meinte <strong>Harry</strong> hitzig. Der Reiter<br />
musterte ihn abschätzend.<br />
"Ach, <strong>und</strong> eure Interessen übersteigen die meinigen? Mit welchem<br />
Recht wagt ihr dies zu behaupten? Wir sind tot, uns hetzt nichts mehr.<br />
Ihr klingt mir sehr nach den der Zeit hinterher eilenden Lebenden, wenn<br />
ich <strong>das</strong> sagen darf."<br />
"Das liegt daran, <strong>das</strong>s wir nicht tot sind!", plapperte Ron heraus.<br />
"Wir suchen einen Weg <strong>zur</strong>ück!"<br />
"Zurück? Ihr seid mutig, <strong>das</strong> muss euch zugestanden werden.<br />
Mutig, aber töricht. Es gibt keinen Weg <strong>zur</strong>ück."<br />
"Und mit welchem Recht behauptest du, alles wissen zu wollen?",<br />
konterte Sirius. Carter sah ihn nachdenklich an.<br />
"Gut, ich mache euch einen Vorschlag. Ich bin Turnierreiter. Wer<br />
mich schlägt, dem bin ich einen Gefallen schuldig. Tretet gegen mich an,<br />
hier, <strong>auf</strong> diesem Platz, <strong>und</strong> der Gewinner bekommt seinen Willen."<br />
"Das ist <strong>doc</strong>h Unsinn!", herrschte McGonagall. "Wir sind nicht aus deiner<br />
Zeit <strong>und</strong> beherrschen deinen Sport nicht! Das ist unfair!"<br />
"Unfair? Aber mich beim Training zu stören erachtet ihr als fair?<br />
Verschwindet!"<br />
<strong>Harry</strong> wäre ihm vor Wut am liebsten an den Hals gesprungen <strong>und</strong><br />
wünschte fast, Sirius würde seinen Zauberstab wieder herausholen ...<br />
Doch da meldete sich Alexander zu Wort.<br />
"Ich reite", sagte er bloß. Mit seinen grünlichen Augen sah er<br />
Carter fest an. "Ich reite gegen dich."<br />
"Ihr?", fragte der Reiter verblüfft <strong>und</strong> musterte Alexander von Kopf<br />
bis Fuß. "Könnt Ihr ein so großes Pferd wie <strong>das</strong> meine überhaupt<br />
lenken?"<br />
<strong>Harry</strong> hatte den eindeutigen Eindruck, <strong>das</strong>s der Makedone gleich<br />
lostoben würde, kein W<strong>und</strong>er, war sein eigenes Pferd in Persien <strong>doc</strong>h<br />
um einiges größer als <strong>das</strong> Carters.<br />
"Das ist wohl mein Risiko", meinte er süffisant.<br />
„Alexander, nicht!“, rief Sirius ihn <strong>zur</strong> Vernunft, aber der sah ihn nur<br />
strafend an.<br />
"In Ordnung." Carter zuckte mit den Schultern. Dann nimm dir mein<br />
Ersatzpferd."<br />
Wortlos bestieg Alexander mit einem eleganten Sprung den<br />
ungesattelten Rappen, <strong>auf</strong> den Carter gedeutet hatte.<br />
322
"Wollt Ihr keine Rüstung?", stieß der mit <strong>auf</strong>gerissenen Augen<br />
hervor.<br />
"Nein", meinte Alexander nur. "Die würde mich bloß stören."<br />
"Aber Ihr würdet schwer verletzt werden –"<br />
"Ich bin tot, genau wie du. Was könnte uns noch passieren? Wir<br />
haben all <strong>das</strong> Schlimme der oberen Welt hinter uns gelassen."<br />
Carter nickte langsam. "Es ist deine Wahl. Nimm die Lanze." Er<br />
winkte einen Stallburschen herbei, der Alexander eine Holzstange in die<br />
Hand drückte, die fast genauso lang war wie er groß.<br />
"Wer seine Lanze an der – äh, Rüstung –", ironisch schaute Carter<br />
seinen Gegner an, "zerschlägt, hat gewonnen." Alexander nickte<br />
unbeeindruckt.<br />
"Dann los!"<br />
Sie wendeten ihre Pferde <strong>und</strong> ritten etwa h<strong>und</strong>ert Meter weit<br />
auseinander.<br />
<strong>Harry</strong> hatte sich mit Ron, Hermine, Sirius <strong>und</strong> McGonagall ein<br />
Stück abseits gestellt.<br />
"Das klappt nie!", stöhnte Ron. "Er wird zerfetzt werden, <strong>und</strong> dann<br />
müssen wir nicht nur einen Tag lang seine Eingeweide mit uns<br />
herumschleppen, sondern bekommen nie die Chance, den Hexer zu<br />
finden."<br />
"Ron, sprich nicht von solchen Sachen", herrschte ihn Hermine an,<br />
die leicht grün im Gesicht schien, während sie Alexander beobachtete,<br />
der seinen Rappen nun Carter zuwandte <strong>und</strong> prüfend die schwere Lanze<br />
erhob. Gleich ließ er sie wieder nach unten fallen.<br />
"Das schafft er nie", meinte McGonagall mit so sachlicher Stimme,<br />
als beurteile er Nevilles Chancen, beim Trimagischen Turnier zu<br />
gewinnen.<br />
"Nur wegen seines Egos bringt er uns um die einzige Möglichkeit,<br />
in die Welt der Lebenden <strong>zur</strong>ückzukehren!", fauchte Sirius. "Was denkt<br />
er sich dabei? Er ist ja tot, ihm kann es egal sein, wenn wir hier für<br />
immer festhängen!"<br />
"Immerhin hat er uns <strong>das</strong> Leben gerettet", verteidigte ihn Hermine.<br />
"Du musst auch jeden in Schutz nehmen", meinte Ron mit<br />
verärgerter Stimme, was Hermine eingeschnappt <strong>zur</strong>ücktreten ließ.<br />
In diesem Augenblick trieb Carter sein Pferd an <strong>und</strong> stürmte <strong>auf</strong><br />
Alexander zu. Der schaute eine Sek<strong>und</strong>e erschrocken <strong>auf</strong> seinen<br />
attackierenden Gegner, dann richtete er mit aller Kraft die gewaltige<br />
Lanze <strong>auf</strong> <strong>und</strong> jagte dem Rappen seine Stiefelspitzen in die Seiten. Mit<br />
enormen Tempo galoppierten die Reiter <strong>auf</strong>einander zu, unbewegt den<br />
anderen ansehend. Als sie nur noch einen Meter voneinander entfernt<br />
waren, schrie Hermine leise <strong>auf</strong>, aber <strong>Harry</strong> vermochte seinen Blick nicht<br />
abzuwenden.<br />
323
Mit lautem Scheppern zerbrach Holz an einer Rüstung, <strong>und</strong> ein<br />
Pferd wieherte <strong>auf</strong>. Alexander hatte sich geschickt unter der Lanze von<br />
Carter hinweggeduckt <strong>und</strong> ihm stattdessen seine eigene mit aller Kraft<br />
gegen die Brust gestoßen. Der Schlag war so gewaltig, <strong>das</strong>s Carter<br />
seine Lanze fallen ließ <strong>und</strong> die Kontrolle über sein Pferd verlor, <strong>das</strong> wild<br />
über den Platz jagte.<br />
Schließlich gelang es ihm, die Zügel wieder in die Hand zu<br />
bekommen, <strong>und</strong> mit entgeistertem Ausdruck <strong>auf</strong> dem Gesicht ritt er<br />
Alexander entgegen, der zufrieden seine zerbrochene Lanze<br />
begutachtete.<br />
"Galoppierender Wasserspeier!", brachte Sirius nur heraus.<br />
"Wer seid Ihr?", fragte Carter, keuchend von dem rasanten Ritt.<br />
Alexander atmete noch nicht einmal schneller.<br />
"Wie lange tjostet Ihr schon?"<br />
"Was?", entgegnete der Makedone unwirsch. "Falls du <strong>das</strong><br />
Stangengefuchtel meinst, <strong>das</strong> war mein erstes Mal. Bilde dir nichts <strong>auf</strong><br />
deine Siege ein, einen Perser <strong>auf</strong> h<strong>und</strong>ert Meter in vollem Galopp mit der<br />
Lanze zu durchbohren ist ungleich schwerer."<br />
"Unglaublich", schüttelte Carter den Kopf.<br />
"Glaubst du, ich lasse mich <strong>auf</strong> einen Kampf ein, den ich nicht<br />
gewinnen kann?", fragte Alexander nun lächelnd. "Außerdem brauchen<br />
meine Fre<strong>und</strong>e eine Auskunft von dir."<br />
Carter nickte.<br />
"Und lass dieses "Ihr" sein, ich komme mir dann immer vor wie ein<br />
tattriger alter Herrscher. Gut, Herrscher bin ich ja, aber lassen wir es<br />
beim Du."<br />
"Das sagt man hier aber so –", verteidigte sich Carter, als<br />
McGonagall ihm gegenüberstand.<br />
"Also, wir möchten etwas wissen." Er streckte die Hand aus, um<br />
Alexander zu gratulieren. "Klasse geritten."<br />
Carter seufzte. "Und, worum geht es?“<br />
"Wir suchen den Hexer von Hexham", erklärte Sirius hoffnungsvoll.<br />
"Kennst du ihn?"<br />
"Den Hexer?"<br />
<strong>Harry</strong> konnte nicht genau sagen, wie er sich die Antwort von Carter<br />
vorgestellt hatte; vielleicht erwartete er, eine Adresse zu hören oder<br />
zumindest eine Personenbeschreibung nebst Lieblingskneipe des Hexer;<br />
in jedem Fall hatte er <strong>das</strong> Gespräch für eine Minutensache gehalten.<br />
Aber Cartes entsetztes Gesicht ließ ihn ahnen, <strong>das</strong>s die Sache aus<br />
irgendeinem Gr<strong>und</strong> komplizierter war.<br />
"Sprecht nicht von ihm in aller Öffentlichkeit, oder wollt ihr<br />
eingesperrt werden?"<br />
324
McGonagall starrte den Turnierreiter mit offenem M<strong>und</strong> an.<br />
"Wieso? Wir wollen nur mit ihm reden. Er besitzt Informationen, die für<br />
uns sprichwörtlich überlebenswichtig sind."<br />
Carter stutzte bei dieser Wortwahl, seine Angst gewann aber die<br />
Oberhand über die Neugier.<br />
"Er ist ein Ketzer", meinte er nur <strong>und</strong> wandte sich ab. "Und sitzt im<br />
Kerker. Vergesst die Sache."<br />
"Ketzer?", wiederholte Sirius. "Was heißt <strong>das</strong>, hat er jemanden<br />
umgebracht?"<br />
Carter schaute ihn mit erhobenen Augenbrauen an. "Umgebracht?<br />
Ihr seid noch nicht lange in der <strong>Unterwelt</strong>, was? Nun, da ich euch<br />
zumindest einen kleinen Gefallen schuldig bin, erkläre ich euch die<br />
Umstände. Ein Ketzer ist jemand, der den Lehren der Kirche widerspricht<br />
<strong>und</strong> wegen Gotteslästerung gejagt wird."<br />
"Was ist eine Kirche?", fragte Sirius neugierig. Hermine packte ihn<br />
ängstlich am Arm. "Wir sind nicht von hier", meinte sie schnell.<br />
"Das sehe ich." Carter wirkte unschlüssig. "Aber aus welcher Zeit<br />
ihr auch immer kommt, die Inquisition wird euch finden, wenn ihr weiter<br />
solches Zeug redet."<br />
Er sah sich unwohl um. "Schon mit euch zu reden könnte mich<br />
meinen Job kosten."<br />
"Was wird dem Hexer genau vorgeworfen?", fragte Hermine.<br />
"Nun, er redet unheiliges Zeug vom Wieder<strong>auf</strong>stieg in die Welt der<br />
Lebenden. Die Kirche hat je<strong>doc</strong>h die <strong>Unterwelt</strong> zum ewigen Jenseits<br />
erklärt <strong>und</strong> duldet keine Querschläger."<br />
<strong>Harry</strong> zuckte bei dem Wort "Wieder<strong>auf</strong>stieg" zusammen.<br />
"Nur deswegen ist er eingesperrt?", presste er heraus.<br />
"Nun, auch deshalb, weil ihm vorgeworfen wird, ein Zauberer zu<br />
sein", flüsterte Carter leise, als könne alleine <strong>das</strong> Aussprechen dieser<br />
Worte die Inquisition anlocken. "Wobei ich <strong>das</strong> persönlich für Unsinn<br />
halte. Es gibt <strong>doc</strong>h keine Magie!"<br />
Sirius grinste bemüht, <strong>und</strong> McGonagall hörte abrupt <strong>auf</strong>, mit<br />
seinem unter dem Umhang versteckten Zauberstab zu spielen.<br />
"Lasst diesen Blödsinn einfach sein. Ich will nicht auch im Kerker<br />
landen."<br />
"Aber wir müssen zu dem Hexer! Er ist unsere einzige Chance",<br />
flehte <strong>Harry</strong>.<br />
"Chance wor<strong>auf</strong>? In einem Kellerloch zu versauern?", meinte<br />
Carter bitter.<br />
<strong>Harry</strong> resignierte. Sie mussten Carter in ihren Plan einweihen, wie<br />
sonst sollten sie zum Hexer kommen?<br />
Alexander trat nun vor den Ritter <strong>und</strong> schaute ihn ruhig an. "Du<br />
musst ihnen helfen, diesen Hexer zu finden. Sonst sind sie für immer an<br />
die <strong>Unterwelt</strong> gekettet."<br />
325
"Wie für immer – was denn sonst?", fuhr Carter <strong>auf</strong>, wor<strong>auf</strong>hin<br />
Alexander ihm die Hand <strong>auf</strong> die Schulter legte <strong>und</strong> ihn wortlos mit<br />
seinem Blick gefangen hielt. Erstaunlicherweise beruhigte sich der<br />
Stadtverwalter <strong>und</strong> kniff die Augen zusammen.<br />
"Ich glaube nicht, <strong>das</strong>s ich wirklich hören will, was ihr vorhabt",<br />
meinte er. "Aber ich werde euch helfen. Immerhin hast du mich<br />
geschlagen." Leicht verlegen ergriff auch er Alexanders Schulter, was<br />
Ron dazu brachte, die Augenbrauen hochzuziehen.<br />
"Nun, damit ist die Angelegenheit klar", flüsterte McGonagall zu<br />
<strong>Harry</strong>, auch wenn der nicht genau wusste, was sein Großcousin damit<br />
meinte.<br />
"In Ordnung, wir gehen am besten gleich, solange die ganze Stadt<br />
noch beim Turnier ist. Das Stadtgefängnis ist nicht weit." Carter übergab<br />
seinen Braunen dem Stallburschen <strong>und</strong> ging kurz weg, um seine<br />
Rüstung loszuwerden.<br />
"Wie hast es geschafft, ihn zu überreden?", wollte Sirius von<br />
Alexander wissen. Der lächelte geheimnisvoll. "Ich bin König von<br />
Makedonien, Pharao von Ägypten <strong>und</strong> Großkönig der Perser. Ein<br />
bisschen Überzeugungskraft benötigt man schon, um diese Dinge zu<br />
erreichen." Dennoch errötete er leicht, als er sich in die Richtung<br />
umdrehte, in die Carter verschw<strong>und</strong>en war.<br />
"Ah ja", grinste McGonagall. "Dann können wir nur hoffen, <strong>das</strong>s<br />
dein Fre<strong>und</strong> uns zum Hexer führen kann."<br />
Zwei Minuten später entfernten sie sich vom Turnierplatz, was<br />
<strong>Harry</strong> wie ein Segen vorkam, <strong>das</strong> endlose Gekreische der Leute ging<br />
ihm entschieden <strong>auf</strong> die Nerven. Nur einige Straßen weiter war es<br />
vollkommen ruhig, <strong>und</strong> kein Mensch war zu sehen.<br />
Alexander <strong>und</strong> Carter liefen einige Schritte voraus. Letzterer<br />
beugte sich zu dem Makedonen hinunter <strong>und</strong> sagte etwas, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong><br />
nicht verstehen konnte. Alexander grinste <strong>und</strong> flüsterte Carter etwas ins<br />
Ohr, seine dunkelblonde Mähne vermischte sich mit Carters heller.<br />
McGonagall wies mit dem Kopf <strong>auf</strong> die beiden <strong>und</strong> stieß <strong>Harry</strong><br />
leicht an. "Ich denke nicht, <strong>das</strong>s er uns jetzt noch verraten wird."<br />
"Wenn die Inquisition uns kriegt, schmoren wir sowieso für immer<br />
im Mittelalter", murrte Ron, als sie vor einem großen, steinernen<br />
Gebäude hielten, <strong>das</strong> mit einer schweren Eichentür versehen war <strong>und</strong><br />
vergitterte Erkerfenster hatte, die <strong>Harry</strong> ein Schaudern über den Rücken<br />
jagten.<br />
Carter klopfte, <strong>und</strong> ein großer, mürrisch drein blickender Mann<br />
öffnete.<br />
"Ich möchte mit dem Hexer sprechen", forderte er ruhig.<br />
Der Mann trat beiseite. "Natürlich, Herr Stadtverwalter."<br />
Argwöhnisch betrachtete er <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> die anderen. "Und wer sind die<br />
da?"<br />
326
"Das sind Mitglieder der spanischen Inquisition", behauptete Carter<br />
fest.<br />
"Buenos dias!", rief Hermine schnell. Ron neben ihr grinste.<br />
"Sie sind wegen des Turniers gekommen", erklärte Carter, "<strong>und</strong> da<br />
habe ich ihnen vom Hexer erzählt. Sie würden ihn gerne selbst befragen<br />
– die Spanier haben da ganz eigene Methoden", meinte er <strong>und</strong> zwinkerte<br />
dem Burschen verschwörerisch zu.<br />
"Ah, verstehe, <strong>das</strong> läuft quasi inoffiziell", strahlte der Kerl <strong>zur</strong>ück,<br />
wor<strong>auf</strong>hin Alexander zustimmend nickte.<br />
"Dann kommt." Sie betraten <strong>das</strong> enge, dunkle Haus <strong>und</strong> ließen sich<br />
zu einer Tür bringen, hinter der gew<strong>und</strong>ene Stufen hinab in die Finsternis<br />
führten.<br />
"Ihr wisst ja, wo er ist", grunzte der Aufseher zu Carter <strong>und</strong> ging<br />
wieder <strong>zur</strong>ück in sein Zimmer.<br />
"Fauler Kerl", brummte der Stadtverwalter. "Eigentlich sollte er<br />
immer dabei sein, wenn ein Gefangener besucht wird. Aber uns kann es<br />
nur dienen."<br />
Problemlos erreichten sie die Zellen, die in einem überraschend<br />
großen, von nur wenigen Kerzen erleuchteten Keller untergebracht<br />
waren, <strong>und</strong> passierten mehrere nach Fäule stinkende, dreckige<br />
Kerkerlöcher, bevor Carter vor einer besonders ekligen Tür zum Stehen<br />
kam.<br />
"Hexer!", rief er.<br />
Drinnen rührte sich nichts.<br />
"Zeig dich, ich habe jemanden dabei, der mit dir reden will."<br />
Immer noch drang kein Ton aus der Gruft.<br />
"Ich fürchte, er wurde in den letzten 500 Jahren etwas zu oft<br />
verhört", meinte Carter leise, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> erschrak. Der Hexer war seit so<br />
langer Zeit hier eingesperrt? Er würde es nicht einmal eine St<strong>und</strong>e<br />
aushalten.<br />
"Hexer!", ergriff nun McGonagall <strong>das</strong> Wort. "Wir möchten dich<br />
etwas fragen. Etwas über den Bogen. Im Ministerium."<br />
Carter starrte ihn befremdet an, aber wenigstens hörten sie nun ein<br />
leises Schlurfen aus dem Inneren der Zelle, <strong>und</strong> ein kleines Fenster im<br />
oberen Teil der Tür wurde geöffnet. Sie blickten in <strong>das</strong> Gesicht eines<br />
älteren, wahrscheinlich beleibten Mannes mit grauem Haar <strong>und</strong><br />
Schnurrbart, <strong>das</strong> trotz seiner Fülle irgendwie ausgezehrt wirkte.<br />
Wachsame braune Augen zeugten je<strong>doc</strong>h von einem wachen Verstand<br />
<strong>und</strong> musterten sie fast eine Minute lang.<br />
"Ihr seid Zauberer", meinte der Hexer schließlich angestrengt, als<br />
müsse er sich erst wieder an <strong>das</strong> Reden gewöhnen.<br />
Carter knallte vor Schreck gegen die Wand hinter sich, <strong>und</strong><br />
Alexander lief sofort zu ihm, um ihn zu beruhigen.<br />
"Zauberer?", flüstere der Ritter. "Aber – es gibt keine!"<br />
327
"Doch", erwiderte Sirius <strong>und</strong> zückte seinen Zauberstab.<br />
"Mein Gott." Carter war kalkweiß geworden. "Ihr seid Ketzer!"<br />
"Ja, sind wir, zufrieden?", blaffte McGonagall <strong>und</strong> wandte sich dem<br />
Hexer zu.<br />
"Wir haben von dir gehört", begann er.<br />
"Ja, Sie sind schon einmal durch den Bogen <strong>zur</strong>ück in die Welt der<br />
Lebenden gegangen!", rief Ron. "Sie müssen uns helfen."<br />
"Niemand kann <strong>zur</strong>ück in die andere Welt, wenn er sie nicht durch den<br />
schwarzen Bogen verlassen hat", grunzte der Hexer scheinbar unter<br />
Schmerzen. "Das ist der Preis für den Tod."<br />
"Aber wir sind durch den Bogen gekommen!", meinte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong><br />
Ron <strong>und</strong> Hermine nickten heftig.<br />
"Was?" Der Hexer keuchte <strong>und</strong> brauchte einen Moment, um<br />
weiter<strong>zur</strong>eden. "Aber wie?"<br />
"Das ist unwichtig", winkte Sirius ab. "Wir wollen <strong>zur</strong>ück. Du musst<br />
uns sagen, wie <strong>das</strong> geht."<br />
"Wie? Aber <strong>das</strong> ist einfach. Ihr müsst nur den weißen Bogen<br />
durchqueren. Den kennt ihr <strong>doc</strong>h?"<br />
Sie nickten.<br />
"Aber wieso sind dann die früheren Unsäglichen nie<br />
<strong>zur</strong>ückgekehrt?", zweifelte Hermine.<br />
"Weil ihr nur unter einer Bedingung <strong>zur</strong>ückkommt." Der Hexer<br />
brach ab <strong>und</strong> hustete heftig, ein Geräusch, <strong>das</strong> von den kalten<br />
Kellerwänden widerhallte.<br />
<strong>Harry</strong> spürte, wie seine Beine leicht nachgaben. Eine Bedingung?<br />
Was, wenn sie die nicht erfüllten? Er sah denselben Schrecken, den er<br />
empfand, in den Gesichtern seiner Fre<strong>und</strong>e; Hermine schaute<br />
ungeheuer besorgt den Hexer an, <strong>und</strong> Ron war genauso weiß geworden<br />
wie Carter. Letzterer wirkte zwar immer noch mitgenommen, aber<br />
Alexander hatte ihm den Arm um die Schulter gelegt <strong>und</strong> drückte ihn an<br />
sich.<br />
"Was für eine Bedingung?", fragte McGonagall so leise, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />
seine Worte fast nicht verstand. Er spürte Wasser von der Kerkerdecke<br />
<strong>auf</strong> sein Gesicht tropfen, achtete aber nicht dar<strong>auf</strong>, sondern lauschte<br />
atemlos dem Röcheln des Hexers.<br />
"Um ins Leben <strong>zur</strong>ückkehren zu können müsst ihr Leben<br />
geschaffen haben."<br />
Einige Sek<strong>und</strong>en war alles still, sogar Carter sah verw<strong>und</strong>ert aus.<br />
"Leben geschaffen?" Sirius Stimme klang in dem großen Gewölbe<br />
seltsam hohl.<br />
"Klar, <strong>das</strong> müsst ihr zahlen für eine zweite Chance unter den<br />
Lebenden: Leben erzeugt zu haben."<br />
Taumelnd ließ <strong>Harry</strong> sich gegen die Kerkerwand sinken.<br />
Es war vorbei.<br />
328
Leben schaffen?<br />
"Ihr meint", hauchte Hermine, <strong>das</strong> pure Entsetzen in der Stimme,<br />
"nur, wer ein Kind gezeugt hat, kann durch den Bogen gehen?"<br />
Ron hatte die Augen <strong>auf</strong>gerissen <strong>und</strong> starrte den Hexer wie<br />
Hermine gleichsam ungläubig an, als wäre er in eine falsche Geschichte<br />
geraten.<br />
Aber waren sie <strong>das</strong> im Gr<strong>und</strong>e nicht alle?, fragte sich <strong>Harry</strong><br />
resignierend.<br />
"Kinder zeugen? Nein, natürlich nicht!" Der Hexer stieß würgende<br />
Laute aus, die wohl ein Lachen darstellen sollten.<br />
"Kinder bekommen? Wie soll <strong>das</strong> in der <strong>Unterwelt</strong> denn gehen?<br />
Schwanger zu werden ist hier ein Tabu, <strong>das</strong> niemand brechen darf",<br />
erklärte er ernst. "Denn ein Kind bedeutet Leben, <strong>und</strong> wir sind hier unter<br />
Toten, nicht? Das heißt, wenn in der <strong>Unterwelt</strong> ein Kind gezeugt wird,<br />
gelangt es bei Geburt automatisch in die andere Welt."<br />
"Aber wie –", protestierte McGonagall.<br />
"Nun ja, es wird einfach willkürlich einer unberührten Frau<br />
geboren." Der Hexer zuckte mit den Schultern. "Soweit ich weiß, ist <strong>das</strong><br />
bisher nur einmal vorgekommen. Vor einigen Jahrtausenden. Hat die<br />
Muggel in ziemliche Aufregung versetzt, nach dem, was ich gehört<br />
habe."<br />
Hermine sank halb in die Knie, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> rief in ungewollt hohem<br />
Ton: "Soll <strong>das</strong> heißen, Jesus ist kein Sohn Gottes, sondern kommt aus<br />
der – <strong>Unterwelt</strong>?"<br />
"Wer?", fragten ihn drei Stimmen gleichzeitig, nur Hermine,<br />
McGonagall <strong>und</strong> Carter schienen wie er zu begreifen, was sie gerade<br />
gehört hatten.<br />
"Ach, niemand."<br />
Verlegen senkte <strong>Harry</strong> den Kopf. Er vergaß auch nach fünf Jahren<br />
in der Zauberergemeinschaft noch, <strong>das</strong>s es f<strong>und</strong>amentale Unterschiede<br />
zwischen magischen <strong>und</strong> nichtmagischen Menschen gab.<br />
"Ist auch egal", meinte Sirius unwirsch. "Was meinst du mit „Leben<br />
erzeugen“, wenn damit keine Fortpflanzungsgedanken verb<strong>und</strong>en<br />
sind?", wollte er vom Hexer wissen.<br />
"Nun, Ihr müsst einmal jemandem <strong>das</strong> Leben gerettet haben",<br />
erklärte der Hexer <strong>und</strong> brach in einen neuerlichen Hustenanfall aus.<br />
"Gerettet?" Sie sahen sich bestürzt an.<br />
"<strong>Harry</strong> hat uns mehr als einmal <strong>das</strong> Leben gerettet!", warf Hermine<br />
ein. "Wie zum Beispiel damals, als mich der Troll erledigen wollte."<br />
"Da hat Ron aber auch mit gemacht", sagte <strong>Harry</strong> sofort.<br />
"Und du hast mich gerettet, Hermine – vor der Teufelsschlinge,<br />
weißt du noch?", fiel es Ron ein, der unsäglich erleichtert schien.<br />
"Wie könnte ich <strong>das</strong> je vergessen", grinste Hermine schwach.<br />
Sie schauten Sirius <strong>und</strong> McGonagall an.<br />
329
"Du hast mir im See <strong>das</strong> Leben gerettet", erinnerte <strong>Harry</strong> seinen<br />
Großcousin.<br />
"Und Sirius ist uns zusammen mit dem Orden im letzten Juli <strong>zur</strong><br />
Hilfe gekommen", meinte Hermine nachdenklich. "Die Todesser hätten<br />
uns sonst getötet."<br />
Sirius atmete scharf ein.<br />
"Dann sollte uns nichts mehr im Weg stehen", meinte er.<br />
„Sag mal“, fragte <strong>Harry</strong> an den Hexer gewandt nachdenklich,<br />
„wieso hat nie jemand erfahren, <strong>das</strong>s du aus der <strong>Unterwelt</strong><br />
<strong>zur</strong>ückgekehrt bist?“<br />
Ein bellendes Röcheln war die Antwort.<br />
„Weil sie es vertuschen wollten!“, rief der Hexer. „Das Ministerium<br />
wollte die ganze Sache geheim halten, <strong>und</strong> sie taten ja auch gut daran,<br />
oder? Der Zeuge, der mich gesehen hatte, wurde mit einem<br />
Verwirrungszauber belegt – nur ich konnte rechtzeitig fliehen. Aber<br />
ehrlich gesagt habe ich nie den Wunsch verspürt, über mein Geheimnis<br />
zu sprechen. Ich mag keine Aufmerksamkeit.“<br />
„Genug geredet“, unterbrach sie Sirius <strong>und</strong> wollte in Richtung<br />
Ausgang l<strong>auf</strong>en, als plötzlich drei Männer durch die Tür stürmten <strong>und</strong><br />
Schwerter <strong>auf</strong> sie richteten.<br />
"Stehen bleiben!", blaffte der Größte von ihnen. "Wir nehmen Sie<br />
fest im Namen des Königs wegen Verdacht <strong>auf</strong> Hexerei!" Hinter ihnen<br />
trat der Wachmann vor, welcher Carter einen fast entschuldigenden Blick<br />
zuwarf.<br />
"Deine so genannten Inquisitoren wirkten komisch <strong>auf</strong> mich ...",<br />
murmelte er. "Ich habe euch <strong>zur</strong> Sicherheit überwachen lassen ... zu<br />
Recht, wie sich erwies. Ihr seid Ketzer, der Hexerei verfallen, wie unser<br />
werter Gefangener." Er warf einen schnellen Blick <strong>auf</strong> den Hexer von<br />
Hexham.<br />
"Inquisitionsgarde, nehmt sie in Gewahrsam!", befahl er kühl.<br />
McGonagall zog seinen Zauberstab, Ron <strong>und</strong> Hermine stellten sich<br />
Rücken an Rücken gegen die Angreifer <strong>auf</strong>, <strong>und</strong> der erste der Männer<br />
stürmte mit hämischem Grinsen <strong>auf</strong> Carter zu, der unbewaffnet war.<br />
"Ein Stadtverwalter der Hexerei angeklagt, <strong>das</strong> gibt einen<br />
hübschen Bonus für uns", grinste er böse <strong>und</strong> schwang sein Schwert.<br />
"<strong>Harry</strong>, verhexe ihn!", schrie Carter, während er sich unter dem<br />
Schlag wegduckte. Hektisch wühlte <strong>Harry</strong> in seiner Tasche nach dem<br />
Zauberstab. Wo war er nur? Undeutlich nahm er einen Schockzauber<br />
von Sirius wahr, der einen der drei Wachmänner <strong>auf</strong> den Boden<br />
schleuderte. Plötzlich zischte ein Stück Metall an seinem Ohr vorbei, <strong>und</strong><br />
entsetzt erkannte er, <strong>das</strong>s der Wachmann versuchte, ihn zu treffen.<br />
Endlich fanden seine tastenden Finger ein langes, dünnes Stück<br />
Holz, <strong>und</strong> triumphierend zog er es aus der Tasche, in Gedanken schon<br />
einen Stupor-Zauber formulierend.<br />
330
Als er ihn sprechen wollte, fiel sein Blick je<strong>doc</strong>h <strong>auf</strong> den Bleistift,<br />
den er in der Hand hielt. Verdammt, wo war sein Zauberstab?<br />
Der Wächter kam <strong>auf</strong> ihn zu <strong>und</strong> holte mit dem Schwert aus. Irritiert<br />
starrte <strong>Harry</strong> immer noch <strong>das</strong> Schreibgerät an, es fühlte sich fast an wie<br />
sein Zauberstab, ließ ihn aber <strong>doc</strong>h so hilflos da stehen ... da schnappte<br />
sich Carter den Bleistift aus seiner Hand <strong>und</strong> rammte ihn ohne zu zögern<br />
dem Angreifer mit Schwung ins Gesicht. Dieser fiel lautlos nach hinten<br />
weg <strong>und</strong> blieb regungslos liegen.<br />
"Nun, <strong>das</strong> ist der einzige Zaubertrick, den ich beherrsche", meinte<br />
Carter trocken, während <strong>Harry</strong> endlich seinen Zauberstab fand <strong>und</strong> dem<br />
dritten Mann eine Ganzkörperklammer verpasste.<br />
Schn<strong>auf</strong>end stützte er sich <strong>auf</strong> die Knie. Die Inquisitionsgarde war<br />
erledigt, aber der Gefängniswärter, der sie hereingelassen hatte, war<br />
verschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> holte vermutlich gerade Hilfe. Sirius <strong>und</strong> McGonagall<br />
standen immer noch mit erhobenen Zauberstäben da, <strong>und</strong> Alexander<br />
hatte sein Schwert gezückt. Aber alles war still.<br />
"Schnell, wir müssen verschwinden", rief Sirius. "Die Verstärkung<br />
wird bald anrücken."<br />
"Wo sollen wir hin?", fragte Hermine. "Sie werden uns finden, wir<br />
fallen in unseren Umhängen viel zu sehr <strong>auf</strong>."<br />
"Na, wohin denn, in unsere Zeit natürlich", meinte McGonagall.<br />
"Dort sind wir sicher. Diese Menschen hier sind ungebildet, sie wissen<br />
gar nichts von der Zukunft. Sie könnten uns nicht folgen, selbst wenn sie<br />
wüssten, wohin wir gegangen sind. Sie haben nicht genug Kenntnis von<br />
unserer Zeit."<br />
"Ich gehe nicht von hier weg", erklang <strong>auf</strong> einmal Alexanders<br />
Stimme. "Nicht ohne Bill."<br />
"Dann soll er mit uns kommen", knurrte Sirius unwirsch. "Wir haben<br />
keine Zeit für so was."<br />
"Was meint ihr?", fragte sie der Ritter verwirrt. "Wohin geht ihr<br />
denn?"<br />
"Bill", sprach Alexander leise. "Komm mit in meine Zeit. Dort<br />
können wir zusammen sein – <strong>auf</strong> ewig."<br />
"Die Menschen in diesem Land dulden – äh, Beziehungen wie die<br />
unsere nicht", meinte Carter ängstlich. "Sie würden uns jagen <strong>und</strong><br />
verbrennen. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne dich zu leben – aber an<br />
welchem Ort hätten wir Frieden?"<br />
"Nun ja", lächelte Alexander, "in meiner Zeit würde man uns<br />
akzeptieren. Und selbst wenn nicht – dann würde ich es einfach<br />
befehlen. Kommst du mit mir?"<br />
Carter nickte nur.<br />
"Genug, lasst uns verschwinden!", drängte McGonagall, <strong>und</strong><br />
überstürzt rannten sie die Treppen hin<strong>auf</strong> <strong>auf</strong> die Straße. Von weitem<br />
hörten sie Geschrei <strong>und</strong> <strong>das</strong> Klappern von Rüstungen.<br />
331
"Sie kommen", erklärte Carter ruhig. "Sie werden uns gefangen<br />
nehmen."<br />
"Beeilt euch!", schrie Sirius <strong>und</strong> schloss die Augen. <strong>Harry</strong> kniff<br />
seine auch zusammen <strong>und</strong> ergriff die vom Schweiß nasse Hand<br />
Hermines, die Ron mit ihrer anderen Hand fest umklammert hatte. Die<br />
Inquisitionsgarde kam näher. Aus dem Augenwinkel heraus sah er<br />
Alexander hastig Worte in Carters Ohr flüstern, dann erblickte er im<br />
Geiste nur noch <strong>das</strong> moderne London <strong>und</strong> drehte sich halb um die<br />
eigene Achse, gerade, als er ein scharfes Schwert vor sich durch die Luft<br />
schwingen fühlte.<br />
332
KAPITEL SIEBZEHN<br />
Halloween<br />
Panisch wollte er sich wegducken, griff aber nur in Luft <strong>und</strong><br />
stolperte über seine Füße.<br />
"<strong>Harry</strong>!", hörte er Hermine rufen, <strong>und</strong> irgendwo über ihm flog etwas<br />
Schweres durch die Gegend. Als er wieder sehen konnte, riss er den<br />
Kopf herum <strong>und</strong> fand sich überrascht <strong>auf</strong> einem Fleckchen Rasen<br />
wieder. Nicht weit von ihm entfernt donnerte ein Doppeldeckerbus<br />
vorbei.<br />
Unendlich erleichtert sank er <strong>zur</strong>ück ins Gras, als Hermine ihn bei<br />
der Hand packte.<br />
"Wo sind sie?", fragte sie, <strong>und</strong> ihre vor Furcht zitternde Stimme ließ<br />
ihn <strong>auf</strong>springen.<br />
"Wer?" Hinter Hermine lag Ron <strong>auf</strong> dem Boden <strong>und</strong> rappelte sich<br />
gerade hoch, scheinbar war er es gewesen, der neben ihm durch die<br />
Luft geflogen war.<br />
Sonst war aber niemand zu sehen.<br />
"Wo sind Sirius <strong>und</strong> Jamie?" <strong>Harry</strong> fand, <strong>das</strong>s er erstaunlich ruhig<br />
klang angesichts der Tatsache, <strong>das</strong>s sein Pate <strong>und</strong> sein Großcousin<br />
möglicherweise in die Fänge der Inquisition geraten waren <strong>und</strong> irgendwo<br />
im Mittelalter feststeckten.<br />
"Wir müssen <strong>zur</strong>ück." Wortlos schloss er die Augen, aber Hermine<br />
schüttelte ihn, <strong>und</strong> seine Konzentration verflog.<br />
"Das geht nicht! Sie schnappen uns sonst auch!"<br />
"Und was denkst du, was ich jetzt mache?", fauchte <strong>Harry</strong>. "Untätig<br />
bleiben, während ich Sirius zum zweiten Mal verliere?<br />
"Wir müssen warten!", hielt ihn auch Ron <strong>zur</strong>ück. "Wenn sie es<br />
schaffen, werden sie kommen."<br />
333
"Und was, wenn nicht?", schnappte <strong>Harry</strong> <strong>zur</strong>ück. "Vielleicht<br />
werden sie in ein Gefängnis geschleppt, <strong>das</strong> wir im Leben nicht finden –<br />
wenn wir sofort gehen, können wir ihnen folgen."<br />
"Wenn es einen Weg gibt, werden sie ihn finden", beharrte<br />
Hermine. "Was glaubst du, was du bewirken kannst, <strong>das</strong> zwei<br />
erwachsene Zauberer nicht auch könnten?"<br />
"Aber wenn sie –"<br />
Weiter kam er nicht. Die Luft um ihn schien plötzlich <strong>auf</strong><strong>zur</strong>eißen,<br />
als hätte jemand in sie hinein geschnitten <strong>und</strong> ein Loch geöffnet. Im<br />
nächsten Moment stolperte Sirius <strong>auf</strong> ihn zu <strong>und</strong> hätte ihn beinahe<br />
umgerissen.<br />
"Sorry", schn<strong>auf</strong>te sein Pate <strong>und</strong> sprang schnell <strong>zur</strong> Seite, um nicht<br />
von McGonagall, Alexander <strong>und</strong> Carter umgestoßen zu werden, die ihm<br />
<strong>auf</strong> dem Fuß folgten.<br />
"Wo wart ihr?", schrie <strong>Harry</strong> halb außer sich vor Erleichterung <strong>und</strong><br />
langsam abklingender Angst.<br />
"Zauberschach spielen", meinte Sirius trocken <strong>und</strong> klopfte sich<br />
Dreck vom Umhang.<br />
"Wir haben uns die Inquisitoren vom Leib gehalten, was denkst du<br />
denn?", sah ihn McGonagall fragend an.<br />
"Wir haben euch nicht mehr gesehen, <strong>und</strong> da dachte ich –"<br />
"Wir waren genau eine halbe Minute hinter euch", verdrehte Sirius<br />
die Augen. "Traust du uns nicht zu, mit einem H<strong>auf</strong>en mit Mistgabeln<br />
bewaffneter Muggel fertig zu werden?" Er schlug <strong>Harry</strong> grinsend <strong>auf</strong> die<br />
Schulter. "James wäre nicht so ungeduldig gewesen wie du."<br />
<strong>Harry</strong> hatte gut Lust, jemanden ordentlich durchzuschütteln, beließ<br />
es aber. Es gab Wichtigeres zu tun.<br />
Hermine schaute <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron mit blitzenden Augen an. "Nun, da<br />
wir vollständig sind, sollten wir von hier verschwinden Wir gehören nicht<br />
hierher", meinte sie. "Unser Platz ist woanders."<br />
"Zurück nach Hogwarts", nickte Ron. "Mann, wer hätte gedacht,<br />
<strong>das</strong>s ich diese Ruine einmal vermissen würde. Was würde ich geben für<br />
mein Bett – <strong>das</strong> Essen – Quidditch." Sein Gesicht nahm einen<br />
schwärmerischen Ausdruck an, als er die Annehmlichkeiten des<br />
Schlosses <strong>auf</strong>zählte.<br />
Auch <strong>Harry</strong> hatte <strong>das</strong> Gefühl, es keine Minute länger hier aushalten<br />
zu können.<br />
Nicht, <strong>das</strong>s der Tod so schlecht wäre, redete er sich ein. Und <strong>das</strong><br />
war er auch nicht. Aber wie Hermine auch verspürte er eine große<br />
Fremdartigkeit in all den Dingen, die die <strong>Unterwelt</strong> ausmachten. Das<br />
Gras unter seinen Füßen schien nur eine Karikatur dessen zu sein, was<br />
er unter Gras verstand, der blaue Himmel <strong>und</strong> die kühle Herbstluft<br />
wirkten wie eine Filmkulisse.<br />
"Alles hier ist irgendwie unecht", setzte Ron hinzu.<br />
334
"Das wird sich ändern, wenn ihr tot seid", beruhigte ihn Alexander.<br />
"Denn dann seid ihr ein berechtigter Teil dieser Welt <strong>und</strong> sie einer von<br />
euch."<br />
"Na, dar<strong>auf</strong> kann man sich freuen", nuschelte Ron leicht ironisch,<br />
aber <strong>Harry</strong> merkte, <strong>das</strong>s er genau wie er selbst keine Angst mehr vor<br />
dem Tod haben würde.<br />
Denn er ist nicht <strong>das</strong> Ende.<br />
McGonagall, der eine Straßenkarte von London untersucht hatte,<br />
zeigte ihnen den Weg zum Ministerium, zuckte dann aber plötzlich<br />
zusammen.<br />
"Was ist?", fragte Sirius.<br />
"Wir müssen Snape finden", keuchte McGonagall. Sein Gesicht<br />
war <strong>auf</strong> einmal sehr blass. "Er weiß noch nicht, welche Bedingung man<br />
erfüllen muss, um in die Oberwelt <strong>zur</strong>ückzukehren."<br />
Sirius, Alexander <strong>und</strong> Carter schauten sich betreten an.<br />
"Daran habe ich nicht gedacht", meinte <strong>Harry</strong>s Pate erschrocken.<br />
"Bei Merlin, nun ist er euch gefolgt, <strong>und</strong> –" Er rang nach Worten. "Ihr<br />
wisst ja, <strong>das</strong>s er ein Schleimbeutel ist, aber ich hätte nie gewollt, <strong>das</strong>s –"<br />
"Mache dir keine Mühe, schlechtes Gewissen zu haben", grinste<br />
<strong>Harry</strong>. Er hatte schon über Snape nachgedacht.<br />
"Er hat mir in meinem ersten Schuljahr <strong>das</strong> Leben gerettet, als<br />
Quirrell meinen Besen verhext hat. Er kann <strong>zur</strong>ück in die Oberwelt."<br />
"Oh", sagte Sirius nur <strong>und</strong> versuchte, möglichst emotionslos zu<br />
wirken. Ob er damit seine Erleichterung oder <strong>doc</strong>h Enttäuschung<br />
verbergen wollte, konnte <strong>Harry</strong> nicht sagen. Verstanden hätte er beides.<br />
"Dennoch weiß keiner, wo er ist", erinnerte sie Hermine.<br />
"Na <strong>und</strong>, wir informieren einfach den <strong>Unterwelt</strong>s-Orden, <strong>und</strong> wenn<br />
er <strong>auf</strong>taucht, kann man ihn zum Ministerium bringen", schlug<br />
McGonagall vor.<br />
"Na super, <strong>und</strong> in der Zwischenzeit kann er hier unten machen,<br />
was ihm gerade einfällt!", protestierte <strong>Harry</strong>.<br />
Sirius lachte. "Was soll er denn tun? Willst du neben ihm herl<strong>auf</strong>en<br />
<strong>und</strong> ihm <strong>auf</strong> die Finger schauen?"<br />
"Hat er denn nicht gesagt, wo er hin will, bevor ihr euch getrennt<br />
habt?", fragte Hermine McGonagall.<br />
Der zuckte mit den Schultern. "Er meinte nur, <strong>das</strong>s er Sirius schon<br />
einmal suchen wollte –"<br />
"Hat ja gut geklappt", schnaubte dieser.<br />
"— <strong>und</strong> vorher wollte er noch eine Frau <strong>auf</strong>suchen."<br />
"Eine Frau?", entfuhr es <strong>Harry</strong>. Seine Mutter! Sicher wollte Snape<br />
zu Lily <strong>Potter</strong>, in die er laut Hermine einmal verliebt gewesen war – es<br />
besser, es immer noch war.<br />
"Ich muss zu meinen Eltern!", beschloss er.<br />
335
McGonagall schloss die Augen. "<strong>Harry</strong>, <strong>das</strong> haben wir <strong>doc</strong>h schon<br />
einmal diskutiert. Du darfst deine Eltern zu deinem eigenen Schutz nicht<br />
sehen."<br />
"Nein, ihr versteht <strong>das</strong> nicht, es ist –"<br />
"Was ist es, <strong>Potter</strong>?", ertönte eine kalte Stimme hinter ihm. Einige<br />
Sek<strong>und</strong>en lang blieb er erstarrt stehen, unfähig, sich zu rühren. Sirius<br />
<strong>und</strong> McGonagall waren zusammengezuckt, <strong>und</strong> Alexander hatte wieder<br />
sein Schwert gezogen.<br />
"Die Sprache verloren, <strong>Potter</strong>?", höhnte Snape <strong>und</strong> sah sich in<br />
ihrer R<strong>und</strong>e um. Seine schwarze, große Gestalt wirkte zwischen ihnen<br />
wie eine Fledermaus, die sich <strong>auf</strong> der Erde niedergelassen hatte. Mit<br />
erhobenen Augenbrauen musterte er Alexander <strong>und</strong> Carter, die<br />
abwartend nebeneinander standen.<br />
"Die Aufgabe lautete, <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>e zu finden, nicht,<br />
eine Bagage historischer Gestalten zu sammeln, McGonagall", schnarrte<br />
er. "Es war ihnen wohl zu langweilig."<br />
Alexander trat wutentbrannt <strong>auf</strong> Snape zu, ihn mit dem Schwert<br />
fixierend.<br />
"Alexander, nicht!", rief <strong>Harry</strong>.<br />
"Glauben Sie wirklich, Sie könnten mich mit diesem Stück Metall<br />
ängstigen?", fragte der Zaubertranklehrer herablassend <strong>und</strong> zog in einer<br />
schnellen Bewegung seinen Zauberstab.<br />
"Nein", meinte Alexander ruhig. "Genauso wenig, wie Sie mir etwas<br />
anhaben können."<br />
"Das werden wir sehen", höhnte Snape <strong>und</strong> schwang seinen<br />
Zauberstab. Alexander wich dem roten Lichtstrahl spielerisch aus,<br />
obwohl er höchstens fünf Meter von Snape entfernt stand. Der schaute<br />
den Makedonen verblüfft an.<br />
"Genug jetzt, Severus", herrschte ihn McGonagall an. "Das ist<br />
Alexander, er hat <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine <strong>das</strong> Leben gerettet. Und mir<br />
auch", fügte er hinzu.<br />
Snape wandte sich von Alexander ab <strong>und</strong> warf einen Blick voll<br />
gespieltem Mitleid <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s Großcousin.<br />
"Dachte ich mir <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s Ihnen der Auftrag zu viel abverlangt."<br />
Mit hässlichem Grinsen wollte er sich Sirius zuwenden, ohne Zweifel, um<br />
auch ihm etwas an den Kopf zu werfen, da schnitt etwas Scharfes durch<br />
die Luft. Mit einer Reaktionsschnelligkeit, wie <strong>Harry</strong> sie auch bei Viktor<br />
Krum noch nicht gesehen hatte, zog Snape erneut seinen Zauberstab,<br />
wich dem Schwert aus <strong>und</strong> schoss einen gezielten Schockzauber <strong>auf</strong><br />
Alexander. Allerdings duckte sich der Makedone noch schneller unter<br />
dem Zauber weg, <strong>und</strong> ehe <strong>Harry</strong> auch nur hätte blinzeln können, hatte<br />
sein Schwert eine schmale W<strong>und</strong>e in Snapes Gesicht gerissen.<br />
"Protego!", hörte <strong>Harry</strong> jemanden in sein Ohr schreien. Ein<br />
Schutzschild baute sich zwischen den beiden Streithähnen <strong>auf</strong>, <strong>das</strong><br />
336
weder Alexander mit seinem Schwert noch Snape mit Zaubern<br />
durchdringen konnte.<br />
"Hört endlich <strong>auf</strong> damit!", rief McGonagall, der den Schutzzauber<br />
<strong>auf</strong>recht hielt.<br />
"Wenn ihr es nicht schafft, gemeinsam zum Ministerium zu gehen,<br />
ohne <strong>das</strong>s einer von euch dabei stirbt, dann würde ich vorschlagen, wir<br />
verabschieden Alexander jetzt."<br />
"Aber dieser Mann hat euch provoziert!", verteidigte sich der<br />
Makedone.<br />
"Ich weiß", seufzte McGonagall müde. "Das tut er, seit wir uns<br />
kennen. Lass es gut sein."<br />
Snape grinste hämisch, als Alexander sein Schwert wieder am<br />
Gürtel befestigte <strong>und</strong> McGonagall den Zauber beendete.<br />
"Beeilen wir uns, damit wir ins Ministerium kommen", trieb sie<br />
McGonagall an. "Ich will weg von hier."<br />
Snape schien zu zögern. „Eigentlich hatte ich noch etwas anderes<br />
erledigen wollen“, blaffte er. „Dazu müsste ich für ein oder zwei Tage aus<br />
London heraus.“<br />
<strong>Harry</strong> wusste sofort, was er meinte. Gehässig sagte er:<br />
„Nur, wer durch den Bogen in die <strong>Unterwelt</strong> getreten ist, kann auch<br />
wieder <strong>zur</strong>ück“, setzte er ihn in Kenntnis. Snapes Gesicht wurde rot vor<br />
Wut, zeigte aber auch eine Trauer, die <strong>Harry</strong> nicht erwartet hätte.<br />
„Schön, <strong>Potter</strong>“, knurrte er, <strong>und</strong> beide wussten, <strong>das</strong>s Snape keine<br />
Chance haben würde, Lily <strong>Potter</strong> je mit <strong>zur</strong>ück in die Welt der Lebenden<br />
zu nehmen.<br />
McGonagall sah sie verständnislos an. „Was wartet ihr? Lasst uns<br />
gehen!“<br />
<strong>Harry</strong> eilte hinter den anderen her, die seinem Verteidigungslehrer<br />
durch <strong>das</strong> Straßengewirr von London folgten. Muggel gingen hastig ihren<br />
Besorgungen nach (wozu die Eile, wenn man tot ist?, fragte sich <strong>Harry</strong>.<br />
Vielleicht konnten diese Leute sich einfach nicht von den<br />
Verhaltensweisen ihrer Leben trennen), Busse <strong>und</strong> Autos verstopften die<br />
Straßen, <strong>und</strong> wäre nicht <strong>das</strong> drängende Gefühl in ihm gewesen, nicht<br />
hierher zu gehören, hätte er gut glauben können, sich im richtigen<br />
London <strong>auf</strong>zuhalten.<br />
Bald erreichten sie die rote Telefonzelle, die <strong>Harry</strong> mittlerweile<br />
unangenehm vertraut war. McGonagall trat zuerst mit Snape, Alexander<br />
<strong>und</strong> Carter hinein, <strong>und</strong> wenige Minuten später folgten <strong>Harry</strong>, Ron,<br />
Hermine <strong>und</strong> Sirius.<br />
Sie kamen in dem alt bekannten Atrium mit seinem Brunnen <strong>und</strong><br />
den goldenen Fahrstühlen an. Dort erwartete sie auch schon Jones, der<br />
mit ihnen ohne Verzögerungen in die Mysteriumsabteilung fuhr, dort den<br />
langen, dunklen Gang bis zu der Tür nahm, die <strong>Harry</strong> oft genug in seinen<br />
Träumen gesehen hatte, <strong>und</strong> von dort zielsicher <strong>auf</strong> eine der Türen in<br />
337
dem r<strong>und</strong>en, blau erleuchtetem Raum zuging. Sie führte direkt in den<br />
Raum des Lebens. Fröstelnd erblickte <strong>Harry</strong> den weißen Bogen. Beim<br />
Näherkommen hörte er dieselben flüsternden, unheimlichen Stimmen,<br />
die er in der Welt der Lebenden aus dem schwarzen Bogen heraus<br />
wahrgenommen hatte. Auf seinen fragenden Blick nickte Jones.<br />
"Die Stimmen der Lebenden", meinte er nur.<br />
„Hier drinnen gefällt es mir nicht“, flüsterte Carter, <strong>und</strong> auch<br />
Alexander schien sich in der für ihn fremden Umgebung unwohl zu<br />
fühlen. <strong>Harry</strong> konnte <strong>das</strong> nachvollziehen, je mehr er über die<br />
Mysteriumsabteilung lernte, desto mehr ängstigte sie ihn.<br />
In dem Raum befanden sich noch einige andere Mitglieder des<br />
Phönixordens der <strong>Unterwelt</strong>, darunter Regulus Black, der <strong>auf</strong> seinen<br />
Bruder zulief.<br />
"Und, habt ihr den Hexer gef<strong>und</strong>en?", fragte er besorgt.<br />
Sirius setzte ihn über ihre Erlebnisse im Mittelalter in Kenntnis, <strong>und</strong><br />
die Ordensmitglieder atmeten <strong>auf</strong>.<br />
"Dann sollte euch nichts mehr im Weg stehen", meinte Jones <strong>und</strong><br />
wies <strong>auf</strong> den Bogen. "Wenn ihr durchtretet, solltet ihr direkt in den<br />
entsprechenden Raum in der Welt der Lebenden kommen."<br />
"Wartet!", rief einer der Ordensmitglieder, <strong>und</strong> ging kurz durch die<br />
Tür. Sofort kam er mit einem Mann in Jeans <strong>und</strong> Sweatshirt wieder.<br />
"Das ist ein Muggel!", rief Ron überrascht.<br />
"Wieso ist er im Ministerium, Rex?", wollte Sirius erstaunt wissen.<br />
"Das", lächelte der jüngere Black, "ist einer der Muggel, die du<br />
angeblich ermordet hast. Er kann den wahren Verl<strong>auf</strong> des Vorfalls<br />
bezeugen. Wir haben dem Ministerium einen Antrag gestellt, er darf<br />
morgen mit in die Oberwelt, um vor dem Zaubererminister, also Fudge,<br />
für dich auszusagen."<br />
<strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine strahlten <strong>und</strong> schlugen Sirius <strong>auf</strong> die<br />
Schulter.<br />
"Das hieße – <strong>das</strong>s du frei bist!", stotterte <strong>Harry</strong> vor Aufregung<br />
heraus. Sollte <strong>das</strong> bedeuten, <strong>das</strong>s er endlich die Dursleys verlassen<br />
konnte?<br />
Sirius je<strong>doc</strong>h machte ein komisches Gesicht, <strong>das</strong> Regulus <strong>das</strong><br />
Grinsen wegwischte.<br />
"Was ist?", fragte ihn sein Bruder leise.<br />
"Du kennst Fudge nicht!", meinte Sirius hitzig. "Er hat mich damals<br />
ohne offizielle Untersuchung verurteilen lassen, er wird nicht eine<br />
Sek<strong>und</strong>e darüber nachdenken, ob ich vielleicht <strong>doc</strong>h unschuldig bin. Vor<br />
allem nicht, wenn er damit seinen Ruf ruinieren würde. Ich weiß eure<br />
Bemühungen durchaus zu schätzen, aber solange Pettigrew sich nicht<br />
stellt, <strong>und</strong> <strong>das</strong> wird er nie, werde ich immer der Gejagte sein."<br />
Doch da begann Regulus erst richtig zu strahlen <strong>und</strong> bat den<br />
Muggel, näher zu treten.<br />
338
"Richard Bentwick", stellter er den Mann vor, der schüchtern von<br />
einem Zauberer zum anderen schaute. In seiner Hand hielt er etwas, <strong>das</strong><br />
<strong>Harry</strong> in dieser von Magie durchdrungenen Umgebung so absurd<br />
vorkam, <strong>das</strong>s er es erst <strong>auf</strong> den zweiten Blick erkannte.<br />
"Eine Videokamera!", stieß er hervor. Bentwick sah ihn erfreut an,<br />
offensichtlich froh, jemanden gef<strong>und</strong>en zu haben, der sich auch in seiner<br />
Welt auskannte.<br />
"Was ist <strong>das</strong>?", fragte Sirius <strong>und</strong> musterte <strong>das</strong> kleine Ding<br />
misstrauisch.<br />
"Das, mein Bruder", frohlockte Regulus, "ist ein Dingsbums, <strong>das</strong> in<br />
der Lage ist, real Geschehenes <strong>auf</strong>zuzeichnen, so<strong>das</strong>s man es sich<br />
später immer wieder ansehen kann. Zufällig hat Richard deine Jagd <strong>auf</strong><br />
Pettigrew <strong>und</strong> den anschließenden Showdown <strong>auf</strong>genommen bis zu dem<br />
Moment, in dem ihn der Todesfluch traf, <strong>und</strong> als er in der <strong>Unterwelt</strong><br />
ankam, hatte er <strong>das</strong> Teil immer noch in der Hand. Damit kannst du<br />
Fudge beweisen, was an dem Tag geschehen ist!"<br />
"Aber ich habe keine Ahnung, wie man <strong>das</strong> Ding bedient!", wandte<br />
Sirius ein.<br />
"Kein Problem, ich weiß es", sagten <strong>Harry</strong>, Hermine <strong>und</strong><br />
McGonagall gleichzeitig. Regulus grinste.<br />
"Damit wäre <strong>das</strong> geklärt."<br />
Bentwick übergab Sirius die Kamera. Der schaute <strong>das</strong> kleine Teil<br />
einige Sek<strong>und</strong>en schweigend an, dann nickte er dem Muggel dankbar<br />
zu.<br />
"Sie haben <strong>auf</strong> gewisse Weise mein Leben gerettet", meinte er nur.<br />
Bentwick winkte ab. "Wenn ich helfen kann, tue ich <strong>das</strong> gerne.<br />
Mich hat die letzten Jahre sowieso gewurmt, <strong>das</strong>s womöglich der<br />
Falsche für den Mord an uns verurteilt werden könnte. Das war eine<br />
ganz miese Finte mit der Verwandlung in eine Ratte. Der Typ soll nur in<br />
die <strong>Unterwelt</strong> kommen, wir warten <strong>auf</strong> ihn."<br />
<strong>Harry</strong> grinste bei dem Gedanken, Pettigrew von Toten verfolgt zu<br />
sehen. Auch Hermine hatte eine zufriedene Miene <strong>auf</strong>gesetzt.<br />
"Ich bitte Sie nun, den Raum wieder zu verlassen", wandte sich<br />
Jones an Bentwick, <strong>und</strong> mit einem letzten Blick <strong>auf</strong> Sirius trat der hinaus.<br />
"Wird gleich einen Vergessenszauber abbekommen", seufzte<br />
Jones. "Schade eigentlich, aber die Muggel sollen nichts über die<br />
Mysterienarbeit wissen.“<br />
Jones sah sie abwartend an.<br />
"Nun, dann ist der Moment des Abschieds wohl gekommen",<br />
meinte Sirius traurig zu seinem Bruder.<br />
"Wir werden uns wieder sehen", entgegnete Regulus unbeschwert.<br />
"Das ist sicher", versuchte es auch Sirius <strong>auf</strong> die fröhliche Art, was<br />
ihm nach <strong>Harry</strong>s Meinung gründlich misslang.<br />
339
"Irgendwie werde ich es vermissen, vor den Augen unseres alten<br />
Hausdrachens eine geheime Widerstandsorganisation gegen Voldemort<br />
zu organisieren."<br />
Regulus lachte <strong>auf</strong>. "Na, daran wirst du wieder Spaß haben, wenn<br />
du <strong>auf</strong> regulärem Weg zu uns kommst."<br />
<strong>Harry</strong> räusperte sich.<br />
"Oh." Der junge Black lief leicht rot an. "Entschuldige, natürlich<br />
hoffen wir alle, <strong>das</strong>s der dunkle Lord bis dahin tot ist ... obwohl, wenn ich<br />
es mir überlege, müssten wir uns dann ja hier unten mit ihm<br />
herumschlagen. Lasst euch vielleicht noch etwas Zeit mit dem Siegen,<br />
ja?"<br />
Sirius umarmte ihn, <strong>und</strong> es schien, als könne er sich nur schwer<br />
dazu bewegen, die <strong>Unterwelt</strong> zu verlassen.<br />
"Dann ist auch <strong>das</strong> Ende unseres Weges gekommen", meinte nun<br />
Alexander zu ihnen.<br />
"Ja, nachdem ihr es in zehn Minuten geschafft habt, mich für<br />
immer aus meiner Zeit zu vertreiben, könnt ihr bedenkenlos<br />
verschwinden", grinste Carter.<br />
"Oh, <strong>das</strong> haben wir vergessen", schrak Hermine zusammen. "Was<br />
machst du jetzt? Zurück ins Mittelalter kannst du nicht."<br />
"Jedenfalls nicht, wenn ich nicht als Hexer für den Rest meines<br />
Todes eingesperrt werden will. Tja, einst war ich der beste Turnierreiter<br />
der Welt, nun werde ich wohl nach Persien gehen." Carter sah Alexander<br />
lächelnd an. "Dort könnte man ja auch eine neue Sportart einführen ..."<br />
"Das würde ich dir nicht empfehlen, meine Soldaten würden dich<br />
wie ich in zwei Sek<strong>und</strong>en besiegen", neckte ihn der Makedone.<br />
"Danke für alles, was ihr beide für uns getan habt", meinte <strong>Harry</strong><br />
nun im Namen aller zu den beiden.<br />
"War <strong>doc</strong>h nicht der Rede wert!", lachte Alexander. "Die letzten<br />
paar Tage waren <strong>auf</strong>regender als meine gesamten Jahre in der<br />
<strong>Unterwelt</strong>, <strong>und</strong> die waren schon turbulent genug."<br />
"Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder", sagte Carter.<br />
"Jedenfalls würde mich <strong>das</strong> freuen."<br />
"Wir wissen ja jetzt, wie wir in die Vergangenheit reisen können",<br />
entgegnete <strong>Harry</strong>, auch wenn er wenig Lust verspürte, wieder in die<br />
karge Steppe mit ihren wilden Reitern zu gehen. Aber <strong>das</strong> war noch<br />
lange hin.<br />
"Möge dieser Tag noch fern sein!", rief Sirius übermütig. "Jetzt aber<br />
los, ich will endlich <strong>zur</strong>ück."<br />
Gemeinsam traten sie zu dem Bogen, bestiegen <strong>das</strong> aus hellem<br />
Holz geschnitzte Podest <strong>und</strong> blieben wenige Handbreit vor dem<br />
wogenden Schleier stehen. Die zischenden Stimmen machten <strong>Harry</strong><br />
ganz verrückt, sein Fuß bewegte sich beinahe von alleine <strong>auf</strong> den Bogen<br />
zu.<br />
340
"Machs gut!", rief Sirius seinem Bruder zu. "Tröste Mum ein<br />
bisschen, jetzt, wo ich weg bin, wird sie tagelang heulen", meinte er mit<br />
ironischem Grinsen.<br />
"Ich sage ihr einfach, du seiest in die Studien der mittelalterlichen<br />
Inquisition so vertieft, <strong>das</strong>s du beschlossen hättest, einige Jährchen<br />
fortzubleiben", antwortete Regulus feixend.<br />
"Ich würde ja sagen "Bis Bald", wenn ich dir nicht <strong>das</strong> Gegenteil<br />
wünschen würde."<br />
Zusammen mit Alexander <strong>und</strong> Carter trat er einige Schritte <strong>zur</strong>ück,<br />
um nicht auch von den mysteriösen Stimmen angelockt zu werden.<br />
"Gut, wer zuerst?", flüsterte McGonagall so leise, so<strong>das</strong>s nur sie<br />
ihn hören konnten.<br />
"Vielleicht trauen Sie sich nicht, den ersten Schritt zu machen,<br />
McGonagall", zog ihn Snape mit seinem üblichen kalten Grinsen <strong>auf</strong>.<br />
<strong>Harry</strong>s Verteidigungslehrer ging dar<strong>auf</strong>hin <strong>auf</strong> den Bogen zu <strong>und</strong> hatte<br />
ihn beinahe erreicht, da knallte mit ohrenbetäubendem Lärm eine Tür ins<br />
Schloss, <strong>und</strong> ein Mysteriumsmitarbeiter rannte hektisch mit den Armen<br />
wedelnd in den Raum.<br />
"Nicht durchgehen!", brüllte er <strong>und</strong> stolperte fast über seine<br />
eigenen Füße.<br />
Irritiert drehten sie sich zu ihm um.<br />
"Was?", hörte <strong>Harry</strong> Ron furchtsam neben sich fragen.<br />
"Ihr könnt jetzt nicht <strong>zur</strong>ück!", keuchte der Unsägliche.<br />
"Wieso nicht?", stieß <strong>Harry</strong> frustriert hervor. Was war nun schon<br />
wieder?<br />
Eine Gestalt kam hinter dem Ministeriumsbeamten in den Raum<br />
<strong>und</strong> trat ins Licht.<br />
Hermine japste erschrocken <strong>auf</strong>, Sirius kniff die Augen zusammen,<br />
als traue er dem nicht, was er sah, <strong>und</strong> in <strong>Harry</strong>s Kopf drehte sich alles.<br />
"Fletcher!", bellte Snape hinter ihm. Seine Stimme war vollkommen<br />
ausdruckslos.<br />
Der kleine, wie üblich mit einem schäbigen Umhang bekleidete<br />
Zauberer schaute überrascht zu ihnen hoch.<br />
"Was macht ihr hier?", krächzte er.<br />
"Wir? Was machst DU hier!", schrie Sirius <strong>und</strong> lief <strong>auf</strong> Fletcher zu.<br />
"Bist du auch durch den Bogen gegangen?"<br />
"Bogen?", fragte ihn Fletcher mit großen Augen. "Als ob ich da je<br />
durchgehen würde! Teuflisches Ding ist <strong>das</strong>. Nein, ich – aber warte,<br />
wieso kann ich mit dir reden? Du bist tot!"<br />
Sirius schlug die Hände vor <strong>das</strong> Gesicht.<br />
"Alles, an <strong>das</strong> ich mich erinnern kann ist, <strong>das</strong>s Dumbledore mich<br />
von einem sehr günstigen Tauschhandel abgehalten hat – wollte gerade<br />
einige Besen bekannter Marken verk<strong>auf</strong>en, die ich billig erhalten habe."<br />
"Worunter er gestohlen meint", flüsterte Ron <strong>Harry</strong> ins Ohr.<br />
341
"Meinte, ich soll ins Ministerium kommen. Dort war die Hölle los."<br />
Alle schauten ihn fassungslos an.<br />
"Hölle?", wiederholte Sirius zögernd, so als wolle er eigentlich gar<br />
nicht wissen, was Fletcher zu berichten habe.<br />
"Ja, Du-Weißt-Schon-Wer hat seine Schergen dorthin geschickt,<br />
um den Eingang zu der Welt der Toten zu bewachen. Glaubt wohl, so<br />
käme er an dich heran." Er zeigte mit seinem Finger <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>.<br />
"Ist ja Halloween, wisst ihr, da kommen die Toten für einen Tag<br />
<strong>zur</strong>ück in unsere Welt. Na, jedenfalls komme ich zum Raum mit dem<br />
schwarzen Bogen, <strong>und</strong> dort kämpfte der Orden mit den Todessern."<br />
Hermine war bleich geworden.<br />
"Und Voldemort?", fragte sie mit zitternder Stimme. "Wo ist er?"<br />
Fletcher zuckte bei dem Namen zusammen. "Keine Ahnung, hat<br />
sich nicht blicken lassen", meinte er gedehnt <strong>und</strong> sah sich <strong>auf</strong>merksam<br />
um. "Wo bin ich?"<br />
"Tot", meinte Sirius mitleidlos. Fletcher sank zusammen.<br />
"Aber hier ist alles so echt – erst kam ich zu einem Fluss, <strong>und</strong> so<br />
ein alter Kerl setzte mich über, dann war ich plötzlich in London <strong>und</strong> bin<br />
wieder ins Ministerium, dachte, mich hätte einer der Todesser mit einem<br />
Apportationszauber erwischt. Tot, na so was."<br />
Entnervt stöhnte McGonagall <strong>auf</strong>. "Wir können unter diesen<br />
Umständen nicht <strong>zur</strong>ück! Sobald wir durch den Bogen treten, warten die<br />
Todesser <strong>auf</strong> uns."<br />
"Nein", meinte <strong>Harry</strong> langsam. "Tun sie nicht."<br />
Alle sahen ihn an.<br />
"Was meinst du damit?", fragte Hermine.<br />
"Sie kämpfen im Raum des Todes – weil dort an Halloween die<br />
Toten durch den Bogen treten. Wir je<strong>doc</strong>h kämen im Raum des Lebens<br />
an. Wir verschwinden einfach hinter ihrem Rücken."<br />
Sirius schüttelte den Kopf. "Sicher haben sie auch dort einen<br />
Aufpasser postiert."<br />
"Na <strong>und</strong>, selbst wenn, den können wir noch überwältigen.<br />
Außerdem", grinste <strong>Harry</strong>, als ihm eine Idee kam, "werden wir sie<br />
beschäftigen."<br />
"Hä?", kam es von Ron.<br />
"Wir werden den Toten sagen, sie sollen die Todesser in einen<br />
hübschen Kampf verwickeln."<br />
McGonagall nickte. "Sie werden denken, die Toten schützen dich,<br />
um dir die Flucht zu ermöglichen. Und während alle Todesser abgelenkt<br />
sind, flüchten wir durch die Hintertür. Vielleicht wissen die Todesser gar<br />
nichts von dem weißen Bogen."<br />
Einer der Unsäglichen meldete sich. "Ich werde den Plan<br />
denjenigen berichten, die durch den Bogen treten." Er schaute <strong>auf</strong> seine<br />
342
Uhr. "In zwanzig Minuten ist Mitternacht, also der Tag von Halloween.<br />
Dann geht es los."<br />
"Ihr wisst, wie es aus der Mysteriumsabteilung hinausgeht?",<br />
versicherte sich McGonagall. <strong>Harry</strong> nickte.<br />
"Sobald wir <strong>das</strong> Atrium verlassen haben, disapparieren wir. Fliegen<br />
wäre zu gefährlich. Voldemort hat sicher einige Todesser als<br />
Absicherung um <strong>und</strong> über dem Gebäude postiert. Jeder von euch sucht<br />
sich einen Apparitionspartner."<br />
McGonagall selbst trat zu <strong>Harry</strong>, vermutlich, um ihn davor zu<br />
bewahren, mit Snape apparieren zu müssen. Ron schielte zu Sirius, der<br />
ihm zugrinste. Mit unbewegtem Gesicht schauten sich Hermine <strong>und</strong><br />
Snape kurz an.<br />
"Na dann", meinte McGonagall fröhlich, als hätten sie sich zu<br />
einem Osterspaziergang verabredet.<br />
<strong>Harry</strong> drückte seinen Feuerblitz enger an sich, den Regulus Black<br />
ihm vorhin gegeben hatte. Auch die anderen hielten ihre Besen in der<br />
Hand.<br />
Schweigend standen sie vor dem Bogen, niemand sagte etwas,<br />
auch Alexander, Carter <strong>und</strong> Regulus nicht. Plötzlich zerschnitt die<br />
Stimme des Ministeriumsbeamten die Luft.<br />
"Es ist soweit."<br />
Sie warteten noch zwei Minuten, bis ein weiterer Unsäglicher kam<br />
<strong>und</strong> meldete, <strong>das</strong>s die Toten nun die <strong>Unterwelt</strong> verlassen hätten.<br />
"Die haben sich über die Aussicht <strong>auf</strong> einen ordentlichen Kampf<br />
gefreut, <strong>das</strong> kann ich euch sagen", rief er. "Ihr dürftet keine Probleme<br />
haben."<br />
"Super, ich wollte schon immer einmal eine Zombie-Armee für mich<br />
kämpfen haben", murmelte Ron, als sie mit einem letzten Blick <strong>zur</strong>ück<br />
<strong>auf</strong> den Bogen zutraten.<br />
"Passt <strong>auf</strong> euch <strong>auf</strong>!", rief ihnen Alexander noch zu, dann hörte<br />
<strong>Harry</strong> gar nichts mehr, denn der hinter ihm <strong>zur</strong>ück schwingende weiße<br />
Schleier verschluckte sämtliche Geräusche der <strong>Unterwelt</strong>.<br />
Ehe er es sich versah, stolperte er hinter Ron <strong>und</strong> Hermine in den<br />
Raum, in dem sie vor ein paar Tagen schon einmal gewesen waren. Es<br />
kam ihm vor, als wäre dies Jahrh<strong>und</strong>erte her.<br />
Sirius, McGonagall <strong>und</strong> Snape hielten ihre Zauberstäbe vor sich<br />
<strong>und</strong> bedeuteten ihnen, ruhig zu sein. Sofort zückte <strong>Harry</strong> seinen eigenen<br />
Zauberstab <strong>und</strong> sah sich <strong>auf</strong>merksam um. Scheinbar waren sie die<br />
einzigen Personen in dem Raum, allerdings war gedämpfter Lärm zu<br />
hören, der sich für <strong>Harry</strong> ein wenig so anhörte, als griffen Alexanders<br />
Reiter die Skythen an.<br />
"Das sind sie", flüsterte McGonagall. "Die Todesser sind<br />
abgelenkt."<br />
343
Schon wieder eine Schlacht im Todesraum, dachte <strong>Harry</strong>. Nur war<br />
er diesmal nicht dabei, was ihn mit unglaublicher Dankbarkeit erfüllte.<br />
"Kommt!"<br />
Sie verließen schnell den Raum mit dem weißen Bogen, der nun<br />
wieder so normal <strong>und</strong> langweilig wirkte, als wäre er tatsächlich nichts<br />
weiter als ein Gebilde aus Stein <strong>und</strong> Stoff.<br />
Sie erreichten den Raum mit den vielen Spiegeln, den Sirius <strong>und</strong><br />
McGonagall anscheinend noch nicht kannten, denn <strong>Harry</strong>s Pate hätte<br />
beinahe einen Schockzauber <strong>auf</strong> sein eigenes Spiegelbild geschossen,<br />
<strong>und</strong> McGonagall starrte mit eigentümlichem Ausdruck <strong>das</strong> perfekte<br />
Abbild des alten, kaputten Stuhles an.<br />
"Was bei Merlin ...", keuchte er, wurde aber von Snape<br />
weitergestoßen.<br />
"Sich bew<strong>und</strong>ern können Sie ein anderes Mal", höhnte der<br />
Zaubertranklehrer. Sirius blitzte ihn mordlüstern an, war aber zu<br />
beschäftigt damit, den ganzen Spiegeln in ihren Holz-, Gold- <strong>und</strong><br />
Silberrahmen auszuweichen <strong>und</strong> schwieg.<br />
Dann gelangten sie in <strong>das</strong> Zimmer, in dem der Raum erforscht<br />
wurde. Ron fiel wieder <strong>auf</strong> die optische Täuschung hinein <strong>und</strong> blieb wie<br />
angewurzelt neben der Tür stehen, bis <strong>Harry</strong> ihn mit einem Ruck zum<br />
nur scheinbar unerreichbaren Ende des Raumes zog.<br />
Endlich stießen sie die Tür zu dem kleinen, r<strong>und</strong>en Zimmer <strong>auf</strong>,<br />
von dem die Eingänge zu den einzelnen Mysterienabteilungen abgingen.<br />
Das bläulich schimmernde Licht ließ ihre Gesichter blass wie die von<br />
Geistern wirken.<br />
Ohne anzuhalten rannten sie den Gang hinunter bis zum Fahrstuhl,<br />
dessen scheppernde Türen Sirius kommentarlos schloss, nachdem sie<br />
sich alle hineingequetscht hatten. Langsam verschwand der Korridor vor<br />
ihren Augen, während <strong>das</strong> Atrium Stück für Stück erschien, zuerst die<br />
blaue, mit sich bewegenden goldenen Symbolen versetzte Decke, dann<br />
die goldenen <strong>Tor</strong>e, die die Aufzüge von der großen Halle trennten, <strong>und</strong><br />
dann –<br />
<strong>Harry</strong>s Herz machte einen furchtbaren Satz.<br />
Zwei Todesser.<br />
"Oh nein", flüsterte McGonagall, aber da war es auch schon zu<br />
spät, der ruckelnde Aufzug war nicht zu überhören. Die Todesser, die in<br />
der Nähe des Brunnens der magischen Geschwister Wache hielten,<br />
schwangen herum, <strong>und</strong> ein zufriedenes Grinsen erschien <strong>auf</strong> dem<br />
dümmlichen Gesicht von Crabbe, dem Vater von <strong>Harry</strong>s ebenso<br />
dummem Mitschüler. Neben ihm stand ein großer, dunkelhaariger<br />
Todesser, den Sirius erschrocken mit "Lestrange!" anredete.<br />
"Sind die Toten wieder <strong>auf</strong>erstanden?", grinste Lestrange <strong>und</strong><br />
richtete unverwandt seinen Zauberstab <strong>auf</strong> sie.<br />
344
Er wedelte kurz, <strong>und</strong> vier Zauberstäbe flogen ihm in die Hand.<br />
Geschickt fing er sie <strong>auf</strong>.<br />
"Eine Bewegung, <strong>und</strong> ich schicke euch <strong>zur</strong>ück in die <strong>Unterwelt</strong>.<br />
Hoffentlich hat es euch dort gefallen."<br />
"Es war eine Genugtuung, dein hässliches Gesicht eine Weile nicht<br />
sehen zu müssen", höhnte Sirius.<br />
"Crucio!", bellte Lestrange, während <strong>das</strong> Gitter des Aufzugs <strong>zur</strong>ück<br />
schwang. Sirius krümmte sich <strong>und</strong> ging zu Boden.<br />
"Hör <strong>auf</strong>!", schrie <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> hätte sich beinahe <strong>auf</strong> Lestrange<br />
gestürzt, wenn nicht dessen Zauberstab ihn davon abgehalten hätte.<br />
Der Todesser brach in ein schallendes, blökendes Lachen aus.<br />
"Wolltet so einfach durch die Hintertür entwischen, nicht? Aber der<br />
dunkle Lord ist intelligent genug, um euer dummes Störmanöver zu<br />
durchschauen. Wir sollen euch zu ihm bringen. Er wird, neben der<br />
Tatsache, dich endlich umbringen zu können, erfreut sein, etwas über<br />
die <strong>Unterwelt</strong> zu erfahren."<br />
Lestrange kicherte über irgendetwas.<br />
"Woher wusstet ihr Idioten, wo wir sind?", fauchte McGonagall.<br />
Lestrange warf ihm einen mitleidigen Blick zu <strong>und</strong> schrie ein zweites Mal<br />
"Crucio!"<br />
McGonagall stöhnte <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schlug gegen die Wand des Aufzugs.<br />
"Wir haben unsere Informanten auch in der Mysteriumsabteilung",<br />
feixte Crabbe, der dem Geschehen genüsslich zusah. "Glaubt ihr,<br />
niemand hätte es bemerkt, <strong>das</strong>s ihr in die <strong>Unterwelt</strong> gegangen seid? Der<br />
dunkle Lord wurde sogleich darüber in Kenntnis gesetzt <strong>und</strong> hat euch<br />
seinen treusten Diener nachgeschickt."<br />
Hochmütig schaute er sie an. "Tretet heraus, alle fünf, schön<br />
langsam."<br />
Irgendetwas an diesem Satz irritierte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> als er sich umsah,<br />
fiel es ihm ein. Sie waren <strong>doc</strong>h sechs gewesen. Snape war<br />
verschw<strong>und</strong>en.<br />
"Dorthin!", befahl ihnen Lestrange <strong>und</strong> wies in eine Ecke. Sie<br />
stellten sich nebeneinander an die Wand, <strong>und</strong> augenblicklich wuchsen<br />
um sie herum eiserne Stangen vom Boden bis an die Decke. Sie waren<br />
eingesperrt.<br />
"Ihr bleibt hier, während wir den dunklen Lord benachrichtigen",<br />
grinste Lestrange. "Die Ministeriumsmitarbeiter sind wohl unten<br />
beschäftigt ... schade, nun ist eure Finte nach hinten losgegangen." Mit<br />
schnellen Schritten verschwanden die Todesser im Aufzug nach oben<br />
<strong>auf</strong> die Straße.<br />
"Verflucht!", schimpfte McGonagall <strong>und</strong> trat gegen die eisernern<br />
Stäbe.<br />
"Was machen wir nun?"<br />
"Den Orden rufen?", schlug Hermine vor.<br />
345
"Na klar, vielleicht siehst du irgendwo ein Telefon", stöhnte <strong>Harry</strong>,<br />
genervt von ihrer Naivität.<br />
"Wieso Telefon? Ein Patronus tut es <strong>doc</strong>h auch."<br />
"Hermine", erklärte Ron geduldig, "sie haben uns die Zauberstäbe<br />
abgenommen, falls du es noch nicht bemerkt hast."<br />
Hermine sah ihn hochmütig an <strong>und</strong> holte ihren Weinholzstab<br />
hervor.<br />
"Was? Wieso hast du deinen noch?", fragte <strong>Harry</strong> verblüfft.<br />
"Weil ich ihn sofort weggesteckt habe, als ich die Todesser<br />
gesehen habe", grinste sie.<br />
"Toll gemacht!", bemerkte Sirius <strong>und</strong> fügte eifrig hinzu: "Vielleicht<br />
kannst du diese Stäbe wegzaubern ..."<br />
Hermine schüttelte den Kopf. "Das ist dunkle Magie, da kann ich<br />
nichts ausrichten. Ich schicke dem Orden meinen Patronus."<br />
Weil ihnen nichts Besseres einfiel, schwiegen sie <strong>und</strong> sahen zu,<br />
wie Hermines Otter silbern die Halle erleuchtete <strong>und</strong> dann blitzschnell<br />
verschwand.<br />
Danach kramte sie in ihrer Tasche herum <strong>und</strong> brachte eine<br />
goldene Galleone ans Tageslicht.<br />
"Willst du in der Zwischenzeit shoppen gehen?", fragte Ron.<br />
Hermine warf ihm nur einen scharfen Blick zu, dann nahm sie ihren<br />
Zauberstab <strong>und</strong> murmelte einige Worte über der Münze.<br />
"Was tust du da?", wollte Sirius wissen. <strong>Harry</strong> aber ahnte es<br />
bereits.<br />
"Die DA!", rief er.<br />
"Korrekt", lächelte Hermine. "Durch den neuen Zauber, den ich<br />
euch letztens erklärt habe, werden sie wissen, wo wir sind. Sollte der<br />
Orden nicht erreichbar sein oder kommen können, dann vielleicht einige<br />
DA-Mitglieder.“<br />
"Das ist <strong>doc</strong>h Unsinn!", widersprach <strong>Harry</strong>. "Bis sie hier sind, haben<br />
uns die Todesser längst geholt."<br />
"Hast du eine bessere Idee?", fragte Hermine hilflos.<br />
"Nein", gab <strong>Harry</strong> zu. "Aber in wenigen Minuten kommen die<br />
Todesser mit Voldemort <strong>zur</strong>ück – <strong>und</strong> eigentlich habe ich nicht vor, ihm<br />
eingesperrt zu begegnen."<br />
Niemand antwortete dar<strong>auf</strong>. Die Zeit verging, <strong>und</strong> bei jedem<br />
Geräusch zuckten sie zusammen, jeden Augenblick erwarteten sie,<br />
Voldemort im Atrium <strong>auf</strong>tauchen zu sehen – groß, mit schlangenartigem<br />
Gesicht <strong>und</strong> den roten Schlitzen von Augen.<br />
Dann ist es aus, dachte <strong>Harry</strong>. Was sollten sie gegen ihn tun? Er<br />
würde Voldemort entgegentreten <strong>und</strong> verlangen, <strong>das</strong>s die anderen frei<br />
kämen ... auch wenn er nur wenig Hoffnung hatte, <strong>das</strong>s er damit Erfolg<br />
haben würde.<br />
"<strong>Harry</strong>", erklang <strong>auf</strong> einmal Rons Stimme.<br />
346
"Ja?"<br />
"Wenn wir – also wenn du, ich meine, wenn es passieren sollte,<br />
<strong>das</strong>s –", druckte er herum. "Ich will nur sagen, wir wissen ja, wo wir uns<br />
wieder treffen, nicht?"<br />
"Hör <strong>auf</strong> damit!", würgte <strong>Harry</strong> ihn ab. "Niemand wird sterben."<br />
Irgendwie fühlte er, <strong>das</strong>s die anderen ihm nicht glaubten.<br />
"Hört!", flüsterte Hermine, <strong>und</strong> sie hielten den Atem an. Der Aufzug<br />
aus der Telefonzelle hatte sich in Bewegung gesetzt <strong>und</strong> war <strong>auf</strong> dem<br />
Weg zu ihnen ins Atrium. Sirius atmete tief durch, McGonagall wirkte<br />
überaus entschlossen, als hätte er vor, Voldemort zum Faustkampf<br />
herauszufordern, <strong>und</strong> Ron <strong>und</strong> Hermine standen nur mit vor Schrecken<br />
<strong>auf</strong>gerissenen Augen vor den dunklen Eisenstangen, letztere hielt ihren<br />
Zauberstab unter dem Umhang. Aber auch damit würde sie gegen<br />
wenigstens drei Todesser nicht viel ausrichten können, dachte <strong>Harry</strong><br />
trübe.<br />
Die Aufzugstüren öffneten sich jetzt, <strong>und</strong> fünf schwarze Gestalten<br />
hasteten in die große Halle, eine davon deutlich größer als die anderen.<br />
<strong>Harry</strong> spannte seinen ganzen Körper an, um bereit zu sein <strong>auf</strong> <strong>das</strong>,<br />
was ihn gleich erwartete, bereit, die Gegenwart Voldemorts verkraften zu<br />
müssen ... Er wartete <strong>auf</strong> den stechenden Schmerz seiner Narbe, den er<br />
nur zu gut kannte.<br />
Die Gestalten kamen näher, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> registrierte zwei Hexen<br />
unter ihnen. Nicht Bellatrix Lestrange ... sicher war sie ihrem Mann<br />
gefolgt.<br />
Im düsteren Licht des nächtlichen Atriums näherten sie sich wie<br />
schleichende Schatten. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde<br />
der Schmerz ihn übermannen.<br />
Aber nach wie vor fühlte sich <strong>Harry</strong> irritierender Weise gar nicht so,<br />
als befände sich Voldemort nur wenige Schritte von ihm entfernt.<br />
Vielleicht hat er wieder nur seine Handlanger geschickt.<br />
"Soll ich Schockzauber versuchen?", flüsterte Hermine.<br />
"Nein, warte erst einmal", entgegnete McGonagall leise. "Es sind<br />
fünf, bis du auch nur den zweiten anvisiert hättest, wäre einer von uns<br />
tot."<br />
"<strong>Harry</strong>?"<br />
Nun ging es endgültig mit mir zu Ende, dachte er fast heiter.<br />
Todesser wollten ihn zu Voldemort bringen, <strong>und</strong> alles, was seinem<br />
überstrapazierten Hirn einfiel, war, Ginnys Stimme zu hören.<br />
"Seid ihr <strong>das</strong>?"<br />
Nun auch noch Neville. Wahnsinn, was einem alles suggeriert<br />
werden kann.<br />
"Ginny? Neville?", hörte er je<strong>doc</strong>h Hermines völlig ungläubige<br />
Stimme neben sich japsen.<br />
347
Er träumte <strong>doc</strong>h nicht! Mit schnellen Schritten kamen die Gestalten<br />
an die Eisenstangen heran, <strong>und</strong> verblüfft erkannte er nicht nur die<br />
beiden, sondern auch Katie <strong>und</strong> Cormack, die allerdings neben einem<br />
großen, hakennasigen Zauberer vor sich eingeschüchtert wirkten.<br />
"Snape!", knurrte Sirius. "Habe ich mir <strong>doc</strong>h gedacht, <strong>das</strong>s du<br />
Feigling verschw<strong>und</strong>en bist, bevor Gefahr <strong>auf</strong>kam!"<br />
"Womit ich ja wohl schneller gedacht habe als ihr alle zusammen",<br />
höhnte der Zaubertranklehrer. "So wie ich <strong>das</strong> sehe, bin ich frei, <strong>und</strong> du<br />
hinter Gittern." Er grinste. "Es tut mir unendlich Leid, diesen<br />
wünschenswerten Zustand zu beenden."<br />
Mit einem lässigen Schwingen seines Zauberstabes brachte er die<br />
Eisenstangen zum Verschwinden.<br />
Etwas Dunkles stürzte <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> zu <strong>und</strong> umarmte ihn. Ginny.<br />
"Ich bin so froh, <strong>das</strong>s es euch gut geht! Nachdem ihr einige Tage<br />
verschw<strong>und</strong>en wart, hat sogar Dumbledore sich ernsthaft Sorgen<br />
gemacht! Wo seid ihr gewesen?"<br />
"Na wo wohl", grinste <strong>Harry</strong> <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> deutete <strong>auf</strong> Sirius.<br />
"Ihr wart tatsächlich in der <strong>Unterwelt</strong>?", flüsterte sie <strong>und</strong> drückte<br />
sich an ihn. <strong>Harry</strong> spürte seine Knie weich werden <strong>und</strong> musste sich an<br />
der Wand abstützen.<br />
"Klar, aber wo kommt ihr so plötzlich her?", wollte er wissen.<br />
"Schnell raus hier!", befahl ihnen McGonagall <strong>und</strong> zog <strong>Harry</strong> an<br />
seinem Umhang hinter sich her.<br />
"Was macht ihr hier?", hörte er neben sich Hermine Katie fragen.<br />
"Dumme Frage, ihr habt uns <strong>doc</strong>h gerufen!", antwortete sie<br />
erstaunt.<br />
"Ihr habt eure Münzen wirklich kontrolliert?", erk<strong>und</strong>igte sich Ron.<br />
"Natürlich, schließlich wussten wir, <strong>das</strong>s ihr <strong>auf</strong> einer Mission seid!"<br />
"Mission", wiederholte Ron <strong>und</strong> machte ein stolzes Gesicht. "Ja,<br />
<strong>das</strong> waren wir in der Tat."<br />
"Na, <strong>und</strong> als wir euren Hilferuf bekommen haben, sind ich <strong>und</strong><br />
Cormack mit Ginny <strong>und</strong> Neville, die unbedingt mit wollten, vor <strong>das</strong><br />
Schlosstor gegangen, um zum Ministerium zu disapparieren. Wir haben<br />
im Sommer ja unsere Prüfung abgelegt."<br />
"Und als wir da ankommen", keuchte Cormack neben ihnen,<br />
während sie sich in die Telefonzelle quetschten – Sirius, McGonagall,<br />
Ron <strong>und</strong> Hermine blieben vorerst draußen – "treffen wir Snape, wie er<br />
gerade zu Dumbledore will, Hilfe holen. Als wir sagten, <strong>das</strong>s Dumbledore<br />
nicht im Schloss ist, ist er sofort zum Ministerium <strong>zur</strong>ück appariert – <strong>und</strong><br />
wir hinterher."<br />
"Und er hat euch gelassen?", flüsterte <strong>Harry</strong>, da Snape neben ihm<br />
stand.<br />
"Na ja, er war so in Eile, <strong>das</strong>s es ihm egal war", meinte Katie<br />
beschwingt. "Und so sind wir hier. Womit fliehen wir eigentlich?"<br />
348
"Disapparieren", sagte <strong>Harry</strong> knapp, als sie aus der Telefonzelle<br />
<strong>auf</strong> die dunkle, mit Abfällen übersäte Straße stolperten. Ungeduldig<br />
warteten sie, bis auch die anderen her<strong>auf</strong>gekommen waren (Sirius hielt<br />
ihre Besen in der Hand, die sie beim Erscheinen der Todesser vor den<br />
Fahrstühlen fallen gelassen hatten) <strong>und</strong> suchten sich ihre<br />
Apparitionspartner. <strong>Harry</strong> ergriff McGonagalls Arm <strong>und</strong> schaute besorgt<br />
in den nachtschwarzen Himmel, jeden Augenblick die Todesser<br />
erwartend.<br />
Plötzlich zerriss ein roter Blitz <strong>das</strong> fast greifbare Dunkel um sie<br />
herum <strong>und</strong> zischte so knapp an McGonagall vorbei, <strong>das</strong>s dessen<br />
Umhang angesengt wurde.<br />
"Verdammt!" <strong>Harry</strong>s Pate zog seinen Zauberstab <strong>und</strong> schoss einen<br />
Schockzauber über seine Schulter. Ein weiterer, weißer Lichtstrahl jagte<br />
zwischen Ron <strong>und</strong> Hermine hindurch <strong>und</strong> hätte fast Neville getroffen,<br />
wenn der nicht in diesem Moment in die Höhe gesprungen wäre, wobei<br />
er noch seinen Zauberstab zückte <strong>und</strong> ohne zu zögern einen Zauber in<br />
die Richtung des Angreifers brüllte. Ein erschrockenes Keuchen <strong>und</strong><br />
hässliches Plumpsen sagte ihnen, <strong>das</strong>s er getroffen hatte.<br />
"Super Neville!", rief McGonagall, als befänden sie sich in der<br />
Abschlussprüfung. "Jetzt aber weg!"<br />
Er, Sirius <strong>und</strong> Snape schossen weiter wahllos Zauber <strong>und</strong> Flüche<br />
in die Dunkelheit um sie herum, um im nächsten halbwegs ruhigen<br />
Moment die Konzentration für <strong>das</strong> Apparieren <strong>auf</strong>zubauen.<br />
<strong>Harry</strong> schaute besorgt ins Dunkel, als sich wenige Meter von ihnen<br />
entfernt eine schwarze Gestalt mit roten Augen aus dem Nichts<br />
manifestierte.<br />
Voldemort.<br />
Seine Narbe begann augenblicklich so stark zu schmerzen, <strong>das</strong>s er<br />
fast McGonagalls Arm losließ, um zu Boden zu gehen. Die roten Augen<br />
kamen näher, ein Zauberstab gleich seinem wurde in die Luft erhoben,<br />
zielte <strong>auf</strong> ihn, <strong>und</strong> –<br />
Ein grüner Lichtblitz raste <strong>auf</strong> ihn zu, <strong>und</strong> er konnte nicht<br />
ausweichen, da er nach wie vor McGonagall festhielt, der die Augen<br />
geschlossen hielt <strong>und</strong> nichts mitbekam, er konnte nichts tun außer dem<br />
todbringenden Fluch zuzusehen, wie er un<strong>auf</strong>haltsam näher kam. Das<br />
letzte, was er erblickte, war Ginnys Gesicht, <strong>und</strong> dafür war er dankbar.<br />
Unendlich dankbar.<br />
Danach spürte er nur noch ein pressendes Gefühl, <strong>das</strong> seinen<br />
Körper einengte <strong>und</strong> ihm die Luft aus der Lunge drückte.<br />
So fühlt sich Sterben also an, dachte er emotionslos. Gleich werde<br />
ich am Ufer des Totenflusses wieder <strong>auf</strong>wachen. Ob der alte Fährmann<br />
verblüfft sein wird, mich so schnell – <strong>und</strong> überhaupt – wieder zu sehen?<br />
Der Druck um ihn nahm immer mehr zu, <strong>und</strong> irgendwie verärgert<br />
fand er, <strong>das</strong>s Sterben genauso unangenehm war wie Apparieren.<br />
349
Dann war die Kraft um ihn herum <strong>auf</strong> einmal weg, <strong>und</strong> er taumelte<br />
ins Nichts. Nasses Gras schlug gegen seine Handflächen, als er zu<br />
Boden fiel, <strong>und</strong> schwarze Nacht umfing ihn, als er die Augen öffnete.<br />
War er in der <strong>Unterwelt</strong>?<br />
Neben ihm keuchte jemand, <strong>und</strong> als er sich umdrehte, erkannte er<br />
Ron.<br />
"Bist du auch tot?", schrie <strong>Harry</strong> entsetzt.<br />
"Das Apparieren bekommt dir nicht, Kumpel", stellte Ron sachlich<br />
fest.<br />
"Das –" Sprachlos schaute er sich um, nun, da seine Augen sich<br />
langsam wieder an die Dunkelheit gewöhnten. Auch Sirius, McGonagall,<br />
Hermine <strong>und</strong> die anderen rappelten sich gerade wieder hoch, <strong>und</strong> ein<br />
Stück hinter ihnen thronte die gewaltige, spärlich beleuchtete Silhouette<br />
von Hogwarts.<br />
<strong>Harry</strong> kam es vor, als habe er nie etwas Schöneres gesehen als<br />
die alten Mauern des riesigen Gebäudes, die so viel für ihn bedeuteten.<br />
"Ich dachte, ich wäre tot", nuschelte er <strong>und</strong> ließ sich mit vor<br />
Erleichterung zittrigen Knien von McGonagall durch <strong>das</strong> Schlosstor<br />
ziehen.<br />
"Tot? Na, <strong>das</strong> waren wir alle eine Weile lang, oder?", grinste Sirius<br />
neben ihm. Da wurde ihm bewusst, <strong>das</strong>s niemand außer ihm Voldemort<br />
gesehen hatte.<br />
"Ihr – wisst es nicht!", stieß er hervor.<br />
"Was?", fragte ihn McGonagall beunruhig.<br />
"Voldemort, er war da! Beim Ministerium! Er wollte mich<br />
umbringen!"<br />
Sirius erbleichte. "Bist du sicher?"<br />
"Ich habe ihn auch gesehen", warf Ginny ein. "Er hat einen Avada<br />
Kedavra <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> geschossen."<br />
Nun redeten alle wild durcheinander.<br />
"Hier sind wir <strong>auf</strong> jeden Fall sicher", seufzte McGonagall erleichtert.<br />
"Hogwarts ist gut geschützt."<br />
"Aber wie kommt es, <strong>das</strong>s wir Du-Weißt-Schon-Wen nicht auch<br />
gesehen haben?", fragte sich Ron verwirrt.<br />
"Er stand etwas weiter weg, <strong>und</strong> es war so dunkel, vermutlich habt<br />
ihr ihn deswegen nicht bemerkt", meinte <strong>Harry</strong>, der sich bewusst wurde,<br />
<strong>das</strong>s er eigentlich extrem müde sein müsste.<br />
"Oh mein Gott", flüsterte Hermine. "Fast hätte er es geschafft, ich<br />
glaube es nicht! Wenn wir nicht rechtzeitig appariert wären –"<br />
"Wir sind es", sagte Snape mit Betonung des Wortes "wir" <strong>und</strong><br />
meinte Hermine <strong>und</strong> sich. "Ich war schon weg, als der Dunkle Lord<br />
ankam. Gut so –" Unheil verkündend durchbohrte er <strong>Harry</strong> mit seinem<br />
kalten Blick. „Denn wie hätte ich sonst erklären sollen, <strong>das</strong>s ich <strong>Harry</strong><br />
<strong>Potter</strong> <strong>zur</strong> Flucht verhelfe?"<br />
350
<strong>Harry</strong> war klar, <strong>das</strong>s Snape ihn als Sündenbock benutzt hätte,<br />
wenn seine Tarnung <strong>auf</strong>geflogen wäre. Er zwang sich, unbewegt in die<br />
ausdruckslosen schwarzen Augen zu sehen.<br />
"Aber <strong>Potter</strong> gefällt es bekanntlich, <strong>das</strong>s die ganze Welt sich in<br />
Gefahr begibt, um ihm zu helfen, nur weil er sich aus irgendeinem Gr<strong>und</strong><br />
den Zorn des Dunklen Lord zugezogen hat –"<br />
"Genug, Severus!", rief McGonagall, <strong>und</strong> auch Sirius stand<br />
offenbar kurz davor, dem Zaubertranklehrer an die Kehle zu gehen.<br />
Stattdessen zerrupfte er mit verbiestertem Gesicht <strong>das</strong> Reisig von<br />
Hermines Besen.<br />
Sie erreichten die Eingangstür Hogwarts <strong>und</strong> traten in die dunkle,<br />
riesige Halle, von der die Marmortreppe in der düsteren Ferne<br />
entschwand wie eine Brücke in den Himmel.<br />
"Es ist etwa ein Uhr", meinte McGonagall. "Ihr geht am besten in<br />
eure Schlafsäle. Was besprochen werden muss, hat bis morgen Zeit."<br />
<strong>Harry</strong> war dankbar für diesen Vorschlag, denn seine Beine<br />
gehorchten ihm kaum noch. Die letzten, anstrengenden Tage, die ganze<br />
Aufregung, <strong>und</strong> nun auch noch der Schock durch Voldemort versetzten<br />
ihn zusammen mit dem Schlafdefizit in einen Zustand, der von dem<br />
eines Geistes auch nicht allzu weit entfernt sein konnte.<br />
"Lasst uns gehen", meinte Ginny sanft zu ihm. Er nickte, <strong>und</strong><br />
gemeinsam gingen sie die Treppe hin<strong>auf</strong> <strong>und</strong> durch die dunklen Gänge,<br />
begegneten <strong>auf</strong> ihrem Weg dabei nur einmal dem Fetten Mönch, der<br />
erstaunt durch die Decke entschwebte, als er sie erblickte.<br />
"Es ist vorbei", stellte Hermine fest <strong>und</strong> schlang in der Kälte des<br />
Schlosses fröstelnd die Arme um sich. "Voldemort kann uns nicht hierher<br />
folgen."<br />
"So wie ich ihn kenne, bastelt er bereits jetzt an einer Möglichkeit<br />
dazu", antwortete <strong>Harry</strong> düster.<br />
"Solange Dumbledore hier ist, wird uns nichts geschehen", meinte<br />
Ginny, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine mussten lächelte, denn genau mit<br />
diesem Satz hatten sie sich in ihrem ersten Jahr an der Schule auch<br />
getröstet.<br />
Und abgesehen von der Tatsache, <strong>das</strong>s ich mich einmal von<br />
Voldemorts Bildern habe manipulieren lassen, ist er tatsächlich nie bis<br />
nach Hogwarts durchgedrungen, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> fühlte sich plötzlich<br />
wirklich sicher in dem so vertrauten Schloss. Wir werden ihn eben<br />
solange abhalten, bis wir selbst einen Weg gef<strong>und</strong>en haben, ihn zu<br />
besiegen ...<br />
Vor Müdigkeit stolpernd kletterten sie durch <strong>das</strong> Portrait, nachdem<br />
ihnen die Fette Dame ("Mission <strong>Unterwelt</strong>!") ungnädig vor sich<br />
hinmurmelnd Platz gemacht hatte. Sie verabschiedeten sich vor den<br />
351
Treppen zu den Schlafsälen <strong>und</strong> fielen nur eine Minute später in die<br />
Betten.<br />
<strong>Harry</strong> horchte <strong>auf</strong> Rons Schnarchen, <strong>und</strong> als dieser fest <strong>und</strong> tief<br />
schlief, ging er zum Fenster <strong>und</strong> betrachtete schweigend die weiten, in<br />
nachtschwarzer Finsternis unter ihm liegenden Länderein <strong>und</strong> irgendwo<br />
als etwas dunkleren Fleck Hagrids Hütte vor den rauschenden Wipfeln<br />
des Verbotenen Waldes.<br />
Er spürte, <strong>das</strong>s er sich irgendwo in seinem Inneren bereits von<br />
dieser Welt verabschiedet hatte, als sie vor einigen Tagen in die<br />
<strong>Unterwelt</strong> gegangen waren ... umso schöner war es nun, diesen alt<br />
bekannten Anblick wieder vor sich zu haben. Das erste Mal seit fast<br />
einer Woche entspannte er sich, <strong>und</strong> sofort überkam ihn eine<br />
Müdigkeitswelle, die es ihm nur noch ermöglichte, sich samt Kleidung<br />
<strong>und</strong> Schuhen <strong>auf</strong> sein Bett fallen zu lassen.<br />
Als er am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne bereits<br />
hoch am Himmel <strong>und</strong> schien ihm ins Gesicht.<br />
Gähnend sah er sich im leeren Zimmer um <strong>und</strong> versuchte sich<br />
vergeblich zu erinnern, welchen Tag sie hatten. Musste er nicht im<br />
Unterricht sein? Erschrocken sprang er <strong>auf</strong>, zog neue Sachen an <strong>und</strong><br />
fegte in den Gemeinschaftsraum. Dort saßen je<strong>doc</strong>h nur Ron, Hermine<br />
<strong>und</strong> Ginny.<br />
"Ausgeschlafen?", lächelte ihn Ginny an, <strong>und</strong> sofort vergaß er<br />
sämtliche Unterrichtsst<strong>und</strong>en dieser Welt.<br />
"Es ist schon nach Mittag, wir haben dir was zu Essen aus der<br />
großen Halle mitgebracht", meinte Ron <strong>und</strong> wies <strong>auf</strong> mehrere Teller, die<br />
<strong>auf</strong> dem Nachbartisch standen; <strong>Harry</strong> erblickte Hühnchencurry mit Reis,<br />
Bratkartoffeln mit Gulasch, mehrere Sorten Obst <strong>und</strong> ein riesiges Stück<br />
Sahnetorte. Hungrig stürzte er sich dar<strong>auf</strong>.<br />
"Wie lange seid ihr schon wach?", fragte er kauend.<br />
"Seit einer St<strong>und</strong>e vielleicht", erklärte Ron. "Hermine wollte uns ja<br />
unbedingt in den Unterricht schleifen, aber McGonagall hat gemeint, für<br />
heute seien wir entschuldigt."<br />
Hermine wirkte etwas unglücklich, tröstete sich aber mit der<br />
Bemerkung, <strong>das</strong>s sie nur eine St<strong>und</strong>e Zauberkunst verpassten <strong>und</strong> eine<br />
Doppelst<strong>und</strong>e Kräuterk<strong>und</strong>e, <strong>das</strong> sei schnell wieder <strong>auf</strong>zuholen, <strong>und</strong> Alte<br />
Runen falle glücklicherweise ohnehin aus wegen Drachenpocken von<br />
Professor –<br />
"Lass gut sein, Hermine", grinste Ron. Er beugte sich zu <strong>Harry</strong><br />
hinüber, der gerade einen großen Schluck Kürbissaft trank <strong>und</strong> flüsterte<br />
so laut, <strong>das</strong>s es auch Hermine hören konnte: "Warte erst, bis sie<br />
herausfindet, <strong>das</strong>s wir noch weitere drei Schultage verpasst haben."<br />
"Ron Weasley, du bist unmöglich!", rief Hermine <strong>und</strong> verschränkte<br />
beleidigt die Arme.<br />
352
Als <strong>Harry</strong> fertig war, schlug Hermine vor, sich ein wenig die Beine<br />
zu vertreten, <strong>und</strong> so schlenderten sie über die von einer fahlen<br />
Spätherbstsonne beschienenen Wiesen von Hogwarts. Hagrid war nicht<br />
in seiner Hütte, aber sie sahen ihn von weitem, wie er einigen<br />
Drittklässlern eine Thestralherde vorführte.<br />
<strong>Harry</strong> grinste, als er ihm zuwinkte. "Bei uns hat er wenigstens bis<br />
<strong>zur</strong> fünften Klasse gewartet, bis er mit Thestralen angefangen hat ..."<br />
"Ach, die tun <strong>doc</strong>h nichts!", meinte Ron. "Und besser als richtige<br />
Pferde sind sie allemal." Ginny sah ihn fragend an, <strong>und</strong> dar<strong>auf</strong>hin setzten<br />
sie sich unter die Bäume am Seeufer <strong>und</strong> erzählten, was in der <strong>Unterwelt</strong><br />
passiert war. Ginny unterbrach nur mit einzelnen Fragen, während sie<br />
<strong>das</strong> Gehörte zu verdauen versuchte.<br />
"Dann gibt es also wirklich eine <strong>Unterwelt</strong>", murmelte sie. "Ich weiß<br />
nicht, ob mich der Gedanke beruhigen oder ängstigen soll."<br />
"Ich denke, <strong>das</strong> Beste wäre, einfach nicht mehr darüber<br />
nachzudenken", meinte Hermine langsam. "Wir gehören hierher <strong>und</strong><br />
haben die Aufgabe, unser Leben zu leben. Was danach kommen mag,<br />
ist jetzt irrelevant."<br />
"Aber dennoch ist es toll zu wissen, <strong>das</strong>s danach nicht alles vorbei<br />
ist", widersprach <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> dachte an seine Eltern. Er würde sie eines<br />
Tages wieder sehen. Natürlich freute er sich dar<strong>auf</strong>, allerdings merkte er<br />
auch, <strong>das</strong>s er eine größere Geduld <strong>und</strong> Ruhe gef<strong>und</strong>en hatte, seit er die<br />
<strong>Unterwelt</strong> verlassen hatte. Er musste nicht mehr darüber grübeln, wie es<br />
wäre, Eltern zu haben – irgendwann würde er mit ihnen zusammen sein<br />
können, für immer. Aber bis dahin –<br />
"Sollten wir <strong>das</strong> Leben einfach genießen, meint ihr nicht auch?",<br />
räkelte sich Ron in der schwachen Herbstsonne <strong>und</strong> wirbelte träge einen<br />
H<strong>auf</strong>en bunter Blätter <strong>auf</strong>.<br />
Als ihnen zu kalt wurde, gingen sie <strong>zur</strong>ück ins Schloss. In der<br />
Eingangshalle lief ihnen McGonagall über den Weg. Er wirkte<br />
übernächtigt, als wäre er heute Nacht nicht zum Schlafen gekommen,<br />
war aber dennoch bemerkenswert fröhlich.<br />
"Da seid ihr ja!", rief er. Hinter ihm kam Franbery zum Vorschein,<br />
der einige Unterrichtsmaterialien trug. Scheinbar kamen sie gerade aus<br />
dem Verteidigungsklassenraum.<br />
"Ich soll dir von Dumbledore sagen, <strong>das</strong>s du heute Abend in sein<br />
Büro kommen sollst", richtete McGonagall <strong>Harry</strong> aus. "Sobald <strong>das</strong><br />
Festessen vorbei ist."<br />
"Festessen?", fragte Ron ganz Ohr.<br />
"Na, heute ist <strong>doc</strong>h Halloween, schon vergessen?" grinste der<br />
Verteidigungslehrer vergnügt <strong>und</strong> zog Franbery mit sich, der ihnen<br />
nachrief, ob sie denn den Herrn So <strong>und</strong> So in der <strong>Unterwelt</strong> getroffen<br />
hätten, den Begründer der Bewegung für ästhetische Zauberei –<br />
353
Sie taten so, als hörten sie ihn nicht.<br />
<strong>Harry</strong> drehte sich zu den anderen um. Nun wollte er etwas tun, was<br />
ihn seit dem Aufwachen nicht mehr los ließ.<br />
"Wo ist Sirius?", fragte er.<br />
"Im Raum der Wünsche, in unserem DA-Raum", erklärte Hermine.<br />
"Solange <strong>das</strong> Ministerium seine Unschuld noch nicht offiziell anerkannt<br />
hat, versteckt er sich dort. Es könnte höchstens passieren, <strong>das</strong>s DA-<br />
Mitglieder ihn überraschen, aber sie sind ja alle in die Sache eingeweiht<br />
<strong>und</strong> wissen, <strong>das</strong>s er kein Mörder ist."<br />
<strong>Harry</strong> nickte <strong>und</strong> ging in Richtung der Treppe. "Wir treffen uns dann<br />
zum Essen!", rief er den anderen zu <strong>und</strong> machte sich <strong>auf</strong> den Weg.<br />
Wieder benutzte er einige seiner Abkürzungen, die alleine ihm schon <strong>das</strong><br />
Gefühl von Zuhause gaben, durchquerte die Gänge <strong>und</strong> Fluchten von<br />
Hogwarts, die er ab jetzt wieder voll würde genießen können.<br />
Gleich dar<strong>auf</strong> trat er in den Raum der Wünsche. Sirius saß in<br />
einem Stuhl am Fenster <strong>und</strong> las in einem Buch, einige leere Teller<br />
standen neben ihm <strong>auf</strong> einem Tisch.<br />
"<strong>Harry</strong>!"<br />
Sirius wedelte mit dem Zauberstab, <strong>und</strong> ein weiterer Stuhl erschien<br />
gegenüber dem seinigen. <strong>Harry</strong> setzte sich. Jetzt, nachdem ihr<br />
Abenteuer vorbei war <strong>und</strong> so etwas wie Ruhe in sein Leben<br />
<strong>zur</strong>ückgekehrt war, wurde ihm erst bewusst, was sie tatsächlich<br />
geschafft hatten: Sirius lebte wieder. Sie hatten ihn aus der <strong>Unterwelt</strong><br />
<strong>zur</strong>ückgeholt. Sein Pate war wieder bei ihm; was letzten Juni im<br />
Ministerium geschehen war, hatte keine Bedeutung mehr. Er wusste,<br />
<strong>das</strong>s er vor dem schwarzen Bogen keine Angst mehr haben würde,<br />
sollte er sich ihm noch einmal nähern müssen.<br />
"Du wirkst so nachdenklich", meinte Sirius <strong>und</strong> sah ihn <strong>auf</strong>merksam<br />
an. "Was ist los?"<br />
<strong>Harry</strong> schüttelte seine Gedanken ab.<br />
"Mir sind nur die letzten Tage durch den Kopf gegangen", sagte er<br />
immer noch leicht abwesend. "Es war einfach so viel <strong>auf</strong> einmal – erst<br />
stolpern wir in die <strong>Unterwelt</strong>, dann werden wir beinahe von einem<br />
H<strong>auf</strong>en Skythen <strong>und</strong> einen Riesen getötet, dann finden wir dich <strong>und</strong> am<br />
Ende kam auch noch Voldemort –"<br />
"Langsam beginne ich zu glauben, <strong>das</strong>s solche Beschäftigungen<br />
für euch normal sind", grinste Sirius. "Ihr habt ein außerordentliches<br />
Talent, die Gefahr zu suchen. Wir waren damals genauso", erinnerte er<br />
sich verträumt.<br />
McGonagall <strong>und</strong> er geben sicher ein gutes Paar ab, dachte <strong>Harry</strong>,<br />
beide tun sie fast so, als befänden sie sich noch in ihrer Schulzeit. Aber<br />
war nicht genau <strong>das</strong> auch ein Zug an Sirius, den er so mochte?<br />
"Nun, gerade du solltest dich freuen, <strong>das</strong>s wir uns in Gefahr<br />
begeben haben", erwiderte <strong>Harry</strong> gespielt empört. Sirius lachte, wurde<br />
354
aber gleich wieder ernst. Vielleicht ernster, als <strong>Harry</strong> ihn je gesehen<br />
hatte.<br />
"Ich hatte bisher keine Zeit dafür, mich bei euch zu bedanken",<br />
begann er <strong>und</strong> würgte <strong>Harry</strong> ab, als dieser etwas erwidern wollte. "Nein,<br />
tue es nicht so bescheiden ab. Ihr habt etwas für mich getan, was noch<br />
nie jemand <strong>auf</strong> sich genommen hat, um einem anderen <strong>das</strong> Leben zu<br />
retten. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich diese zweite Chance<br />
überhaupt verdient habe."<br />
"Natürlich sind wir gekommen!", rief <strong>Harry</strong>. "Ich war schuld an<br />
deinem – äh, Tod, <strong>und</strong> musste meinen Fehler wieder gutmachen."<br />
Sirius sah ihn entgeistert an. "Wieso warst du schuld?"<br />
"Weil ich mich habe ins Ministerium locken lassen, weswegen ihr<br />
gekommen seid, um uns zu retten, <strong>und</strong> –"<br />
"<strong>Harry</strong>! Ob Voldemort dich damals oder an einem anderen<br />
Zeitpunkt <strong>und</strong> Ort angegriffen hätte, spielt <strong>doc</strong>h gar keine Rolle. Ich, der<br />
Orden, wir sind da, um dich zu beschützen. Und <strong>das</strong>s wir dabei sterben<br />
können, wissen wir alle."<br />
"Aber –"<br />
"Kein Aber! Du trägst nicht einen Hauch Schuld an meinem Tod,<br />
<strong>und</strong> selbst wenn es so wäre, hättest du sie nun ohnehin abgetragen,<br />
oder?"<br />
Langsam durchdrang <strong>Harry</strong> der ungewohnte Gedanke, schuldlos<br />
an Sirius' Tod zu sein, besser gesagt, allmählich wich dieses bleierne,<br />
<strong>auf</strong> ihm lastende Gefühl des schlechten Gewissens <strong>und</strong> der Melancholie,<br />
<strong>und</strong> er wurde augenblicklich glücklicher, so glücklich sogar, als hätte er<br />
einen besonders schwierigen Schnatz gefangen.<br />
Er nickte.<br />
"Na dann ist ja alles geklärt!", meinte Sirius fröhlich. "Eine Bitte<br />
hätte ich noch an dich: Würdest du mir vielleicht deinen Tarnumhang<br />
ausleihen? Ich will mir ein wenig die Beine vertreten, <strong>und</strong> ich bin nicht so<br />
sicher, wie die Schüler reagieren, wenn ein immer noch offiziell als<br />
Massenmörder verurteilter Zauberer in der Schule herumläuft."<br />
<strong>Harry</strong> kam eine Idee. "Du giltst <strong>doc</strong>h als tot. Kannst du – keine<br />
neue Identität annehmen, sollte deine Unschuld trotz des Videos nicht<br />
bewiesen werden können?"<br />
"Sicher ist <strong>das</strong> die letzte Alternative", nickte Sirius. "Dumbledore<br />
meint, solange wir verschleiern können, <strong>das</strong>s ich <strong>zur</strong>ück bin, bin ich<br />
abgesichert, auch wenn <strong>das</strong> Ministerium weiterhin <strong>auf</strong> meiner Schuld<br />
besteht. Momentan versucht der Orden Fudge zu überreden, meine<br />
Unschuld durch den Videobeweis quasi post mortem durchzusetzen.<br />
Sollten sie Erfolg haben, tauche ich dann plötzlich „offiziell“ wieder <strong>auf</strong>.<br />
Na ja, ich weiß nicht, ob <strong>das</strong> klappt, die Todesser haben mich ja auch<br />
gesehen. Sape <strong>und</strong> eure DA halten sicher dicht."<br />
Bei Snape war sich <strong>Harry</strong> nicht so sicher, sagte aber nichts.<br />
355
"Natürlich hoffe ich, <strong>das</strong>s ich bald wieder als anerkanntes Mitglied<br />
der Zauberergemeinschaft leben kann – in Freiheit. Dann kann ich<br />
endlich in vollem Umfang im Orden mitarbeiten", erklärte er eifrig.<br />
<strong>Harry</strong> atmete tief durch. "Und wo willst du wohnen?"<br />
Sirius zuckte mit den Schultern. "Entweder bleibe ich am<br />
Grimmauldplatz – wenn man <strong>das</strong> Haus ordentlich <strong>zur</strong>echtmacht, kann es<br />
sogar ganz gemütlich sein – oder ich suche mir etwas Kleines in der<br />
Nähe. Aber ich denke, ich bleibe in meinem Elternhaus wohnen. Allein,<br />
weil es als Hauptquartier des Ordens der wohl sicherste Ort Londons<br />
ist." Er zögerte kurz. „Ich habe noch eine andere Idee, aber <strong>das</strong> muss ich<br />
erst mit Dumbledore absprechen.“<br />
"Und –" <strong>Harry</strong> wagte es nicht, diesen Satz zu vollenden.<br />
"Ob du bei mir wohnen kannst?", grinste ihn Sirius aber sogleich<br />
wissend an.<br />
<strong>Harry</strong> nickte atemlos.<br />
"Natürlich!"“, strahlte sein Pate.<br />
So frei <strong>und</strong> unbeschwert hatte sich <strong>Harry</strong> seit langer, langer Zeit<br />
nicht mehr gefühlt wie jetzt, nachdem er Sirius seinen Tarnumhang<br />
gebracht hatte, dann kurz nach Hedwig in der Eulerei geschaut hatte,<br />
welche ihn auch sogleich begeistert umflogen hatte, als wüsste sie, wie<br />
kurz sie davor gestanden hatte, ihn nie wieder zu sehen, <strong>und</strong><br />
anschließend noch eine ordentliche Dreierpartie Zauberschach mit Ron<br />
<strong>und</strong> McGonagall gespielt hatte. Nun trat er zusammen mit Ron <strong>und</strong><br />
Hermine in die große Halle ein, die wie üblich zu Halloween festlich<br />
geschmückt war: Dutzende Riesenkürbisse umgaben den Raum,<br />
tausende hell scheinende Kerzen warfen ihr warmes Licht über die vier<br />
mit goldenen Tellern gedeckten Haustische <strong>und</strong> unechte, bunte Blätter<br />
rieselten bedächtig von der verzauberten Decke, die einen<br />
pechschwarzen, klaren <strong>und</strong> mit h<strong>und</strong>erten von Sternen übersäten<br />
Abendhimmel zeigte.<br />
Das Murmeln h<strong>und</strong>erter Schüler begleitete sie zu ihren Plätzen am<br />
Tisch der Gryffindors, <strong>Harry</strong> vermutete, <strong>das</strong>s es in den letzten Tagen<br />
wilde Spekulationen zu ihrem Verschwinden gegeben hatte. Bis <strong>auf</strong> die<br />
DA wusste aber wohl keiner um die wahren Hintergründe. Einige ihrer<br />
Mitglieder wie Luna oder Ernie kamen nun an ihren Tisch gesprintet <strong>und</strong><br />
gratulierten ihnen überschwänglich zu ihrer geglückten Mission. <strong>Harry</strong><br />
<strong>und</strong> Ron hatten Schwierigkeiten, ihr Grinsen wieder abzustellen. Auch<br />
Hermine wirkte ungemein zufrieden, <strong>und</strong> <strong>das</strong>, obwohl sie gerade erst von<br />
Seamus erfahren hatte, <strong>das</strong>s sie einen Zauberkunsttest verpasst hatten.<br />
"Zur nächsten DA-St<strong>und</strong>e werden wir euch alles ausführlich<br />
erzählen", meinte Ron gewichtig zu Ernie, der vor Neugier fast platzte.<br />
Hermine schüttelte lächelnd den Kopf, <strong>und</strong> auch <strong>Harry</strong> machte sich<br />
schon einmal <strong>auf</strong> eine haarsträubende Geschichte mit ganzen Rudeln<br />
356
von Riesen <strong>und</strong> einem heldenhaften Kampf Rons gegen Todesser<br />
gefasst.<br />
Ihm gegenüber sah er nun Neville, Katie <strong>und</strong> auch Cormack sitzen.<br />
"Ich wollte mich bei euch dafür bedanken, <strong>das</strong>s ihr gekommen<br />
seid, um uns zu helfen", erklärte er ruhig.<br />
"Ist <strong>doc</strong>h Ehrensache!", rief Neville, wurde aber ein bisschen rot<br />
über <strong>das</strong> Lob.<br />
"Wir sind <strong>doc</strong>h in der DA, da gehört es dazu, den anderen<br />
Mitgliedern zu helfen", sagte auch Katie.<br />
"Eben, dazu bildet du uns schließlich aus, oder?", fragte Cormack,<br />
<strong>und</strong> alle stimmten ihm begeistert zu. <strong>Harry</strong> wurde verlegen <strong>und</strong> war froh,<br />
als ein leises Klirren von Glas <strong>das</strong> Gespräch unterbrach. Dumbledore,<br />
der irgendwann in dieser Nacht an die Schule <strong>zur</strong>ückgekehrt sein<br />
musste, bat die Schüler um Aufmerksamkeit, <strong>und</strong> <strong>das</strong> laute<br />
Stimmengewirr brach ab.<br />
"Wieder einmal sind wir in unserer fantastisch geschmückten Halle<br />
zusammengekommen –" Er verneigte sich leicht in Richtung Hagrid, der<br />
wie immer für die Kürbisse gesorgt hatte <strong>und</strong> nun mit einem stolzen<br />
Grinsen eine wegwerfende Handbewegung machte, wobei er Professor<br />
Flitwicks Glas an die Wand schmetterte – "um Halloween zu feiern, den<br />
Tag, an dem, wie ihr sicherlich wisst, der Toten gedacht wird."<br />
Der Schulleiter warf einen langen Blick <strong>auf</strong> die Schülereien, <strong>und</strong><br />
<strong>Harry</strong> hätte schwören können, <strong>das</strong>s er ihm leicht zugenickt hätte.<br />
"Da wir uns aber in der Welt der Lebenden befinden, was ein<br />
unschätzbares Privileg ist, schlage ich vor, wir nutzen dies weidlich aus<br />
<strong>und</strong> stürzen uns <strong>auf</strong> ein weiteres leckeres Mahl."<br />
Applaus erklang, der lauter wurde, als unzählige schmackhafte <strong>und</strong><br />
<strong>auf</strong>wändige Gerichte <strong>auf</strong> den Tellern <strong>und</strong> Schüsseln vor ihnen<br />
erschienen.<br />
"Nicht, <strong>das</strong>s in der <strong>Unterwelt</strong> schlecht gegessen wird, oder?",<br />
grinste Ron, während er sich eine Riesenportion Hackfleischpastete mit<br />
Kartoffelbrei <strong>auf</strong>tat.<br />
"Oder getrunken", meinte Hermine ein wenig wehmütig, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong><br />
fragte sich, ob ihr natürlich vergeblicher Blick über den Tisch vielleicht<br />
Wein suchte.<br />
Obwohl er erst zu Mittag Unmengen verdrückt hatte, tat er sich von<br />
jedem Gericht etwas <strong>auf</strong> seinen Teller <strong>und</strong> beendete sein Mahl erst mit<br />
dem dritten Stück Schoko-Kürbistorte, als er kurz vor dem Platzen war.<br />
"He, schaut mal!", flüsterte plötzlich Neville <strong>und</strong> zeigte vor zum<br />
Lehrertisch. Dort fielen mysteriöserweise sämtliche Herbstblätter wie von<br />
einer unsichtbaren Kraft gelenkt schnurstracks <strong>auf</strong> Snapes Teller, der<br />
sein Essen gar nicht schnell genug davon freisch<strong>auf</strong>eln konnte. Zudem<br />
schwebte ein kleiner Kürbis mit einer Fratze vor seinem Gesicht <strong>und</strong><br />
streckte ihm erstaunlicherweise ständig die Zunge heraus. Was <strong>Harry</strong><br />
357
zudem <strong>auf</strong>fiel, waren die zwei Gläser <strong>und</strong> Teller, die vor McGonagall<br />
standen. Sein Lehrer für Verteidigung schaute ein ums andere Mal zu<br />
Snape herüber <strong>und</strong> wurde von einem Lachkrampf geschüttelt, was ihm<br />
einen misstrauischen Blick von seiner Tante einbrachte.<br />
"<strong>Harry</strong>, wo genau befinden sich eigentlich Sirius <strong>und</strong> dein<br />
Tarnumhang?", fragte Hermine missbilligend.<br />
"Mmm", machte <strong>Harry</strong> mit <strong>auf</strong>einander gepressten Lippen, um nicht<br />
auch loszulachen. Ron biss <strong>auf</strong> seine Gabel <strong>und</strong> bebte vor<br />
unterdrücktem Kichern. Die ganze Halle schaute nun gespannt zu<br />
Snape.<br />
Als auch noch dessen Glas sich wie von Zauberhand (wie treffend,<br />
dachte <strong>Harry</strong>) in die Luft erhob <strong>und</strong> ihm seinen Inhalt ins Gesicht kippte,<br />
war von überall her leises, weil krampfhaft <strong>zur</strong>ückgedrängtes Gelächter<br />
zu hören. Snape war <strong>auf</strong>gesprungen <strong>und</strong> schaute sich mit vor Hass<br />
sprühenden Augen nach dem Übeltäter um. Franbery stierte ihn<br />
verständnislos an, während McGonagall so tat, als mache er sich an<br />
einem Knopf seines Umhangs zu schaffen, so<strong>das</strong>s seine schwarze<br />
Mähne sein Gesicht <strong>und</strong> sein breites Grinsen verdeckte.<br />
Hermine schüttelte den Kopf. "Sie sind genauso kindisch wie ihr",<br />
meinte sie hochmütig zu Ron, der Katie gebeten hatte, über ihn einen<br />
Schweigezauber zu sprechen <strong>und</strong> nun in ungezügeltes, lautloses Lachen<br />
ausbrechen konnte.<br />
Als sie schließlich pappesatt <strong>und</strong> angenehm müde aus der Halle<br />
traten (Snape hatte den Lehrertisch wutentbrannt verlassen, wor<strong>auf</strong>hin<br />
sich die Schüler wieder beruhigt hatten), trafen sie am Fuß der<br />
Marmortreppe McGonagall, dem <strong>das</strong> viele Lachen scheinbar einen<br />
Schluck<strong>auf</strong> beschert hatte.<br />
"Das war gemein!", rief Hermine <strong>und</strong> schaute suchend in die Luft.<br />
"Wir wissen, <strong>das</strong>s du auch da bist, Sirius!" Ein körperloses Schnauben<br />
war zu hören.<br />
"Ach, <strong>das</strong> war <strong>doc</strong>h lustig", kicherte Ginny neben ihr.<br />
"Genau", behauptete McGonagall. "Ein wenig Spaß nach dem<br />
ganzen Stress musst du uns gönnen." Er wandte sich an <strong>Harry</strong>. "Wir<br />
sehen uns! Wenn du Lust hast, kannst du am Wochenende ja mal bei<br />
mir vorbeischauen. Sirius wird wohl auch da sein." Er nickte in die Leere<br />
neben sich.<br />
"Klar", grinste <strong>Harry</strong> <strong>zur</strong>ück. Warum auch nicht? OK, McGonagall<br />
war genauso fies zu Snape wie Sirius <strong>und</strong> wohl genauso leichtsinnig <strong>und</strong><br />
unbedacht in seinen Handlungen, aber immerhin war er sein Großcousin<br />
– <strong>und</strong> er hatte durchaus <strong>das</strong> Gefühl, sich mit ihm ebenso gut verstehen<br />
zu können wie mit seinem Paten.<br />
"Macht’s gut!" McGonagall verschwand über die Treppe, während<br />
sich <strong>Harry</strong> zu den anderen umdrehte.<br />
358
"Ich muss noch zu Dumbledore", seufzte er. "Wir sehen uns<br />
später."<br />
Ron nickte. "Klar, wir haben noch eine Partie Zauberschach zu<br />
Ende zu spielen."<br />
"Wir könnten auch die neuen Ideen für die DA durchgehen", schlug<br />
Hermine vor, bevor sie mit Ron wegging.<br />
Zurück blieb Ginny, die ihn vieldeutig anlächelte. "Wenn du<br />
möchtest, können wir vorher noch eine Weile in den Raum der Wünsche<br />
gehen."<br />
"Lieber nicht, da wohnt Sirius vorübergehend", durchschauerte es<br />
<strong>Harry</strong> bei dem Gedanken, von seinem Paten bei Dingen beobachtet zu<br />
werden, die er lieber geheim halten wollte.<br />
"Wie wäre es dann mit dem Klassenraum für Verteidigung?", fragte<br />
sie <strong>und</strong> wandte den Blick nicht von ihm.<br />
Warum nicht? Zauberschach, DA – alles Dinge, die er mochte,<br />
aber die Aussicht, mit Ginny allein sein zu können, erschien ihm plötzlich<br />
wie die einzige Sache der Welt, die sich zu tun lohnte.<br />
Er nickte, unfähig, etwas zu antworten. Irgendetwas an Ginny<br />
schien ihm die Kehle zuzuschnüren.<br />
"Also bis nachher, ich warte dort <strong>auf</strong> dich", flüsterte sie, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong><br />
musste sich zwingen, sie zu verlassen <strong>und</strong> in den zweiten Stock zu<br />
l<strong>auf</strong>en. Er rannte zu Dumbledores Büro, je eher er dort ankam, desto<br />
eher kam er auch wieder weg ... zu Ginny ...<br />
Erschrocken wäre er fast die enge Wendeltreppe des<br />
Wasserspeiers wieder heruntergestolpert, als vor ihm die Tür zum Büro<br />
des Schulleiters <strong>auf</strong>ging <strong>und</strong> er Sirius <strong>und</strong> McGonagall vor sich sah.<br />
"Ach, <strong>Harry</strong>, ich habe dich erwartet", hörte er Dumbledores Stimme<br />
<strong>und</strong> trat ein.<br />
"Wir hatten nur gerade etwas zu besprechen. Wie ich <strong>das</strong> sehe,<br />
wird es dir dein Pate ohnehin spätestens morgen früh verraten, <strong>und</strong><br />
wenn nicht, dann dein Großcousin." Er warf einen kurzen Blick über<br />
seine halbmondförmigen Brillengläser <strong>auf</strong> McGonagall, der verlegen<br />
grinste. "Deshalb kannst du es auch gleich erfahren."<br />
<strong>Harry</strong> sah die drei nacheinander verständnislos an.<br />
"Ich werde Lehrer, <strong>Harry</strong>!", rief Sirius strahlend.<br />
<strong>Harry</strong> wünschte sich, etwas anderes als "Hä?" geantwortet zu<br />
haben.<br />
"Verteidigungslehrer", präzisierte McGonagall.<br />
"Aber du –"<br />
"Ich bleibe erst einmal euer richtiger Lehrer, <strong>und</strong> Sirius wird mein<br />
Assistent. Wir haben <strong>das</strong> Glück, <strong>das</strong>s irgendeine Schule für Zauberei in<br />
den USA diesen vertrottelten Franbery <strong>doc</strong>h tatsächlich anstellen will –<br />
als Verteidigungslehrer! Er wird Hogwarts in den nächsten ein oder zwei<br />
Wochen verlassen, <strong>und</strong> Sirius nimmt seinen Platz ein."<br />
359
"Ich lerne ein bisschen den Lehrbetrieb kennen, <strong>und</strong> ab nächstem<br />
Jahr unterrichten wir gemeinsam", erklärte Sirius.<br />
"Da wir beide nebenbei im Orden zu tun haben – ja, ich trete nun<br />
auch ein – ist die Stelle für eine Person zu viel Arbeit. Wir teilen uns ab<br />
nächstem Schuljahr die Klassen <strong>auf</strong>", meinte McGonagall.<br />
<strong>Harry</strong> hatte gar nicht gewusst, <strong>das</strong>s es so viele gute Nachrichten<br />
<strong>auf</strong> einmal geben konnte ... Sirius lebte ... Ginny wollte sich mit ihm<br />
treffen ... McGonagall trat dem Orden bei ... <strong>und</strong> Sirius würde fortan<br />
immer in seiner Nähe sein!<br />
"Ich muss euch allerdings ermahnen, im Umgang mit Kollegen in<br />
Zukunft gemäßigter zu sein", richtete Dumbledore <strong>das</strong> Wort an die<br />
beiden.<br />
"Kein Problem", grinste Sirius. "Allein <strong>das</strong>s Snape mich nun jeden<br />
Tag sehen muss, ist für ihn die schlimmste <strong>Tor</strong>tur. Da muss ich nicht<br />
mehr viel beitragen."<br />
Feixend nickten die beiden Dumbledore <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> zu <strong>und</strong> traten<br />
aus dem Büro.<br />
Der Schulleiter seufzte. "Ich fürchte, sie werden nie erwachsen<br />
werden. Aber im Gegensatz zu einigen Lehrern scheinen sie gut mit<br />
euch Schülern auszukommen – <strong>und</strong> vor allem kann ich mir sicher sein,<br />
<strong>das</strong>s sie nicht Voldemort am Hinterkopf stecken haben oder getarnte<br />
Todesser sind."<br />
<strong>Harry</strong> setzte sich, immer noch grinsend.<br />
„Aber zuerst muss Sirius freigesprochen werden“, wandte er ein.<br />
„Natürlich, aber bezüglich des Verfahrens bin ich mir sehr sicher –<br />
ich habe heute mit dem Leiter für magische Strafverfolgung gesprochen,<br />
<strong>das</strong> Video wird als Beweis absolut ausreichen. Ich rechne damit, <strong>das</strong>s<br />
Sirius in einem offiziellen Prozess noch in den nächsten Wochen<br />
rehabilitiert wird.“ Dumbledore fuhr sich müde über die Augen. "Aber<br />
deswegen wollte ich dich nicht sprechen, wie du dir sicher denken<br />
kannst", fuhr er fort. "<strong>Harry</strong>, es ist von höchster Wichtigkeit, <strong>das</strong>s du mir<br />
alles erzählst, was in den letzten Tagen passiert ist." Er verschränkte die<br />
Finger <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> mit seinen durchdringenden, leuchtend blauen<br />
Augen gespannt an.<br />
Und er erzählte. Das erste Mal machte es ihm Spaß, Dumbledore<br />
von etwas zu berichten, weil ihr Abenteuer endlich einmal gut<br />
ausgegangen war ... niemand war gestorben, <strong>und</strong> er musste auch keine<br />
Regelverstöße beichten – na ja, zumindest keine, die er nicht ohnehin<br />
davor schon einmal begangen hatte.<br />
"Du bist dir sicher bewusst, <strong>das</strong>s ich euch deswegen Hauspunkte<br />
abziehen werde", bestätigte Dumbledore dann auch seine<br />
Befürchtungen. "Ihr habt <strong>das</strong> von allen unmöglich gehaltene W<strong>und</strong>er<br />
geschafft <strong>und</strong> noch mehr Schulregeln gebrochen als sonst."<br />
360
<strong>Harry</strong> sackte leicht zusammen, aber die Gryffindors würden es<br />
verstehen ... die meisten jedenfalls. Sie wussten, <strong>das</strong>s es wichtigere<br />
Dinge gab als Hauspunkte.<br />
"Aber ich denke auch, <strong>das</strong>s euer Mut <strong>und</strong> eure Treue belohnt<br />
werden müssen, <strong>und</strong> letztendlich die Fähigkeiten, die ihr unter Beweis<br />
gestellt habt, um euer Ziel zu erreichen. Ich gebe zu, <strong>das</strong>s ich selbst nie<br />
daran geglaubt habe, <strong>das</strong>s Lebende in die <strong>Unterwelt</strong> gehen können –<br />
<strong>und</strong> davon <strong>zur</strong>ückkehren."<br />
"Ich auch nicht", meinte <strong>Harry</strong> knapp.<br />
"Und dennoch bist du gegangen. Ja, <strong>das</strong> erfordert Mut – viel Mut,<br />
aber nicht nur <strong>das</strong>. Voldemort hätte nie so etwas getan wie du, <strong>und</strong> weißt<br />
du auch, warum?"<br />
<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf.<br />
"Weil er den Tod fürchtet, mehr als alles andere. Er würde sich ihm<br />
nie freiwillig nähern, im Gegenteil, er versucht seit vielen Jahren,<br />
Unsterblichkeit zu erlangen. Du dagegen hast keine Angst vor dem<br />
Unbekannten, sondern kannst mit dem Tod umgehen. Damit bist du den<br />
meisten erwachsenen Hexen <strong>und</strong> Zauberern voraus."<br />
Er wusste nicht, was er dar<strong>auf</strong>hin sagen sollte.<br />
"Ich hätte wissen sollen, <strong>das</strong>s du durch den Bogen gehen würdest,<br />
nachdem ihr <strong>das</strong> Rosier-Buch gef<strong>und</strong>en hattet. Aber irgendwie habe ich<br />
euch <strong>das</strong> nicht zugetraut. Wieder einer meiner Fehler." Der Schulleiter<br />
schüttelte den Kopf, <strong>und</strong> von einigen Portraits an der Wand kam ein<br />
verständiges Nicken.<br />
"Die Jugend wird immer <strong>auf</strong>müpfiger!", kommentierte ein dicker,<br />
rotgesichtiger Zauberer in einer grauen Robe aus seinem Goldrahmen<br />
heraus erhitzt.<br />
"Immerhin hoffte ich, euch mit Professor Snape <strong>und</strong> Professor<br />
McGonagall Hilfe nachschicken zu können."<br />
Bei der Erwähnung McGonagalls fiel <strong>Harry</strong> etwas ein, was ihn<br />
schon seit Wochen wurmte.<br />
"Professor?"<br />
"Ja, <strong>Harry</strong>?"<br />
"Wieso können sich Jamie <strong>und</strong> Professor McGonagall nicht leiden?<br />
Er hat mir etwas von Clantraditionen erzählt, aber ich kann nicht<br />
glauben, <strong>das</strong>s Professor McGonagall muggelfeindlich ist."<br />
"Ist sie auch nicht", meinte Dumbledore schlicht. "Gut, Jamies<br />
Eltern haben sämtliche gesellschaftliche Normen über den H<strong>auf</strong>en<br />
geworfen, als sie zusammengezogen <strong>und</strong> schließlich ausgewandert sind,<br />
sie wurden von allen <strong>und</strong> besonders ihren Familien geächtet. Man kann<br />
nicht ausschließen, <strong>das</strong>s Professor McGonagall durch <strong>das</strong> Verhalten<br />
ihres Clans ein wenig davon beeinflusst wurde. Aber der eigentliche<br />
Gr<strong>und</strong> für ihre Abneigung ist ein anderer."<br />
361
<strong>Harry</strong> schwieg, er wusste, <strong>das</strong>s Dumbledore selbst entscheiden<br />
würde, ob er ihn nannte.<br />
"Es ist eigentlich kein Geheimnis, also fühle ich mich nicht als<br />
Verräter, wenn ich es dir sage. Professor McGonagall hat eine Nichte,<br />
die auch zu der Zeit von Jamie nach Hogwarts ging – ich glaube, sie war<br />
drei Jahre unter ihm. Wie es der L<strong>auf</strong> der Dinge manchmal will, verliebte<br />
sie sich in ihn. Er allerdings hatte keinerlei Interesse an ihr <strong>und</strong> auch<br />
nicht genug Entschlossenheit, sie eindeutig abzuweisen – kurz, sie<br />
wurde ziemlich unglücklich, <strong>und</strong> als er nach Amerika <strong>zur</strong>ückging <strong>und</strong><br />
angeblich starb, kam sie kaum darüber hinweg. Professor McGonagall<br />
hat ihre Nichte gemocht, <strong>und</strong> sie kann Jamie wohl bis heute nicht<br />
verzeihen, was er damals – unwissentlich, wie man ihm zu Gute halten<br />
muss – getan hat."<br />
"Das also steckt dahinter", rief <strong>Harry</strong> erleichtert. "Und ich habe <strong>das</strong><br />
Schlimmste befürchtet –"<br />
"Kann es Schlimmeres geben als unerfüllte Liebe?", fragte<br />
Dumbledore ruhig, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> verstummte.<br />
"Nun, ich habe dich heute aber auch noch aus einem anderen<br />
Gr<strong>und</strong> hergebeten. Du kannst es dir sicher denken. Voldemort arbeitet<br />
Tag <strong>und</strong> Nacht an neuen Plänen, dich anzugreifen, <strong>und</strong> beinahe wäre es<br />
ihm heute ja auch geglückt, wie ich gestehen muss. Ich schreibe mir die<br />
Gefahr selbst an, in die ihr geraten seid – ich hätte nie gedacht, <strong>das</strong>s<br />
Voldemort <strong>und</strong> seine Todesser an Halloween ins Ministerium eindringen<br />
könnten, um an dich zu gelangen. Wir waren einfach nicht schnell<br />
genug."<br />
"Es ist ja nichts passiert", meinte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> kam sich für einen<br />
irrwitzigen Augenblick so vor, als versuche er, Dumbledore zu trösten.<br />
"Nein, aber nur, weil Professor Snape bei euch war. Es wäre nicht<br />
auszudenken, wenn er euch nicht hätte befreien können."<br />
"Verteidigen Sie Snape nicht noch", stieß <strong>Harry</strong> hervor, dem<br />
plötzlich wieder siedendheiß einfiel, was Snape in die <strong>Unterwelt</strong><br />
getrieben hatte.<br />
Dumbledore zog die Augenbrauen hoch. "Bist du immer noch der<br />
– Entschuldigung, wenn ich <strong>das</strong> sagen muss – irrigen Überzeugung,<br />
<strong>das</strong>s Professor Snape für Voldemort arbeitet?"<br />
"Das weiß ich nicht", antwortete <strong>Harry</strong> vollkommen ehrlich. "Aber<br />
ich weiß, wieso er in die <strong>Unterwelt</strong> gegangen ist."<br />
"Weil ich ihn gebeten habe", meinte Dumbledore heiter.<br />
"Nein!", widersprach ihm <strong>Harry</strong> hitzig. "Er wollte zu meiner Mutter!<br />
Sie belästigen! Vermutlich hat er es auch getan, wir waren ja einige Tage<br />
getrennt –"<br />
Dumbledore unterbrach ihn mit einer ruhigen Handbewegung, sein<br />
Gesichtsausdruck drückte nun allerdings vollkommene Verblüffung aus.<br />
"Deine Mutter?", fragte er überrascht.<br />
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"Ja, er war einmal in sie verliebt, meint jedenfalls Hermine, <strong>und</strong> –"<br />
"<strong>Harry</strong>, was immer auch zwischen Professor Snape <strong>und</strong> deiner<br />
Mutter gewesen sein mag, es hatte nichts mit seinem Tun in der<br />
<strong>Unterwelt</strong> zu tun."<br />
"Das stimmt nicht, er wollte von Anfang an zu ihr!", rief <strong>Harry</strong><br />
hektisch. "Bevor er Jamie verlor, sprach er davon, zu einer Frau gehen<br />
zu wollen!"<br />
"Ja", erklärte Dumbledore sanft, "weil ich ihm diese Aufgabe<br />
gegeben habe."<br />
Nun war es an <strong>Harry</strong>, entgeistert in seinen Stuhl <strong>zur</strong>ückzusinken.<br />
"Sie haben – Snape befohlen, zu meiner Mutter zu gehen?",<br />
keuchte er.<br />
Dumbledores blaue Augen blitzten vergnügt.<br />
"Nein, ich habe ihn gebeten, einer Dame namens Hepzibah Smith<br />
einen Besuch abzustatten, um sie über gewisse Vorfälle zu befragen.<br />
Vorfälle, über die ich mit dir reden muss, denn sie werden deine <strong>und</strong><br />
Voldemorts Zukunft wesentlich bestimmen."<br />
"Snape war also nie bei meiner Mutter gewesen?", vergewisserte<br />
sich <strong>Harry</strong>. Dumbledore schüttelte den Kopf.<br />
Nach einigen Sek<strong>und</strong>en Pause, in denen <strong>das</strong> leise Ticken von<br />
Dumbledores seltsamen Instrumenten zu vernehmen war, während vor<br />
dem Fenster die ersten Schneeflocken des Winters wirbelten, fragte<br />
<strong>Harry</strong> bedächtig:<br />
"Über was haben Snape <strong>und</strong> diese Frau gesprochen?"<br />
"Über etwas, bei dem uns der höchst bemerkenswerte Orden der<br />
<strong>Unterwelt</strong> ein gutes Stück weiterhelfen konnte, insbesondere der Bruder<br />
von Sirius, Regulus Black. <strong>Harry</strong>, ich möchte mit dir über etwas reden,<br />
was es uns sehr erschweren wird, Voldemort zu schlagen. Etwas, <strong>das</strong> er<br />
geschaffen hat, um allmächtig zu werden. Das wir <strong>auf</strong> einem sehr langen<br />
<strong>und</strong> anstrengenden Weg suchen <strong>und</strong> vernichten müssen."<br />
<strong>Harry</strong> wusste plötzlich, <strong>das</strong>s die unbeschwerten St<strong>und</strong>en, die hinter<br />
ihm lagen, nur eine Atempause gewesen waren – ein kurzer Aufschub,<br />
bevor er sich wieder in den unvermeidlichen Kampf mit Voldemort würde<br />
begeben müssen. Widerwillig lauschte er Dumbledores nächsten<br />
Worten.<br />
"Und zwar seine Horkruxe."<br />
THE END<br />
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