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Harry Potter und das Tor zur Unterwelt doc - Harry auf Deutsch

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<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong><br />

<strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> <strong>Tor</strong> <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong><br />

von<br />

Maria Sehrt<br />

Eine Fanfiction <strong>zur</strong> <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Reihe<br />

I


„<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong>“<br />

widme ich allen Lesern,<br />

die sich schon einmal in die unbeschreiblichen<br />

Weiten von J.K. Rowlings Welt begeben haben<br />

<strong>und</strong> genauso wie ich<br />

nie genug davon bekommen können.<br />

II


Vorwort<br />

Bevor ihr euch in <strong>das</strong> Buch vertieft, zuerst einige Worte vorweg. Vor<br />

etwa einem Jahr habe ich den siebten <strong>und</strong> letzten Band "<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> die<br />

Heiligtümer des Todes" gelesen, in dem alle Geheimnisse der Buchreihe<br />

<strong>auf</strong>geklärt, alle Kämpfe gefochten <strong>und</strong> alle losen Enden verknüpft worden sind.<br />

Viele Jahre Rätseln um <strong>das</strong> weitere Schicksal von so vielen Romanfiguren<br />

nahmen innerhalb von nur wenigen Tagen ein Ende, was ich beschloss, nicht<br />

einfach so wahrhaben zu wollen – <strong>und</strong> stellte fest, <strong>das</strong>s es noch viele Ideen<br />

gibt, die man innerhalb des <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Universums in die Tat umsetzen<br />

könnte ... was wäre gewesen, wenn ... dies nicht geschehen wäre ... oder es<br />

diese Möglichkeit gegeben hätte ... hätte man an dieser Stelle nicht anders<br />

vorgehen können ...<br />

Was gäbe es für eine bessere Antwort <strong>auf</strong> zumindest einige meiner<br />

vielen gedanklichen Fragen, als eine eigene Geschichte zu schreiben, die sich<br />

zwar innerhalb der Grenzen von J.K. Rowlings geschaffener Welt bewegt,<br />

aber andere Wege nimmt als die Charaktere ihrer Bücher? Die <strong>das</strong><br />

tatsächliche, offiziell Geschriebene hinter sich lässt, um in eigene Phantasien<br />

abzutauchen?<br />

Meine Geschichte schließt an den fünften Band "<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> der<br />

Orden des Phönix" an <strong>und</strong> behandelt, anders, als ihr <strong>das</strong> von J.K. Rowlings<br />

Bänden gewohnt seid, nicht ein gesamtes Schuljahr, sondern nur gute dreii<br />

Monate. Da diese Zeitspanne aber vollkommen ausreichte, um meine Ideen<br />

umzusetzen, habe ich es nicht für nötig angesehen, eine längere erzählte Zeit<br />

zu wählen.<br />

Meine Absicht war es dabei, eine Fanfiction zu kreieren, welche sich<br />

harmonisch in die offizielle Fassung der <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Bücher fügt. Ich habe<br />

daher während des Schreibens versucht, mich an die gegebenen Fakten zu<br />

halten <strong>und</strong> sämtliches Geschehen vor dem Hintergr<strong>und</strong> der sieben uns<br />

bekannten Bände abl<strong>auf</strong>en zu lassen. Sollten mit dabei inhaltliche Fehler<br />

unterl<strong>auf</strong>en sein, die den von J.K. Rowling festgesetzten Tatsachen<br />

widersprechen, so lag dies nicht in meinem Willen. Natürlich habe ich meine<br />

eigenen Charaktere erf<strong>und</strong>en, eigene Erweiterungen dieser grandiosen Welt<br />

vorgenommen <strong>und</strong> – unvermeidlicherweise – auch in den weiteren Verl<strong>auf</strong> der<br />

über meine Erzählung hinausgehenden Handlung eingegriffen. Dennoch sehe<br />

ich "<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong>" eher als Ergänzung denn als<br />

Abzweigung der eigentlichen <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Saga.<br />

Der einzige Zweck des Buches besteht darin, wenigstens einige Leser<br />

einzuladen, noch einmal in <strong>das</strong> Leben von <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> den<br />

dazugehörigen Charakteren abzutauchen, um für eine Weile der Langeweile<br />

des Alltags zu entkommen.<br />

III


Name: <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong><br />

Autorin: Maria Sehrt<br />

Originallocation: www.harry-<strong>auf</strong>-deutsch.de<br />

Originalkapitel: 17<br />

Originalsprache: <strong>Deutsch</strong><br />

Kategorie: Abenteuer/Mystery/Humor<br />

Stand nach Buch: 5 (Ein Teil der Geschichte wurde geplant, bevor ich<br />

Band 7 gelesen habe. Deshalb habe ich in meiner Fan-<br />

Fiction Informationen aus diesem Buch (z.B. zu Ört-<br />

lichkeiten) außer Acht gelassen.)<br />

Inhalt Nach dem Kampf im Ministerium kehrt <strong>Harry</strong> wieder<br />

zu den Dursleys <strong>zur</strong>ück – <strong>und</strong> muss endlos lange,<br />

quälende Wochen durchstehen, bevor ihn endlich der<br />

Phönixorden abholt. Zusätzlich zu der Angst vor<br />

weiteren Angriffen von Voldemort belastet ihn die<br />

Trauer um Sirius Black, bis er zusammen mit Ron <strong>und</strong><br />

Hermine ein geheimnisvolles Buch findet …<br />

Was hat es wirklich <strong>auf</strong> sich mit dem mysteriösen<br />

Raum, in dem sein Pate gestorben ist?<br />

Rechte: Sämtliche Rechte an diesem Buch, den handelnden<br />

Charakteren <strong>und</strong> den erwähnten Orten gehören J.K.<br />

Rowling, von welcher ich sie mir geliehen habe – bis<br />

<strong>auf</strong> diese, die ich selbst hinzuerf<strong>und</strong>en habe, <strong>und</strong><br />

welche leicht zu erkennen sein sollten.<br />

Quellen: Als Informations- <strong>und</strong> Nachschlagewerke dienten mir<br />

natürlich die sieben <strong>Harry</strong>-<strong>Potter</strong>-Bände, dazu habe ich<br />

oft Rat gesucht <strong>auf</strong> www.hp-lexicon.org <strong>und</strong>,<br />

besonders wegen einiger Begrifflichkeiten, in der<br />

Wörterliste <strong>auf</strong> www.harry-<strong>auf</strong>-deutsch.de.<br />

Die (teils selbstständig abgeänderten) Bilder verdanke<br />

ich ebenfalls www.hp-lexicon.org bzw.<br />

www.wikipedia.de.<br />

IV


Inhaltsverzeichnis<br />

Ein hitziger Tag..................................................1<br />

Ungesehen <strong>und</strong> Ungehört .................................19<br />

Ein trostloser alter Ort......................................35<br />

Hermines Paradies.............................................58<br />

Das verbotene Buch ..........................................77<br />

Wieder zu Hause...............................................98<br />

Der Neue.........................................................115<br />

Die Rückkehr des Adlers .................................132<br />

Besen <strong>und</strong> Armeen...........................................152<br />

Im See..............................................................170<br />

Das gestohlene Pergament...............................197<br />

Durch den Schleier ..........................................219<br />

Im Feldlager....................................................245<br />

Durch Zeit <strong>und</strong> Raum.....................................268<br />

Das andere London.........................................291<br />

Der Hexer........................................................312<br />

Halloween .......................................................333<br />

V


KAPITEL EINS<br />

Ein hitziger Tag<br />

Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, erhitzte Straßen<br />

<strong>und</strong> brachte Autos zum Kochen, ließ resignierende Bäume <strong>und</strong><br />

Sträucher die Blätter durch ihre sengenden Strahlen schlaff<br />

herunterhängen <strong>und</strong> bereitete den Menschen im ganzen Land einen<br />

anstrengenden Tag mit viel Schweiß <strong>und</strong> Kopfschmerzen. Im ländlichen<br />

Städtchen Little Whinging machte sie zudem Wasser zum derzeit<br />

begehrtesten Gut. Die <strong>das</strong> Dorf umgebenden Felder mit ihrem<br />

vertrocknenden Weizen lechzten genauso nach dem kühlen Nass wie<br />

die Vorgärten der Häuser in einer netten, kleinen Vorstadtsiedlung,<br />

welche Straßen mit so hübschen, klingenden Namen wie Rosenstraße,<br />

Nelkenallee <strong>und</strong> Ligusterweg beherbergte.<br />

Den letzteren unterschied <strong>auf</strong> den ersten Blick nichts von seinen<br />

gutbürgerlichen Pendanten: Schmucke, geräumige Einfamilienhäuser<br />

säumten die Wege, die Fensterläden waren gegen die stechende Sonne<br />

heruntergelassen. Kleine gepflegte, wie mit dem Lineal gezogene<br />

Gärtchen bildeten einen grünen Puffer gegen eventuell zu scharfe<br />

Nachbaraugen, die <strong>auf</strong> der Suche nach dem neuesten Klatsch die<br />

Siedlung absuchten. In ihnen wuchsen hautsächlich Blumen, Kräuter<br />

<strong>und</strong> andere beliebte oder nützliche Pflanzen.<br />

Die fast mathematische Strenge der Beetanordnung war in<br />

Nummer 4, Ligusterweg, <strong>zur</strong> höchst denkbaren Perfektion getrieben<br />

worden. Fein säuberlich reihten sich Beete mit schnurgeraden Wegen, in<br />

Zentimeterabständen gesteckte Möhren mit nunmehr braunem Kraut,<br />

Zwiebeln <strong>und</strong> Kohlköpfe mit welken Blättern aneinander, welche den<br />

Anschein erweckten, als gehorchten sie einer strikten militärischen<br />

Formation. Man hatte unweigerlich <strong>das</strong> Gefühl, <strong>das</strong> Gesamtbild zu<br />

zerstören, wenn man auch nur eine winzige Blume entfernte. Auch <strong>das</strong><br />

1


langsame Dahinsiechen der Gewächse, eine Folge des landesweiten<br />

Verbots der Gartenbewässerung <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> der Rekordhitze, konnte nicht<br />

darüber hinwegtäuschen, <strong>das</strong>s sich hier ein Garten befand, der von<br />

seinen Eigentümern mit viel Aufmerksamkeit bedacht wurde.<br />

All diese Gartenidylle diente allerdings dazu, etwas zu verbergen,<br />

etwas Ungeheuerliches, was die Bewohner der angrenzenden Häuser<br />

darüber in Empörung versetzt hätte, <strong>das</strong>s ihr netter, normaler Alltag von<br />

eindeutig abnormalen, zutiefst verabscheuenswerten Dingen gestört<br />

worden wäre. Aber natürlich kam es nicht dazu. Hatten <strong>doc</strong>h die Besitzer<br />

des Ligusterweges 4 selbst so große Angst davor, ihr Geheimnis könnte<br />

bekannt werden, <strong>das</strong>s sie alles in ihrer Macht stehende getan hatten, es<br />

vor neugierigen Nachbaraugen zu verbergen. So fiel niemandem <strong>das</strong><br />

kleine, seltsame Gewächs <strong>auf</strong>, welches verborgen hinter einem riesigen<br />

Busch gelber Rosen <strong>und</strong> umgeben von dichtem Ginster, der extra von<br />

seinem ursprünglichen Platz neben dem Efeuspalier umgesetzt worden<br />

war („Das beeinträchtigt die Gartengeometrie, damit blamieren wir uns<br />

vor der ganzen Gemeinde!“), sein Dasein im letzten Winkel des<br />

Vorgartens fristete. Seine kleinen, von kurzen Stacheln besetzten<br />

Tentakel waren von leicht übelgrüner Farbe, <strong>und</strong> eine gewisse<br />

Bösartigkeit ging von der unscheinbaren Pflanze aus. Das sehr sonnige<br />

Fleckchen Erde konnte nur von einer Stelle aus eingesehen werden:<br />

Vom Wohnzimmerfenster sah man direkt in die geschützte Ecke, was die<br />

übervorsichtigen Bewohner von Nummer 4 dazu nutzten, etwa alle 20<br />

Minuten einen ängstlichen Blick in den Garten zu werfen, als fürchteten<br />

sie, allein die Anwesenheit des kleinen Pflänzchens könnte ungewollte<br />

Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> sich ziehen.<br />

Der erschwerte Zugang zu dem Stück Beet machte die Pflege des<br />

Gewächses aber auch zu einer unangenehmen Angelegenheit. Dies<br />

musste der Junge wieder einmal feststellen, der sich an dem<br />

Rosenbusch vorbei <strong>auf</strong> den Weg kämpfte <strong>und</strong> sich dabei einige Dornen<br />

einzog. Fluchend schlug er einen Ast beiseite <strong>und</strong> verwünschte mal<br />

wieder die Angst seiner Verwandten, die sich vor nichts mehr fürchteten,<br />

als <strong>das</strong>s die Nachbarn herausfanden, was es mit ihrem unglückseligen<br />

Neffen <strong>auf</strong> sich hatte.<br />

Kopfschüttelnd ging <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> <strong>zur</strong>ück ins Haus <strong>und</strong> füllte dabei<br />

die Tabelle aus, welche mit sauberen, geraden Strichen <strong>auf</strong> ein Stück<br />

Pergament gezeichnet worden war. Zahlen vor sich hinmurmelnd trug er<br />

die Höhe der Pflanze, die Anzahl ihrer Ausläufer <strong>und</strong> ihr momentanes<br />

Verhalten ein. Heute schien sie ihm ein wenig aggressiver gewesen zu<br />

sein als in den letzten Tagen, aber deswegen machte er sich keine<br />

Sorgen. Eine Teufelsschlinge war nicht gefährlicher als ein Büschel<br />

Petersilie, solange sie genug Sonne abbekam. Und abgesehen von ihm<br />

begab sich sowieso niemand in ihre Nähe. Allein bei der Vorstellung,<br />

2


seine Tante Petunia, Onkel Vernon oder gar sein Cousin Dudley könnten<br />

sich für magische Pflanzen interessieren, musste er süffisant grinsen.<br />

Denn <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>, obwohl er nicht viel anders wirkte als andere<br />

15-Jährige, war ein ganz <strong>und</strong> gar nicht normaler Schüler. Er ging nämlich<br />

<strong>auf</strong> die Schule für Hexerei <strong>und</strong> Zauberei von Hogwarts, <strong>und</strong> <strong>das</strong> schon<br />

seit fünf Schuljahren. Seine Verwandten würden ihm <strong>das</strong> am liebsten<br />

verbieten <strong>und</strong> umgehend <strong>auf</strong> eine Schule, besser, in eine Anstalt für<br />

Geisteskranke stecken – denn genau <strong>das</strong> sahen sie in der Zauberei:<br />

Eine Krankheit, etwas zutiefst Verbotenes <strong>und</strong> Unnormales, <strong>das</strong> so<br />

schnell wie möglich vernichtet werden musste. <strong>Harry</strong> ließ sich von<br />

diesem feindlichen Verhalten schon lange nicht mehr beeindrucken, aber<br />

es machte seine Sommerferien regelmäßig <strong>zur</strong> schlimmsten Zeit des<br />

Jahres. Leider kam er um diese jährlichen Besuche bei seinen einzigen<br />

noch lebenden Verwandten nicht herum – wen <strong>das</strong> weniger erfreute,<br />

seine Familie oder ihn, war schwer zu sagen. Seine letzte Drohung, <strong>das</strong><br />

neue Firmenauto von Onkel Vernon in ein Denkmal vom Premierminister<br />

zu verwandeln, war genauso wenig <strong>auf</strong> Gegenliebe gestoßen wie die<br />

Behauptung von Tante Petunia, seinen Zauberstab zu verbrennen, wenn<br />

er ihn noch einmal in der Küche trug. So ersehnte er auch dieses Mal vor<br />

allem eins: Von seinem ersten Ferientag an hatte er die Tage bis <strong>zur</strong><br />

Rückkehr nach Hogwarts an einem selbst gebastelten Kalender<br />

abgestrichen. Immer noch blieben ihm knapp fünf Wochen, die er im<br />

Ligusterweg 4 verbringen musste. Während er diesen trübsinnigen<br />

Gedanken nachhing, durchquerte er die Küche, um noch einen<br />

abschließenden Blick <strong>auf</strong> die Teufelsschlinge zu werfen.<br />

Auch wenn es keine angenehme Pflanze war (tatsächlich hatte er<br />

schon von einem Fall gehört, in dem sie einen Menschen getötet hatte),<br />

<strong>und</strong> er sie sich gewiss nicht ins Zimmer stellen würde, so war sie <strong>doc</strong>h<br />

eines der wenigen Zeugnisse der magischen Welt, die er bei den<br />

Dursleys hatte. Beim Anblick des kleinen Gewächses kamen ihm wieder<br />

die Bilder seiner ersten Begegnung mit seiner Art in den Sinn. Er dachte<br />

an Ron, wie er, gefangen in den Tentakeln einer sehr viel größeren<br />

Teufelsschlinge, die Kontrolle <strong>und</strong> auch beinahe sein Leben verloren<br />

hatte, <strong>und</strong> er sah Hermine vor sich, wie sie per Zauberspruch <strong>das</strong> Licht<br />

der Sonne herbeigeholt hatte, um die Pflanze zu bekämpfen. Wehmütig<br />

dachte <strong>Harry</strong> an seine beiden besten Fre<strong>und</strong>e, die er derzeit mehr<br />

vermisste als alles andere. Seit Wochen hatte er keinen Kontakt mehr<br />

mit ihnen gehabt, nicht einmal Briefe hatten sie ihm geschrieben. Im<br />

Gr<strong>und</strong>e war seine Lage noch schlimmer als letzten Sommer, als Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine ihm nutzlose Briefe mit unwichtigem Inhalt geschickt hatten<br />

ohne die Informationen, die er so dringend gewollt hatte, <strong>und</strong> <strong>das</strong>,<br />

obwohl sie durchaus im Mittelpunkt des Geschehend der magischen<br />

Welt gelebt hatten. Dennoch war er ihnen dieses Mal nicht böse. So sehr<br />

er sich vor einem Jahr über ihre Geheimniskrämerei <strong>auf</strong>geregt hatte –<br />

3


<strong>Harry</strong> überkam eine plötzliche Verlegenheit, als er sich an Hermines<br />

betroffenes Gesicht erinnerte, zu Tode erschrocken, während er sie <strong>und</strong><br />

Ron im Grimmauldplatz 12 angebrüllt hatte – so gut verstand er dieses<br />

Mal ihre Zurückhaltung. Im letzten Monat hatte es einen furchtbaren<br />

Zwischenfall gegeben, der für die gesamte Zauberergemeinschaft von<br />

größter Bedeutung war. Der böseste schwarze Zauberer aller Zeiten,<br />

Lord Voldemort, war wieder erstarkt <strong>und</strong> hatte zusammen mit seinen<br />

schrecklichen Anhängern, welche ihm in Grausamkeit <strong>und</strong><br />

Rücksichtslosigkeit in nichts nachstanden, den Versuch unternommen, in<br />

<strong>das</strong> Ministerium für Zauberei einzubrechen.<br />

Obwohl er eine Gefahr für alle Zauberer <strong>und</strong> Hexen darstellte <strong>und</strong><br />

besonders diejenigen mit seiner Rückkehr zu alter Macht in Angst<br />

versetzte, welche seine erste Schreckensherrschaft schon miterlebt<br />

hatten, so war <strong>Harry</strong> mehr als alle anderen von ihm betroffen. Eine alte,<br />

mystische Prophezeiung hatte Voldemort nicht lange nach <strong>Harry</strong>s Geburt<br />

davon überzeugt, <strong>das</strong>s ein ihm Ebenbürtiger kommen werde, der eine<br />

Bedrohung für seine Herrschaft bedeuten würde. Und es ergab sich,<br />

<strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> derjenige war, in dem Voldemort diese Bedrohung wähnte –<br />

<strong>und</strong> <strong>Harry</strong>s Leben damit radikal veränderte.<br />

Vor einem Jahr hatte <strong>Harry</strong> noch nichts von der Prophezeiung<br />

gewusst, kämpfte aber schon seit einigen Jahren gegen seinen ärgsten<br />

Feind. Denn Voldemort hatte im Bestreben, <strong>Harry</strong> im Alter von einem<br />

Jahr zu töten, dessen Eltern umgebracht, war anschließend aber von<br />

dem <strong>Harry</strong> geltenden Todesfluch selbst getroffen worden. Danach lebte<br />

er viele Jahre als Geist, kaum lebendig, bis er es vor gut einem Jahr<br />

geschafft hatte, mittels eines Gehilfen wieder einen eigenen Körper zu<br />

erhalten. Seitdem sammelte er erneut seine Anhänger um sich mit dem<br />

Ziel, zu vollenden, was er vor 14 Jahren vergeblich versucht hatte: <strong>Harry</strong><br />

zu töten.<br />

Mit diesem düsteren Schatten über seinem Leben musste <strong>Harry</strong><br />

schon seit einiger Zeit <strong>zur</strong>echtkommen. Den Dursleys hatte er nichts von<br />

der Prophezeiung erzählt, es reichte, wenn sie wussten, wer Voldemort<br />

war <strong>und</strong> <strong>das</strong>s er <strong>Harry</strong> nach dem Leben trachtete. Besser gesagt, allein<br />

Tante Petunia hatte eine leise Ahnung davon, was es bedeutete, <strong>das</strong>s<br />

Voldemort <strong>zur</strong>ück war. Von Seiten der Dursleys konnte er am wenigsten<br />

mit Unterstützung <strong>und</strong> Beistand rechnen. Wären Hermine, Ron mit<br />

seiner Familie, den Weasleys, einer der ältesten Zaubererfamilien<br />

Großbritanniens, <strong>und</strong> einige seiner Mitschüler in Hogwarts, die sich zum<br />

Widerstand gegen Voldemort entschlossen hatten, nicht gewesen, <strong>Harry</strong><br />

hätte nicht gewusst, wie er mit der Situation hätte umgehen sollen.<br />

Bedrückt schaute er ein letztes Mal <strong>auf</strong> die Teufelsschlinge, konnte<br />

kaum glauben, <strong>das</strong>s es so etwas wie gleißenden Sonnenschein <strong>und</strong><br />

einen fre<strong>und</strong>lichen Sommertag geben konnte, wo <strong>doc</strong>h Voldemort<br />

4


gerade jetzt irgendwo einen weiteren Plan ausarbeitete, um <strong>Harry</strong> zu<br />

töten, <strong>und</strong> versuchte, noch mehr Kreaturen anzuwerben, die sich seiner<br />

Armee anschließen sollten. Aber hier in der Muggelwelt war Voldemort<br />

niemandem ein Begriff. Dabei befanden sich auch einige nichtmagische<br />

Menschen unter seinen vielen Opfern. <strong>Harry</strong> erinnerte sich an den Tod<br />

einer Familie in Birmingham, die angeblich bei einem Großbrand in<br />

ihrem Haus gestorben war. Je<strong>doc</strong>h steckten auch hier Todesser<br />

dahinter, denn die Eltern hatten Bestreben gezeigt, sich der<br />

Widerstandsbewegung gegen Voldemort anzuschließen – einer ihrer<br />

Söhne war nach Hogwarts gegangen.<br />

All <strong>das</strong> wusste <strong>Harry</strong> aus dem Tagespropheten, einer der<br />

wichtigsten magischen Zeitungen, den er einmal täglich per Eulenpost<br />

bekam. Auch heute Morgen war ein kleiner Steinkauz, die<br />

zusammengerollten Blatt Pergament um sein Bein geb<strong>und</strong>en, durch sein<br />

offenes Zimmerfenster geflogen. Um ihm den Propheten abzunehmen<br />

<strong>und</strong> als Gegenleistung einige bronzene Knuts in den kleinen Geldbeutel<br />

am anderen Bein des Kauzes zu stecken, musste <strong>Harry</strong> stets früh<br />

<strong>auf</strong>stehen. Aber <strong>das</strong> machte ihm nichts aus. Er konnte seit Wochen<br />

ohnehin kaum schlafen. Ständig schwebten ihm Schreckensbilder von<br />

Voldemort vor Augen, wie er ihm gegenübergestanden hatte im großen<br />

Atrium des Ministeriums, den Zauberstab erhoben, bereit, zu töten –<br />

Als einzige Ablenkung, um den verschwommenen Bildern von<br />

Todessern mit hasserfüllten Blicken <strong>und</strong> den quälenden Gedanken<br />

daran, wen Voldemort vielleicht schon morgen töten würde, nur weil ihm<br />

jemand im Weg stehen würde, zu entkommen, hatte <strong>Harry</strong> seine<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben. Seine Angst um Ron <strong>und</strong> Hermine <strong>und</strong> seine stetige<br />

Unruhe, die ihm die Erinnerungen an den Kampf im Ministerium<br />

bereiteten, vermochte er wenigstens teilweise in Arbeit zu ersticken.<br />

Ungeachtet der Geschehnisse hatten seine Lehrer ihnen auch in<br />

diesen Ferien eine Menge Arbeit <strong>auf</strong>gegeben, darunter komplexe<br />

Projekte <strong>und</strong> langwierige Experimente, wie er sie noch nie zu Hause<br />

hatte machen müssen. Manchmal wünschte er sich Hermine her, die <strong>auf</strong><br />

jede seiner Frage zu einem komplizierten Zauberspruch eine Antwort<br />

gewusst hätte, oder ihm zumindest seinen Aufsatz über Verschwinde-<br />

<strong>und</strong> Materialisierungszauber <strong>und</strong> ihre Anwendung in der<br />

Verwandlungswissenschaft, eine Vorbereitung <strong>auf</strong> den kommenden Stoff<br />

in Verwandlung, hätte korrigieren können. Andererseits hatte er erstaunt<br />

festgestellt, <strong>das</strong>s es ihm Spaß machte, anspruchsvolle Themen zu<br />

bearbeiten <strong>und</strong> dabei entstehende Probleme selbst zu lösen, jetzt, wo er<br />

genügend Zeit <strong>und</strong> keine andere Beschäftigung als sein Studium hatte.<br />

Mit den Gedanken ganz bei seinen Haus<strong>auf</strong>gaben schloss <strong>Harry</strong><br />

die Tür zu seinem Zimmer <strong>und</strong> ging zum Bett. Nach wie vor benutze er<br />

5


die lose Bodendiele unter seinem Bett, um einige seiner Schulsachen<br />

<strong>auf</strong>zubewahren. Dort hatte er früher immer heimlich magische<br />

Gegenstände oder Zeugnisse der magischen Welt <strong>auf</strong>bewahrt, die er<br />

aus der Besenkammer hatte holen können, wo die Dursleys seinen<br />

Besitz eingeschlossen hatten <strong>und</strong> ihm verboten hatte, ihm im<br />

Ligusterweg 4 zu benutzen, aus Angst, die Nachbarn könnten etwas<br />

bemerken.<br />

In diesem Sommer je<strong>doc</strong>h hatte <strong>Harry</strong> es geschafft, Onkel Vernon<br />

überzeugend darzulegen, <strong>das</strong>s er nach Voldemorts Rückkehr unter<br />

besonderem Schutz des Zaubereiministeriums stände <strong>und</strong> sich jederzeit<br />

mit einer Beschwerde an den Minister wenden könne, welcher dann<br />

kommen würde <strong>und</strong> nachschauen würde, woran es <strong>Harry</strong> denn fehlte.<br />

Allein die Vorstellung, einer von denen könnte vor seinem Haus<br />

<strong>auf</strong>tauchen, mit weiten Umhängen in absurden Farben <strong>und</strong> so einem<br />

Ding in der Hand, mit dem man <strong>das</strong> Verbotene tun konnte, hatte Onkel<br />

Vernon in solch grauenhaften Schrecken versetzt, <strong>das</strong>s er sich aus<br />

Versehen Senf <strong>auf</strong> sein Marmeladebrötchen geschmiert hatte. Seitdem<br />

durfte <strong>Harry</strong> all seine Schulsachen in seinem Zimmer <strong>auf</strong>bewahren <strong>und</strong><br />

sogar Eulenpost bekommen. Er hatte den Dursleys außerdem<br />

weismachen können, <strong>das</strong>s es ihm <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> seiner besonderen Lage per<br />

Ausnahmegenehmigung vom Zaubereiminister persönlich erlaubt war,<br />

zu zaubern, obwohl er noch minderjährig war, was normalerweise<br />

Zauberverbot außerhalb Hogwarts bedeutete.<br />

Dass <strong>das</strong> Ministerium bei der kleinsten Verfehlung seinerseits<br />

nichts lieber täte, als ihn abzuführen <strong>und</strong> eines genauen Verhörs zu<br />

unterziehen, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s er derzeit kaum etwas Besseres tun konnte, als<br />

möglichst vom Ministerium fernzubleiben, hatte er lieber nicht erwähnt.<br />

Die Zaubererregierung hätte nur zu viel Freude daran, irgendeinen<br />

Vorwand zu nutzen, um ihn über die Prophezeiung <strong>und</strong> Voldemort<br />

auszufragen. Die Wahrheit über <strong>das</strong>, was in der Mysteriumsabteilung im<br />

Juni passiert war, wussten neben ihm nur Albus Dumbledore, Schulleiter<br />

von Hogwarts <strong>und</strong> größter Kämpfer gegen Voldemort, sowie Ron <strong>und</strong><br />

Hermine, die er <strong>auf</strong> der Rückreise von Hogwarts vor einigen Wochen<br />

<strong>doc</strong>h noch mit eingeweiht hatte. Die Nachricht, <strong>das</strong>s entweder er oder<br />

Voldemort eines Tages von der Hand des anderen sterben mussten, wie<br />

es die Prophezeiung besagte, hatte beide entsetzt, ganz gleich, wie sehr<br />

<strong>Harry</strong> beteuerte, <strong>das</strong>s diese Prophezeiung nur Auslegungssache war<br />

<strong>und</strong> sich vielleicht nie erfüllen würde. Hermine hatte mit ruhiger, ernster<br />

Stimme erklärt, <strong>das</strong>s sie ihm beistehen würden, egal, was <strong>das</strong> bedeuten<br />

mochte, <strong>und</strong> auch Ron hatte seine anfängliche Ungläubigkeit<br />

überw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> theatralisch gemeint, sie würden <strong>Harry</strong> folgen, <strong>und</strong> sei<br />

es bis in Voldemorts Quartier (dabei hatte eine leise Erleichterung<br />

darüber, <strong>das</strong>s niemand wusste, wo genau sich dieses befand,<br />

mitgeklungen).<br />

6


<strong>Harry</strong> fühlte sich gleich besser bei dem Gedanken an die beiden,<br />

auch wenn sie sich derzeit nicht trauten, gegenseitig Briefe zu schreiben.<br />

Im Propheten hatte gleich zu Anfang der Ferien etwas von eventueller<br />

Gefahr gestanden, <strong>das</strong>s Todesser im Auftrag Voldemorts Briefe<br />

anfingen, um Informationen über die Anhänger Dumbledores zu<br />

bekommen. Dar<strong>auf</strong>hin waren sie übereingekommen, lieber keinen<br />

Kontakt miteinander <strong>auf</strong>zunehmen, Ron hatte ihm nur noch versprechen<br />

können, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um <strong>Harry</strong> bald zu sich<br />

nach Hause zu holen, damit er der unangenehmen Gesellschaft der<br />

Dursleys entfliehen konnte. Mit der Mut machenden Hoffnung, den<br />

Ligusterweg bald hinter sich lassen zu können, streckte <strong>Harry</strong> sich <strong>auf</strong><br />

seinem Bett aus <strong>und</strong> zog seinen Aufsatz über die Teufelsschlinge, an<br />

dem er gestern Nacht noch geschrieben hatte, unter dem Kopfkissen<br />

hervor. Er tauchte seine Schreibfeder in ein Tintenfass <strong>und</strong> glättete die<br />

Pergamentrolle, <strong>auf</strong> der er in den letzten drei Wochen die Entwicklung<br />

der Teufelsschlinge festgehalten hatte. Dieses Projekt für Kräuterk<strong>und</strong>e<br />

war ihnen Ende des letzten Schuljahres <strong>auf</strong>gegeben worden. Jeder<br />

Schüler der fünften Klasse hatte von Professor Sprout die Aufgabe<br />

erhalten, sich eine anspruchsvolle magische Pflanze zu suchen, eine<br />

Knolle, Schössling oder Ausläufer der betreffenden Pflanze aus den<br />

Gewächshäusern von Hogwarts mitzunehmen <strong>und</strong> sein Wachstum in<br />

den Ferien zu beobachten <strong>und</strong> zu protokollieren. <strong>Harry</strong> hatte sich für die<br />

Teufelsschlinge entschieden, weil sie sie im letzten Schuljahr behandelt<br />

hatten <strong>und</strong> er sich dachte, noch die größten Chancen zu haben, die<br />

Dursleys zu überreden, eine magische Pflanze in ihrem Garten<br />

anzupflanzen, wenn sie möglichst klein <strong>und</strong> un<strong>auf</strong>fällig war. Außerdem,<br />

so hatte Ron grinsend hinzugefügt, könne er sich ja Hoffnung machen,<br />

<strong>das</strong>s die Schlinge vielleicht mal Lust haben würde, ihre Tentakel um<br />

Dudley zu legen (Hermine hatte dar<strong>auf</strong> mit ihrem vorwurfsvollen Blick<br />

geantwortet, den sie sonst immer für ihn reserviert hatte, wenn er in<br />

Geschichte der Zauberei zu laut schnarchte <strong>und</strong> in für Rons Geschmack<br />

etwas zu hohem Ton geantwortet, jemand, der einmal von einer<br />

Teufelsschlinge fast erwürgt worden war, sollte nicht leichtfertig solche<br />

Dinge sagen). Neville hatte ihm mit einem gespielt bedauernden Ton<br />

erklärt, sie würden alle nur so kleine Pflanzen erhalten, <strong>das</strong>s keine ihnen<br />

gefährlich werden könnte <strong>und</strong> wirklich tödliche Gewächse wie Alraunen<br />

wären ohnehin verboten.<br />

Etwas enttäuscht hatte Ron sich dann für einen Kreischbeißer<br />

entschieden, da er meinte, eine Pflanze, die ihn schreiend dar<strong>auf</strong><br />

<strong>auf</strong>merksam machte, wenn sie etwas brauchte, wäre noch am<br />

einfachsten zu versorgen. Hermine wählte eine Alihotsi, welche<br />

diejenigen, die ihre Blätter aßen, hysterisch werden ließ (Ron, noch<br />

immer etwas gekränkt, meinte, Hermine habe wohl einige davon zum<br />

Frühstück gehabt).<br />

7


In einer Woche würde <strong>das</strong> Projekt beendet sein, da sie ihre<br />

Schützlinge insgesamt nur einen Monat beobachten sollten. <strong>Harry</strong> war<br />

darüber auch sehr froh, wenn er daran dachte, wie lange er Onkel<br />

Vernon hatte bearbeiten müssen, bis er die kleine Teufelsschlinge in den<br />

letzten Winkel des Gartens hatte pflanzen dürfen, natürlich nur unter<br />

Aufbringung eines ganzen Nachmittags an Arbeit, an dem er möglichst<br />

viele andere Gewächse vor die Schlinge als Sichtschutz eingegraben<br />

hatte – <strong>und</strong> auch nur mit Hilfe weiterer Drohungen vom herbeieilenden<br />

Zaubereiminister, der sicher nicht glücklich darüber sein würde, wenn er,<br />

<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>, seine Haus<strong>auf</strong>gaben nicht erledigen könne.<br />

Nach 10 Minuten war er mit seinen Eintragungen fertig <strong>und</strong> ging in<br />

Gedanken seine restlichen Haus<strong>auf</strong>gaben durch. Seinen Aufsatz für<br />

Verteidigung gegen die dunklen Künste hatte er bereits in der ersten<br />

Woche angefertigt. Ihnen war <strong>das</strong> Thema freigestellt gewesen, <strong>und</strong> so<br />

hatte er 2 Rollen Pergament über die Arbeit der Auroren im ersten<br />

Zaubererkrieg <strong>und</strong> ihre Methoden beim Vorgehen gegen Todesser<br />

geschrieben.<br />

Nicht so gut sah es mit seiner Arbeit für Zauberkunst aus.<br />

Professor Flitwick hatte ihnen einige verzwickte Fragen <strong>auf</strong>gegeben über<br />

Zauber, mit denen man Gegenstände zum Singen bringen konnte <strong>und</strong><br />

ihren möglichen Nutzen (<strong>auf</strong> den <strong>Harry</strong> einfach nicht kam, obwohl er alle<br />

seine Schulbücher bereits durchgeblättert hatte), <strong>und</strong> bisher hatte er nur<br />

einen kleinen Absatz zu Stande gebracht. Er hatte sich vorgenommen, in<br />

der ersten Schulwoche einige St<strong>und</strong>en in der Bibliothek von Hogwarts<br />

zu verbringen <strong>und</strong> zu hoffen, vor der ersten Zauberkunstst<strong>und</strong>e des<br />

neuen Schuljahres fertig zu werden.<br />

Blieb ihm noch <strong>das</strong> letzte Projekt: Als Vorbereitung <strong>auf</strong> <strong>das</strong> sechste<br />

Schuljahr sollte jeder Schüler, der Zaubertränke weiter belegen wollte,<br />

eine Abhandlung über den Trank der lebenden Toten schreiben <strong>und</strong> ihn<br />

einmal erfolgreich brauen („Und auch anwenden?“, hatte Ron in einem<br />

ungewöhnlichen Anflug von Aufmüpfigkeit Snape während der letzten<br />

Zaubertrankst<strong>und</strong>e gefragt, wohl wissend, <strong>das</strong>s er zum letzten Mal in<br />

dessen Unterricht saß. Snapes Bemerkung, Ron würde unter der<br />

Wirkung des Trankes wenigstens nicht mehr so eine Pampe anrühren<br />

wie die, die sich anstatt eines Beruhigungstrankes in seinem Kessel<br />

befinde, brachte Ron zum Schweigen <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> fast zum Lachen, <strong>das</strong> er<br />

aber <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> seines Hasses <strong>auf</strong> Snape schnell wieder abwürgen<br />

konnte).<br />

<strong>Harry</strong> hatte sich allerdings noch nicht richtig dazu durchringen<br />

können, den Trank zu brauen. Ob er mit Zaubertränke weitermachen<br />

würde, konnte er derzeit noch nicht abschätzen. Im Gr<strong>und</strong>e wäre er<br />

unendlich erleichtert, <strong>das</strong> Fach abzugeben, da dessen Lehrer, Severus<br />

Snape <strong>und</strong> er sich von der ersten Sek<strong>und</strong>e ihrer Begegnung an mit<br />

8


Inbrunst gehasst hatten, <strong>und</strong> dieser Hass sich in den letzten Jahren nur<br />

noch verschlimmert hatte. Andererseits stach ihn der Gedanke,<br />

Zaubertränke fallen zu lassen, auch wenn damit eines seiner größten<br />

Ärgernisse des Hogwarts-Alltags nur noch Vergangenheit wäre. Er hätte<br />

alles dafür gegeben, Snape nie mehr sehen zu müssen, wie er, seine<br />

Hakennase über den Kessel gebeugt, über <strong>Harry</strong>s zu optimistisch<br />

portionierte Gürteltiergalle hämte.<br />

Andererseits war es sein insgeheimer Wunsch, später den Beruf<br />

eines Auroren zu ergreifen, den eines Jägers schwarzer Magier. Und<br />

dazu wurde vom Ministerium eben 7-jähriger Zaubertrankunterricht mit<br />

bestandenem UTZ gefordert. Obwohl, überlegte <strong>Harry</strong>, er war momentan<br />

sowieso nicht scharf dar<strong>auf</strong>, im Ministerium anzufangen.<br />

Deshalb haderte er in den letzten Wochen mit sich, ob er sich <strong>auf</strong><br />

den Zaubertrankunterricht im nächsten Schuljahr vorbereiten sollte oder<br />

nicht. Snape ließ nämlich nur Schüler in seine UTZ-Klassen, die ein<br />

„Ohnegleichen“, die höchste Note, in den ZAG-Prüfungen am Ende des<br />

5. Schuljahres erreicht hatten. Und auch wenn <strong>Harry</strong> seinem Gefühl<br />

nach dank Snapes Abwesenheit in den ZAGs weitaus besser gearbeitet<br />

hatte als im üblichen Zaubertrank-Unterricht, so gab er sich keinen<br />

Hoffnungen hin, Snapes Anforderungen entsprochen zu haben. Selbst<br />

wenn er ein „Ohnegleichen“ geschafft hätte – was im krassen Gegensatz<br />

zu seinen bisherigen Zaubertrank-Leistungen gestanden hätte – so<br />

würde Snape einen Weg finden, ihn von seiner UTZ-Klasse fernzuhalten,<br />

dachte <strong>Harry</strong> mürrisch.<br />

Er schaute sich halbherzig zu Hedwigs Käfig um, der am anderen<br />

Ende seines Zimmers stand. Seine Schneeeule <strong>und</strong> einzige Fre<strong>und</strong>in im<br />

Ligusterweg 4 war seit der letzten Nacht ausgeflogen, vermutlich, um<br />

etwas anders in den Schnabel zu bekommen, als den laschen,<br />

vertrockneten Salat aus dem Garten, den die Dursleys <strong>Harry</strong> großzügig<br />

überlassen hatten. <strong>Harry</strong> machte sich keine Sorgen um sie, vermisste sie<br />

aber. Ihr Käfig war sauber, da er gestern schon nicht viel anderes zu tun<br />

gehabt hatte, als ihn <strong>auf</strong><strong>zur</strong>äumen, genauso wie seine übrigen<br />

Zaubersachen auch: Fein säuberlich aneinander gereiht stapelten sie<br />

sich in seinem großen Reisekoffer. Seufzend gestand er sich ein, <strong>das</strong>s<br />

er einfach im Moment nichts keine andere Beschäftigung finden konnte<br />

<strong>und</strong> nahm ergeben den Zauberkessel in die Hand, um mit dem Trank der<br />

lebenden Toten anzufangen. Auch wenn er in Zaubertränke wohl nie<br />

mehr Unterricht haben würde, so war es <strong>doc</strong>h wohl keine<br />

Zeitverschwendung, sich ein wenig an komplizierten Tränken zu<br />

versuchen. Vielleicht würde er ihn im weiteren Verl<strong>auf</strong> seines Lebens<br />

noch brauchen können.<br />

Etwas motivierter stellte er den Kessel vorsichtig <strong>auf</strong> den<br />

improvisierten Kamin, den er aus einer großen, rostigen Metallplatte, die<br />

9


er vom Schrottplatz geholt hatte, <strong>und</strong> einigen Spänen Holz gefertigt<br />

hatte. Da er außerhalb Hogwarts nicht zaubern durfte, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Verbot<br />

schon einige Male arg strapaziert hatte, würde er dieses Mal seinen<br />

Kessel <strong>auf</strong> Muggel-Art erhitzen müssen.<br />

Leise schlich er <strong>zur</strong> Zimmertür <strong>und</strong> horchte hinaus, ob die Dursleys<br />

im Haus waren. Als er nichts hörte, spähte er durch die Gardine seines<br />

Fensters, <strong>das</strong> <strong>auf</strong> den Garten hinausging. Tante Petunia, Onkel Vernon<br />

<strong>und</strong> Dudley bestaunten seit einer halben St<strong>und</strong>e den neuen Swimming-<br />

Pool, den Onkel Vernon als Überraschung für den Sommer hatte bauen<br />

lassen. In den letzten Tagen hatte er den Nachbarn ausführliche<br />

Besichtigungen angeboten, inklusive einer detaillierten Beschreibung der<br />

gekachelten Fließen am Boden des Beckens <strong>und</strong> der Funktionsweise<br />

der eingebauten Sprinkleranlage. Mit vor Stolz geschwellter Brust hatte<br />

Onkel Vernon die lautstark k<strong>und</strong> getane Bew<strong>und</strong>erung der Anwohner<br />

genossen. Mrs. Johnson von gegenüber hatte sogar mit andächtigem<br />

Blick ein Foto vom Pool geschossen, <strong>das</strong> sie zu Tante Petunias<br />

Entzücken an ihre Pinnwand heften wollte.<br />

<strong>Harry</strong> grinste, als er sah, wie Onkel Vernon nun auch <strong>das</strong> alte<br />

Ehepaar vom Ende der Straße galant in den Garten führte <strong>und</strong> dabei<br />

eine neue Ausgabe seines Pool-Besichtigungstextes zum Besten gab.<br />

Das würde ihm sicher eine halbe St<strong>und</strong>e geben, um mit seinen<br />

Zaubertrank-Haus<strong>auf</strong>gaben anzufangen.<br />

Bevor er sein Lehrbuch „Zaubertränke weitergeführt“ <strong>auf</strong>schlug,<br />

holte <strong>Harry</strong> noch einen großen Eimer Wasser aus dem Bad für den Fall,<br />

<strong>das</strong>s er <strong>das</strong> Feuer nicht mehr kontrollieren könnte bzw. um es am Ende<br />

seiner Arbeit löschen zu können – auch dafür durfte er keine Magie<br />

verwenden. Er konnte zudem nur hoffen, <strong>das</strong>s die Dursleys nicht<br />

mitbekamen, <strong>das</strong>s er in seinem Zimmer ohne Kamin <strong>und</strong> ohne<br />

Rauchabzug ein Feuer entfachte. Er hatte 14 Jahre lang Zeit gehabt,<br />

Onkel Vernons Wutausbrüche <strong>und</strong> Gemeinheiten kennen zu lernen <strong>und</strong><br />

wollte eine weitere Auseinandersetzung tunlichst vermeiden. Mit<br />

Gewissensbissen entzündete er nun die Holzspäne unter seinem alten<br />

Zaubererkessel. Dieser war an einigen Stellen schon durchgerostet <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> Kupfer am Boden recht dünn, seit er im letzten Schuljahr einen<br />

unglücklich starken Ätztrank darin zubereitet hatte. Vermutlich würde er<br />

sich einen neuen Kessel k<strong>auf</strong>en müssen, sollte er <strong>doc</strong>h mit Zaubertränke<br />

weitermachen.<br />

Kleine Flämmchen züngelten nun an den Spänen hoch. <strong>Harry</strong><br />

schmiss die Streichhölzer beiseite <strong>und</strong> legte schnell ein paar größere<br />

Holzscheite nach, um <strong>das</strong> Feuer am Leben zu erhalten. Vorsichtig<br />

hängte er mit Hilfe eines aus Schrottteilen hergestellten Gestells den<br />

Kessel über die knisternden Flammen <strong>und</strong> gab einen Messbecher voll<br />

Wasser hinein, wie im Zaubertänke-Buch vorgegeben. Er drosselte <strong>das</strong><br />

Feuer <strong>und</strong> machte zusätzlich <strong>das</strong> Fenster <strong>auf</strong>, damit der Rauch<br />

10


wenigstens etwas abziehen konnte. Über <strong>das</strong> kochende Wasser gebeugt<br />

blätterte er konzentriert in den Anleitungen für den Trank der lebenden<br />

Toten, um in Gedanken die einzelnen Arbeitsschritte festzulegen. Das<br />

Fehlen derartig geplanten Vorgehens war meist der Gr<strong>und</strong>, warum er<br />

im Hogwarts-Unterricht oft nur mangelhafte Ergebnisse erzielte – denn<br />

häufig war er so beschäftigt damit, Snape, der nie eine Gelegenheit<br />

ausließ, <strong>Harry</strong> vor seinen Mitschülern zu blamieren, zu hassen, <strong>das</strong>s er<br />

stets einige Zutaten vergaß oder sie in der falschen Reihenfolge in den<br />

Trank tat. In der letzten St<strong>und</strong>e vor den Ferien hatte er sogar beim<br />

Abgeben seiner Trankprobe bemerkt, <strong>das</strong>s er am Anfang der St<strong>und</strong>e<br />

kein Feuer unter dem Kessel angezündet hatte, weil Snape in den ersten<br />

zehn Minuten so hämisch über <strong>Harry</strong>s in seinen Augen völlig<br />

ungenügenden Haus<strong>auf</strong>gaben<strong>auf</strong>satz hergezogen war, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />

kochend vor Wut vergessen hatte, den Anweisungen im Buch zu folgen.<br />

Nun aber machte er sich daran, den ersten Punkt <strong>auf</strong> seiner<br />

unsichtbaren Liste zu bearbeiten <strong>und</strong> begann, eine Affodilwurzel zu<br />

zerreiben. Sie hatte er zusammen mit anderen Zutaten wie alle Schüler,<br />

die eventuell mit Zaubertränke weitermachen wollten, aus dem<br />

Vorratsschrank von Hogwarts mitgenommen <strong>und</strong> seitdem in einer<br />

besonders dunklen Ecke des kleinen Schrankes seines Zimmers im<br />

Ligusterwegs 4 <strong>auf</strong>bewahrt. Langsam schabte er mit einem Messer<br />

kleine Stücke von der Wurzel <strong>auf</strong> eine <strong>auf</strong> dem Boden <strong>auf</strong>geschlagene<br />

Zeitung <strong>und</strong> versuchte, eine Messerspitze voll des feinen, braunen<br />

Staubes zusammenzubekommen. Sobald er genug haben würde, würde<br />

er zwei Messbecher voll Wehrmut in <strong>das</strong> immer noch leicht köchelnde<br />

Wasser schütten <strong>und</strong> die zerriebene Wurzel mit einrühren. Der Trank<br />

sollte dann eine leicht grünliche Farbe bekommen, ein wenig nach Zimt<br />

riechen <strong>und</strong> nach einigen Minuten eine dickere Konsistenz annehmen.<br />

Das wäre der Zeitpunkt, an dem er die Schlafbohne zerschneiden –<br />

„Oh mein Gott, Junge, was tust du hier?“, hörte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> einmal<br />

eine schrille, hohe Stimme, die genauso erschrocken klang, wie er nun<br />

<strong>auf</strong> seine Füße sprang. Entsetzt schaute er <strong>zur</strong> Tür, welche <strong>auf</strong>gegangen<br />

war, ohne <strong>das</strong>s er es mitbekommen hatte – so <strong>auf</strong>merksam hatte er mit<br />

seiner Affodilwurzel gearbeitet.<br />

„Ein offenes Feuer mitten im Zimmer – wie furchtbar – was hätte<br />

nicht alles – ich kann es nicht fassen –“<br />

Unfähig, sich zu rühren, starrte <strong>Harry</strong> die Frau an, welche in seiner<br />

Zimmertür stand <strong>und</strong> immer noch von dem unsäglichen Bild, <strong>das</strong> sich vor<br />

ihren Augen zeigte, überrumpelt schien. Er kannte sie nicht dem Namen<br />

nach, wusste aber, <strong>das</strong>s sie mit ihrem Mann zusammen gerade eben<br />

noch im Garten gewesen war, um sich Onkel Vernons Swimming-Pool<br />

anzusehen. Wie kam sie hier hoch?<br />

In einem verzweifelten Versuch, die Situation zu retten, schob<br />

<strong>Harry</strong> die Frau mit ein wenig Gewalt aus dem Zimmer, Sachen wie „alles<br />

11


unter Kontrolle“, „Privatsphäre“ <strong>und</strong> „Schulprojekt“ vor sich hin<br />

murmelnd. Er wünschte sich <strong>auf</strong>s Sehnlichste, einen Vergessenszauber<br />

anwenden zu können. Den hatten sie in der Schule zwar noch nicht<br />

gehabt – „Dann könnten Sie mich ja verzaubern, die <strong>auf</strong>gegebenen<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben zu vergessen!“, hatte Professor McGonagall dazu nur<br />

trocken gesagt – aber <strong>Harry</strong> hatte einen seiner früheren Lehrer für<br />

Verteidigung gegen die dunklen Künste einmal einen ausführen sehen.<br />

Der letzte seiner Sätze schien bei seinem nun etwas abgehakt<br />

atmenden Eindringling hängen geblieben zu sein.<br />

„Schulprojekt? So etwas geben sie euch in der Schule <strong>auf</strong>?<br />

Projekte, bei denen kleine Kinder“ – <strong>Harry</strong> fühlte <strong>auf</strong>steigende Wut, er<br />

war alles andere als ein Kind! – „mit Feuer spielen dürfen <strong>und</strong> <strong>das</strong> ganze<br />

Haus in Brand setzen könnten? Das ist unerhört, ich werde der Schule<br />

einen Beschwerdebrief schreiben <strong>und</strong> die Schulbehörde über diese<br />

Untat informieren, am besten wende ich mich gleich an <strong>das</strong><br />

Bildungsministerium!“<br />

<strong>Harry</strong> schaffte es schließlich <strong>doc</strong>h, den Redestrom seiner<br />

Gegenüber zu unterbrechen.<br />

„Wieso sind Sie eigentlich hier oben?“ wollte er mit möglichst<br />

ruhiger Stimme wissen, schaffte es aber nicht, ein leicht nervöses Zittern<br />

zu unterdrücken. Wenn die Dursleys von dem Vorfall erfahren würden…<br />

Sie würden ihn sicher aus dem Haus schmeißen. Nicht, <strong>das</strong>s ihn <strong>das</strong> so<br />

sehr stören würde – er kannte ein Dutzend Orte, wo er seine Ferien<br />

besser verbringen konnte als hier – aber Dumbledore würde ohne jeden<br />

Zweifel bald Bescheid wissen <strong>und</strong> von ihm, <strong>Harry</strong>, erfahren wollen, wieso<br />

er in einer Muggelgegend so leichtsinnig Zauberei anwandte, ob sie nun<br />

theoretisch erlaubt war oder nicht.<br />

„Auf welche Schule gehst du?“, wollte die Frau nun ausdrücklich<br />

wissen.<br />

„Ich –“<br />

<strong>Harry</strong> wusste nicht, was er antworten sollte. Die Wahrheit durfte er<br />

nicht erzählen, natürlich nicht, nicht nur, <strong>das</strong>s sie ihm nie glauben <strong>und</strong><br />

endgültig annehmen würde, er wäre vom Wahnsinn befallen, nein, er<br />

würde damit auch noch <strong>das</strong> internationale Geheimabkommen des<br />

Zaubereiministeriums verletzten. Deshalb blieb er bei der Lüge, welche<br />

Onkel Vernon bei solchen Anlässen zu erzählen pflegte.<br />

„Ich gehe <strong>auf</strong> die Sankt-Brutus-Anstalt für schwer erziehbare<br />

Jungen“, presste <strong>Harry</strong> hervor, <strong>und</strong> seine Eingeweide zogen sich bei<br />

dieser Behauptung zusammen.<br />

„Auf eine Schule für schwer Erziehbare?“, schrie die Nachbarin <strong>und</strong><br />

machte <strong>auf</strong> der Stelle kehrt.<br />

„Diesen Vorfall muss Mr. Dursley sofort erfahren, sonst geschieht<br />

noch ein Unglück. Der arme Mann, da zieht er schon den Sohn seiner<br />

dahingeschiedenen Schwägerin <strong>auf</strong>, dann gehört der noch zu den<br />

12


problematischen Fällen, <strong>und</strong> am Ende jagt dieses Balg gar sein ganzes<br />

Haus in die Luft! Das so etwas im Ligusterweg je passieren könnte, hätte<br />

ich nie gedacht …“<br />

<strong>Harry</strong> versuchte angestrengt, sie davon abzuhalten, zu seinem<br />

Onkel zu l<strong>auf</strong>en.<br />

„Es ist wirklich nur ein Schulprojekt“, beteuerte er – wenigstens <strong>das</strong><br />

entsprach der Wahrheit. „Und Onkel Vernon weiß davon“, setzte er nicht<br />

ganz glaubwürdig dazu.<br />

„Was du nicht sagst, <strong>das</strong> werden wir <strong>doc</strong>h gleich überprüfen!“<br />

Die Frau wandte sich zum Gehen, <strong>Harry</strong> versuchte noch, sie<br />

<strong>zur</strong>ückzuhalten, aber mitten in seine Bewegung tönte Onkel Vernons<br />

tiefe, Unheil verkündende Stimme. <strong>Harry</strong> gefror <strong>das</strong> Blut, aber<br />

gleichzeitig erfasste ihn eine trotzige Wut. Wieso musste er unter<br />

Muggeln leben? Jeder andere seiner Klassenkameraden konnte die<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben sicher ohne Widerstände erledigen, nur er kam sich<br />

ständig vor wie etwas Unerwünschtes, nur er wurde behandelt wie ein<br />

besonders schmutziges Stück Wäsche, nur er musste verbergen, was er<br />

war <strong>und</strong> hoffen, <strong>das</strong>s keiner der Muggel dahinter kam. Ein<br />

überwältigender Abscheu überkam ihn, <strong>und</strong> er wünschte sich, überall zu<br />

sein, nur nicht hier.<br />

„Ach Gott sei Dank, hier sind Sie, Mr. Dursley. Ich habe die Tür<br />

zum Badezimmer ja gleich gef<strong>und</strong>en, aber da wurde ich dar<strong>auf</strong><br />

<strong>auf</strong>merksam, <strong>das</strong>s Rauch aus dem oberen Teil ihres Hauses quoll –“<br />

„Rauch?!“, polterte Onkel Vernon, <strong>und</strong> sein Gesicht färbte sich in<br />

bekannter Manier feuerrot. In düsterer Vorahnung schaute er <strong>Harry</strong> an.<br />

„Hast du irgendeine Ahnung, von welchem Rauch sie spricht?“<br />

schnappte er.<br />

„Nun ja –“, begann <strong>Harry</strong>. Was konnte er sagen, was Onkel Vernon<br />

nicht zu sehr in Rage versetzte? Obwohl <strong>das</strong> bereits zu spät schien.<br />

„Du weißt <strong>doc</strong>h, Onkel, <strong>das</strong>s wir – dieses Chemieprojekt erledigen<br />

müssen, <strong>und</strong> dafür müssen wir Wasser in einem Kessel erhitzen“,<br />

sprudelte er hervor, froh über die gute Erklärung, die er seinem Onkel<br />

damit als Vorlage gab. „Chemieprojekt!“, donnerte Onkel Vernon. Seine<br />

kleinen Augen verengten sich zu Schlitzen, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> konnte fast<br />

spüren, wie hinter seiner Stirn die Gedanken wild durcheinander flogen.<br />

Schließlich klärte sich sein Blick <strong>und</strong> wurde stattdessen dunkel vor Wut.<br />

„Ach ja, Chemie!““, brachte er mit Mühe hervor. Schauspielern war<br />

für einen Mann wie Onkel Vernon, der jede emotionale Regung mit<br />

Brachialgewalt seiner Umwelt mitteilen musste, ein hartes Stück Arbeit.<br />

Erklärend wandte er sich an die Frau, welche ihn fragend ansah.<br />

„Mrs. Berlyne, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sehen<br />

Sie, dieser Beng – äh, <strong>Harry</strong> muss für die Schule einige Aufgaben in den<br />

Ferien erledigen, <strong>und</strong> da haben wir uns gedacht, wir unterstützen ihn <strong>und</strong><br />

lassen ihm freie Bahn –“<br />

13


„Aber er hätte <strong>das</strong> Haus anbrennen können!“, keifte Mrs. Berlyne<br />

<strong>und</strong> schlenkerte ihre Handtasche grob durch die Gegend.<br />

„Ich bin sicher, er hat alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen<br />

getroffen“, quetschte Onkel Vernon hervor <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> äußerst<br />

misstrauisch an.<br />

„Äh, ja, sicher“, beeilte sich <strong>Harry</strong> zu sagen.<br />

„Und so ist alles in Ordnung“, beendete sein Onkel die<br />

Diskussionen <strong>und</strong> schob Mrs. Berlyne nun den Flur entlang <strong>zur</strong> Tür.<br />

„Kommen Sie, ich war gerade dabei, Ihrem Mann die automatische<br />

Wasserpumpe vorzuführen, <strong>das</strong> wird Sie brennend interessieren …“<br />

<strong>Harry</strong> hörte erleichtert die Tür ins Schloss fallen <strong>und</strong> ging mit<br />

schnellen Schritten <strong>zur</strong>ück zu seinem Kessel. Wütend schleuderte er die<br />

Affodilwurzel quer durchs Zimmer, wobei sie gegen den Schrank prallte<br />

<strong>und</strong> etwas lädiert am Boden liegen blieb.<br />

Es konnte aber auch nie etwas funktionieren! Wieso musste dieses<br />

neugierige Weibsstück ausgerechnet in seiner Tür stehen, wenn er<br />

gerade einen Zaubertrank zubereitete? Er schaute <strong>auf</strong> seinen für<br />

Muggelaugen ungewöhnlichen, dickbauchigen Kessel, <strong>auf</strong> <strong>das</strong> seltsame<br />

Gestell aus Schrott <strong>und</strong> <strong>auf</strong> die magischen Kräuter <strong>und</strong> Pflanzen, die<br />

ordentlich aneinandergereiht neben ihm lagen, fertig <strong>zur</strong> Verarbeitung.<br />

Hatte Mrs. Berlyne sich von der Chemie-Geschichte überzeugen lassen?<br />

Wenn nicht, könnte sie ein Problem werden. Wenn Muggel <strong>auf</strong> Zauberei<br />

<strong>auf</strong>merksam wurden, musste <strong>das</strong> Ministerium eingreifen. Und <strong>Harry</strong><br />

wollte sich lieber nicht vorstellen, bei Fudge an<strong>zur</strong>ufen <strong>und</strong> um Hilfe zu<br />

bitten. Aber <strong>zur</strong> Not, dachte er bitter, würde Onkel Vernon schon eine<br />

Ausrede finden, die sich wohl hauptsächlich um seine Verwirrtheit <strong>und</strong><br />

Dummheit drehte.<br />

Apropos Onkel Vernon. <strong>Harry</strong> wusste, <strong>das</strong>s er bald dampfend vor<br />

Zorn in seiner Zimmertür stehen würde, <strong>und</strong> packte hastig alle seine<br />

Schulsachen weg. Der Kessel mit dem angefangenen Trank, über den er<br />

schnell eine Konservierungsfolie gelegt hatte, welche den Trank so wie<br />

er ihn zubereitet hatte, erhielt, bis er weitermachen wollte, stellte er<br />

vorsichtig in den Schrank. Seine Zutaten <strong>und</strong> <strong>das</strong> zusammengelegte<br />

Gestell kamen in einen seiner Schulkoffer, in den er noch ein paar seiner<br />

Lehrbücher schmiss. Trübselig sah er sich im Zimmer um, nun erinnerte<br />

höchstens noch der Eulenkäfig an die andere Welt, der er sich so viel<br />

mehr zugehörig fühlte wie dieser. Nicht, <strong>das</strong>s Onkel Vernon nicht<br />

wusste, was <strong>Harry</strong> alles <strong>auf</strong>bewahrte, er wollte seinen Onkel nur nicht<br />

noch mehr in Rage versetzen, indem er ihn den Anblick von<br />

Zauberersachen <strong>auf</strong>dränge. Im Normalfall reagierte Onkel Vernon dar<strong>auf</strong><br />

wie ein Stier <strong>auf</strong> ein rotes Tuch.<br />

Seufzend trat <strong>Harry</strong> ans Fenster. Schweren Herzens sah er die<br />

Nachbarn nun den Ligusterweg 4 verlassen <strong>und</strong> die Straße zu ihrem<br />

eigenen, normalen, hübschen Reihenhaus hinuntergehen. Dudley,<br />

14


<strong>Harry</strong>s fetter Cousin, begab sich in die andere Richtung, wohl zu Besuch<br />

bei seinem Fre<strong>und</strong>, mit dem er zusammen <strong>auf</strong> eine Schule ging <strong>und</strong> in<br />

den Ferien zum Zeitvertreib oft Kinder vom nahe gelegenen<br />

Kindergarten verprügelte. Tante Petunia widmete sich ihrer erstaunlichen<br />

Sammlung an Zierpflanzen, die sie jeden Abend gewissenhaft mit<br />

Wasser aus der Küche goss, damit sie nicht vertrockneten. Aufgr<strong>und</strong> des<br />

Verbots der Gartenbewässerung war sie wohl die einzige in der ganzen<br />

Stadt, die so etwas tat, denn nur bei den Dursleys konnte man noch<br />

frisch blühende Blumen bestaunen.<br />

Onkel Vernon je<strong>doc</strong>h stapfte zielstrebig ins Haus. Kurz dar<strong>auf</strong> hörte<br />

<strong>Harry</strong> ihn <strong>auf</strong> der Treppe poltern. Dann ging seine Zimmertür <strong>auf</strong>.<br />

„Was hast du dir dabei gedacht?!“, schrie er <strong>Harry</strong> an, welcher<br />

trotzig <strong>und</strong> unnachgiebig <strong>zur</strong>ück in Onkel Vernons Schweinsaugen<br />

blickte.<br />

„Ich habe nur meine Schul<strong>auf</strong>gaben erledigt“, stellte sich <strong>Harry</strong><br />

stur. „So, wie du es Mrs. Berlyne erzählt hast ...“<br />

„Tu nicht so dumm! Wie kannst du es wagen, mit diesem Ding – “<br />

„Das Ding heißt Kessel …“<br />

„… in ihrer Gegenwart, in Gegenwart eines normales Menschen zu<br />

hantieren …“<br />

„Ich habe <strong>doc</strong>h nicht geahnt, <strong>das</strong>s du alle Nachbarn in mein<br />

Zimmer schickst …“<br />

Wutschaubend herrschte Onkel Vernon <strong>Harry</strong> an.<br />

„Soll <strong>das</strong> heißen, ich darf keine Gäste mehr empfangen, weil du<br />

<strong>das</strong> Haus für deine – deine Mätzchen missbrauchst? Das geht zu weit.<br />

Ich habe die Nase voll, ein für alle Mal. Mrs. Berlyne hat mich<br />

unangenehm über deine Schule ausgefragt, <strong>und</strong> du kannst dir nicht<br />

vorstellen, welche Mühen ich <strong>auf</strong> mich nehmen musste, um nichts zu<br />

verraten.“<br />

<strong>Harry</strong> konnte sich ganz gut vorstellen, <strong>das</strong>s ein phantasieloser<br />

Mensch wie Onkel Vernon seine Schwierigkeiten hatte, sich etwas<br />

auszudenken.<br />

„Deshalb habe ich sie nur wegschicken können, indem ich ihr<br />

versichert habe, <strong>das</strong>s du in zwei Tagen wieder <strong>auf</strong> deine Schule<br />

<strong>zur</strong>ückkehrst!“<br />

<strong>Harry</strong> war baff. Das hatte er nicht erwartet.<br />

„Und wie stellst du dir <strong>das</strong> vor?“, fragte er keuchend. „Ich kann<br />

noch nicht nach Hog- <strong>auf</strong> meine Schule, erst Anfang September, <strong>das</strong><br />

weißt du ganz genau!“<br />

„Na, du bist <strong>doc</strong>h letztes Jahr auch zu diesen Wieseln gefahren –“<br />

„Weasleys –“<br />

„Wie auch immer. Wenn sie dich einmal <strong>auf</strong>genommen haben,<br />

dann tun sie es sicher auch ein zweites Mal“, triumphierte Onkel Vernon.<br />

15


<strong>Harry</strong> wurde <strong>das</strong> Herz schwer. Sicher, die Weasleys würden ihn<br />

jederzeit <strong>auf</strong>nehmen, <strong>und</strong> sie hatten es ihm im L<strong>auf</strong>e des Sommers auch<br />

versprochen. Nur wusste er nicht, wann sie ihn holen würde, da die Lage<br />

wegen Voldemort derzeit unsicher war. Und ganz sicher durfte er nicht<br />

selbst nach Lust <strong>und</strong> Laune bei ihnen vorbeispazieren.<br />

„Ich habe noch keine Nachricht von ihnen erhalten“, presste <strong>Harry</strong><br />

hervor. „Ich muss warten, bis sie mir sagen, wann sie mich holen<br />

kommen. So lange muss ich hier bleiben.“<br />

„Unsinn!“, schrie Onkel Vernon <strong>und</strong> rupfte sich nervös an seinem<br />

Schnurrbart. „Du kannst sie von mir aus anrufen, <strong>und</strong> ihnen sagen, <strong>das</strong>s<br />

du in zwei Tagen bereit bist, ab<strong>zur</strong>eisen. Und wenn nicht, ist es mir auch<br />

egal, denn du wirst in jedem Fall bis dahin hier von verschw<strong>und</strong>en sein!“<br />

Und damit knallte er die Tür zu <strong>und</strong> ging.<br />

<strong>Harry</strong> warf sich <strong>auf</strong> sein Bett, zog die Decke über sich <strong>und</strong><br />

verfluchte seine Situation <strong>und</strong> den Rest der Welt. Was sollte er jetzt tun?<br />

Die Weasleys anrufen ging natürlich nicht, da sie überhaupt kein Telefon<br />

besaßen. Eulenpost fiel wegen der befürchteten Kontrollen ebenfalls<br />

weg, <strong>und</strong> eine andere Möglichkeit sah <strong>Harry</strong> nicht. Wenn er <strong>und</strong> Ron je<br />

einen Zweiwegspiegel hätten, so wie ihn Sirius –<br />

Sein Magen krampfte sich zusammen. In den letzten Wochen hatte<br />

er versucht, nicht so oft an seinen Paten zu denken. Es schien ihm<br />

immer noch unwirklich, <strong>das</strong>s er nie wieder mit ihm würde reden können,<br />

ihn nie wieder um Rat fragen konnte. Die gähnende Leere in seinem<br />

Kopf, die ihn überkam, wenn er wieder die alptraumhaften Bilder aus<br />

dem Zaubereiministerium vor sich sah, irritierte ihn, es fühlte sich an, als<br />

hätte sich ein Schatten über seine Umgebung gelegt, als hätte er die<br />

Fähigkeit verloren, Glück zu empfinden. Wie konnte alles einen Sinn<br />

haben, wenn Sirius tot war?<br />

Am Tage schaffte er es meistens, sich in seine Arbeit zu flüchten,<br />

um nicht mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert zu werden. Aber<br />

nachts, wenn er wie so oft nicht schlafen konnte, gelang es ihm nicht,<br />

von den Geschehnissen loszukommen, die Sirius` Schicksal besiegelt<br />

hatten. Er sah Bellatrix Zauberstab durch die Luft peitschen, hörte ihr<br />

wahnsinniges Lachen, als Sirius durch den Bogen stolperte <strong>und</strong> somit<br />

außerhalb der Reichweite jedes lebendigen Wesens. <strong>Harry</strong> hatte nie<br />

verstanden, was es mit dem Bogen <strong>auf</strong> sich hatte, der <strong>das</strong> Leben seines<br />

Paten so jäh beendet hatte, aber er hatte auch keine Kraft <strong>und</strong> Lust<br />

gef<strong>und</strong>en, darüber nachzudenken. Ihm schien alles so gleichgültig zu<br />

sein. Und wenn er alle Mysterien der Zaubererwelt lösen würde, Sirius<br />

käme <strong>doc</strong>h nicht wieder <strong>zur</strong>ück.<br />

Der Verlust einer seiner größten Vertrauenspersonen schmerzte<br />

ihn in einer Lage wie der jetzigen noch mehr. Er hatte niemanden, an<br />

den er sich wenden, den er um Hilfe bitten konnte, niemanden, dem er<br />

16


von seinen Ängsten <strong>und</strong> Sorgen hätte erzählen können. Selbst mit Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine teilte er nicht alles. Manchmal brauchte er einfach einen<br />

erwachsenen, erfahrenen Zauberer, der in der Lage war, ihm bei Dingen<br />

weiterzuhelfen, die er <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> der 11 Jahre, die er unter Muggeln gelebt<br />

hatte, über die Zaubererwelt nicht wusste. Und bei Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

kam er sich dann immer ein wenig dumm vor; vor allem, da Hermine<br />

selbst bei Muggeln groß geworden war, aber dennoch zehnmal mehr<br />

über Zauberei zu wissen schien als er selbst. Sirius hatte nie großspurig<br />

geklungen, wenn <strong>Harry</strong> ihn nach etwas fragte, was andere Zauberer als<br />

selbstverständlich ansahen. Aber <strong>das</strong> war nun vorbei.<br />

Momentan blieb <strong>Harry</strong> nichts anderes übrig, als sich <strong>auf</strong> sich selbst<br />

zu verlassen.<br />

Ohne eine Ahnung, wie er es schaffen sollte, in zwei Tagen den<br />

Ligusterweg sicher zu verlassen, kniete er sich vor seinen Koffer, um<br />

vielleicht einen nützlichen Gegenstand oder zumindest eine Idee zu<br />

bekommen. Sein Rennbesen, ein exzellentes Exemplar der Marke<br />

Feuerblitz, lehnte in einer versteckten Ecke seines Zimmers, aber an den<br />

durfte er nicht denken. Er würde es nie schaffen, sich <strong>und</strong> die Koffer<br />

sowie Hedwigs Käfig unter seinen unsichtbar machenden Tarnumhang<br />

zu quetschen, <strong>und</strong> sichtbar zu fliegen würde sowohl die Regeln des<br />

Ministeriums als auch alle Gebote der Vorsicht missachten. <strong>Harry</strong> legte<br />

den Umhang beiseite <strong>und</strong> hielt nun die Scherben des zerbrochenen<br />

Zweiwegspiegels von Sirius in der Hand. Er hatte ihn Ende des letzten<br />

Schuljahres vor Wut <strong>und</strong> Enttäuschung zerbrochen, als er sich<br />

eingestehen musste, <strong>das</strong>s es keinen Weg mehr für ihn gab, jemals<br />

wieder mit seinem Paten zu reden. Und selbst wenn der Spiegel<br />

unversehrt wäre, hätte er ihm jetzt wohl nicht weitergeholfen. <strong>Harry</strong> hatte<br />

keinen blassen Schimmer, wo sich <strong>das</strong> Gegenstück <strong>auf</strong>hielt.<br />

Unter seinen Schulumhängen, Schulbüchern, Pergamentrollen,<br />

Tintenfässern <strong>und</strong> einer ganzen Anzahl alten Aufsätze aus dem<br />

vergangenen Schuljahr fand er <strong>das</strong> kleine Fotoalbum, <strong>das</strong> ihm einst<br />

Hagrid, der Wildhüter von Hogwarts, geschenkt hatte. Es enthielt Fotos<br />

seiner Eltern, die einzigen, die <strong>Harry</strong> besaß. Er hatte es wohlweißlich<br />

nicht aus seinem Koffer geholt <strong>und</strong> den Dursleys vor die Nase gelegt –<br />

Tante Petunia war äußerst schlecht <strong>auf</strong> ihre verstorbene Schwester zu<br />

sprechen. Ein seltsames Gefühl von Verlassenheit überkam <strong>Harry</strong>, als<br />

ihm klarer als je zuvor bewusst wurde, wie allein er war. Er hatte keine<br />

Verwandte mehr außer den Dursleys, die ihn hassten, er hatte nur<br />

wenige Fre<strong>und</strong>e, denen er vollkommen vertraute, von denen er aber<br />

nicht wusste, wo sie sich <strong>auf</strong>hielten, <strong>und</strong> er hatte im Gr<strong>und</strong>e auch keinen<br />

erwachsenen Ansprechpartner. Lupin, sein ehemaliger Lehrer, würde<br />

ihm sofort helfen, da war sich <strong>Harry</strong> sicher – aber auch mit ihm verband<br />

ihn keine vertrauliche Fre<strong>und</strong>schaft. Eigentlich hatte dies nur <strong>auf</strong> Sirius<br />

17


zugetroffen. <strong>Harry</strong> spürte wieder Tränen des Zorns, der Trauer <strong>und</strong><br />

Verzweiflung in seinen Augen brennen wie so oft in den letzten Wochen.<br />

Unfähig, sich weiter um den drohenden Rausschmiss von den Dursleys<br />

zu kümmern, warf er sich <strong>auf</strong>s Bett <strong>und</strong> starrte an die Decke, während<br />

seine Gedanken wild durcheinander rasten, ihn gleichzeitig aber eine<br />

erdrückende Leere ergriffen hatte. Bevor er einschlief, dachte er nur<br />

noch eins: Ich bin alleine, <strong>und</strong> ich weiß nicht, was ich tun soll.<br />

18


KAPITEL ZWEI<br />

Ungesehen <strong>und</strong> Ungehört<br />

<strong>Harry</strong> erwachte von dem unsinnig lauten Gezwitscher eines<br />

Schwarms Vögel im Garten <strong>und</strong> richtete sich schläfrig <strong>auf</strong>. Die Sonne<br />

schien in sein Zimmer, sich anschickend, den nächsten heißen,<br />

trockenen Tag über Little Whinging zu bringen. Er trat ans Fenster <strong>und</strong><br />

schaute <strong>auf</strong> den neuen, friedlichen Sommertag, den er nicht zu teilen<br />

vermochte. Was sollte er nur tun?<br />

Seine letzten Hoffnungen, Onkel Vernon würde seine Meinung<br />

geändert haben <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> <strong>doc</strong>h bis zum Ferienende im Ligusterweg<br />

wohnen lassen, zuschlugen sich, als er zum Frühstück in die Küche<br />

ging. Die Dursleys saßen versammelt am Tisch. Onkel Vernon las wie<br />

üblich in seiner Zeitung, ein Stück Toast in der einen, einen starken<br />

Kaffee in der anderen Hand, Tante Petunia schaute alle zwei Minuten zu<br />

den Nachbarn hinüber, um den ersten Morgenklatsch nicht zu<br />

verpassen, <strong>und</strong> Dudley vernichtete gerade seine zweite Portion<br />

Schinken mit Ei. Vermutlich würden noch zwei weitere folgen, was sich<br />

auch im letzten Jahr dahin gehend ausgewirkt hatte, <strong>das</strong>s Dudley<br />

langsam die Statur von King Kong annahm. Seine Eltern schien <strong>das</strong> im<br />

Gegensatz zum letzten Sommer nicht mehr zu stören, hatten sie damals<br />

<strong>auf</strong> Anraten Dudleys Schulkrankenschwester noch versucht, ihn <strong>auf</strong> Diät<br />

zu setzen, so hatten sie entmutigt von der Undurchführbarkeit dieses<br />

Vorhabens nun eine andere Strategie gewählt: Dudley essen zu lassen,<br />

was er wollte <strong>und</strong> zu hoffen, <strong>das</strong>s sein Hunger <strong>und</strong> sein Körper zu einem<br />

natürlichen Gleichgewicht finden würden. <strong>Harry</strong> erschien <strong>das</strong> keine gute<br />

Idee.<br />

Er setzte sich schweigend an den Tisch <strong>und</strong> nahm eine Scheibe<br />

Toast.<br />

19


„Hrrr“, kam es von Onkel Vernons Seite des Tisches her, <strong>und</strong> die<br />

Zeitung raschelte. <strong>Harry</strong> ahnte neue Feindseligkeiten gegen sich <strong>und</strong><br />

blickte gewarnt <strong>auf</strong>, wurde aber beruhigt.<br />

„Die Aktie geht immer weiter in den Keller“, beschwerte sich Onkel<br />

Vernon mit einem für ihn ungewöhnlich besorgten Blick. Seit seine<br />

Firma, welche Bohrer herstellte, letzten Monat an die Börse gegangen<br />

war, wurde <strong>Harry</strong> zusammen mit Dudley <strong>und</strong> Tante Petunia jeden<br />

Morgen mit den neuesten Kursen gequält <strong>und</strong> wusste mit Sicherheit<br />

schon mehr über Börsenhandel als jeder andere seines Alters.<br />

„Ich muss was dagegen tun …“, murmelte Onkel Vernon nun vor<br />

sich hin. „Das Investitionsprojekt von Birmingham wirft nicht genug ab,<br />

<strong>das</strong> senkt die Rendite, ich sollte es <strong>zur</strong>ücknehmen. Dafür klang <strong>das</strong><br />

Angebot aus Manchester ganz vernünftig …“<br />

Tante Petunia versuchte derweil, Dudley zu überreden, heute mit<br />

zum Kaffetrinken zu den Nachbarn zu gehen.<br />

„Du weißt <strong>doc</strong>h, wie sehr sie sich freuen würden, dich zu sehen,<br />

<strong>und</strong> du kannst ihnen was von dem Klassenausflug deiner Schule nach<br />

Frankreich erzählen, Duddy-Schatz …“<br />

<strong>Harry</strong> hörte nicht mehr zu, sondern dachte wieder über seine<br />

prekäre Situation nach. Widerwillig gestand er sich ein, <strong>das</strong>s es <strong>das</strong><br />

Beste wäre, die Dursleys zu bitten, bleiben zu dürfen, auch wenn es <strong>das</strong><br />

Letzte war, was er wollte. Er setzte schon zum Reden an, als Onkel<br />

Vernon auch endlich bemerkt hatte, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> eingetroffen war.<br />

„Du!“, donnerte er. „Habe ich nicht gesagt, du sollst von hier<br />

verschwinden?“ Seine kleinen Augen funkelten böse <strong>und</strong> sahen <strong>Harry</strong><br />

an, als sei er ein besonders unattraktives Investitionsprojekt.<br />

„Nein, Schatz, du hast gesagt, er soll bis morgen gehen“, kam ihm<br />

Tante Petunia dazwischen. „Erinnerst du dich nicht mehr?“ Auch sie<br />

blicke ihren Neffen feindselig an.<br />

<strong>Harry</strong> verlor alle Hoffnung. Er hatte momentan nicht die Kraft oder<br />

die Lust, sich mit den Dursleys in einem sinnlosen, klein karierten Streit<br />

zu verlieren, <strong>und</strong> nickte nur.<br />

„Na gut“, brummte sein Onkel <strong>und</strong> verschwand wieder hinter der<br />

Zeitung.<br />

„Und siehe zu, <strong>das</strong>s du alle diese – diese – du weißt schon was für<br />

Sachen mitnimmst“, fauchte Tante Petunia. „Vernon kann dich zum<br />

Bahnhof bringen, wenn du willst.“<br />

Was wie ein fre<strong>und</strong>liches Angebot klang war in Wahrheit nur <strong>das</strong><br />

Bestreben, <strong>Harry</strong> so weit wie möglich vom Ligusterweg weg zu<br />

bekommen. <strong>Harry</strong> aber hätte fast bitter <strong>auf</strong>gelacht. Wo sollte er denn hin,<br />

<strong>und</strong> sei es per Bahn? Nach London in den Grimmauldplatz 12 vielleicht,<br />

aber er wusste nicht, was mit Sirius Elternhaus nach dessen Tod<br />

geschehen war <strong>und</strong> wollte keinen Todessern in die Hände geraten.<br />

Möglicherweise könnte er zu den Weasleys fahren. Der Fahrende Ritter,<br />

20


ein Zaubererbus, würde zwar auch kommen, wenn er ihn rief, aber er<br />

hatte Angst, dort jemanden zu treffen, der ihn erkannte, noch schlimmer,<br />

jemand, der den Todessern berichtete. Nein, <strong>das</strong> Beste wäre, er schlüge<br />

sich in der Muggelwelt durch zu einem Ort, wo er sicher war. Dabei fiel<br />

ihm <strong>auf</strong>, <strong>das</strong>s er keine Ahnung hatte, wie er nach Hogwarts kommen<br />

sollte, wenn er zu Fuß ging. Geknickt beendete er sein Frühstück <strong>und</strong><br />

ging wieder in sein Zimmer, während Onkel Vernon sich bereit machte,<br />

um <strong>auf</strong> Arbeit zu gehen. Dudley watschelte ins Wohnzimmer, um<br />

„Ballershooter 6“ weiterzuspielen, <strong>und</strong> Tante Petunia begann ihr<br />

morgendliches Putzen.<br />

Oben angekommen schaute <strong>Harry</strong> müde aus dem Fenster, denn<br />

auch in dieser Nacht hatte er überwiegend Albträume gehabt <strong>und</strong> nur<br />

schlecht geschlafen. Dunkel erinnerte er sich an seine Teufelsschlinge<br />

<strong>und</strong> ging mit dem Block in der Hand unmotiviert nach unten, um noch<br />

einmal <strong>das</strong> Pflänzchen abzumessen. Die verbleibenden sechs Tage des<br />

Projekts würde er sich wohl oder übel Zahlen ausdenken müssen.<br />

Nachdem er sich einmal mehr an dem Rosenbusch vorbeigekämpft <strong>und</strong><br />

die Teufelsschlinge bewertet hatte, riss er sie mit geübtem Griff heraus<br />

<strong>und</strong> schmiss sie <strong>auf</strong> den Kompost, nachdem er ihre Wurzeln durchtrennt<br />

hatte. Jetzt, wo er nicht mehr da sein würde, hätte es keinen Sinn, die<br />

Schlinge im Boden zu lassen. Am Ende würde sie die Dursleys wirklich<br />

erwürgen, wobei <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> im Moment kein unangenehmes Szenario zu<br />

sein schien.<br />

Gerade, als er sich wieder ins Haus begeben wollte, surrte ein<br />

großer Käfer <strong>auf</strong>gebracht um seinen Kopf. Unwillig wedelte <strong>Harry</strong> mit<br />

seinen Händen durch die Luft, aber <strong>das</strong> Insekt ließ sich nicht<br />

abschütteln, sondern machte es sich auch noch <strong>auf</strong> seiner Hand<br />

bequem.<br />

„Hey, du, verschwinde, dich kann ich nicht brauchen“, rief <strong>Harry</strong><br />

genervt <strong>und</strong> wollte <strong>das</strong> Tier schon von seiner Hand schnipsen, als ihm<br />

dessen Färbung <strong>auf</strong>fiel. Zwar schien er ein ganz normaler, fetter<br />

Maikäfer zu sein, dennoch stach <strong>das</strong> seltsame Muster <strong>auf</strong> seinen Fühler<br />

hervor. Das hatte er <strong>doc</strong>h schon einmal gesehen …<br />

„Rita Kimmkorn?“, flüsterte er überrumpelt. Der Käfer bewegte<br />

seinen kleinen Kopf <strong>und</strong> schien zu nicken. Perplex starrte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />

kleine Tier. Animagi, also Zauberer oder Hexen, die sich in Tiere<br />

verwandeln konnten, waren in der Zaubererwelt recht selten. Diesen<br />

Käfer <strong>und</strong> die dazugehörige Person kannte <strong>Harry</strong> bereits. Er hätte nur<br />

nie geglaubt, Rita Kimmkorn, eine penetrante Journalistin, welche <strong>das</strong><br />

vorletzte Schuljahr damit zugebracht hatte, bösartige <strong>und</strong> unwahre<br />

Artikel über <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>e veröffentlicht hatte, zu ihm in den<br />

Ligusterweg kommen würde. Hermine hatte schließlich ihr Geheimnis<br />

entdeckt <strong>und</strong> unter Androhung, es dem Ministerium zu verraten, sie <strong>zur</strong><br />

21


Mithilfe gezwungen. Schnell sah <strong>Harry</strong> sich nach einer geschützten Ecke<br />

um <strong>und</strong> verschwand mit dem Käfer <strong>auf</strong> der Hand hinter einer großen<br />

Hecke, wo ihn keiner sehen konnte.<br />

Er setzte den Käfer vorsichtig <strong>auf</strong> den Boden, <strong>und</strong> eine Sek<strong>und</strong>e<br />

später stand eine Frau vor ihm, mit schwerem Kiefer, rotem Umhang <strong>und</strong><br />

einer Krokodilledertasche, die sie umklammert hielt.<br />

„Was machen Sie hier?“, wollte <strong>Harry</strong> neugierig wissen. Durch <strong>das</strong><br />

überraschende Auftauchen eines anderen Mitglieds der magischen<br />

Gesellschaft hatte er seine missliche Lage vorübergehend vergessen.<br />

Rita Kimmkorn schaute missbilligend <strong>auf</strong> ein kleines Beet in der Hitze<br />

verrottender Möhren <strong>und</strong> wandte sich dann mit hochmütigem Blick <strong>Harry</strong><br />

zu.<br />

„Deine kleine Fre<strong>und</strong>in hat anscheinend immer noch keinen<br />

Anstand erlernt“, meinte sie mit unterdrücktem Zorn. „Sie ist der<br />

Meinung, ich müsste noch mehr unsinnige Aufträge für sie erledigen,<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> nur damit sie mich nicht – du weißt schon.“<br />

<strong>Harry</strong> musste unfreiwillig grinsen. Die Strafe für einen<br />

unregistrierten Animagus war hoch.<br />

„Und deshalb kam sie gestern bei meinem Haus vorbei <strong>und</strong> hat<br />

<strong>doc</strong>h tatsächlich verlangt, <strong>das</strong>s ich für sie Eule spiele <strong>und</strong> dir Post<br />

übergebe“, meinte sie Nase rümpfend <strong>und</strong> eindeutig klar machend, <strong>das</strong>s<br />

solche Aktivitäten unter ihr Niveau fielen. Sie kramte in ihrer Tasche<br />

herum <strong>und</strong> übergab <strong>Harry</strong> einen Brief.<br />

Er nahm ihn schnell an sich <strong>und</strong> sah erleichtert Hermines saubere<br />

Schrift, rollte <strong>das</strong> Blatt Pergament auseinander <strong>und</strong> begann zu lesen.<br />

Lieber <strong>Harry</strong>,<br />

tut mir Leid, <strong>das</strong>s ich dir <strong>auf</strong> so einem Weg schreiben muss – aber<br />

einen anderen, sicheren habe ich nicht gef<strong>und</strong>en. Ich hoffe, Rita hält ihr<br />

Versprechen <strong>und</strong> nimmt auch deine Antwort an sich. Unseren<br />

Vereinbarungen zu folge sollte sie in die Nähe deines Dorfes apparieren<br />

<strong>und</strong> dann als Käfer getarnt zu dir fliegen.<br />

Was ich dir sagen wollte ist, <strong>das</strong>s morgen Mittag einige Mitglieder<br />

des Ordens bei dir vorbeischauen, um dich nach London ins<br />

Hauptquartier zu begleiten. Wir sind uns nach wie vor nicht ganz sicher,<br />

wie es um <strong>das</strong> Haus steht, jetzt wo Sirius nicht mehr der Eigentümer ist.<br />

Bisher hat keiner sein Testament gef<strong>und</strong>en. Aber in den letzten Wochen<br />

haben wir uns im Grimmauldplatz <strong>auf</strong>gehalten, <strong>und</strong> es hat keine<br />

Schwierigkeiten gegeben. Immerhin ist er noch mit dem Fidelius<br />

geschützt. Ron ist auch mit hier, genauso wie alle Weasleys. Wie haben<br />

die Zeit genutzt, um unsere Haus<strong>auf</strong>gaben zu erledigen – wir dürfen die<br />

private Büchersammlung des Ordens mit benutzen, du glaubst gar nicht,<br />

22


wie umfangreich die ist – eine Menge Werke behandeln auch unseren<br />

Schulstoff!<br />

<strong>Harry</strong> musste wieder grinsen, Hermines Begeisterung für Bücher<br />

war unübertroffen.<br />

Wir freuen uns schon <strong>auf</strong> dich <strong>und</strong> erwarten dich morgen<br />

Nachmittag.<br />

In Liebe,<br />

Hermine<br />

Aufgeregt schnappte <strong>Harry</strong> sich den Bleistift, mit dem er die Daten<br />

über die Teufelsschlinge gerade noch abgetragen hatte, <strong>und</strong> schrieb <strong>auf</strong><br />

die Rückseite des Pergaments:<br />

Liebe Hermine <strong>und</strong> Lieber Ron,<br />

Ihr habt mir mit eurem Brief <strong>das</strong> Leben gerettet. Die Dursleys sind<br />

derzeit gar nicht gut <strong>auf</strong> mich zu sprechen <strong>und</strong> haben mir bis morgen<br />

eine Frist gesetzt, zu verschwinden – <strong>und</strong> <strong>das</strong> nur wegen einer albernen<br />

Geschichte mit ihrer Nachbarin, die mich bei Zaubertränke überrascht<br />

hat. Der Orden kommt keine St<strong>und</strong>e zu früh. Morgen Mittag werde ich<br />

mit meinen Sachen im hinteren Teil des Gartens stehen – ich denke, <strong>das</strong><br />

ist besser, als wenn sie an der Tür klingeln <strong>und</strong> noch die Bekanntschaft<br />

der Dursleys machen. Sag ihnen, sie sollen am Swimming-Pool warten.<br />

Bis morgen!<br />

In Liebe,<br />

<strong>Harry</strong><br />

Zufrieden rollte er <strong>das</strong> Pergament wieder zusammen <strong>und</strong> übergab<br />

es unversiegelt Rita Kimmkorn – Versiegelung mit Zauberei war jetzt<br />

nicht möglich.<br />

„Achten Sie gut dar<strong>auf</strong> <strong>und</strong> bringen Sie es ohne Umwege zu<br />

Hermine“, meinte er in einem vielleicht zu scharfen Befehlston. Aber<br />

andererseits, dachte er, hatte diese Frau sein Leben so oft schwer<br />

genug gemacht.<br />

„Ja, ja“, knurrte Rita Kimmkorn <strong>und</strong> verstaute den Brief in ihrer<br />

Handtasche. „Wie ein Hauself werde ich behandelt, <strong>das</strong> kann wirklich<br />

nicht sein. Ich hoffe stark, <strong>das</strong> geht nicht so weiter“, lamentierte sie <strong>und</strong><br />

mit einem letzten Murmeln, <strong>das</strong> sich wie „Kings Cross“ anhörte,<br />

23


verwandelte sie sich wieder in einen großen Käfer <strong>und</strong> flog über die<br />

Hecke <strong>und</strong> in den heißen Sommertag hinein.<br />

<strong>Harry</strong> war erst etwas verwirrt, dann fiel ihm ein, <strong>das</strong>s sie Hermine<br />

wohl kaum im Hauptquartier des Ordens treffen konnte.<br />

Mit unendlicher Dankbarkeit machte er sich <strong>auf</strong> den Rückweg ins<br />

Haus, plötzlich durchströmte ihn eine unerwartete Leichtigkeit – <strong>das</strong><br />

erste Mal seit Wochen empfand er wieder so etwas wie Glück. Sein<br />

Problem war gelöst, er würde den Ligusterweg morgen verlassen<br />

können, in fünf Tagen war sein Geburtstag – wenn er daran dachte, wie<br />

er sich noch vor einer St<strong>und</strong>e gefühlt hatte, so hatte sich vieles zum<br />

Besseren gewendet.<br />

Im Flur lief er Tante Petunia in die Arme. Hastig wollte er sich<br />

davonmachen, als sie ihm hinterher rief.<br />

„He du, ich muss dir noch was sagen. Wenn du morgen<br />

verschwindest, könntest du <strong>das</strong> möglichst schon am Morgen tun? Wir<br />

haben die Nachbarschaft zum Mittag eingeladen, um unseren Pool<br />

einzuweihen. Es wird ein Grillfest geben; <strong>und</strong> wir werden den Pool <strong>das</strong><br />

erste Mal benutzen. Du lässt dich dabei natürlich nicht blicken, deshalb<br />

wäre es <strong>das</strong> Beste, du bist vorher schon weg“, sagte sie <strong>und</strong> taxierte<br />

<strong>Harry</strong>, anscheinend keinen Widerspruch erduldend.<br />

„Ich reise um 12 Uhr mittags von hier ab“, meine <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> konnte<br />

nur hoffen, <strong>das</strong>s die Fete nicht eher anfing.<br />

„Dann mach <strong>das</strong> gefälligst un<strong>auf</strong>fällig, denn um die Zeit beginnen<br />

wir mit der Ansprache“, keifte seine Tante <strong>und</strong> ging in den Garten.<br />

„Verschwinde am Besten über den Vordereingang, damit du nicht am<br />

Pool zu sehen bist“, warf sie noch über ihre Schulter.<br />

Erneut entmutigt lief <strong>Harry</strong> in sein Zimmer. Er konnte natürlich nicht<br />

den Vordereingang benutzen, da er sich mit dem Orden extra am Pool<br />

verabredet hatte! Wie konnte er wissen, <strong>das</strong>s die Dursleys ausgerechnet<br />

an diesem Tag die ganze Nachbarschaft um ihn herum versammeln<br />

wollten …<br />

Aber erst einmal wollte er seine Sachen packen. Da er in den<br />

Ferien größtenteils Ordnung gehalten hatte, dauerte es nicht lange, all<br />

seine Besitztümer in den beiden großen Schulkoffern zu verstauen. Den<br />

Besen legte er neben sie <strong>und</strong> machte Hedwigs Käfig sauber, damit er für<br />

morgen reisefertig war. Seine Eule war nach wie vor nicht zu sehen,<br />

aber sie würde bestimmt vor morgen erscheinen, <strong>und</strong> selbst wenn nicht,<br />

würde sie den Weg zu ihm finden, wo immer er auch war. Schließlich<br />

ließ er sich wieder <strong>auf</strong> seinem Bett nieder <strong>und</strong> verbrachte noch einige<br />

Zeit mit seinen Haus<strong>auf</strong>gaben, konnte sich aber nicht richtig<br />

konzentrieren. Zu oft musste er daran denken, <strong>das</strong>s er morgen seine<br />

24


Fre<strong>und</strong>e wieder sah <strong>und</strong> endlich wieder in die Welt <strong>zur</strong>ückkehrte, in die<br />

er gehörte.<br />

Am Abend aß er zusammen mit den Dursleys wieder einmal<br />

schweigend am Küchentisch <strong>und</strong> musste sich die angeregte <strong>und</strong> recht<br />

einseitige Diskussion Onkel Vernons mit Dudley über Bohrer anhören,<br />

welcher notgedrungen in den Ferien noch einige Wochen Praktikum in<br />

Onkel Vernons Firma absolvieren würde. Nicht etwa, weil sein<br />

Geschäftssinn erwacht wäre, sondern, weil dies in seiner Klassenstufe<br />

Pflicht war. Hätte sein Onkel kein eigenes Geschäft, so wäre Dudley <strong>auf</strong><br />

verlorenem Posten gestanden – <strong>Harry</strong> konnte sich nicht vorstellen, wer<br />

ihn sonst nehmen würde.<br />

Er war froh, als er bald dar<strong>auf</strong> wieder alleine war <strong>und</strong> verbrachte<br />

den Rest des Abends damit, sich vorzustellen, was er morgen alles<br />

essen würde – sicher würde Mrs. Weasley kochen, <strong>und</strong> er kannte<br />

niemanden, der es besser konnte – er würde Butterbier trinken können<br />

<strong>und</strong> sich mit Ron <strong>und</strong> Hermine über Dinge unterhalten, die wirklich<br />

wichtig für ihn waren, <strong>und</strong> nicht über Swimming-Pools <strong>und</strong> Praktika.<br />

Am nächsten Morgen weckte ihn <strong>das</strong> Schrillen seines alten<br />

Weckers, den er vor Urzeiten, wie ihm heute schien, repariert hatte. Er<br />

blieb noch eine Weile im Bett liegen, immer noch schwitzend von dem<br />

Albtraum, der ihn auch diese Nacht gequält hatte. Wiederum war er in<br />

der Mysteriumsabteilung gewesen, hatte sich die Stufen im Raum des<br />

Todes hoch gekämpft, um den Todessern zu bekommen, die kleine<br />

Kristallkugel, wegen derer all dies erst geschehen war, an sich gepresst,<br />

während er verzweifelt versuchte, schnell aus dem Ministerium zu<br />

kommen, zu Sirius zu l<strong>auf</strong>en <strong>und</strong> ihm zu sagen, <strong>das</strong>s alles in Ordnung<br />

war <strong>und</strong> er nicht kommen musste, um ihn zu retten – aber da hörte er<br />

auch schon Bellatrix` furchtbares Lachen <strong>und</strong> sah den Fluch, der Sirius<br />

zum Taumeln brachte –<br />

<strong>Harry</strong> schlug entschlossen die Bettdecke beiseite. Er wollte nicht<br />

an den Tod seines Paten denken. Zwar wusste er, <strong>das</strong>s Verdrängung<br />

<strong>und</strong> zwanghafte Konzentration <strong>auf</strong> andere Beschäftigungen ihm nicht<br />

immer helfen würden, um <strong>das</strong> Geschehene zu verarbeiten. Aber im<br />

Moment fühlte er sich noch nicht in der Lage dazu, mit Sirius’ Tod<br />

umgehen zu können.<br />

Er blickte gedankenverloren <strong>auf</strong> die Schatten, die durch die<br />

strahlende Sonne in seinem Zimmer entstanden, hörte die Schreie<br />

einiger Nachbarskinder, die <strong>auf</strong> der Straße spielten, im Hintergr<strong>und</strong> dazu<br />

<strong>das</strong> Brummen einiger Rasenmäher, die pedantisch <strong>das</strong> vertrocknete<br />

Gras kürzten, <strong>das</strong> in den letzten Wochen eigentlich kaum hätte wachsen<br />

können. <strong>Harry</strong> kam diese Alltagsidylle absurd <strong>und</strong> fremd vor. Ich gehöre<br />

nicht in diese Welt, dachte er. In meinem Leben gibt es keine<br />

Rasenmäher <strong>und</strong> Bohrmaschinen. Was hätte er gemacht, wenn er kein<br />

25


Zauberer gewesen wäre? Wenn er wie geplant <strong>auf</strong> eine normale<br />

englische High School gegangen wäre? Diese Vorstellung ließ ihn<br />

erschaudern. Er konnte sich vage daran erinnern, einmal Gefallen an<br />

Fächern wie Mathematik oder Biologie gef<strong>und</strong>en zu haben. Wäre er als<br />

Muggel also Biologe geworden? Mittlerweile schienen ihm diese<br />

Gedanken fiktiv <strong>und</strong> unrelevant. In der Zaubererwelt ergreift man andere<br />

Berufe. Der eines Aurors war so weit vom Agenten oder<br />

Kriminalpolizisten allerdings auch nicht entfernt, musste er mit einem<br />

Lächeln plötzlich feststellen.<br />

Anstatt sich mit solch müßigen Überlegungen <strong>auf</strong>zuhalten, zog er<br />

sich nun lieber an <strong>und</strong> überprüfte noch einmal seine Koffer. Soweit er<br />

sah, hatte er alles Wichtige eingepackt. Laut seines Weckes war es jetzt<br />

um zehn, also gerade die richtige Zeit, um noch ein ausgiebiges<br />

Frühstück zu nehmen. Wie er an den lauten Stimmen erkennen konnte,<br />

hielten sich alle Dursleys wie so oft in der Nähe ihres Pools <strong>auf</strong>. Tante<br />

Petunia bereitete die Tische <strong>und</strong> Sitzgelegenheiten für die Gäste vor,<br />

Onkel Vernon hatte schon den Grill aus der Garage hervorgekramt <strong>und</strong><br />

Dudley vergnügte sich mit seinem 10-Uhr-Eis.<br />

Somit blieb ihm eine ungewohnte Freiheit in der Küche, die <strong>Harry</strong><br />

auch ausgiebig nutzte. Er briet sich Schinken, machte sich einige Toasts,<br />

kostete von Dudleys Lieblingsmarmelade <strong>und</strong> kochte eine große Tasse<br />

Kaffee, einfach nur, weil er sonst nie welchen bekam, <strong>und</strong> nicht, weil er<br />

ihn ausgesprochen mochte. Nachdem er dar<strong>auf</strong> geachtet hatte, die<br />

Küche sauber zu hinterlassen, um Tante Petunia den unerlässlichen<br />

Schreikrampf wegen eines Toastkrümels <strong>auf</strong> dem Esstisch zu ersparen,<br />

machte er sich träge <strong>und</strong> satt <strong>auf</strong> in sein Zimmer <strong>und</strong> trug die einzelnen<br />

Koffer hinunter in den Garten. Da seine Verwandten für zehn Minuten in<br />

der Parallelstraße verschw<strong>und</strong>en waren, um frische Blumen für die<br />

Tischvasen vom dort ansässigen Händler zu k<strong>auf</strong>en, hatte er genügend<br />

Zeit, sein Gepäck hinter einer großen Hecke zu verstecken, wo es vom<br />

Swimming-Pool nur gesehen werden konnte, wenn sich jemand <strong>auf</strong> dem<br />

Ein-Meter-Brett den Hals um 180 Grad verdrehte. Zufrieden schlenderte<br />

er am Pool entlang, entschlossen, bis Mittag im Garten zu sein <strong>und</strong> sich<br />

von den Dursleys nicht stören zu lassen. Der Orden musste ihn finden,<br />

<strong>und</strong> es wäre besser, wenn er <strong>das</strong> ohne Hilfe von Muggel bewerkstelligen<br />

würde. Natürlich gab es Streit.<br />

„Wir haben dir <strong>doc</strong>h gesagt, du sollst im Haus warten <strong>und</strong> dann<br />

über den Vordereingang schnellstens verschwinden!“, keifte Mr. Dursley,<br />

<strong>das</strong> Gesicht von der Hitze gerötet <strong>und</strong> schwitzend in seinem geblümten<br />

T-Shirt, gerade vom kurzen Spaziergang <strong>zur</strong>ückgekehrt. „Wenn dich<br />

einer der Nachbarn sieht, vielleicht sogar Mrs. Berlyne, dann geht <strong>das</strong><br />

Gerede wieder los. Was sollen sie nur von uns denken, wenn sie sehen,<br />

wie missraten <strong>und</strong> verdorben du bist! Das merkt man <strong>doc</strong>h schon in zehn<br />

Meter Entfernung!“<br />

26


<strong>Harry</strong> bezweifelte ernsthaft, <strong>das</strong>s Muggel, denen Zauberei nicht<br />

einmal <strong>auf</strong>fiel, wenn sie direkt vor ihrer Nase stattfand, in ihm etwas<br />

anderes sehen würden als einen normalen 15-Jährigen. Er war an die<br />

Neurose der Dursleys, alles auch nur im Ansatz Unnormale zu meiden<br />

<strong>und</strong> zu verbannen, aber so gewöhnt, <strong>das</strong>s ihn ihr Verhalten nicht<br />

w<strong>und</strong>erte.<br />

„Wenn ich durch den Vordereingang verschwinden würde, dann<br />

würden mich die Nachbarn <strong>doc</strong>h erst recht sehen“, setzte er entgegen,<br />

innerlich grinsend, weil er <strong>das</strong> dursleysche Schreckensszenario Nummer<br />

eins her<strong>auf</strong>beschwor. „Und <strong>das</strong>“, sinnierte er weiter, „während ich meine<br />

Koffer, den Käfig, womöglich mit Hedwig, wenn sie bis dahin wieder da<br />

ist, <strong>und</strong> meinen Besen trage.“<br />

Tante Petunia wurde so weiß wie die Orchideen, die sie gerade in<br />

eine Vase stellen wollte, während Onkel Vernons Gesicht eher die Farbe<br />

seiner Grillkohle annahm, dann aber schnell in den Ton eines<br />

ausgewachsenen Leuchtfeuers wechselte.<br />

„Solltest du dir <strong>das</strong> trauen!“, schrie er, Spucke über den Gitterrost<br />

des Grills verteilend, „dann brauchst du nächstes Jahr hier nicht mehr<br />

antanzen, weil wir einen Teufel tun werden <strong>und</strong> dich aussperren<br />

werden!“ Triumphierend wedelte er mit der Grillzange um sich <strong>und</strong> fegte<br />

dabei die Würstchen vom Tisch.<br />

<strong>Harry</strong> wurde es mulmig. So kindisch diese Drohung war, <strong>und</strong> so<br />

sehr er sich diese Situation im Gr<strong>und</strong>e wünschte, so wusste er <strong>doc</strong>h von<br />

Dumbledore, <strong>das</strong>s er bis zu seinem 17. Geburtstag im nächsten Jahr<br />

noch einmal bei den Dursleys wohnen musste, um den Zauber nicht zu<br />

brechen, der ihn zumindest in der Ferienzeit vor Voldemort beschützte<br />

<strong>und</strong> von der Tatsache herrührte, <strong>das</strong>s in Tante Petunia als letzter Person<br />

außer ihm noch <strong>das</strong> Blut seiner Mutter floss, die für ihn gestorben war.<br />

Kleinlaut <strong>und</strong> seinen Widerwillen unterdrückend meinte er: „Ich<br />

werde mit meinem Gepäck um Punkt 12 Uhr aus dem Garten abgeholt.<br />

Ich will versuchen, mich im hinteren Teil abseits vom Pool <strong>auf</strong>zuhalten,<br />

<strong>und</strong> kein Mug- äh, Nachbar wird auch nur einen Zaub- ich meine, einen<br />

meiner Fre<strong>und</strong>e bemerken“, stieß er zwischen den Zähnen hervor.<br />

Sein Onkel schien sich nicht entscheiden zu können, ob ihm <strong>das</strong><br />

reichte.<br />

„Diese Leute kennen kein Benehmen <strong>und</strong> wissen nicht, was ihnen<br />

zusteht“, knurrte er in Richtung Petunia, welche ihm missbilligend<br />

nickend zustimmte.<br />

Mit zusammengekniffenen, gemein funkelnden Augen durchbohrte<br />

er <strong>Harry</strong><br />

„Wir sehen nichts von dir <strong>und</strong> deinem Anhang, <strong>und</strong> wir hören<br />

nichts. Andernfalls kannst du dich nächsten Sommer nach einer neuen<br />

Bleibe umsehen, falls denn überhaupt jemand bereit wäre, so etwas wie<br />

dich <strong>auf</strong>zunehmen.“<br />

27


<strong>Harry</strong> unterließ es, Onkel Vernons Weltbild zu zerstören <strong>und</strong><br />

klarzustellen, <strong>das</strong>s er <strong>auf</strong> dieser Welt durchaus Fre<strong>und</strong>e hatte, die ihn<br />

gerne bei sich wohnen lassen würden, da sie seine Gesellschaft<br />

schätzten, <strong>und</strong> wandte sich stattdessen seinem Gepäck zu. Wortlos<br />

überprüfte er ein letztes Mal, ob alles im Garten war <strong>und</strong> setzte sich<br />

dann <strong>auf</strong> einen Stein, der als Zierde neben einer Ansammlung von<br />

Schwerlilien diente. Die Dursleys gaben ihren Partyvorbereitungen einen<br />

letzten Schliff, nachdem sich Onkel Vernon mit einem Schnauben von<br />

<strong>Harry</strong> abgewandt hatte.<br />

Dieser schaute nun verträumt in den a<strong>zur</strong>blauen Himmel <strong>und</strong> stellte<br />

sich vor, wie es sein würde, einfach davonzufliegen. Womöglich war dies<br />

genau <strong>das</strong>, was er gleich tun würde. Noch wusste er nicht, wie ihn der<br />

Orden abholen würde <strong>und</strong> wer dabei sein würde. Sicherlich Mad-Eye<br />

Moody, der Ex-Auror, welcher sich stets mit Eifer in die Schlacht stürzte<br />

<strong>und</strong> <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> seiner Wachsamkeit <strong>und</strong> Vorsicht für solche Art von<br />

Missionen prädestiniert war. Vielleicht kamen auch Lupin <strong>und</strong> Tonks –<br />

<strong>Harry</strong> freute sich plötzlich unbändig dar<strong>auf</strong>, sie alle wieder zu sehen,<br />

wieder über Tonks Ungeschicke <strong>und</strong> ihre unkomplizierte Art lachen zu<br />

können, mit Lupin wieder ernsthafte Gespräche über Zauberei führen zu<br />

können, <strong>und</strong> selbst die Aussicht <strong>auf</strong> Moodys sehr<br />

gewöhnungsbedürftiges Auge konnte seine Stimmung nicht trüben.<br />

Vor sich hin lächelnd streckte <strong>Harry</strong> sich <strong>auf</strong> dem warmen Rasen<br />

aus, spürte die Sonne <strong>auf</strong> seinem Gesicht <strong>und</strong> hörte entfernt die<br />

Stimmen eintreffender Nachbarn. Beifällige Rufe beim Erblicken des<br />

Swimming-Pools wechselten sich mit eifrigem Geschnatter über <strong>das</strong><br />

neueste Gerücht über den Geliebten von Frau Sowieso in Nummer 10<br />

ab, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> döste über diesem Durcheinander an belanglosem Gerede<br />

langsam ein, nichts als Wärme um ihn herum <strong>und</strong> Summen in seinen<br />

Ohren…<br />

Ein explosionsartiges Knallen zerriss den Sommertag. Ein oder<br />

zwei Leute kreischten, dann war <strong>das</strong> unmissverständliche Platschen von<br />

etwas Großem zu hören, <strong>das</strong> ins Wasser fiel. Dazu gab es <strong>das</strong> Klirren<br />

von mindestens einem Glas voll mit Champagner.<br />

Mit einem Ruck fuhr <strong>Harry</strong> aus seinem Halbschlaf <strong>auf</strong>. Was war<br />

<strong>das</strong> gewesen? Hektisch sprang er <strong>auf</strong>, rückte seine Brille <strong>zur</strong>echt <strong>und</strong><br />

schaute sich noch etwas benommen um.<br />

Er sah Onkel Vernon sich über den Rand des Pools beugend, dank<br />

seines enormen Gewichtes fast selbst hineinfallend. Offenbar war einer<br />

der Gäste ins Wasser gefallen…<br />

<strong>Harry</strong> entspannte sich. Hatte er <strong>doc</strong>h befürchtet, der Orden hätte<br />

<strong>das</strong> Chaos ausgelöst. Nun ging er betont langsam in den vorderen Teil<br />

des Gartens, um sich zu vergewissern, <strong>das</strong>s bald wieder Ruhe einkehrte<br />

28


<strong>und</strong> er unbemerkt mit seinen Fre<strong>und</strong>en verschwinden konnte, sobald sie<br />

eintrafen.<br />

Tante Petunia half gerade einer triefenden Frau aus dem Pool. Sie<br />

japste keuchend <strong>und</strong> schlug mit den Armen um sich, während sie <strong>auf</strong><br />

den Rand zu schwamm <strong>und</strong> schließlich an Land gezogen wurde.<br />

Aufmerksamkeit haschend, als wäre sie gerade einem wütenden<br />

Seedrachen entkommen, blickte sie um sich.<br />

„Es tut uns so Leid, <strong>das</strong>s es dazu gekommen ist“, stammelte Tante<br />

Petunia.<br />

„Das müssen wohl die rutschigen Fließen gewesen sein, sehen sie,<br />

hier sind sie ganz nass – Vernon hat sie vorhin noch abgeschrubbt,<br />

damit alles sauber ist, wenn die Gäste kommen …“<br />

„Nein, nein“, schnappte die Nachbarin, Wasser prustend.<br />

„Das waren keine Fließen, ich bin über etwas gestolpert. Ich wollte<br />

einfach nur hinüber zum Grill gehen, <strong>und</strong> plötzlich war dieser<br />

Gegenstand zwischen meinen Füßen – wie ein Ast oder so etwas.“<br />

Onkel Vernon sah verdattert drein. <strong>Harry</strong> konnte sich vorstellen,<br />

<strong>das</strong>s allein die Möglichkeit, ein verfaulter Ast könnte in seinem Garten<br />

herumliegen, seine Laune erheblich verschlechterte.<br />

„Hier ist kein Ast“, beteuerte er <strong>und</strong> schaute sich<br />

überflüssigerweise um.<br />

„Da müssen Sie sich wohl getäuscht haben. Schließlich haben wir<br />

hier keine unsichtbaren Dinge im Garten“, startete er einen halbherzigen<br />

Versuch zu scherzen. Anscheinend beruhigte <strong>das</strong> die noch triefend<br />

nasse Nachbarin, denn sie wandte sich mit einem Murmeln wie<br />

„Wenigstens trocknet es in der Sonne schnell“ wieder ihrer Wurst zu.<br />

<strong>Harry</strong> dagegen fuhr zusammen. Unbeabsichtigt hatte Onkel Vernon<br />

ihn <strong>auf</strong> eine Idee gebracht. Unsichtbar? Er kannte eine Menge<br />

Möglichkeiten, wie Gegenstände <strong>und</strong> sogar Menschen unsichtbar<br />

wurden. Nur nicht in der Muggelwelt …<br />

Langsam <strong>und</strong> sich vorsichtig umsehend bewegte er sich <strong>auf</strong> den<br />

Esstisch zu. Etwa ein Dutzend Menschen saßen daran, aßen Würstchen<br />

<strong>und</strong> Salate, tranken Bier <strong>und</strong> Wasser <strong>und</strong> unterhielten sich über die<br />

Belanglosigkeiten ihres Alltags.<br />

„<strong>Harry</strong>!“<br />

<strong>Harry</strong> schreckte <strong>auf</strong> <strong>und</strong> stieß mit einem Stuhl zusammen. Ein<br />

älterer Nachbar, welcher ihn fast jeden Tag mit unfre<strong>und</strong>lichen<br />

Kommentaren über den Zaun hinweg begrüßte, starrte ihn feindselig an.<br />

„Entschuldigung“, stammelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> ging schnell einen Schritt<br />

<strong>zur</strong>ück. Hörte er jetzt schon Stimmen? Wer hatte ihn gerufen?<br />

„Setzt die <strong>auf</strong>!“, flüsterte jemand in sein Ohr <strong>und</strong> er fühlte etwas<br />

Hartes, <strong>das</strong> ihm in die Hand gedrückt wurde. Gehetzt drehte er sich um<br />

sich selbst <strong>und</strong> versuchte, die Quelle der unheimlichen Geräusche zu<br />

erk<strong>und</strong>en. Aber er sah nichts, <strong>das</strong> nicht in die bekannte Welt der<br />

29


Dursleys gepasst hätte. Unsicher befühlte er den Gegenstand in seinen<br />

Händen. Er war kalt, spitz <strong>und</strong> r<strong>und</strong> gleichzeitig. Eine Brille, erkannte er.<br />

Setz sie <strong>auf</strong> …<br />

Er tat es.<br />

Erschrocken prallte er abermals mit dem Nachbarn vor sich<br />

zusammen <strong>und</strong> musste eine weitere Schimpfsalve über sich ergehen<br />

lassen, die er aber nicht mitbekam. Zu sehr lenkte ihn ab, was sich <strong>auf</strong><br />

einmal seinen Augen darbot.<br />

Da waren sie. Moody, neben dem Kartoffelsalat stehend <strong>und</strong> <strong>auf</strong><br />

die hübsche Tochter von Frau Gegenüber grinsend, Tonks neben sich,<br />

wie sie neugierig ein Handy musterte, <strong>das</strong> sie von einem der Gäste<br />

genommen haben musste. Direkt neben den Dursleys, welche sich noch<br />

am Grill befanden, stand Lupin <strong>und</strong> schien sie argwöhnisch zu<br />

beobachten. <strong>Harry</strong> fuhr herum, als etwas seine Schulter streifte. Was er<br />

sah, ließ ihn für einen Moment den Atem stocken.<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine, beide hier, im Ligusterweg inmitten von Muggeln<br />

– aber niemand war in der Lage, sie zu sehen, außer <strong>Harry</strong>. Er<br />

bemerkte, <strong>das</strong>s seine Fre<strong>und</strong>e dieselbe Brille trugen wie er. Nur mit ihr<br />

konnte man anscheinend die sonst durch einen Zauber unsichtbar<br />

gewordenen Ordensmitglieder sehen. Hermine hüpfte <strong>auf</strong>geregt <strong>auf</strong> der<br />

Stelle <strong>und</strong> strahlte <strong>Harry</strong> an, ihr buschiges braunes Haar wurde hell von<br />

der Sonne angestrahlt. Ron, rothaarig <strong>und</strong> sommersprossig, stand neben<br />

ihr <strong>und</strong> grinste ebenfalls, allerdings mit einem etwas verlegenen<br />

Ausdruck im Gesicht. Mit seinen Händen umklammerte er einen<br />

mitgenommenen wirkenden Rennbesen, an dem dunkle Erdklumpen<br />

klebten. Sein Sauberwisch 11, wie <strong>Harry</strong> registrierte – <strong>und</strong>, ging ihm<br />

plötzlich <strong>auf</strong>, der Gr<strong>und</strong>, weshalb die Nachbarin vorhin ins Wasser<br />

gefallen war.<br />

„Habe ihn nach der Landung liegen gelassen, weißt du, wo er <strong>doc</strong>h<br />

sowieso unsichtbar ist – konnte <strong>doc</strong>h nicht wissen, <strong>das</strong>s die alte<br />

Schachtel gerade in dem Moment dort langgegangen ist“, flüsterte Ron<br />

ihm zu <strong>und</strong> schielte, noch immer rot im Gesicht, in Richtung Moody.<br />

„Hat mir die Hölle heiß gemacht. Na, ihm kann <strong>das</strong> nicht passieren,<br />

er steckt ja nicht einmal seinen Zauberstab in die Hosentasche“,<br />

beendete Ron mit einem halb <strong>auf</strong>gebrachten, halb hochnäsigen Ton<br />

seine Schimpftirade.<br />

Hermine wollte gerade etwas dar<strong>auf</strong> erwidern, vermutlich, um<br />

Moody Recht zu geben, da konnte <strong>Harry</strong> nicht mehr an sich halten <strong>und</strong><br />

stürzte <strong>auf</strong> seine Fre<strong>und</strong>e zu. Hermine umarmend meinte er leise:<br />

„Ich bin so froh, <strong>das</strong>s ihr hier seid. Es ist alles so viel schwieriger<br />

geworden, seit –“ Er sprach nicht weiter, aber ein Blick in Hermines<br />

Gesicht sagte ihm, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> auch nicht nötig war.<br />

„Ich weiß, <strong>Harry</strong>. Es tut uns Leid, <strong>das</strong>s wir erst jetzt kommen<br />

konnten, jeden Tag habe ich Moody gefragt, ob der Orden dich nicht<br />

30


endlich holen könnte, aber der Zauber, der dich im Ligusterweg schützt,<br />

darf nicht gebrochen werden.“ Sie schaute ihn bedauernd <strong>und</strong> mitleidig<br />

an. Ron legte ihm die Hand <strong>auf</strong> seine Schulter.<br />

„Nun kommst du mit, <strong>und</strong> in der Gegenwart von Fred <strong>und</strong> George,<br />

Ginny <strong>und</strong> dem Orden kommst du <strong>auf</strong> gar keine anderen Gedanken, so<br />

sehr beschäftigen die einen. Dann denkst du sicher nicht mehr so oft an<br />

Si – an du weißt schon wen.“ Ron schien es für unschicklich zu halten,<br />

den Namen von <strong>Harry</strong>s Paten auszusprechen, vielleicht glaubte er,<br />

dessen Tod weniger schlimm aussehen zu lassen, wenn er ihn nicht<br />

direkt ansprach.<br />

„Schon gut“, unterband <strong>Harry</strong> schnell weitere Diskussionen. „Ich<br />

will nicht darüber reden.“<br />

„<strong>Harry</strong>“, meinte Hermine sanft, wurde aber von Moody<br />

unterbrochen, der die Betrachtung der hübschen Nachbarin vom<br />

anderen Tischende <strong>auf</strong>gab <strong>und</strong> nun <strong>auf</strong> die drei zukam.<br />

<strong>Harry</strong> grüßend zunickend winkte er Lupin <strong>und</strong> Tonks herbei,<br />

welche <strong>auf</strong> dem Weg um den Tisch den Kartoffelsalat umstieß, der sich<br />

umgehend dekorativ <strong>auf</strong> dem sauber gewischten Holzboden der<br />

Dursleyschen Veranda ausbreitete. Sogleich entbrannte ein Streit unter<br />

den Gästen, wem <strong>das</strong> Missgeschick passiert war, wobei die vermutete<br />

Anwesenheit möglicher unsichtbarer Wesen zum Glück keine Rolle zu<br />

spielen schien.<br />

Die Mitglieder des Phönixordens versammelten sich um <strong>Harry</strong>, Ron<br />

<strong>und</strong> Hermin <strong>und</strong> gingen mit ihnen einige Schritte <strong>zur</strong> Seite, um nicht mit<br />

den Muggel-Bewohnern des Ligusterweges zusammenzustoßen.<br />

„Hi, <strong>Harry</strong>“, flüsterte Tonks ein wenig zu laut, während sie ihm<br />

beschwingt die Hand schüttelte. Sie trug wie die anderen einen weiten<br />

Umhang, diesmal in stechendem Pink, <strong>das</strong> sich grässlich mit ihren heute<br />

grellrosa Haaren biss. Vermutlich passte Ron deshalb sorgfältig <strong>auf</strong>,<br />

nicht direkt neben ihr zu stehen, um seine feuerroten Haare nicht auch<br />

noch dieser Farbkatastrophe hinzuzufügen.<br />

Auch Lupin lächelte <strong>Harry</strong> an <strong>und</strong> schüttelte ihm die Hand. Die<br />

letzten Wochen schienen ihm nicht gut getan zu haben. Er wirkte müde<br />

<strong>und</strong> abgekämpft, sein Umhang war verschlissen <strong>und</strong> an vielen Stellen<br />

geflickt. Kein W<strong>und</strong>er, dachte <strong>Harry</strong>, nun, wo Voldemort <strong>zur</strong>ück war <strong>und</strong><br />

jeden Tag mehr Macht erlangte, hatte der Orden sicher Tag <strong>und</strong> Nacht<br />

zu tun, um die Aktivitäten der Todesser zu überwachen <strong>und</strong><br />

gegebenenfalls ihre Pläne zu vereiteln. Und, fiel ihm ein, Lupin war einer<br />

der besten Fre<strong>und</strong>e Sirius` gewesen … sicher hatte dessen Tod ihm<br />

nicht minder zu schaffen gemacht als <strong>Harry</strong>. Er fühlte eine jähe<br />

Sympathie für seinen ehemaligen Lehrer.<br />

Außerdem brannte er dar<strong>auf</strong>, Neuigkeiten aus der<br />

Widerstandsbewegung zu erfahren. Er war es leid, eingesperrt in einer<br />

Welt zu sein, die keine noch so kleine Verbindung zu der Gemeinschaft<br />

31


der Zauberer <strong>und</strong> Hexen hatte, derer er sich zugehörig fühlte. In den<br />

Ferienwochen war ihm immer klarer geworden, <strong>das</strong>s die Zeit vorbei war,<br />

in der er sich hinter Dumbledore, Sirius oder dem Orden hatte<br />

verstecken können. Voldemort wollte ihn haben, ihn besiegen <strong>und</strong> töten,<br />

sicher mit dem Ziel, die Herrschaft über die freie Zaubererwelt zu<br />

übernehmen, aber dennoch war es <strong>Harry</strong>, hinter dem Voldemort <strong>und</strong><br />

seine Gefolgsleute her waren, <strong>und</strong> er konnte von den anderen nicht<br />

mehr erwarten, <strong>das</strong>s sie ihr Leben für ihn <strong>auf</strong>`s Spiel setzten, während er<br />

seinen eigenen Dingen nachging, Zauberei studierte <strong>und</strong> Quidditch<br />

spielte. Er wollte kämpfen.<br />

Moody unterbrach <strong>Harry</strong>s Gedanken, indem er <strong>auf</strong> eine entfernte<br />

Ecke des Gartens zeigte, wo sich einige Besen befanden, die recht<br />

achtlos <strong>auf</strong> <strong>das</strong> vertrocknete braune Gras geworfen worden waren.<br />

„Es wird Zeit, <strong>das</strong>s wir <strong>auf</strong>brechen“, meinte der Ex-Auror, der mit<br />

seinen vielen Narben aus unzähligen Kämpfen gegen Todesser <strong>und</strong><br />

seinem magischen Auge bedrohlich wirkte. Tatsächlich kannte <strong>Harry</strong> ihn<br />

kaum, hatte er <strong>doc</strong>h ein Jahr lang Unterricht bei einem Doppelgänger<br />

Moodys <strong>und</strong> nicht bei ihm selbst gehabt. Allerdings waren ihm schon<br />

einige Gerüchte <strong>und</strong> Geschichten über den etwas eigenen Kämpfer zu<br />

Ohren gekommen, vor allem im Zusammenhang mit seiner an<br />

Verfolgungswahn erinnernden Vorsicht <strong>und</strong> Aufmerksamkeit.<br />

Die kleine Gruppe Zauberer <strong>und</strong> Hexen schlängelte sich nun<br />

behutsam durch die Muggel hindurch, um zu ihren Besen zu kommen.<br />

<strong>Harry</strong> vergaß ganz, <strong>das</strong>s er durchaus sichtbar war <strong>und</strong> wurde von Tante<br />

Petunia scharf angesehen, als er sich <strong>auf</strong> Zehenspitzen an dem Grill<br />

vorbei schleichen wollte.<br />

„Wohin bist du schon wieder unterwegs?“, wollte sie schnappend<br />

wissen. „Bleib bloß in der Nähe, ich will dich unter meinen Augen haben,<br />

damit du mit deinem Pack, insofern es irgendwann ankommen sollte“ –<br />

sie schnaubte, als bezweifelte sie es stark – „keinen Unsinn anstellst.“<br />

<strong>Harry</strong> blieb erschrocken stehen. Wie sollte er erklären, <strong>das</strong>s der<br />

Orden bereits da war, um ihn zu holen? Allein die Erwähnung etwaiger<br />

unsichtbarer Personen in ihrem Garten würden die Dursleys mit<br />

Sicherheit in Ohnmacht fallen lassen.<br />

„Ich habe – äh, gerade ein Zeichen bekommen“, log <strong>Harry</strong> rasch<br />

<strong>und</strong> wandte sich der Ecke des Gartens zu, in dem sein Gepäck versteckt<br />

war. „Ich hole schnell meine Sachen <strong>und</strong> bin weg. Ihr braucht nicht<br />

mitzukommen.“<br />

Sollte er damit vorgehabt haben, die Dursleys zu beruhigen <strong>und</strong> die<br />

Möglichkeit zu erhalten, unbemerkt zu verschwinden, so machte sie<br />

Onkel Vernon zu Nichte. Mit einem Bratenwender bedrohlich in <strong>Harry</strong>s<br />

Richtung wedelnd kam er angestapft, im Schlepptau den<br />

stellvertretenden Bürgermeister von Little Whinging, der an diesem Tag<br />

32


zufällig zu Besuch bei seiner Schwester, zweite Nachbarin <strong>auf</strong> der linken<br />

Seite, war. <strong>Harry</strong> schwante Übles.<br />

„Na, wen haben wir denn da?“, fragte der stellvertretende<br />

Bürgermeister beschwingt <strong>und</strong> kleckerte sich etwas Bier aus dem großen<br />

Krug, den er gefährlich locker in seiner Hand hielt, <strong>auf</strong> sein gestreiftes<br />

Hemd.<br />

„Herr Mayor, <strong>das</strong> ist – äh, mein Neffe. Er ist etwas verwirrt <strong>und</strong><br />

wollte sowieso gerade gehen“, zischte Onkel Vernon mehr in <strong>Harry</strong>s<br />

Richtung denn zu Mr Mayor.<br />

„Aber wieso denn? Ich würde liebend gerne mehr über den jungen<br />

Mann hören, ich wusste gar nicht, <strong>das</strong>s sie neben ihrem äußerst viel<br />

versprechenden Sohn“ – er schaute, nun gar nicht mehr angeheitert,<br />

skeptisch zu Dudley, der am Tisch saß <strong>und</strong> gerade seinen zweiten Teller<br />

randvoll mit Würstchen verspeiste, während seine Pobacken jeweils den<br />

Stuhl neben ihm mit beanspruchten – „noch einen Zögling haben“.<br />

„Da gibt es nicht viel zu wissen“, beeilte sich Onkel Vernon zu<br />

sagen, <strong>und</strong> diesmal pflichtete <strong>Harry</strong> ihm bei, er musste verschwinden<br />

<strong>und</strong> endlich mit dem Orden fliegen.<br />

„Er geht in eine Anstalt für schwer Erziehbare, müssen Sie wissen,<br />

<strong>und</strong> ist nicht besonders helle. Es bringt vermutlich gar nichts, wenn Sie<br />

sich mit ihm unterhalten.“ Er packe demonstrativ <strong>Harry</strong>s Arm <strong>und</strong><br />

schwenkte ihn <strong>auf</strong> <strong>und</strong> ab, offenbar überzeugt, die Geste würde <strong>Harry</strong>s<br />

Un<strong>zur</strong>echnungsfähigkeit beweisen. Hinter sich hörte <strong>Harry</strong> ein leises<br />

Kichern <strong>und</strong> verrenkte sich den Hals. Tonks stand einen Meter hinter ihm<br />

<strong>und</strong> hielt sich vor Lachen den Bauch. Moody allerdings wirkte über die<br />

Verzögerung nicht erfreut <strong>und</strong> schien griesgrämig über eine Lösung<br />

nachzugrübeln. Hermine <strong>und</strong> Ron warteten neben den Besen <strong>und</strong> sahen<br />

ein wenig nervös aus. Was auch kein W<strong>und</strong>er war, schließlich gingen<br />

alle Ordensmitglieder <strong>das</strong> Risiko ein, <strong>das</strong>s einer der Besucher sie<br />

unabsichtlich streifte <strong>und</strong> damit einen Aufstand auslöste.<br />

„Ich muss jetzt wirklich gehen“, presste <strong>Harry</strong> hervor <strong>und</strong> entriss<br />

sich Onkel Vernons Griff.<br />

„Er erscheint mir ganz normal“, meinte der stellvertretende<br />

Bürgermeister <strong>und</strong> ließ sich von Tante Petunia Bier nachfüllen. „Aber <strong>das</strong><br />

ist bei solchen Fällen wohl meistens der Fall“, plapperte er munter weiter<br />

<strong>und</strong> prostete den Kletterosen neben der Veranda zu.<br />

<strong>Harry</strong> war nun von Tonks, die sich unter Moodys Angst<br />

einflößenden Blicken anscheinend von ihrem Lachanfall erholt hatte,<br />

gepackt <strong>und</strong> einige Meter in Richtung Besen gezogen worden.<br />

„Wir sehen uns nächstes Jahr“, rief er in einem weiteren Versuch,<br />

die Dursleys davon zu überzeugen, <strong>das</strong>s er nun ganz un<strong>auf</strong>fällig<br />

verschwinden würde.<br />

„Halt, bleib hier!“, polterte Onkel Vernon so laut, <strong>das</strong>s Mr Mayor<br />

seinen Bierkrug fallen ließ. „Ich werde nicht zulassen, <strong>das</strong>s dieses<br />

33


Ungeziefer in meinem Garten landet, um dich abzuholen. Die Gäste<br />

könnten etwas mitbekommen. Du bleibst bei uns, bis die Feier vorbei ist.<br />

Danach kannst du von mir aus abhauen –“<br />

Onkel Vernon wurde plötzlich von einer merkwürdigen Kraft erfasst<br />

<strong>und</strong> landete in einem weiten Bogen im Wasser seines Swimming-Pools.<br />

Tante Petunia kreischte <strong>auf</strong>, Dudley verschluckte sich an seinen<br />

Wüstchen, die noch nasse Nachbarin von vorhin murmelte eifrig etwas<br />

von herumliegenden Ästen, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> sah sich nun Moody gegenüber,<br />

der eine Handbreit neben der noch immer geschockten Tante Petunia<br />

stand <strong>und</strong> offensichtlich ihrem Gatten einen ordentlichen Stoß gegen<br />

hatte.<br />

„Komm mit“, knurrte er leise. „Wir dürfen nicht mehr Zeit verlieren.<br />

Meine Güte, wenn Todesser hinter uns her wären, könnten Sie uns<br />

schon längst beobachten. Folge mir.“<br />

Er stapfte mit schweren Schritten, <strong>das</strong> lasche Gras unter seinen<br />

Füßen eindrückend (eine der Nachbarinnen stieß einen kleinen spitzen<br />

Schrei aus <strong>und</strong> wurde ohnmächtig) voraus zu dem Rest des Ordens, der,<br />

immer noch nur sichtbar für <strong>Harry</strong>, in der entfernten Gartenecke stand.<br />

Lupin, Tonks, Ron <strong>und</strong> Hermine hatten ihren Besen schon gepackt <strong>und</strong><br />

saßen rittlings über dem Stiel. Jemand hatte sein Gepäck gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

mittels desselben Gestells, <strong>das</strong> letztes Jahr schon bei seiner Abreise<br />

gute Zwecke geleistet hatte, an Lupins Besen befestigt. Tonks strahlte<br />

<strong>Harry</strong> an, dann fiel ihr Blick <strong>auf</strong> Lupin dicht neben sich, der ein wenig<br />

nervös wirkte, <strong>und</strong> seltsamerweise schienen ihre Augen bei seinem<br />

Anblick noch ein Stückchen mehr zu leuchten.<br />

<strong>Harry</strong> hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, weil ihm sein<br />

Feuerblitz in die Hand gedrückt wurde <strong>und</strong> Moody ihn kurz mit seinem<br />

Zauberstab antippte, wor<strong>auf</strong>hin ihn ein kaltes, kitzelndes Gefühl im<br />

Nacken erfasste. <strong>Harry</strong> wusste, <strong>das</strong>s der Desillusionszauber ihn nun<br />

auch unsichtbar gemacht hatte.<br />

„Auf geht’s!“ rief Moody leise, <strong>und</strong> unsichtbar wie lautlos stießen<br />

sich die sechs Zauberer <strong>und</strong> Hexen <strong>auf</strong> ihren Besen vom Boden ab,<br />

stiegen in die Luft <strong>und</strong> ließen den Ligusterweg mit seinem winzig<br />

wirkenden Garten hinter sich <strong>zur</strong>ück. <strong>Harry</strong> hörte noch Onkel Vernons<br />

von unsäglicher Wut zeugenden Schrei mit seinem Namen, <strong>und</strong> war<br />

froh, als sie so hoch gestiegen waren, <strong>das</strong>s selbst Little Whinging unter<br />

den <strong>auf</strong>ziehenden Wolkenfetzen verschwand.<br />

34


KAPITEL DREI<br />

Ein trostloser alter Ort<br />

Der Wind peitschte ins Gesicht, ließ seinen Umhang flattern <strong>und</strong><br />

drückte seinen Besen leicht <strong>zur</strong> Seite. Ein überwältigendes Gefühl von<br />

Leichtigkeit <strong>und</strong> Freude überkam ihn, als wäre er in den letzten<br />

anderthalb Monaten eingesperrt gewesen in beengende Trauer,<br />

Verzweiflung <strong>und</strong> Untätigkeit, welche vom berauschenden Gefühl des<br />

Fliegens weggefegt worden. Glücklich schaute <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die weit unter<br />

ihm vorbeiziehenden Städte, Felder <strong>und</strong> Flüsse.<br />

Die Ordensmitglieder flogen um ihn herum. Moody hinter ihm<br />

überwachte die Formation, Lupin führte sie weiter vorn an, <strong>und</strong> Tonks<br />

kreiselte um sie alle herum, um einen ungestörten Blick in jede Richtung<br />

zu haben. Ron <strong>und</strong> Hermine flogen direkt vor ihm einträchtig<br />

nebeneinander her. Ron hatte dabei ein seliges Lächeln im Gesicht <strong>und</strong><br />

schien den Flug genauso zu genießen wie <strong>Harry</strong>, Hermine dagegen<br />

machte einen recht deplazierten Eindruck. Sie klammerte sich an ihren<br />

Besenstil, <strong>und</strong> auch wenn sie ihr Fluggerät sicher unter Kontrolle hatte,<br />

so vermied sie nach Möglichkeit, allzu oft nach unten zu sehen, wo<br />

Autos wie Spielzeuge <strong>auf</strong> kleinen, grauen, Schlangen ähnelnden<br />

Straßen fuhren. Sie hatte sich <strong>auf</strong> Besen nie wohl gefühlt, war stets<br />

nervös gewesen, als sie zusammen Flugunterricht in ihrem ersten<br />

Hogwarts-Jahr belegt hatten, da ihr Bücher diesmal nicht ausreichend<br />

hatten helfen können, sich <strong>auf</strong> die Anforderungen des Fliegens<br />

vorzubereiten. Aber wie alle Herausforderungen hatte sie auch diese<br />

entschlossen angenommen <strong>und</strong> gemeistert. <strong>Harry</strong> konnte sie dafür nur<br />

bew<strong>und</strong>ern.<br />

Jetzt führte Lupin die Truppe wieder mal in eine völlig andere<br />

Richtung. Schon seit sie <strong>auf</strong>gebrochen waren, hatten sie immer wieder<br />

kurzzeitig ihren Kurs verlassen, um Haken zu schlagen <strong>und</strong> etwaige<br />

Verfolger abzuschütteln.<br />

35


Es kam <strong>Harry</strong> allerdings absurd vor, <strong>das</strong>s etwas Bedrohliches an<br />

diesem sonnigen, warmen Julitag <strong>auf</strong> ihn lauern sollte. Und bisher hatte<br />

es dafür auch keine Anzeichen gegeben. Warum sollten die Todesser<br />

genau jetzt angreifen? Sie wussten <strong>doc</strong>h nicht einmal, <strong>das</strong>s der Orden<br />

ihn heute hatte abholen wollen. Er war sich sicher, <strong>das</strong>s diese<br />

Information geheim gehalten worden war, <strong>und</strong> zwar vor allen Nicht-<br />

Ordensmitgliedern.<br />

Plötzlich tauchte vor ihnen ein riesiger, grauer Flickenteppich <strong>auf</strong><br />

aus verknäulten Straßen, wie hingewürfelt wirkenden Klötzchen, die<br />

Häuser darstellten <strong>und</strong> vereinzelten grünen Pünktchen, hinter denen<br />

<strong>Harry</strong> Parks vermutete.<br />

Bisher hatte er sich keine Gedanken gemacht, wohin sie eigentlich<br />

flogen. Das Wissen, den Ligusterweg endlich verlassen zu haben <strong>und</strong><br />

wieder bei seinen Fre<strong>und</strong>en sein zu können hatte ihn abgelenkt. Aber<br />

nun machte sein Herz einen Sprung <strong>und</strong> fühlte sich an, als seien<br />

Eisenstangen um es gelegt worden.<br />

London! Sie flogen zum Grimmauldplatz Nummer 12.<br />

Zum Haus seines Paten. <strong>Harry</strong> durchfuhr ein schmerzvoller Blitz<br />

voller Schock <strong>und</strong> Trauer. Seines Ex-Paten. Er wollte nicht dorthin, wo<br />

alles ihn an Sirius erinnerte, der Raum mit der Wandtapete seines<br />

Familienstammbaumes, wo er ihm einmal seine Verwandten gezeigt <strong>und</strong><br />

erklärt hatte, der große, höhlenartige Raum mit einer kaum wärmenden<br />

Feuerstelle, der als Küche diente <strong>und</strong> wo der Orden stets seine Treffen<br />

abhielt, sogar <strong>das</strong> alte Schlafzimmer, in dem Sirius seinen Hippogreif<br />

Seidenschnabel gehalten hatte, würde <strong>Harry</strong>s Gedanken nur <strong>auf</strong> den<br />

einzigen Menschen lenken, an den er derzeit überhaupt nicht denken<br />

wollte.<br />

Automatisch wollte er seinen Besen wenden, um woanders<br />

hinzufliegen, irgendwohin, nur nicht in dieses alte, düstere Haus,<br />

welches er so sehr mit Sirius verband …<br />

„<strong>Harry</strong>, was machst du da?“, rief Hermine <strong>und</strong> drehte sich <strong>auf</strong> ihrem<br />

Besen zu ihm um. „Wir sind bald da, ich glaube kaum, <strong>das</strong>s wir noch<br />

eine Finte fliegen!“<br />

Unschlüssig schaute <strong>Harry</strong> in <strong>das</strong> verw<strong>und</strong>erte Gesicht seiner<br />

Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> stellte sich ihre Frage selber, andererseits konnte sie, die<br />

ihr sein Verhalten seltsam vorkam, nicht wissen, wie er sich fühlte.<br />

Niemand konnte <strong>das</strong>. Deshalb konnte auch keiner nachvollziehen, <strong>das</strong>s<br />

er im keinen Preis in dieses Haus <strong>zur</strong>ückkehren würde.<br />

Er setzte schon an, um dies Hermine zu erklären, als er plötzlich<br />

eine kleine Bewegung ein Stück entfernt von ihnen sah. War noch<br />

jemand vom Orden in der Luft? Vielleicht, um sie abzuholen, immerhin<br />

hatten sie den nordwestlichen Teil von London erreicht, in dem sich <strong>das</strong><br />

Haus am Grimmauldplatz Nummer 12 befand. Mit geübtem Auge folgte<br />

36


er der Bewegung wie einem besonders flinken goldenen Schnatz <strong>und</strong><br />

wandte sich an Moody, der direkt hinter ihm flog.<br />

„Professor Moody –“ Zu spät fiel ihm ein, <strong>das</strong>s dieser nie den<br />

Posten eines Lehrers ausgeübt hatte, er überging den Fehler je<strong>doc</strong>h.<br />

„Dort vorn sind Zauberer in der Luft, aber ich kann sie nicht genau<br />

erkennen“, meinte <strong>Harry</strong> etwas ungewollt hastig. „Sicher sind es nur<br />

Ordensmitglieder –“ Er kam gar nicht weiter. Moody sauste <strong>auf</strong> seinem<br />

Besen vor zu Lupin, gab ihm ein Zeichen, <strong>und</strong> die ganze Formation kam<br />

augenblicklich zum Stehen. Offenbar hatten sie <strong>das</strong> Signal vorher<br />

ausgemacht, denn Tonks, Hermine <strong>und</strong> Ron hatten keine Probleme,<br />

Moodys Anweisung zu verstehen <strong>und</strong> stoppten ihr Fluggerät geschickt<br />

innerhalb weniger Sek<strong>und</strong>enbruchteile. <strong>Harry</strong> je<strong>doc</strong>h knallte mit voller<br />

Wucht <strong>auf</strong> Rons Besenschweif <strong>und</strong> stieß seinen Fre<strong>und</strong> fast hinunter.<br />

Sich die schmerzende Nase haltend schaute er vorwurfsvoll zu<br />

Moody, geflissentlich Hermines nur mühsam unterdrücktes nervöses<br />

Kichern ignorierend.<br />

„Das tut uns leid, <strong>Harry</strong>, wir haben vergessen, dir die Zeichen zu<br />

erklären“, meinte Lupin mit einem entschuldigenden <strong>und</strong> besorgten Blick.<br />

„Ist dir was passiert?“<br />

<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf, weiterhin damit beschäftigt, sich <strong>das</strong><br />

Blut von der Nase zu wischen. Dann kamen ihm die unbekannten Flieger<br />

wieder in den Sinn. Er schaute fragend zu Moody.<br />

Der schüttelte den Kopf, wie um seine ungestellte Frage zu<br />

beantworten. „Das sind keine Ordensmitglieder“, knurrte er bissig. „Wir<br />

hatten ausdrücklich ausgemacht, <strong>das</strong>s niemand von uns um <strong>das</strong><br />

Hauptquartier in der Luft ist, um eben solche Zweifelsfälle ausschließen<br />

zu können.“<br />

„Todesser?“ flüsterte <strong>Harry</strong> entsetzt <strong>und</strong> fand seine Befürchtungen<br />

in den angsterfüllten Augen Ron <strong>und</strong> Hermines bestätigt.<br />

„Aber wie kann <strong>das</strong> sein? Ich dachte, <strong>das</strong> Haus ist un<strong>auf</strong>findbar<br />

gemacht worden <strong>und</strong> außerdem mit dem Fidelius-Zauber belegt<br />

worden!“, sprudelte er hervor. „Voldemort kann es unmöglich gef<strong>und</strong>en<br />

haben!“<br />

„Du vergisst, <strong>das</strong>s Sirius` Kusine auch unter den Todessern ist“,<br />

meinte Lupin düster. „Sie kann wie jeder Uneingeweihte <strong>das</strong> Haus nicht<br />

sehen oder gar betreten, aber sie weiß natürlich, wo ihre Tante gelebt<br />

hat … Sie kennt die Straße <strong>und</strong> die Adresse. Nur kann kein Todesser<br />

dorthin gelangen. Und deswegen bewachen sie die Umgebung – denn<br />

sie wissen, wo unser Hauptquartier ist.“<br />

„Woher?“, fragte <strong>Harry</strong>, ein ungutes Gefühl im Magen. Was, wenn<br />

jemand sie verraten hatte? Er wollte sich nicht vorstellen, niemandem<br />

aus dem Orden mehr trauen zu können. Waren dessen Mitglieder <strong>doc</strong>h<br />

die einzigen Menschen, mit denen er offen über Voldemort reden konnte.<br />

37


„Nein, keiner von uns ist zu den Todessern übergel<strong>auf</strong>en, falls du<br />

<strong>das</strong> befürchtest“, antwortete Moody ernst. „Aber es bedarf keinen großen<br />

Verstandes, um am Grimmauldplatz unser Hauptquartier zu vermuten.<br />

Schließlich ist es Sirius` Zuhause gewesen <strong>und</strong> der einzige Ort, wo er<br />

sicher war. Da er ein zumindest unter Todesser bekanntes<br />

Ordensmitglied war, konnten sogar die hirnlosesten unter Voldemorts<br />

Anhängern dahinter kommen.“<br />

Sie verharrten immer noch unbewegt in der Luft. Keiner sprach<br />

mehr, alle beobachteten die Gestalten <strong>auf</strong> Besen, welche über dem<br />

Ligusterweg kreiselten.<br />

„Sie können uns nicht sehen“, erklärte Moody. „Wir werden deshalb<br />

an ihnen vorbeifliegen <strong>und</strong> ein paar h<strong>und</strong>ert Meter vom Haus entfernt<br />

landen. Den Rest l<strong>auf</strong>en wir.“<br />

<strong>Harry</strong> kam <strong>das</strong> dumm vor. Immerhin befähigte ihn die Brille, die<br />

Ron ihm gegeben hatte, auch Unsichtbare zu sehen. Wieso sollten die<br />

Todesser nicht ebenfalls solche haben?<br />

Moody hatte ihm während seiner Gedankenschweifungen ruhig in<br />

die Augen gesehen <strong>und</strong> flüsterte:<br />

„Niemand außer uns hat solche Brillen. Dumbledore hat sie selbst<br />

erf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> dafür gesorgt, <strong>das</strong>s die einzigen vorhandenen Exemplare<br />

stets im Hauptquartier verwahrt wurden. Es würde mich w<strong>und</strong>ern, wenn<br />

Todesser dar<strong>auf</strong> Zugriff hätten. Nun alle mir nach <strong>und</strong> vor allem – macht<br />

keinen Mucks!“<br />

Sich selbst schimpfend lehnte <strong>Harry</strong> sich sacht <strong>auf</strong> seinem Besen<br />

vor, um ihn in Bewegung zu setzen. Natürlich! Wie konnte er <strong>das</strong><br />

vergessen haben. Ein paar Wochen unter Muggeln hatten ihm wieder die<br />

selige Illusion gegeben, <strong>das</strong>s seine Gedanken nur ihm allein gehörten.<br />

Aber unter Zauberern war es nicht unüblich, seine Gegenüber mittels<br />

Legilimentik zu überprüfen. Wieso hatte er auch nie Okklumentik gelernt,<br />

um sich dagegen zu schützen! Nicht <strong>das</strong> erste Mal in seinem Leben<br />

wünschte er sich ernsthaft, mehr Anstrengung in Snapes Unterricht<br />

gezeigt zu haben.<br />

Jetzt hatte er aber keine Zeit, über seine kümmerlichen<br />

Okklumentik-Fähigkeiten nachzudenken, sondern musste sich sehr<br />

konzentrieren, die Flugbahn zu halten <strong>und</strong> dabei kein Geräusch zu<br />

machen. Selbst ihm als talentiertem <strong>und</strong> geübtem Flieger fiel <strong>das</strong><br />

schwer, umso erstaunlicher, <strong>das</strong>s Ron <strong>und</strong> selbst Hermine sich ebenfalls<br />

gut schlugen. Eng nebeneinander herfliegend umr<strong>und</strong>eten sie die<br />

Todesser in einem weiten Bogen. <strong>Harry</strong> konnte nicht erkennen, wer die<br />

beiden waren, denn sie trugen lange, weite Umhänge <strong>und</strong> hatten die<br />

Kapuzen über <strong>das</strong> Gesicht gezogen.<br />

38


„Avery <strong>und</strong> Crabbe“, hörte er Moody dicht neben sich flüstern.<br />

Anscheinend hatte er mittels seines magischen Auges durch die<br />

Umhänge hindurch gesehen.<br />

Die Tatsache, <strong>das</strong>s nur der Orden im Besitz von<br />

Desillusionszaubern umgehenden Brillen war, bestätigte sich, als sie die<br />

Todesser ohne Probleme <strong>und</strong> ohne gesehen worden zu sein hinter sich<br />

gelassen hatten. Schnell steuerten sie <strong>auf</strong> einen verlassenen, dreckigen<br />

Hinterhof zu <strong>und</strong> landeten im Schatten eines kümmerlichen kleinen<br />

Baumes, dem die Hitze schon sehr zu schaffen gemacht hatte.<br />

<strong>Harry</strong> wischte sich den Schweiß von der Stirn <strong>und</strong> schaute<br />

erschöpft zu Hermine <strong>und</strong> Ron. Auch die beiden machten den Anschein,<br />

als hätten sie nun genug von Begegnungen mit Todessern <strong>und</strong> folgten<br />

erleichtert Lupin, Moody <strong>und</strong> Tonks, der Moody vorsichtshalber den<br />

Besen aus der Hand genommen hatte. Den nicht ausbleibenden<br />

empörten Blick hatte er unnachgiebig ignoriert.<br />

<strong>Harry</strong>s Gepäck mittels eines Schwebezaubers vor sich hertragend<br />

schlichen sie zum Grimmauldplatz. Die trostlose Straße mit den<br />

heruntergekommen Häusern <strong>und</strong> allerlei herumliegendem Müll machte<br />

auch an einem sonnigen Julitag keinen einladenden Eindruck. Knarrend<br />

öffnete sich die Tür von Nummer 11, <strong>und</strong> ein alter Mann trat schlurfend<br />

aus dem Dunkel im Inneren, eine Zeitung in der einen <strong>und</strong> einen kleinen<br />

H<strong>und</strong> an der anderen Hand. Gemächlich ging er am Nachbarhaus<br />

vorbei, dessen verfallene Treppenflucht, eingeschlagene Fenster <strong>und</strong><br />

höchst eigenwilligen Türklopfer in Form einer silbernen Schlange er nicht<br />

zu bemerken schien. Tatsächlich wusste <strong>Harry</strong>, <strong>das</strong>s Muggel den<br />

ehemaligen Wohnsitz der Familie Black nicht in der Lage waren zu<br />

sehen. Nur ihm <strong>und</strong> den anderen Zauberern <strong>und</strong> Hexen, die eingeweiht<br />

waren in den Fideliuszauber, bot sich dessen Anblick. Auch wenn er im<br />

Moment gerne dar<strong>auf</strong> verzichten würde.<br />

Doch angesichts der drohenden Gefahr der Todesser, welche<br />

immer noch am Himmel kreiselten wie zwei hässliche, große Raben,<br />

unterdrückte er seinen Unwillen <strong>und</strong> folgte Moody durch die große<br />

Eingangstür in den Grimmauldplatz Nummer 12.<br />

Er schauderte beim Anblick des langen, engen Korridors, der ihm<br />

nie düsterer vorgekommen war als jetzt. Zwar hatten sich vor einem Jahr<br />

hier noch deutlich mehr Spinnenweben bef<strong>und</strong>en, welche nun vermutlich<br />

von Mrs. Weasley ab <strong>und</strong> zu beseitigt wurden. Auch die an vielen Stellen<br />

halbwegs geschickt reparierte Tapete, die nun ein kompliziertes blaugrünes<br />

Muster zeigte, verbesserte eigentlich den Eindruck, <strong>doc</strong>h die mit<br />

etlichen kleinen Schlangen verzierten Gaslampen <strong>und</strong> der große,<br />

überladen wirkende Kronleuchter mit angel<strong>auf</strong>ener Silberfassung ließen<br />

39


nie vergessen, <strong>das</strong>s hier einst eine den dunklen Künsten <strong>und</strong> Voldemorts<br />

Ideen zugeneigte alte Zaubererfamilie gelebt hatte.<br />

Und vor allem hatte <strong>Harry</strong> vor einem Jahr dieses Haus noch nicht<br />

mit der bedrückenden Vorstellung betreten, <strong>das</strong>s hier der Tod seines<br />

Paten den Anfang genommen hatte.<br />

Nachdem Moody sie alle vom Desillusionszauber befreit hatte,<br />

nahm <strong>Harry</strong> seine Brille ab, erleichtert, <strong>das</strong>s er nur noch eine tragen<br />

musste.<br />

Tief <strong>auf</strong>atmend stellte Lupin hinter nun ihm seinen Besen in eine<br />

Ecke <strong>und</strong> lächelte <strong>Harry</strong> an.<br />

„Vorhin war ja nicht viel Zeit für eine Begrüßung“, meinte er <strong>und</strong><br />

legte <strong>Harry</strong> die Hand <strong>auf</strong> die Schulter.<br />

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er etwas unsicher, als <strong>Harry</strong> nicht<br />

antwortete, sondern immer noch abwesend in die dunklen Ecken des<br />

Flurs starrte. Dann zuckte dieser zusammen <strong>und</strong> zwang sich zu lächeln.<br />

„Es ist schon in Ordnung, es war nur ein anstrengender Tag <strong>und</strong><br />

dieses Haus – “ Unbehaglich sah er sich um.<br />

„Es ist kein angenehmer Ort, niemand, der es nicht muss, würde<br />

hier wohnen“, stimmte Lupin zu <strong>und</strong> erinnerte <strong>Harry</strong> damit unabsichtlich<br />

daran, <strong>das</strong>s er selbst kein anderes Zuhause hatte. Sofort ging es ihm<br />

etwas besser. Er war nicht der einzige, dem der Aufenthalt hier zu<br />

schaffen machte.<br />

„Vielleicht wollt ihr <strong>Harry</strong>s Gepäck nach oben schaffen?“, schlug<br />

Lupin vor <strong>und</strong> wandte sich dem Ende des Flurs zu, wo ein paar<br />

Treppenstufen zu dem großen Raum führten, der als Küche <strong>und</strong><br />

Versammlungsort des Ordens diente.<br />

„In einer halben St<strong>und</strong>e ist unser Treffen beendet, erst danach, so<br />

fürchte ich, wird es Abendessen geben. Ihr müsste euch also noch ein<br />

bisschen gedulden.“<br />

<strong>Harry</strong> war es recht, er hatte sowieso keinen Hunger. Ron dagegen<br />

schien diese Nachricht nicht gut <strong>auf</strong>zunehmen, ein Stirnrunzeln wurde<br />

von einem lauten Magenknurren begleitet. Hermine verdrehte die Augen.<br />

„Wie kannst du schon wieder Hunger haben?“, fragte sie<br />

resignierend. „Wir haben <strong>doc</strong>h was für den Flug mitgenommen gehabt!“<br />

Als <strong>Harry</strong> erstaunt die Augenbrauen hob erklärte sie schnell:<br />

„Wir sind hier um 7 los, um einen gewaltigen Umweg zu fliegen. Du<br />

kennst ja Moody. Und wir dachten, du hättest bei deinem Onkel <strong>und</strong><br />

deiner Tante Mittag gegessen.“<br />

<strong>Harry</strong> nickte beipflichtend, obwohl <strong>das</strong> nicht stimmte.<br />

Zufrieden wandte sich Hermine an Ron.<br />

„Dann wirst du es ja auch aushalten“, meinte sie schnippisch <strong>und</strong><br />

schnappte sich <strong>Harry</strong>s Besen <strong>und</strong> Hedwigs Käfig. Mit je einem Koffer in<br />

der Hand folgten ihr <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> der noch murrende Ron die Treppe<br />

40


hin<strong>auf</strong>. Die wenig dekorativen geschrumpften Elfenköpfe, die einst die<br />

Wand geschmückt hatten, waren verschw<strong>und</strong>en, stattdessen zierten<br />

helle Gemälde von Wiesen, Wäldern, Weihern <strong>und</strong> Blumen die Wand.<br />

Zwar waren sie weder von talentierter Hand gemalt noch bewiesen sie<br />

Geschmack, aber zumindest gaben sie dem düsteren Treppengang<br />

einen fre<strong>und</strong>licheren Anstrich.<br />

„Das war Mrs. Weasley“, zeigte Hermine <strong>auf</strong> die Bilder <strong>und</strong><br />

bestätigte <strong>Harry</strong>s Vermutung. Er nickte beiläufig <strong>und</strong> sah einem großen<br />

Feldhasen zu, der sich gerade glücklich über ein sommergrünes<br />

Mohrrübenfeld hermachte. Hermine sagte nichts mehr, sondern<br />

konzentrierte sich dar<strong>auf</strong>, den Eulenkäfig vorbei am ersten<br />

Treppenabsatz in den zweiten Stock zu tragen. Mit leerem Blick streifte<br />

<strong>Harry</strong> die erste Tür, hinter der sich der große Salon mit dem<br />

Familienstammbaum der Blacks befand. Schnell wandte er sich ab <strong>und</strong><br />

lief hinter seinen Fre<strong>und</strong>en her in <strong>das</strong> Zimmer im zweiten Stock, wo er<br />

<strong>und</strong> Ron schon früher geschlafen hatten. Hermine packte den Türknopf,<br />

der wie viele andere im Haus eine Schlangenform hatte, <strong>und</strong> stieß die<br />

knarrende Tür offen. Nachdem sie <strong>Harry</strong>s Käfig <strong>und</strong> seinen Besen in<br />

einer der dunklen Ecken des kleinen Zimmers mit der hohen Decke<br />

verstaut hatten <strong>und</strong> seine Koffer <strong>auf</strong> <strong>das</strong> noch leere schmale Bett<br />

gewuchtet hatten, blickten sie sich schweigend an. Keiner schien <strong>das</strong><br />

erste Wort ergreifen zu wollen.<br />

Hermine begann deswegen, etwas angespannt, beschwingt in<br />

Richtung <strong>Harry</strong> zu fragen:<br />

„Waren deine Ferien so schrecklich wie sonst auch, oder hat sich<br />

dein Cousin inzwischen gebessert?“<br />

Ron starrte sie an, als wäre sie ein dreibeiniger Hippogreif. Seine<br />

Miene ließ <strong>Harry</strong>s Laune wieder steigen, unwillkürlich musste er grinsen.<br />

„Es geht um die Prophezeiung, richtig?“ Zwar hatte er die beiden<br />

bereits im Hogwarts-Zug in deren Wortlaut eingeweiht, aber nur zwei<br />

Minuten später waren sie in London angekommen <strong>und</strong> mussten <strong>das</strong><br />

Gespräch abbrechen.<br />

Hermine nickte.<br />

„Nun ja, im Moment kann ich ja nicht viel machen“, spielte <strong>Harry</strong><br />

die Sache herunter. Eigentlich hatte er keine Lust, über die<br />

Prophezeiung zu reden <strong>und</strong> über die Tatsache, <strong>das</strong>s er vielleicht zum<br />

Mörder werden würde.<br />

„Aber du hast <strong>doc</strong>h in den Ferien darüber nachgedacht?“, hakte<br />

Hermine nach. „Weißt du, ich habe mir Gedanken gemacht <strong>und</strong><br />

herausgef<strong>und</strong>en, <strong>das</strong>s man sie <strong>auf</strong> verschiedene Weise interpretieren<br />

kann. Es könnte sowohl bedeuten, <strong>das</strong>s Voldemort oder du einander<br />

töten müsst, aber eine andere Auslegung würde besagen, <strong>das</strong>s keiner<br />

von euch leben kann. Mir ist auch noch eingefallen, <strong>das</strong>s man <strong>das</strong> Wort<br />

„überleben“ verstehen könnte als –“<br />

41


„Lass ihn <strong>doc</strong>h mal Luft holen“, unterbrach Ron sie <strong>und</strong> verdrehte<br />

die Augen.<br />

Aber <strong>Harry</strong> war <strong>auf</strong> einmal sehr kalt geworden.<br />

„Was meinst du mit: „<strong>das</strong>s keiner von euch leben kann“?“, fragte er<br />

Ron ignorierend, <strong>und</strong> starrte Hermine an.<br />

Sie holte tief Luft <strong>und</strong> begann zögernd, ihre Ergebnisse zu<br />

erklären.<br />

„Nun, ihr wisst ja, <strong>das</strong>s die Prophezeiung besagt, <strong>das</strong>s „keiner<br />

leben kann, während der andere überlebt“. Für mich könnte es so<br />

klingen, <strong>das</strong>s weder <strong>Harry</strong> noch Voldemort leben können, solange der<br />

andere es ebenfalls tut. Was dazu führen könnte, <strong>das</strong>s ihr beide – äh,<br />

sterben müsst“, meinte sie mit zitternder Stimme <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> an wie<br />

einen Todgeweihten.<br />

Ron prustete los. Hermine fuhr herum <strong>und</strong> funkelte ihn wütend an.<br />

„Was ist so witzig an der Vorstellung, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> sterben könnte?“,<br />

fauchte sie.<br />

Ron grinste immer noch.<br />

„Dass du irgendeinen Fehler gemacht hast, Hermine. So wie ich<br />

<strong>das</strong> sehe, sitzt <strong>Harry</strong> uns noch putzmunter gegenüber, <strong>und</strong> Voldemort<br />

wird sicher auch noch am Leben sein, so einfach werden wir ihn sicher<br />

nicht los.“<br />

„Ron hat Recht, Hermine“, mischte sich <strong>Harry</strong> ein. „Voldemort <strong>und</strong><br />

ich haben es geschafft, fast 16 Jahre lang zusammen <strong>auf</strong> dieser Welt zu<br />

verbringen, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s, obwohl er es sich zu einer seiner Lebens<strong>auf</strong>gaben<br />

gemacht hat, mich zu ermorden. Die Prophezeiung sagt nichts anderes<br />

als <strong>das</strong>s einer von uns sterben muss. Abgesehen davon ist es<br />

Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, denn Dumbledore gibt nicht<br />

viel <strong>auf</strong> den Wahrheitsgehalt von Vorhersagen. Er meint, sie werden nur<br />

wahr, wenn man selbst nach ihren Vorgaben handelt.“<br />

Ron sah beeindruckt aus, Hermine je<strong>doc</strong>h schien in altbekannter<br />

Verzweiflung mit sich zu ringen.<br />

„Ich habe über diesen Worten immer <strong>und</strong> immer wieder gesessen,<br />

<strong>und</strong> alle möglichen Interpretationen bedacht. Die Sätze scheinen mir alle<br />

zweideutig, ohne eine klare Information vermitteln zu können. Und –“<br />

Ron unterbrach sie.<br />

„Hermine, du hast <strong>Harry</strong> <strong>doc</strong>h genauso gehört wie ich. Wir alle<br />

schätzen deine Bemühungen, st<strong>und</strong>enlang über drei Sätzen gebrütet zu<br />

haben, die Dumbledore mit einem Wort abtut. Aber ehrlich –“ Er grinste<br />

<strong>Harry</strong> an. „In Sachen Wahrsagen dachte ich nicht, <strong>das</strong>s ausgerechnet du<br />

unsere Expertin bist.“<br />

„Ron, hör <strong>auf</strong> damit!“, kreischte Hermine <strong>auf</strong>gebracht. „Als ob<br />

Trelawneys Gefasel irgendetwas mit echten Prophezeiungen zu tun<br />

hätte! Aber <strong>das</strong> heißt noch lange nicht, <strong>das</strong>s es sie nicht gibt! Schon im<br />

alten Ägypten –“<br />

42


<strong>Harry</strong> fiel ein, <strong>das</strong>s er den beiden noch nicht erzählt hatte, wer die<br />

Prophezeiung gemacht hatte. Aber um Hermines Würde zu bewahren,<br />

unterließ er es.<br />

„Bitte nicht auch noch eine Geschichte der Zauberei-St<strong>und</strong>e“,<br />

stöhnte er zwischen <strong>das</strong> Gekabbel der beiden. Er hatte Kopfschmerzen,<br />

<strong>und</strong> diese vertrugen sich mit düsteren Gedanken über mysteriöse<br />

halbwahre Prophezeiungen nur ganz schlecht.<br />

„Damit ihr es wisst, ich stimme Dumbledore zu. Vorhersagen<br />

haben keine Macht über die Zukunft, es sei denn, man lässt sich von<br />

ihnen beeinflussen. Was, glaubt ihr, ändert die Prophezeiung für mich?<br />

Ich muss Voldemort stoppen, bevor er mich umbringt? Denkt ihr, <strong>das</strong><br />

wäre nicht so gewesen, seit ich 15 Monate alt war? Und damals haben<br />

meine Eltern mir als Gute-Nacht-Geschichte sicher nicht eine alte<br />

Prophezeiung vorgelesen.“<br />

„Genau <strong>das</strong> meine ich, <strong>Harry</strong>“, konterte Hermine. „Ob du von ihr<br />

weißt oder nicht, sie geht in Erfüllung.“<br />

„Ich hätte nie gedacht, <strong>das</strong>s ausgerechnet du einmal zu einem<br />

Wahrsage-Fan wirst“, empörte sich Ron. „Auf einmal sind irgendwelche<br />

nebulösen Tagträume wichtig. Vor zwei Jahren noch hast du gelacht, als<br />

Trelawney <strong>Harry</strong> den Grimm weissagt hat.“<br />

„Weil es Blödsinn war“, schnappte Hermine, die mittlerweile ein<br />

ziemlich Onkel-Vernon-artiges Rot angenommen hatte.<br />

„Und wer ist <strong>Harry</strong> kurz danach über den Weg gel<strong>auf</strong>en?“, knurrte<br />

Ron. „Ein großer, schwarzer H<strong>und</strong>, der ihm fast den Tod gebracht hat!“<br />

„Ja, aber falls du es vergessen hast, die Gefahr ging eher von<br />

deiner Ratte aus“, brüllte Hermine nun <strong>und</strong> erhob sich.<br />

„Soll <strong>das</strong> heißen, ich bin Schuld, weil du kein Wahrsagen<br />

beherrschst?!“, stellte Ron sich Hermine gegenüber.<br />

<strong>Harry</strong> versuchte, einzugreifen <strong>und</strong> die beiden zu beruhigen, aber<br />

Hermine wischte ihn mit einem Schlag ihres Arms beiseite.<br />

„Was bitte schön, hat <strong>Harry</strong>s Schicksal mit meinen<br />

Wahrsagefähigkeiten zu tun?“<br />

„Dass du es nicht verw<strong>und</strong>en hast, einmal die Schlechteste in<br />

etwas zu sein, <strong>und</strong> nun unter Beweis stellen musst, <strong>das</strong>s du <strong>doc</strong>h<br />

Prophezeiungen lesen kannst!“<br />

„Wenigstens erfinde ich keine Vorhersagen für meine<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben!“<br />

<strong>Harry</strong> erhob sich <strong>und</strong> bewegte ich vorsichtig in Richtung Ausgang.<br />

Sollten Ron <strong>und</strong> Hermine <strong>doc</strong>h ihren ewigen Streit alleine fortführen.<br />

Sacht zog er die Tür <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schlüpfte <strong>auf</strong> den Flur hinaus. Während er<br />

langsam nach unten ging, hörte er immer noch <strong>das</strong> Gekeife seiner<br />

beiden Fre<strong>und</strong>e.<br />

43


„Aber du musst ja unbedingt immer Recht haben. Wie damals, als<br />

du nicht an dich halten konntest vor Freude, weil es du warst, die den<br />

Gang zum Stein der Weisen entdeckt hast, <strong>und</strong> –“<br />

„Heute bedauere ich <strong>das</strong> zutiefst, denn ich hätte sonst die<br />

einmalige Chance gehabt, nie wieder etwas mit dir zu tun zu haben –“<br />

Kopfschüttelnd entfernte sich <strong>Harry</strong>. Dass Ron <strong>und</strong> Hermine sich<br />

gerne zofften, war nichts Neues, aber so heftig hatte er es noch nicht<br />

erlebt. Vielleicht machte ihnen die angespannte Situation im Haus <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> ständige Bewusstsein der Gefahr durch Todesser zu schaffen, oder<br />

sie kamen einfach nicht damit <strong>zur</strong>echt, zu lange ohne Ablenkung<br />

miteinander im selben Haus zu wohnen.<br />

Ohne es zu merken, war er wieder in die Eingangshalle getreten.<br />

Gelangweilt schlenderte er in Richtung der Küche <strong>und</strong> passierte<br />

<strong>auf</strong> der einen Seite <strong>das</strong> riesige Portrait von Walburga Black, der<br />

streitsüchtigen Mutter von Sirius, welche in ihrem Rahmen hinter einem<br />

schwarzen Vorhang vor sich hinmurmelte. Schnell trat er ein paar<br />

Schritte beiseite. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, waren einige<br />

hässliche <strong>und</strong> vor allem laute Bemerkungen über seine unreine Herkunft.<br />

Zudem hatte er keine Lust, womöglich Walburga über den Tod Sirius`<br />

<strong>auf</strong>klären zu müssen, er hatte keine Ahnung, ob <strong>das</strong> ein Mitglied des<br />

Ordens bereits getan hatte.<br />

Missmutig trat er gegen den Trollbeinständer, welcher bedenklich<br />

hin- <strong>und</strong> herwackelte, ohne je<strong>doc</strong>h umzukippen. Ein wenig wünschte er<br />

sich, Tumult zu entfachen, um Ron <strong>und</strong> Hermine von ihrem idiotischen<br />

Gestreite abzubringen <strong>und</strong> die Ordensleute endlich aus ihrem<br />

Versammlungsraum zu holen; genauso sehr sehnte er sich aber nach<br />

Einsamkeit. Kurz überlegte er, in <strong>das</strong> Schlafzimmer zu gehen, wo Sirius<br />

Seidenschnabel gehalten hatte <strong>und</strong> nichts als Ruhe <strong>und</strong> Dunkelheit um<br />

sich zu wissen. Als er sich schon der Treppe zuwandte, lief er beinahe<br />

Mrs. Weasley in die Arme.<br />

„<strong>Harry</strong>! Wie ist es schön, dich zu sehen!“, rief sie für <strong>Harry</strong>s<br />

Geschmack ein wenig zu angestrengt fröhlich <strong>und</strong> nahm ihn in die Arme.<br />

„Schon gut“, verteidigte er sich <strong>und</strong> versuchte, sich aus der<br />

Umarmung un<strong>auf</strong>fällig zu lösen. „Danke, <strong>das</strong>s Sie <strong>und</strong> der Orden mich<br />

von den Dursleys geholt haben. Ich hätte es keine Sek<strong>und</strong>e mehr dort<br />

ausgehalten.“ Wie knapp sein Rausflog aus dem Ligusterweg 4<br />

tatsächlich gewesen war, erwähnte er vorsichtshalber nicht. Noch nicht<br />

einmal Ron <strong>und</strong> Hermine hatte er Gelegenheit gehabt, davon zu<br />

erzählen. Seltsamerweise beschlich ihn ein Gefühl von Ärger, als hätten<br />

ihn die beiden im Stich gelassen, indem sie sich alles um sich<br />

vergessend stritten.<br />

„Aber natürlich <strong>doc</strong>h. Du dachtest hoffentlich nicht, <strong>das</strong>s wir dich<br />

den ganzen Sommer dort lassen würden? Nachdem Arthur deine<br />

44


Verwandten vor zwei Jahren kennen gelernt hat, ist er davon überzeugt,<br />

<strong>das</strong>s dir der Aufenthalt dort nicht allzu gut tut. Nein, hier bist du besser<br />

ausgehoben. Aber <strong>das</strong> brauche ich dir wohl nicht zu sagen. Nun sieh zu,<br />

<strong>das</strong>s du Ron <strong>und</strong> Hermine erwischst, es gibt in zehn Minuten<br />

Abendessen.“<br />

Erst da fiel <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>, <strong>das</strong>s die Tür <strong>zur</strong> Küche <strong>auf</strong>gegangen war<br />

<strong>und</strong> die Ordensmitglieder einer nach dem anderen in der Eingangshalle<br />

<strong>auf</strong>tauchten. Er sah Professor McGonagall, seine Lehrerin für<br />

Verwandlung, Tonks, die ungeduldig <strong>auf</strong> jemanden zu warten schien, der<br />

sich dann als Lupin herausstellte, Kingsley Shacklebolt, Arthur <strong>und</strong> Bill<br />

Weasleys, die sich zumindest äußerlich nicht verändert zu haben<br />

schienen, seit er sie <strong>das</strong> letzte Mal gesehen hatte, <strong>und</strong> schließlich<br />

entdeckte er noch Arabella Figg <strong>und</strong> M<strong>und</strong>ungus Fletcher. Moody schien<br />

noch in der Küche zu sein. Als er sich ein weiteres Mal der Treppe<br />

zuwandte, um seine beiden Fre<strong>und</strong>e zu holen, sah er zu seiner<br />

Überraschung Fred <strong>und</strong> George Weasley aus dem<br />

Versammlungszimmer kommen. Entgegen ihres sonst so fröhlichen<br />

Auftretens wirkten sie durch irgendetwas bedrückt, als sie je<strong>doc</strong>h <strong>Harry</strong><br />

sahen, strahlten sie beide gleichzeitig <strong>und</strong> verschwanden augenblicklich<br />

vom Eingang der Küche.<br />

<strong>Harry</strong> hatte gerade Zeit, um zu verstehen, was geschehen war, da<br />

tauchten die Zwillinge mit einem lauten Knall neben ihm wieder <strong>auf</strong>.<br />

„Wie oft habe ich euch gesagt, <strong>das</strong>s ihr in der Eingangshalle nicht<br />

apparieren sollt!“, schimpfte Mrs Weasley <strong>und</strong> lief los, um Walburga<br />

Black <strong>zur</strong> Ruhe zu bringen, die, <strong>auf</strong>geschreckt von dem Krach,<br />

angefangen hatte zu keifen.<br />

„Halbblüter im Haus meiner Ahnen, oh welche Schande muss ich<br />

ertragen! Alle hat mein nichtsnutziger Sohn hineingelassen,<br />

Blutsverräter, Werwölfe <strong>und</strong> Schlammblüter. Wenn mein armer Mann<br />

<strong>das</strong> erfahren hätte … Wo ist diese Missgeburt, die es solchem<br />

Abschaum erlaubt hat, dieses ehrwürdige Haus zu missbrauchen? Ich<br />

habe ihn lange nicht mehr hier herumstolzieren sehen!“<br />

Bei diesen Worten wurde <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> Herz schwer. Sirius` Mutter<br />

wusste tatsächlich nichts über den Tod ihres Sohnes. Nicht, <strong>das</strong>s es sie<br />

schockiert hätte. Im Gegenteil, es war ihr gehässiges Gelache, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong><br />

als Antwort <strong>auf</strong> diese Information fürchtete. Er glaubte nicht, sich dann<br />

noch im Griff haben zu können.<br />

George wandte sich flüsternd an ihn, um Mrs Black nicht wieder zu<br />

erwecken, nachdem sie erneut hinter ihrem Vorhang verschw<strong>und</strong>en war.<br />

„Wir haben ihr noch nicht gesagt, was in der Mysteriumsabteilung<br />

passiert ist. Mum meint, die Freude solle ihr verwehrt bleiben“, als hätte<br />

er <strong>Harry</strong>s Gedanken gelesen (Hat er?, fragte sich <strong>Harry</strong> erschreckt <strong>und</strong><br />

nahm sich vor, womöglich <strong>das</strong> Thema Okklumentik noch einmal<br />

<strong>auf</strong>zugreifen. Dann schalt er sich einen Idioten, es war mehr als<br />

45


unwahrscheinlich, <strong>das</strong>s die Zwillinge Legilimentik beherrschten, welche<br />

eine sehr seltene Kunst war.)<br />

„Aber vergessen wir diese alte Schachtel. Was gibt’s Neues <strong>Harry</strong>,<br />

mal wieder eine nette Begegnung mit Dementoren gehabt? Oder waren<br />

es diesmal nur Drachen?“, fragte Fred grinsend.<br />

„Nein“, erwiderte <strong>Harry</strong>. „Aber wisst ihr, die Dursleys sind noch eine<br />

Ecke schlimmer als Drachen. Ihr hättet eure Freude mit Dudley gehabt,<br />

wärt ihr diesen Sommer auch gekommen.“<br />

„Wir hätten ihn unsere neuen Kollektion testen lassen können“,<br />

schlug Fred gespielt bedauernd vor. „’Fat and slim’, lässt jeden dick oder<br />

dünn aussehen, je nachdem, welches Pulver man trinkt. Stell dir vor,<br />

Dudley wäre vor den Spiegel getreten <strong>und</strong> hätte plötzlich 50 Kilo<br />

abgenommen!“<br />

Alle drei grinsten bei der Vorstellung.<br />

„Was habt ihr eigentlich bei der Versammlung verloren?“, wollte<br />

<strong>Harry</strong> dann wissen, während die Zwillinge begannen, einige Pergamente<br />

in Aktenmappen zu verstauen, die sie aus der Küche mitgebracht hatten.<br />

<strong>Harry</strong> konnte nur einen kurzen Blick <strong>auf</strong> sie erhaschen <strong>und</strong> etwas wie ein<br />

Gesprächsprotokoll dar<strong>auf</strong> erkennen, dann verschwanden die Blätter in<br />

der Tasche.<br />

„Wir sind jetzt offiziell Mitglieder des Ordens“, meinte Fred stolz<br />

<strong>und</strong> deutete viel sagend <strong>auf</strong> die Aktenmappen. „Mum war nicht gerade<br />

begeistert <strong>und</strong> wollte Dad überreden, uns den Zutritt zu verbieten, aber<br />

da wir nun volljährig sind, hat keiner der übrigen Mitglieder was dagegen<br />

gehabt, <strong>das</strong>s wir beitreten. Du weißt ja, <strong>das</strong>s wir im letzten Sommer<br />

schon einmal reinschnuppern konnten.“<br />

<strong>Harry</strong> meinte <strong>auf</strong>geregt: „Dann könnt ihr uns alles von den Treffen<br />

berichten!“ Endlich würde er erfahren, was der Orden zu besprechen<br />

hatte, wie es im Kampf gegen Voldemort voranging <strong>und</strong> was dessen<br />

Pläne waren.<br />

„Sorry, <strong>Harry</strong>“, meinte Fred nun bedauernd. „Wir durften nur unter<br />

der Bedingung teilnehmen, euch keine internen Informationen<br />

weiterzugeben. Ron hat schon gedroht, uns zu enterben, aber unsere<br />

Mum würde ausrasten, wenn wir euch mit in die Angelegenheiten<br />

reinziehen.“<br />

„Was heißt reinziehen?“, schrie <strong>Harry</strong> wütend <strong>und</strong> enttäuscht. Er<br />

war fest davon überzeugt gewesen, von den erwachsenen Mitgliedern<br />

endlich vollwertig behandelt zu werden. „Ich bin in meinem zweiten<br />

Lebensjahr in den Kampf gegen Voldemort hineingezogen wurden, ich<br />

habe ein Recht dar<strong>auf</strong>, zu erfahren, was vor sich geht!“<br />

„Ja, lass deinen Zorn nur erklingen, noch etwas lauter wäre nicht<br />

verachtenswert, möglicherweise haben es die Todesser über dem Haus<br />

noch nicht mitbekommen“, grinste Fred. „Unter den Umständen, <strong>das</strong>s du<br />

jedes Detail unserer Unterredung per Schallwellen an deine Umwelt<br />

46


weitergibst, ist es ja ganz gut, <strong>das</strong>s wir noch nicht erwähnt haben, <strong>das</strong>s<br />

es dieses Jahr einen neuen Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen<br />

Künste geben wird, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s wir wissen, wer es ist.“<br />

„Oder“, feixte George <strong>und</strong> stieß seinen Zwillingsbruder in die Seite,<br />

„<strong>das</strong>s Voldemort momentan im Ausland vermutet wird,<br />

wahrscheinlich in Mazedonien oder Andorra, um befre<strong>und</strong>ete schwarze<br />

Magier zu überreden, sich ihm anzuschließen.“<br />

„Geschweige denn Dumbledores Quidditch-Pläne für <strong>das</strong><br />

kommende Schuljahr, wonach es keine Hausmannschaften mehr geben<br />

soll, sondern gemixte Teams –“<br />

„Wenn wir dir <strong>das</strong> alles erzählen täten, dann würde uns der Orden<br />

rausschmeißen. Also lassen wir es lieber!“<br />

Die beiden nickten <strong>Harry</strong> noch einmal zu <strong>und</strong> verschwanden dann<br />

die Treppe hin<strong>auf</strong>.<br />

„Hey, was für ein neuer Lehrer?“, rief <strong>Harry</strong> ihnen leise hinterher<br />

<strong>und</strong> riss sich zusammen, als er Mrs Weasley neugierig in seine Richtung<br />

schauen sah. Er wollte den Zwillingen nachl<strong>auf</strong>en, aber diese waren<br />

wohl außerhalb der Hörweite von Mrs Black wieder disappariert,<br />

jedenfalls konnte <strong>Harry</strong> nichts mehr von ihnen sehen.<br />

Mit gemischten Gefühlen begab er sich in den zweiten Stock, um<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine zum Essen zu holen. Einerseits war er wütend <strong>auf</strong> den<br />

Orden, der ihn immer noch nicht als gleichwertiges Mitglied behandeln<br />

wollte, obwohl er über die Ferien zum Ergebnis gekommen war, <strong>das</strong>s<br />

den anderen nun gar nichts anderes mehr übrig blieb, nachdem <strong>Harry</strong> im<br />

Ministerium gegen Voldemort mitgekämpft hatte <strong>und</strong> auch von der<br />

Prophezeiung wusste. Aber anscheinend traute ihm niemand zu, mit der<br />

Situation fertig zu werden. Wenn es nach ihnen ging, sollte er behütet in<br />

die Schule gehen, Arbeiten schreiben <strong>und</strong> Quidditch spielen, als stünde<br />

die Zaubererwelt nicht vor einer großen Bedrohung.<br />

Dann ärgerte er sich auch ein wenig über <strong>das</strong> Verhalten der<br />

Zwillinge, die ihn nicht in interne Ordensgespräche einweihen wollten. Er<br />

hätte es an ihrer Stelle getan, hätte Ron, Hermine <strong>und</strong> die anderen<br />

Weasleys teilhaben lassen, um mit ihnen über die Vorgänge zu<br />

diskutieren. Andererseits verstand er Fred <strong>und</strong> George, würde er wirklich<br />

die Ordensmitgliedschaft <strong>auf</strong>s Spiel setzen, indem er sich über den<br />

Willen von Dumbledore, Moody <strong>und</strong> Co. hinwegsetzte? Er wusste es<br />

nicht. Und immerhin hatten die Zwillinge ihm gegen ihr Versprechen<br />

<strong>doc</strong>h einiges verraten, was der Orden beschlossen oder herausgef<strong>und</strong>en<br />

hatte.<br />

Sogleich spürte er bessere Laune, die sich durch seine Tage alte<br />

Frustration kämpfte, <strong>und</strong> war schon beinahe bei echter Zufriedenheit<br />

angelangt, als er die Tür zu seinem Schlafzimmer <strong>auf</strong>stoßen wollte.<br />

Je<strong>doc</strong>h wurde ihm die Klinke vorher aus der Hand gerissen, <strong>und</strong><br />

Hermine wollte schwungvoll durch die Tür treten.<br />

47


„Oh“, machte sie überrascht. „Wir wollte gerade runterkommen,<br />

müsste es nicht bald Abendessen geben?“<br />

„Wie, sagt bloß, ihr seid <strong>doc</strong>h noch fertig geworden mit Streiten?“,<br />

fragte <strong>Harry</strong> bissig. Er konnte Ron sehen, der immer noch <strong>auf</strong> dem Bett<br />

saß <strong>und</strong> offenbar noch keine Anstalten gemacht hatte, sich zu erheben.<br />

„Du hast absolut Recht, wir haben uns schrecklich benommen“,<br />

sagte Hermine kleinlaut. „Wie sinnlos, wegen solchen Kleinigkeiten<br />

aneinander zu geraten.“<br />

Ron wollte ihr offensichtlich widersprechen, blieb nach einem<br />

warnenden Blick von <strong>Harry</strong> aber mit vor Ärger dunklen Augen still.<br />

„Und wieso müsst ihr ständig <strong>auf</strong>einander rumhacken?“, seufzte<br />

<strong>Harry</strong>. „Hat Ron mal wieder Krummbein geärgert, oder willst du ihn nicht<br />

Verwandlung abschreiben lassen –“<br />

„Wir wissen auch nicht, warum. Vielleicht sind wir beide zu<br />

angespannt. Immer in diesem Haus eingesperrt zu sein, niemals an die<br />

frische Luft zu können <strong>und</strong> stets zuzuschauen, wie die Ordensmitglieder<br />

kommen <strong>und</strong> gehen, ohne je<strong>doc</strong>h etwas von ihren Diskussionen zu<br />

erfahren, geht an die Nerven“, meinte Hermine mit einer Spur<br />

Verzweiflung.<br />

„Oh, was <strong>das</strong> angeht, kann ich euch vermutlich helfen“, versuchte<br />

<strong>Harry</strong> die Stimmung <strong>auf</strong>zuheitern. Seine Wut <strong>auf</strong> die beiden hatte sich<br />

verflüchtigt. Wer wusste, wie er nach einigen Wochen an diesem<br />

trostlosen Ort reagieren würde. Wahrscheinlich wie ein zündbereiter<br />

Knallrümpfiger Kröter.<br />

Er gab den beiden weiter, was er von den Zwillingen gehört hatte.<br />

Hermine nahm wissbegierig jede kleine Information <strong>auf</strong>, Ron dagegen,<br />

der vergessen hatte, Hermine böse zu sein, grantelte nun wegen seinen<br />

Geschwistern.<br />

„Dir plaudern sie alles aus, <strong>und</strong> mich haben sie mit der Drohung<br />

weggeschickt, sie würden mein Vertrauensschülerabzeichen verzaubern,<br />

wenn ich sie noch einmal belästigen würde!“, empörte er sich.<br />

„Ron, sie haben mir nur Andeutungen gemacht, richtig gesagt<br />

haben sie auch nichts –“<br />

„Immerhin mehr als mir, <strong>und</strong> dabei bin ich ihr Bruder!“ Er wirkte<br />

allerdings besänftigt, weil wenigstens <strong>Harry</strong> ihn ins Vertrauen gezogen<br />

hatte.<br />

„Wer wohl der Neue in Verteidigung sein wird?“, plapperte Hermine<br />

in der Zwischenzeit <strong>auf</strong>geregt vor sich hin. „Moody wäre zwar Klasse,<br />

überlegt euch nur, was er alles über dem Kampf gegen Todesser weiß.<br />

Sein Doppelgänger kannte die Materie ja eher von der falschen Seite<br />

her. Aber ich fürchte, er wird im Orden gebraucht, immerhin ist er so<br />

etwas wie der Anführer, wenn Dumbledore nicht da ist. Lupin wäre<br />

ebenfalls einsame Spitze, aber nun, da jeder weiß, <strong>das</strong>s er ein Werwolf<br />

ist, würden die Eltern ihn nicht akzeptieren, besonders, da Werwölfe<br />

48


derzeit oft mit Voldemort in Verbindung gebracht werden. Genauso<br />

möglich wäre –“<br />

„Snape“, meinte <strong>Harry</strong> düster <strong>und</strong> sprach damit die Befürchtung<br />

aus, die ihn seit einigen Minuten quälte. Jeder wusste, <strong>das</strong>s der<br />

Verteidigungsposten Snapes insgeheimes Ziel war, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Letzte, was<br />

<strong>Harry</strong> sich wünschte, war, <strong>das</strong>s sein Lieblingsfach ihm auch noch<br />

verleidet werden würde.<br />

„Nein, nicht Snape“, meinte Hermine schnell. Als <strong>Harry</strong> sie fragend<br />

ansah, erklärte sie: „Ich habe ihn während der Ferien wegen des Trank<br />

der lebenden Toten gefragt, denn ich habe einfach nicht genügend Saft<br />

aus meiner Schlafbohne herauspressen können <strong>und</strong> dachte, er kenne<br />

womöglich eine effizientere Art, sie zu zerkleinern. Da meinte er, ich<br />

solle mich an <strong>das</strong> Buch halten, aber für <strong>das</strong> nächste Schuljahr habe er<br />

geplant, uns eine bessere Zubereitungsart für den Trank zu zeigen.“<br />

„Und er hat dir nicht den Kopf abgerissen?“, fragte Ron ungläubig.<br />

„Nein“, erwiderte Hermine leicht empört. „Er ist ein Lehrer <strong>und</strong><br />

muss antworten, wenn seine Schüler eine Frage haben!“<br />

„Hermine –“ warf <strong>Harry</strong> ein. „Seit wann benimmt Snape sich<br />

gegenüber Schülern, die nicht aus Slytherin kommen, wie ein normaler<br />

Lehrer?“<br />

„Na ja, wisst ihr, ich habe ihn so abgepasst, <strong>das</strong>s Dumbledore zwei<br />

Schritte neben ihm stand“, meinte sie freudestrahlend. „Da musste er<br />

einfach so tun, als würde er mich ernst nehmen.“<br />

„Snape also nicht“, murmelte <strong>Harry</strong>. „Wer könnte sonst<br />

Verteidigungs-Lehrer werden? Irgendjemand aus dem Orden?“<br />

„Unwahrscheinlich. Alle Mitglieder werden im Kampf gegen<br />

Voldemort gebraucht. Wir haben in den Wochen hier immer wieder<br />

heraushören können, <strong>das</strong>s ohnehin schon großer Personalmangel<br />

herrscht.“<br />

„Dann muss es folgerichtig ein Neuer sein“, stellte <strong>Harry</strong> fest. „Ich<br />

frage mich, ob er wieder vom Ministerium abgesegnet ist –“<br />

„Oder SIE“, warf Hermine ein <strong>und</strong> verzog ein wenig <strong>das</strong> Gesicht.<br />

„Fred <strong>und</strong> George sprachen aber von einem LEHRER, keiner<br />

LEHRERIN!“ Ron schien froh zu sein, Hermine einmal mit Recht<br />

widersprechen zu können.<br />

„Ist <strong>doc</strong>h egal, jetzt sollten wir erst einmal zum Essen. Dabei<br />

können du <strong>und</strong> Hermine eine hitzige Diskussion über den neuen Lehrer<br />

anfangen, vielleicht erbarmt sich einer der Mitglieder <strong>und</strong> sagt uns, wer<br />

es wird.“<br />

„Träum weiter“, knurrte Ron. „Ich befürchte ganz stark, Dad wendet<br />

seit neuestem eine Art von Okklumentik gegen mich an, wann immer ich<br />

ihn nach dem Orden fragen will, zumindest seitdem ich erwähnt habe,<br />

<strong>das</strong>s du mir von Legilimentik erzählt hast. Vermutlich glaubt er, ich würde<br />

versuchen, seine Gedanken zu lesen. Als ob <strong>das</strong> was bringen würde. Er<br />

49


ist manchmal so durcheinander wegen seiner vielen Arbeit, <strong>das</strong>s ich<br />

wohl Kryptologe sein müsste, um in seinen Gedanken etwas Sinnvolles<br />

zu finden.“<br />

„Fred, George!“, rief Molly Weasley, als schon zum wiederholten<br />

Male eine Ansammlung von Besteck durch die dämmrige Küche flog,<br />

den langen, abgenutzten Holztisch überquerte, wobei ein Messer ein<br />

Stückchen der geblümten Tischdecke mitnahm, <strong>und</strong> schließlich mit<br />

Unheil verkündendem Klirren einen Zentimeter neben Lupins Kopf an die<br />

Wand knallte. George hob entschuldigend die Hände <strong>und</strong> lief los, um<br />

Lupin zu helfen, die Messer <strong>und</strong> Gabeln wieder einzusammeln. Seine<br />

Mutter kam mit einem unmissverständlichen Gesicht <strong>auf</strong> ihn zu.<br />

„Was denkt ihr euch nur dabei! Das ist bereits <strong>das</strong> dritte Mal heute<br />

Abend, <strong>das</strong>s ihr eure Zauberkraft nicht unter Kontrolle habt! Wenn <strong>das</strong><br />

noch einmal passiert, verbiete ich euch, im Haus zu zaubern, ich weiß<br />

schon, wieso ich vor einem Jahr dafür gestimmt habe, <strong>das</strong> Verbot der<br />

Zauberei Minderjähriger <strong>auf</strong> 18 Jahre zu erhöhen, aber es wollte<br />

niemand <strong>auf</strong> mich hören. Ja, der Minister hat ja auch keine Kinder in<br />

diesem Alter, da muss er sich schließlich nur Gedanken machen über<br />

die zusätzlichen Galeonen, die eine Ausweitung des Verbots erfordern<br />

würde.“ Sie schnappte Fred die Messer aus der Hand <strong>und</strong> legte sie<br />

unnötig heftig <strong>auf</strong> den Tisch, von welchem sie anschließend mit einem<br />

kurzen Wink ihres Zauberstabes die Krümel wischte.<br />

„Sorry, mir muss der Zauberstab ausgerutscht sein“, flüsterte<br />

George leise genug zu Lupin, so<strong>das</strong>s ihn seine Mutter nicht hören<br />

konnte. „Du hast <strong>doc</strong>h nichts abgekommen, oder?“, wollte er besorgt<br />

wissen.<br />

Lupin schüttelte stumm den Kopf <strong>und</strong> machte ohnehin den<br />

Eindruck, als sei er mit den Gedanken in einer anderen Welt. Seit<br />

einigen Wochen schon zog er sich immer mehr <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> war ständig<br />

damit beschäftig, Aufträge für den Orden zu erledigen oder die<br />

beschafften Informationen auszuwerten. Er bewies zweifellos am besten<br />

von ihnen allen, wie sehr der Kampf gegen Voldemort zu einer<br />

erdrückenden Last werden konnte, von der niemand zu sagen wusste,<br />

wann sie eine Grenze überschreiten würde.<br />

„Du solltest dringend Urlaub machen“, startete George den<br />

halbherzigen Versuch eines Scherzes <strong>und</strong> begab sich nun ans andere<br />

Ende der Küche, wo <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine damit beschäftigt waren,<br />

einen Kartoffel<strong>auf</strong>l<strong>auf</strong> zuzubereiten, natürlich gänzlich ohne Zauberkraft.<br />

Ron fluchte laut, als er sich mit dem Messer in den Finger schnitt,<br />

wor<strong>auf</strong>hin eine etwas gestresst wirkende Tonks, die am Waschbecken<br />

nebenan Tomaten wusch, einen Heilzauber in seine Richtung schickte.<br />

Ihre Miene sagte aus, <strong>das</strong>s sie <strong>das</strong> nicht zum ersten Mal an diesem<br />

Abend tat.<br />

50


„Du darfst <strong>das</strong> Messer nicht von dir wegführen, sondern <strong>auf</strong> dich<br />

zu“, wies Hermine Ron ungeduldig an <strong>und</strong> nahm ihm zu<br />

Vorführungszwecken die Kartoffel aus der Hand. „In etwa so“, meinte sie<br />

<strong>und</strong> fabrizierte in sek<strong>und</strong>enschnelle einen erklecklichen H<strong>auf</strong>en Schale.<br />

„Wieso müssen wir alles <strong>auf</strong> Muggelart tun“, murrte Ron <strong>und</strong> sah<br />

neidisch zu Fred <strong>und</strong> George hinüber, die gerade mit Hilfe ihrer<br />

Zauberstäbe den Boden kehrten. „Ein Zauberspruch, <strong>und</strong> sie könnten<br />

uns die Hälfte der Arbeit abnehmen!“<br />

„Und uns dabei wahrscheinlich mit dem Kartoffelmesser töten“,<br />

grinste <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> machte einen waghalsigen Sprung, um dem wie<br />

verrückt herumrasenden Besen zu entkommen, der ihn zu Boden zu<br />

reißen drohte.<br />

„Außerdem“, fügte Hermine mit einem leicht überlegenen Ton an,<br />

„ist es auch für Zauberer wichtig, elementare Dinge des täglichen<br />

Lebens ohne Zauberstab schnell <strong>und</strong> effizient meistern zu können.<br />

Jedenfalls könnte ich mir nicht vorstellen, später mit einem Mann zu<br />

leben, der Dinge wie Kartoffeln schälen, Betten machen oder Knöpfe<br />

annähen nicht selbst beherrscht.“ Sie wandte sich zufrieden ihrem<br />

großen Eimer geschälter Kartoffeln zu <strong>und</strong> griff sich die Möhren.<br />

Ron schien mit dieser Meinung ganz <strong>und</strong> gar nicht einverstanden<br />

zu sein, packte aber wieder sein Messer, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> kam es in den<br />

nächsten Minuten so vor, als wolle er angestrengt beweisen, <strong>das</strong>s er<br />

<strong>doc</strong>h ganz gut im Kartoffelschälen war.<br />

„In Ordnung, ich übernehme <strong>das</strong> jetzt“, rief Mrs. Weasley <strong>und</strong> nahm<br />

<strong>Harry</strong> die Zwiebeln ab. „Vielleicht könnt ihr drei in der Zwischenzeit die<br />

Teller rausstellen, Ron, sie müssten in der zweiten Schublade von links<br />

unten sein … Hermine, die Gläser habe ich zuletzt im dritten Fach neben<br />

der Spüle gesehen, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong>, Mad-Eye hat vor einigen Tagen eine<br />

neue Ladung Butterbier aus der Winkelgasse mitgebracht … wo hat er<br />

<strong>das</strong> gleich hingestellt? Dort hinten im Vorratsschrank? Nein? Dann siehe<br />

bitte an der Kellertreppe nach, gleich die Tür hoch rechts den Gang<br />

entlang. Und Fred, hole <strong>doc</strong>h aus dem Schrank neue Abfalleimer, die<br />

alten sind voll, die kannst du gleich rausbringen, George. Remus,<br />

schaffe bitte die Pergamente von unserer heutigen Besprechung vom<br />

Tisch, Ginny verrenkt sich seit drei Minuten den Hals, um sie lesen zu<br />

können. Und wo wir gleich dabei sind, Ginny, kannst du bitte nachsehen,<br />

wo ich den Wischeimer gelassen habe? Und Tonks, dort hat Ron<br />

Kartoffelschalen fallen gelassen, aber ich muss jetzt den Aufl<strong>auf</strong><br />

zusammenschichten …“<br />

„So geht <strong>das</strong> seit Wochen“, stöhnte Ron leise zu <strong>Harry</strong>, während<br />

die beiden die Teller <strong>auf</strong> den Tisch stellen (sie mussten neu sein, denn<br />

es klebten noch Etiketten dr<strong>auf</strong>, die besagten: Unzerstörbar – fügen sich<br />

nach Zerbrechen selbst wieder zusammen <strong>und</strong> Nicht waschen –<br />

51


eingebauter Selbstreinigungszauber über Nacht). „Ständig verteilt sie<br />

Aufgaben, man möchte gar nicht meinen, <strong>das</strong>s ein Haus wie dieses so<br />

viele Arbeit bereitet … Ich glaube langsam, sie beschäftigt uns nur<br />

deswegen, damit wir nicht so oft nach der Tätigkeit des Ordens fragen.“<br />

<strong>Harry</strong> sah sich in der vollen Küche um <strong>und</strong> bezweifelte, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

Bewirten <strong>und</strong> Beherbergen von bestimmt anderthalb Dutzend zumindest<br />

zeitweise Gäste wenig Arbeit machte.<br />

„Immerhin unterstützt sie den Orden doppelt“, meinte er zu Ron.<br />

„Sie beteiligt sich an der Beschattung der Todesser <strong>und</strong> gleichzeitig hält<br />

sie mit euch <strong>das</strong> Haus in Stand. Kein W<strong>und</strong>er, <strong>das</strong>s sie immer unter<br />

Stress steht.“ Er bew<strong>und</strong>erte Mrs. Weasley dafür, wie selbstverständlich<br />

sie nicht nur ihre Familie, sondern auch den ganzen Orden quasi<br />

versorgte.<br />

„Nein, sicher nicht“, brummte Ron, der anscheinend so noch nicht<br />

über seine Mutter nachgedachte hatte.<br />

„Stell die Malfoys Eltern vor“, überlegte <strong>Harry</strong>. „Sie verbringen<br />

bestimmt den ganzen Tag in ihrem Herrensitz <strong>und</strong> warten dar<strong>auf</strong>, <strong>das</strong>s<br />

einer ihrer Todesserfre<strong>und</strong>e vorbeikommt <strong>und</strong> Nachricht von Voldemort<br />

bringt.“ Wie üblich ignorierte er Rons Zusammenzucken bei der<br />

Erwähnung des Namens des bösesten Zauberers aller Zeiten.<br />

„Ehrlich gesagt könnte ich mir meine Zeit besser damit vertreiben,<br />

als Freudensprünge zu machen, nur weil ich Voldemort Pläne ausführen<br />

darf. Ich für meinen Teil bin eher dafür, sie zu vereiteln.“<br />

„Wer redet hier von Vereiteln?“, fragte Tonks <strong>und</strong> klemmte sich<br />

zwischen Ron <strong>und</strong> <strong>Harry</strong>. „So schwierig kann es <strong>doc</strong>h nicht sein, ein paar<br />

Teller hinzustellen, oder?“, grinste sie die beiden an <strong>und</strong> ging nun <strong>das</strong><br />

Butterbier holen, da <strong>Harry</strong> keine Anstalten dazu gemacht hatte.<br />

Ein paar Minuten später saßen alle zu Tisch (der Aufl<strong>auf</strong> hatte sich<br />

per Handumdrehen selbst gekocht, nachdem Mrs. Weasley in einem<br />

dicken, gebrauchten Buch namens Kleine <strong>und</strong> Große Zauber für kleine<br />

<strong>und</strong> große Mahlzeiten einen Zauberspruch nachgeschlagen hatte) <strong>und</strong><br />

sch<strong>auf</strong>elten sich Berge von Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln <strong>und</strong><br />

Hackfleisch <strong>auf</strong> ihre Teller. Ron war eifrig dabei, seine erste Portion zu<br />

vernichten, kopfschüttelnd betrachtet von Hermine, welche gerade erst<br />

ihre erste Gabel nahm.<br />

„Ah, tut <strong>das</strong> gut“, seufzte Mr. Weasley zwischen zwei Bissen. Er<br />

war erst vor wenigen Augeblicken in die Küche gekommen, ins Haus<br />

gelassen von Tonks, die vor lauter Hilfsbereitschaft mal wieder den<br />

Trollfußständer umgestoßen hatte <strong>und</strong> damit Mrs. Black zu neuen<br />

Schimpftiraden eingeladen hatte. Inmitten von schmeichelnden<br />

Ausdrücken wie „Blutsverräter im Haus meiner Ahnen, welchen Anblick<br />

muss ich ertragen …“ war er freudestrahlend in die Küche geplatzt <strong>und</strong><br />

war seiner Frau in die Arme gefallen.<br />

52


„Wir haben ihn, wir haben ihn ertappt“, hatte er einige Male in jede<br />

Richtung gerufen, bis er <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine erblickt hatte, die vor<br />

Neugier keine Bewegung mehr getan hatten. Ron hätte beinahe die<br />

Aufl<strong>auf</strong>form fallen gelassen, nur ein vorwurfsvoll gemurmelter<br />

Schwebezauber Hermines hatte Mrs. Weasleys Werk vor einem<br />

unfreiwilligen Ausflug <strong>auf</strong> den Küchenboden bewahrt.<br />

„Oh“, hatte sich Mrs. Weasley dar<strong>auf</strong>hin überrascht <strong>auf</strong> einen Stuhl<br />

gesetzt. „Ich wusste nicht, <strong>das</strong>s ihr auch im Raum seid.“ Er hatte sich<br />

einen Teller <strong>und</strong> von Ron die Aufl<strong>auf</strong>form gepackt <strong>und</strong> füllte sich nun<br />

auch Essen <strong>auf</strong>.<br />

Nun wandte er sich nach dem ersten gestillten Hunger an <strong>Harry</strong>.<br />

„Hallo <strong>Harry</strong>, schön, dich auch endlich hier zu haben. Molly hat mich die<br />

letzten Tage gar nicht mehr losgelassen mit ihren Befürchtungen, wie<br />

wenig du bei den Muggeln zu Essen bekommst.“ Er zwinkerte <strong>Harry</strong> zu.<br />

„Wo wir schon beim Thema sind, du musste mir bei etwas wirklich<br />

Verzwicktem helfen. Ich bin vor einiger Zeit in einem Muggelhaushalt <strong>auf</strong><br />

<strong>das</strong> hier gestoßen –“ Er wühlte für ein paar Minuten in seiner Tasche <strong>und</strong><br />

beförderte eine CD <strong>auf</strong> den Tisch. „Mein Kollege <strong>und</strong> ich grübeln seit<br />

Tagen nach, womit wir es hiermit zu tun haben. Womöglich sind<br />

irgendwelche komplizierten Mechanismen damit verb<strong>und</strong>en, die diese<br />

Scheibe zum Leben erwecken, die Muggel haben ja einiger erstaunliche<br />

Dinge erf<strong>und</strong>en. Weißt du, was <strong>das</strong> ist?“, fragte er <strong>Harry</strong> nun<br />

erwartungsfroh.<br />

„Das ist eine CD“, sagte <strong>Harry</strong> schnell, als er Mrs. Weasleys<br />

unheilvollen Blick <strong>auf</strong> sich spürte. Die Vernarrtheit ihres Mannes in<br />

Muggelsachen stieß bei ihr <strong>auf</strong> wenig Gegenliebe.<br />

„Eine CD!“, rief Mr. Weasley verzückt <strong>und</strong> strahlte die kleine<br />

Silberscheibe an. „Davon habe ich schon einmal gehört! Molly, <strong>das</strong> sind<br />

diese Dinger, die Muggel in ihre Pomcuter tun, um ihre Gedanken darin<br />

zu speichern. Wie eine Art Denkarium!“<br />

„Sehr schön, <strong>und</strong> nun tu <strong>das</strong> platte Denkarium weg“, knurrte Moody<br />

vom anderen Tischende aus. „Erzähle uns von Fudge.“<br />

Stille trat am Tisch ein.<br />

„Fudge?“, presste <strong>Harry</strong> perplex heraus <strong>und</strong> würgte einen Bissen<br />

Kartoffeln herunter.<br />

„Mad-Eye, nicht jetzt“, zischte Mrs. Weasley <strong>und</strong> sah zu <strong>Harry</strong>, Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine. Aber <strong>Harry</strong> hatte genug.<br />

„Was den Orden angeht, wollte ich sowieso mit euch reden“,<br />

meinte er <strong>auf</strong>geregt. „Ich bin mittlerweile alt genug, um zu entscheiden,<br />

was ich tun will <strong>und</strong> wem ich angehören will. Und Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

ebenfalls“, fügte er an.<br />

„Nein, seid ihr nicht“, entgegnete Mrs. Weasley entschlossen <strong>und</strong><br />

knallte ihr Besteck <strong>auf</strong> die Tischdecke, <strong>das</strong>s Hackfleischbrocken hinüber<br />

53


zu Lupin flogen. Anscheinend gab es die Diskussion nicht zum ersten<br />

Mal.<br />

„Molly“, warf Mr. Weasley ein, duckte sich aber schnell unter einer<br />

weiteren Attacke von Kartoffel<strong>auf</strong>l<strong>auf</strong>, als seine Frau demonstrativ mit<br />

ihrer Gabel <strong>auf</strong> ihn zeigte.<br />

„Fang nicht wieder mit deinen Argumenten an, die drei wüssten,<br />

<strong>auf</strong> was sie sich einlassen! Darüber waren wir uns einig, also lasst uns<br />

<strong>das</strong> Thema vergessen <strong>und</strong> <strong>auf</strong>essen!“ Erregt ließ sie sich in ihren Stuhl<br />

<strong>zur</strong>ückfallen.<br />

„Wir waren übereingekommen, die drei ihre eigene Meinung<br />

verlauten zu lassen <strong>und</strong> dann im Orden zu diskutieren, wie wir weiter<br />

vorgehen“, erinnerte sie Moody vorsichtig.<br />

„Das kann nicht euer Ernst sein!“ Mrs. Weasley sprang nun von<br />

ihrem Stuhl <strong>auf</strong> <strong>und</strong> konnte nur durch ihren Mann dazu bewegt werden,<br />

sich wieder zu setzen.<br />

„Es wäre <strong>das</strong> Beste, erst einmal zu schauen, was sie von der<br />

Sache halten, Molly“, erklärte Lupin <strong>und</strong> wandte sich an <strong>Harry</strong>.<br />

„Ich wisst sicherlich, was die Aufgaben des Ordens sind <strong>und</strong><br />

welche Ziele er verfolgt?“, fragte er mit angespannter Miene.<br />

„Voldemort <strong>und</strong> seine Todesser beschatten <strong>und</strong> ihre Pläne<br />

ausspionieren“, antwortete <strong>Harry</strong> prompt.<br />

„Oh, <strong>das</strong> ist richtig, nur leider bloß ein Teil der gesamten Arbeit“,<br />

meinte Lupin <strong>und</strong> klang wie damals, als er noch Lehrer war – als hätte<br />

<strong>Harry</strong> eine Haus<strong>auf</strong>gabenfrage nur zum Teil lösen können.<br />

Ron starrte ihn mit offenen Augen an, entschlossen, sich kein Wort<br />

entgehen zu lassen. Hermines Ausdruck ließ eher dr<strong>auf</strong> schließen, <strong>das</strong>s<br />

sie sich schon selbst alles erklärt hätte.<br />

„Nun, natürlich gehört es zu den gr<strong>und</strong>legenden Dingen des<br />

Phönixordens, die schwarzen Magier r<strong>und</strong> um den dunklen Lord zu<br />

beobachten <strong>und</strong> stets über ihre Vorhaben informiert zu sein. Obwohl <strong>das</strong><br />

Zaubereiministerium nach den Vorfällen in der Mysteriumsabteilung wohl<br />

informiert ist von der Rückkehr Voldemorts, macht es keine Anstalten,<br />

etwas gegen ihn zu unternehmen. Vielmehr diskutiert es seit Monaten,<br />

wer Schuld an dem Desaster in seinem Gebäude hat. Deswegen sind<br />

wir Ordensleute momentan die einzigen, die tatsächlich Zauberer in der<br />

Nähe Voldemorts haben – <strong>und</strong> wir sind <strong>auf</strong> uns allein gestellt, auch wenn<br />

<strong>das</strong> Ministerium uns keine Schwierigkeiten bereitet. Wir arbeiten mit<br />

einigen seiner Auroren zusammen <strong>und</strong> nutzen seine Sicherheitssysteme<br />

sowie die Überwachungsmöglichkeiten. Nicht, <strong>das</strong>s uns <strong>das</strong> viel bringen<br />

täte. Wenn <strong>das</strong> Ministerium mittels seiner Techniken schwarzmagische<br />

Tätigkeiten <strong>auf</strong>spüren könnte, hätte es nicht ein Jahr gebraucht, um von<br />

Voldemorts Rückkehr zu erfahren“, stieß er bitter hervor.<br />

„Der Orden kümmert sich aber auch um potentielle Todesser-<br />

Opfer. Ihr müsst wissen, <strong>das</strong>s Voldemort seinen Gefolgsleuten die<br />

54


Anweisung gegeben hat, möglichst viele Ministeriumsmitarbeiter mittels<br />

des Imperius-Fluches gefügig zu machen. Sie fangen Zauberer <strong>und</strong><br />

Hexen einfach <strong>auf</strong> dem Weg <strong>zur</strong> Arbeit ab <strong>und</strong> belegen sie mit dem<br />

Fluch. Auf die Art <strong>und</strong> Weise möchte Voldemort <strong>das</strong> Ministerium<br />

unterwandern. Stellt euch nur vor, der Zaubereiminister lässt verlauten,<br />

Voldemort sei in einem fernen Land <strong>und</strong> die Lage sei unter Kontrolle –<br />

während er in Wirklichkeit bereits an eure Tür klopft <strong>und</strong> eure Treue<br />

verlangt, weil der Minister eine seiner Marionetten ist. Das wollen wir<br />

verhindern.“<br />

„Und Fudge ist unter den Befehl Voldemorts gefallen“, meinte<br />

Hermine leise <strong>und</strong> sah Lupin angsterfüllt an.<br />

„Ja. Wir befürchten es seit einigen Tagen, aber erst heute ist es<br />

Arthur anscheinend gelungen, einen Beweis zu erbringen.“ Fragend<br />

schaute Lupin zu Mr. Weasley.<br />

„Habe ihn beobachtet, wie er sich mit Dawlish getroffen hat“,<br />

meinte Mr. Weasley beschwingt <strong>und</strong> nahm sein Butterbier in die Hand.<br />

„Bin sogleich <strong>zur</strong> Aufsichtsbehörde gegangen, die haben es nach einer<br />

Untersuchung von Fudge bestätigt: Er steht unter dem Fluch. Die<br />

Todesser wissen nichts von unserer Entdeckung, <strong>und</strong> ich habe<br />

Scrimgeour dazu bringen können, selbst einen Imperius über Fudge zu<br />

sprechen. In den nächsten Tagen sind interessante Informationen von<br />

Treffen zwischen Fudge mit Todessern zu erwarten. Nun sind wir am<br />

Drücker!“<br />

„Das sind mal gute Nachrichten“, rief Moody, <strong>und</strong> plötzlich um<br />

einiges fröhlicher als zuvor. „Ein echter Erfolg!“<br />

„Schon“, meinte Lupin, sah aber nicht sehr begeistert aus. „Doch<br />

Voldemorts Leute haben noch viel mehr Ministeriumsarbeiter unter<br />

Kontrolle. Fudge war nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt Gerüchte, <strong>das</strong>s<br />

die Leiterin des Transportwesens vorgestern von Crabbe verhext worden<br />

ist. Damit müssen wir ab jetzt alle öffentlichen Kommunikationswege<br />

meiden.“<br />

„Das heißt dann also weiter mit den Patroni-Nachrichten“, seufzte<br />

Mrs. Weasley.<br />

„Was für Patroni?“, wollte <strong>Harry</strong> atemlos wissen. Was hatten die<br />

Schutzzauber, welche die Form von Tieren annahmen, mit dem<br />

Phönixorden zu tun?<br />

„Wir verwenden den Patronuszauber, um miteinander zu<br />

kommunizieren“, erklärte Lupin. „Jeder Patronus ist einzigartig <strong>und</strong> kann<br />

nicht imitiert werden. So entgehen wir der Gefahr, <strong>das</strong>s jemand uns eine<br />

gefälschte Nachricht übermitteln möchte – zum Beispiel Todesser. Die<br />

meisten von ihnen beherrschen den Zauber gar nicht, wozu auch? Vor<br />

Dementoren müssen sie sich nicht fürchten, wo sie <strong>doc</strong>h ihren Herren<br />

bereitwillig folgen. Arthur hier – sein Tier ist ein Wiesel. Und Moody<br />

erkennen wir an seinem Adler – ich selbst erschaffe eine Hyäne.“<br />

55


„Cool“, ließ Ron beeindruckt hören. „Ich habe nie überhaupt einen<br />

gestaltlichen Patronus hinbekommen – na ja, während der DA-<br />

Übungsst<strong>und</strong>en ist da einmal etwas Haariges mit vier Beinen<br />

herumgesprungen, aber einer bestimmten Tierart konnte ich es nicht<br />

zuordnen.“<br />

„Keine Angst, keiner hier verlangt von euch, <strong>das</strong>s ihr euch durch<br />

euren Patronus ausweist“, lachte Lupin. Hermine verzog <strong>das</strong> Gesicht,<br />

wahrscheinlich wäre sie ganz wild dar<strong>auf</strong> gewesen, ihren vorzüglichen<br />

Otter präsentieren zu dürfen, <strong>und</strong> auch Ginny mit ihrem Einhorn musste<br />

sich nicht verstecken. Die Zwillinge hatten zwar in der DA einige<br />

Probleme mit ihrem Delfinpaar offenbart, aber <strong>zur</strong> Not hielt <strong>Harry</strong> sie<br />

dazu in der Lage, mit ihren Patroni zu arbeiten.<br />

Halt, was machst du da, schimpfte er sich. Du bist jetzt nicht in der<br />

DA, <strong>und</strong> was soll <strong>das</strong> ganze Gerede von Patroni überhaupt, der Orden<br />

denkt <strong>doc</strong>h gar nicht daran, dich <strong>auf</strong>zunehmen … Oder?<br />

„Aber wenn ihr im Orden mitmachen wollt“ – Lupin überging<br />

geflissentlich ein empörtes Schnauben von Mrs. Weasley – „so würdet<br />

ihr ohnehin nur an den Sitzungen teilnehmen, <strong>und</strong> keine Aufträge<br />

übernehmen. Demnach bräuchtet ihr keine Patroni zu verwenden.“<br />

„Im Orden mitmachen?“, fragte Ron ungläubig.<br />

Lupin nickte. „Wir alle“ – ein kurzer Blick <strong>auf</strong> Mrs. Weasley, die<br />

heftig den Kopf schüttelte – „denken, <strong>das</strong>s ihr alt genug seid, um zu<br />

erfahren, was vor sich geht. Immerhin habt ihr schon mehrere Male<br />

gegen Voldemort gekämpft, vermutlich öfter als wir, so wie ich <strong>das</strong> sehe.<br />

In meinen Augen gibt es keinen Gr<strong>und</strong>, vor euch Geheimnisse haben zu<br />

müssen. Womöglich bringen wir euch <strong>und</strong> besonders <strong>Harry</strong> noch mehr in<br />

Gefahr, wenn ihr unwissend bleibt.“<br />

Der letzte Satz war nicht zum geringen Teil an Mrs. Weasley<br />

gerichtet.<br />

„Aber sie sind noch Kinder!“, rief sie <strong>und</strong> sah Lupin flehend an. „Es<br />

ist noch zu früh, sie in einen Kampf hineinzuziehen –“<br />

„Wir sind längst ein Teil des Kampfes, ob es uns oder Ihnen gefällt<br />

oder nicht“, fiel ihr <strong>Harry</strong> ins Wort. Vermutlich widersprach er Mrs.<br />

Weasley <strong>das</strong> erste Mal in seinem Leben, aber ihre überzogene Vorsicht<br />

ging ihm ein wenig <strong>auf</strong> die Nerven. Wie konnte sie nur annehmen, <strong>das</strong>s<br />

der Beschluss, ihn, Ron, Hermine <strong>und</strong> die anderen Weasleys aus dem<br />

Orden auszuschließen auch bedeuten würde, sie vor der Gefahr zu<br />

beschützen, welche von den Todessern <strong>und</strong> Voldemort ausging wie eine<br />

dunkle Wolke, die <strong>das</strong> ganze Land verpestete? Es war längst zu spät für<br />

sie <strong>und</strong> alle anderen Zauberer, um sich in eine stille Ecke<br />

<strong>zur</strong>ückzuziehen <strong>und</strong> dar<strong>auf</strong> zu warten, <strong>das</strong>s alles sich von alleine lösen<br />

würde. Denn soviel zumindest hatte <strong>Harry</strong> in den vergangenen Jahren<br />

gelernt: Man musste für sein Leben kämpfen, nicht anderen die Schlacht<br />

überlasen.<br />

56


„Ihr könnt <strong>doc</strong>h gar nicht wissen, <strong>auf</strong> was ihr euch einlasst“,<br />

flüsterte sie nun <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> eindringlich an. „Das ist kein Spiel,<br />

sondern bitterer Ernst! Viele vom Orden haben ihr Leben verloren, als<br />

sie gegen Todesser gekämpft haben, niemand kann von euch erwarten,<br />

<strong>das</strong>s ihr versteht, welche Verantwortung <strong>und</strong> Wagnisse ihr eingeht, wenn<br />

ihr euch dem Orden anschließt!“<br />

„Mum, wir wissen sehr wohl, <strong>das</strong>s Du-Weißt-Schon-Wer uns töten<br />

würde, wenn er die Möglichkeit dazu hätte, <strong>das</strong> hat er uns zusammen mit<br />

seinen Ergebenen im Ministerium zu deutlich gemacht! Und auch, als er<br />

<strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> diesem Friedhof ermorden wollte, oder als er Ginny in die<br />

Kammer des Schreckens gelockt hat, oder als er Quirrell <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong><br />

angesetzt hat, oder … Nein, wir wissen GANZ GENAU, was uns<br />

erwartet!“, startete Ron den ersten Versuch einer kleinen Rede, während<br />

derer er immer lauter wurde. „Erzähl du uns nichts von Spiel!“<br />

Mrs. Weasley sah eine Weile lang so aus, als würde sie Ron für<br />

seine Aufmüpfigkeit anfahren wollen, dann aber sank sie in ihrem Stuhl<br />

zusammen.<br />

„Nein, du hast Recht“, flüsterte sie mit einem geschlagenen<br />

Ausdruck <strong>auf</strong> dem Gesicht so verloren, <strong>das</strong>s sie <strong>Harry</strong> sofort wieder leid<br />

tat, genauso anscheinend wie Hermine, die wohl am liebsten zu ihr<br />

hinüber gel<strong>auf</strong>en wäre <strong>und</strong> sie getröstet hätte.<br />

„Ihr seid schon so lange <strong>das</strong> Ziel der Todesser, <strong>das</strong>s ich es wohl<br />

einfach nicht wahrhaben wollte.“<br />

„Dann ist es also beschlossen“, erklang Moodys tiefe Stimme nun<br />

in der großen Küche. „Die vier sind offiziell Mitglieder des Ordens.“<br />

„Endkrass“, hauchte Ron <strong>und</strong> tunkte seine Gabel verzückt in sein<br />

Butterbier. Hermine strahlte über <strong>das</strong> ganze Gesicht, nicht ohne eine<br />

Spur Tatendrang bemerken zu lassen, Ginny am anderen Ende des<br />

Tisches anlächelnd. <strong>Harry</strong> war einfach dankbar, <strong>das</strong>s der Orden ihn <strong>und</strong><br />

die anderen endlich als vollwertig akzeptiert hatte, ihnen erlaubte, auch<br />

offiziell <strong>das</strong> zu tun, was sie ohnehin, aber mit mehr Schwierigkeiten<br />

getan hatten: Gegen Voldemort kämpfen.<br />

57


KAPITEL VIER<br />

Hermines Paradies<br />

Glücklich ging <strong>Harry</strong> hinter Ron <strong>und</strong> Hermine die Treppe hin<strong>auf</strong> in<br />

<strong>das</strong> Schlafzimmer. Er war satt <strong>und</strong> außerordentlich zufrieden, endlich<br />

wieder in der Zaubererwelt zu sein. Nicht einmal der trotz der neuen,<br />

fre<strong>und</strong>lichen Bilder immer noch düstere Treppen<strong>auf</strong>gang, noch <strong>das</strong><br />

unheilvolle Schweigen des alten Hauses, welches lauernde mögliche<br />

Gefahren in bisher vom Orden unerforschten Ecken androhte, oder Ron<br />

<strong>und</strong> Hermines neuerliches Gekabbel (er hatte beleidigt reagiert, als sie<br />

nicht eingewilligt hatte, ihn ihre Verwandlungshaus<strong>auf</strong>gaben anschauen<br />

zu lassen) hielten ihn davon ab, <strong>das</strong> erste Mal seit Wochen so etwas wie<br />

andauerndes Glück zu empfinden.<br />

Leise schloss er die Tür hinter ihnen, von weitem <strong>das</strong> geschäftige<br />

Tun derjenigen Ordensmitglieder im Ohr, welche im Haus übernachteten<br />

<strong>und</strong> sich nun von der Küche in ihre Zimmer <strong>zur</strong>ückzogen. Zusammen mit<br />

Ron, der sein Streitgespräch mit Hermine dermaßen beendet hatte, <strong>das</strong>s<br />

sie ihm bei einigen Verwandlungsfragen Rat geben würde, setzte er sich<br />

<strong>auf</strong> eines der Betten, Hermine nahm ihnen gegenüber Platz.<br />

„Das war ziemlich cool heute“, strahlte Ron <strong>und</strong> lenkte damit die<br />

Aufmerksamkeit wieder <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Thema, <strong>das</strong> sie alle während des<br />

restlichen Abendessens nicht mehr losgelassen hatte. „Unser erster<br />

Ordens<strong>auf</strong>trag wurde mit Bravour abgeschlossen (dabei schaute er so<br />

stolz in die Gegend, als hätte er <strong>Harry</strong> ganz allein vom Ligusterweg<br />

abgeholt), <strong>und</strong> kurz dar<strong>auf</strong> sind wir zu Mitgliedern erklärt worden“, sagte<br />

er in andächtigem, feierlichem Ton. „Ich frage mich, wieso sie Ginny<br />

ebenfalls zugelassen haben, schließlich ist sie ein Jahr jünger als wir.“<br />

„Weil deine Mum ganz genau weiß, <strong>das</strong>s wir ihr ohnehin alles<br />

erzählen“, gähnte Hermine. Sie wollte Rons Begeisterung für die<br />

Aufnahme in den Orden nicht ganz teilen, sondern machte eher ein<br />

skeptisches Gesicht, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> nichts Gutes verhieß.<br />

58


„Was hast du, Hermine?“, fragte er. „Freut es dich nicht, im Orden<br />

zu sein?“<br />

„Oh <strong>doc</strong>h“, meinte sie hastig. „So kommen wir problemlos an die<br />

Informationen, die wir sonst mit Mühe oder gar nicht herausgef<strong>und</strong>en<br />

hätten. Ich schätze, Rons Eltern, Lupin <strong>und</strong> Moody wissen nur zu gut,<br />

<strong>das</strong>s wir ihnen keine Ruhe lassen, wenn sie uns nicht mit zu den Treffen<br />

nehmen. Und es stimmt auch, <strong>das</strong>s wir womöglich geschützter sind,<br />

wenn wir wissen, was Voldemort plant. Schon beim dem Ausbruch<br />

Sirius` war ersichtlich, <strong>das</strong>s es uns in Gefahr gebracht hat, <strong>das</strong>s sie uns<br />

wesentliche Informationen verheimlicht haben. Aber bei der ganzen<br />

Euphorie“ – sie warf einen strengen Blick in Richtung Ron, der selig sein<br />

Vertrauensschülerabzeichen betrachtete <strong>und</strong> offensichtlich darüber<br />

nachzudenken schien, ob <strong>das</strong> Wort „Ordensmitglied“ noch dar<strong>auf</strong> passte<br />

– „dürfen wir nicht so töricht sein <strong>und</strong> annehmen, <strong>das</strong>s wir nun behandelt<br />

werden wie die anderen vom Orden. Dumbledore hat uns nur<br />

hineingelassen, um uns ein kleines Zugeständnis zu machen, nicht, um<br />

Unterstützung für die Ordensarbeit zu bekommen.“<br />

„Was meinst du damit?“, empörte sich Ron.<br />

„Zum Beispiel, <strong>das</strong>s du mit Sicherheit nicht mit <strong>auf</strong> eine Todesser-<br />

Beschattungsaktion mitgenommen wirst“, stichelte Hermine <strong>und</strong> blickte<br />

<strong>auf</strong> sein Vertrauensschülerabzeichen. „Es sei denn, sie brauchen<br />

jemanden, der Voldemort Hauspunkte abzieht –“<br />

„Jetzt fangt nicht schon wieder an zu streiten“, rief <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

würgte Ron ab, der sich anschickte, Hermine eine wüste Antwort zu<br />

geben. „Ich denke auch, <strong>das</strong>s sie uns nur zu den Treffen lassen, aber<br />

nicht zu Aufgaben mitnehmen.“ Das Bedauern, welches er bei diesem<br />

Gedanken empfand, stand ihm wohl zu deutlich im Gesicht geschrieben,<br />

denn Hermine entgegnete:<br />

„Und damit haben sie Recht. Ihr habt euch darüber sicher nicht<br />

informiert, aber ich habe mir in den Ferien einmal die Anforderungen <strong>zur</strong><br />

Aurorenabschlussprüfung durchgelesen, <strong>und</strong> was dort für Zauber <strong>und</strong><br />

Flüche gefordert werden, ganz zu schweigen von Verwandlungen, ist<br />

enorm. Wir wissen davon nicht ein Zehntel, <strong>und</strong> <strong>das</strong> meiste davon auch<br />

nur, weil wir in der DA waren. Momentan ist <strong>das</strong> zu groß für uns. Es<br />

würde den Orden nur behindern, wenn wir ihn zu Einsätzen begleiten<br />

würden, <strong>und</strong> uns wahrscheinlich alle drei Minuten jemand <strong>das</strong> Leben<br />

retten müsste.“<br />

<strong>Harry</strong> wollte ihr widersprechen, aber sie fuhr fort. „Nein, <strong>Harry</strong>, ich<br />

weiß, was du sagen willst – <strong>und</strong> du hast Recht, <strong>das</strong>s wir etwas gegen<br />

Voldemort unternehmen müssen <strong>und</strong> du daran teilhaben möchtest, aber<br />

glaube mir: Es hilft niemandem, wenn wir dabei sterben, Dawlish davon<br />

abzuhalten, Fudge zu verzaubern.“ Sie sah ihn ernst an <strong>und</strong><br />

verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir sollten froh sein, wenigstens<br />

<strong>auf</strong> dem L<strong>auf</strong>enden gehalten zu werden. Überlegt <strong>doc</strong>h mal, wir könnten<br />

59


anderen Ordensmitgliedern nicht einmal Nachrichten übermitteln –<br />

unsere Patroni kommen nicht zuverlässig.“<br />

„Meiner nicht, deiner schon“, murrte Ron, der diesen Aspekt in<br />

seiner Freude, Mitglied des Ordens zu sein, ganz vergessen zu haben<br />

schien. „<strong>Harry</strong>, du musst allen DA-Leuten nächstes Schuljahr unbedingt<br />

einen gestaltlichen Patronus beibringen, sonst werden wir nie richtige<br />

Ordensmitglieder.“<br />

„Wieso benutzt der Orden eigentlich Patroni?“, fragte sich <strong>Harry</strong><br />

mehr für sich. „Ist es nicht riskant, <strong>das</strong>s jemand sie kopieren kann – “<br />

„Du hast Lupin gehört – sie können nicht imitiert werden“,<br />

entgegnete Hermine <strong>und</strong> lehnte sich vor. „Tatsächlich können Patroni<br />

nicht einmal von ihrem Erzeuger gefälscht werden. Niemand kann sich<br />

aussuchen, welche Gestalt sein Patronus annimmt. Er sagt etwas<br />

absolut Ehrliches <strong>und</strong> Wahres über seinen Zauberer aus. Entweder<br />

symbolisiert er eine Person, einen Gegenstand, einen Ort oder eine<br />

Fähigkeit, durch die sich der Zauberer besonders geschützt <strong>und</strong><br />

geborgen fühlt, oder er steht für etwas, bei dessen bloßen Gedanken der<br />

Zauberer Glück empfindet. Beides hilft gegen Dementoren, denn sowohl<br />

Sicherheit als auch Glück sind positive Gefühle.“<br />

„Du klingst, als hättest du ein Tonband in dir, <strong>das</strong> Lehrbücher<br />

gespeichert hat“, seufzte <strong>Harry</strong>, obwohl er diese Informationen über<br />

Patroni durchaus interessant fand.<br />

„Es ist aus einem Lehrbuch“, meinte Hermine leicht errötend. „Wir<br />

mussten <strong>doc</strong>h letztes Jahr in Verwandlung alles über Patroni auswendig<br />

lernen, wisst ihr noch?“<br />

„Hermine, wer von uns hat bei Umbridge irgendwas für den<br />

Unterricht getan“, grunzte Ron wohlig, während er sich <strong>auf</strong> dem Bett<br />

ausstreckte. Obwohl nach ihrer Aufnahme in den Orden keine weiteren<br />

Gespräche mehr geführt worden waren mit dem Verweis <strong>auf</strong> die nächste<br />

Versammlung in zwei oder drei Tagen, an der sie erstmals teilnehmen<br />

sollten, war es am Ende schon recht spät geworden.<br />

„Was machen eigentlich Slytherins, sie können <strong>doc</strong>h sicher gar<br />

keinen Patronus ausführen“, murmelte er schon halb schlafend.<br />

„Eben“, rief <strong>Harry</strong>. Natürlich war kein Slytherin Ordensmitglied –<br />

außer einem. „Was macht Snape?“<br />

„Auch er kann einen Patronus herbeizaubern“, stöhnte Hermine.<br />

„Hört <strong>doc</strong>h <strong>auf</strong> mit diesem Häuserquatsch. Wieso sollten Slytherins <strong>das</strong><br />

nicht können? Nicht alle von ihnen sind Todesser <strong>und</strong> müssen sich auch<br />

gegen Dementoren wehren können.“<br />

„He, woher weißt du, ob er einen Patronus kann?“, fragte <strong>Harry</strong>,<br />

der Rons nun einsetzendes leises Schnarchen ignorierte.<br />

„Weil ich ihn gesehen habe“, meinte Hermine. „Ron mag ja mehr<br />

damit beschäftigt sein, meine Verwandlungshaus<strong>auf</strong>gaben zu suchen,<br />

60


wenn ich nicht in meinem Zimmer bin, aber ich habe in den letzten<br />

Wochen den Orden sehr genau beobachtet – soweit <strong>das</strong> ging natürlich.“<br />

„Und?“, fragte <strong>Harry</strong> widerstrebend, konnte aber seine Neugier<br />

nicht ganz bezwingen. „Wie sieht Snapes Patronus aus?“<br />

„Na ja“, druckste Hermine rum. „Ich bin mir nicht ganz sicher, was<br />

es zu bedeuten hat.“<br />

„Ich auch nicht, solange du mir nichts sagst“, drängte sie <strong>Harry</strong>.<br />

„<strong>Harry</strong>, er ruft eine Hirschkuh herbei“, sagte Hermine <strong>und</strong> hatte<br />

einen etwas seltsamen Ausdruck <strong>auf</strong> ihrem Gesicht.<br />

„Eine Hirschkuh?“ <strong>Harry</strong> war so perplex, <strong>das</strong>s er zunächst nicht<br />

bemerkte, wie etwas gegen <strong>das</strong> Fenster klapperte.<br />

Erschrocken sprangen die beiden <strong>auf</strong> (Ron drehte sich <strong>auf</strong> dem<br />

Bett nur um <strong>und</strong> schnarchte weiter) <strong>und</strong> sahen angsterfüllt zu dem<br />

kleinen, von hölzernen Läden umrahmten Fenster, <strong>das</strong> trotz der Hitze<br />

geschlossen war.<br />

„Da ist jemand“, flüsterte Hermine <strong>und</strong> ging einen Schritt <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />

Fenster zu. <strong>Harry</strong> zog sie <strong>zur</strong>ück. „Nicht“, meinte er leise. „Was, wenn<br />

die Todesser <strong>das</strong> Haus gef<strong>und</strong>en haben?“<br />

„Niemand kann einen unter einem Fidelius-Zauber stehenden Ort<br />

finden“, beharrte Hermine. „Aber lass uns trotzdem Moody oder Lupin<br />

suchen –“ Sie wurden von einem leisen, aber empörten Schrei<br />

unterbrochen. Nach einem kurzen, unwillkürlichen Zusammenzucken<br />

lachte <strong>Harry</strong> laut <strong>auf</strong>.<br />

„Das ist Hedwig“, rief er <strong>und</strong> lief zu dem Fenster, um es zu öffnen<br />

<strong>und</strong> seine Schneeeule hineinzulassen. Sie machte einen leicht<br />

zerzausten Eindruck, als wäre sie weit geflogen, <strong>und</strong> flatterte nach einem<br />

fre<strong>und</strong>schaftlichen Biss in seinen Finger zu ihrem Käfig, den <strong>Harry</strong> schon<br />

bereit gestellt hatte, um ein wenig Wasser zu trinken.<br />

Hermine atmete aus <strong>und</strong> ließ sich wieder <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Bett sinken. „Das<br />

meine ich mit zu lange in diesem Haus eingesperrt zu sein“, stellte sie<br />

müde fest.<br />

Nach der ersten Freude, seine Eule wieder bei sich zu haben,<br />

verdüsterte <strong>Harry</strong>s Gesichtsausdruck erneut.<br />

„Wieso hat Snape einen Hirschkuh-Patronus?“, wollte er wissen.<br />

„Es beruhigt mich nicht, beinahe dieselbe Patronusgestalt zu besitzen<br />

wir Snape!“<br />

„Keine Ahnung, <strong>Harry</strong>“, meinte Hermine schulterzuckend, aber<br />

etwas in ihrer Stimme ließ <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>horchen.<br />

„Warte mal. Du weißt etwas darüber!“<br />

„Nichts, was viel aussagen muss“, entgegnete sie, wurde durch<br />

ihren Blick aber Lügen gestraft. „Weißt du, ich habe mich vor ein paar<br />

Tagen mit Lupin unterhalten. Er kann nicht so oft raus <strong>und</strong> Aufträge<br />

übernehmen, da die Leute Angst vor Werwölfen haben <strong>und</strong> bekannt ist,<br />

<strong>das</strong>s er einer ist. Deswegen ist er häufig in <strong>das</strong> Haus eingesperrt <strong>und</strong><br />

61


hatte Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten. Wir sind auch <strong>auf</strong> die<br />

Patroni gekommen, <strong>und</strong> er hat mir erzählt, welche Mitglieder welche<br />

Gestalten hervorbringen. <strong>Harry</strong>, die Hirschkuh hat schon einmal jemand<br />

im Orden benutzt. Deine Mutter.“<br />

„Meine – was?“, keuchte <strong>Harry</strong>.<br />

„Was natürlich Sinn macht“, klang Hermine nun sicherer, wie<br />

immer, wenn sie eigene Erkenntnisse anderen näher bringen wollte.<br />

„Deine Mutter fühlte sich durch deinen Vater geschützt <strong>und</strong> hat wohl<br />

auch Glück empf<strong>und</strong>en, wenn sie an ihn dachte – beide waren seit ihrem<br />

letzten Schuljahr ineinander verliebt. Da er einen Hirsch als Patronus<br />

<strong>und</strong> auch als Animagusform besaß, nahm ihrer den einer Hirschkuh an.<br />

Sie stand für deinen Vater. Oder, was auch möglich ist, der Patronus<br />

deines Vaters hat sich ihrem angepasst. Und dein Hirsch steht auch für<br />

ihn.“<br />

Das zumindest wusste <strong>Harry</strong>. Aber eines verstand er nicht.<br />

„Lupin sagt <strong>doc</strong>h, Patroni sind einzigartig“, meinte er verwirrt. „Aber<br />

dann hat es <strong>doc</strong>h zwei Mal denselben gegeben – von meiner Mutter <strong>und</strong><br />

Snape.“<br />

„Patroni SIND einzigartig“, meinte Hermine leise. „Snapes nahm<br />

erst die Gestalt einer Hirschkuh an, nachdem deine Eltern gestorben<br />

sind. Das hat zumindest Lupin gemeint. Vorher war es ein Rabe.“<br />

„Oh ja“, lachte <strong>Harry</strong> bitte bei dem Gedanken an seinen verhassten<br />

Lehrer. „Das passt eher zu ihm. Ein großer, hässlicher, gemeiner Rabe.“<br />

Hermine sah ihn gutmütig an.<br />

„Raben gelten als sehr intelligente Tiere, in der nordischen<br />

Mythologie symbolisieren sie die Weisheit“, erstaunte sie ihn wieder mal<br />

mit ihrem enormen Wissen. „Sie sind sehr gelehrig <strong>und</strong> außerdem dazu<br />

in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen. Es gibt auch ein Sternbild<br />

namens Rabe bestehend aus vier Sternen, welches sich <strong>auf</strong> die Sage<br />

des Raben bezieht, der einst von den Göttern für ein Vergehen<br />

zusammen mit der Wasserschlange für immer an den Himmel verbannt<br />

worden war.“<br />

„Mit einer Schlange? Für ein Vergehen?“, lachte <strong>Harry</strong>. „Hermine,<br />

du denkst zu viel nach.“<br />

„Tue ich nicht, es ist nur eine Sage“, rief sie beleidigt. „Außerdem<br />

ging es <strong>doc</strong>h um die Hirschkuh, nicht?“<br />

„Ja, aber für was sollte die Hirschkuh stehen?“ <strong>Harry</strong> wurde nicht<br />

schlau aus dem Ganzen, so lange er auch darüber nachdachte.<br />

„Nun, die einzige Erklärung wäre, <strong>das</strong>s sie für deine Mutter steht“,<br />

meinte Hermine behutsam <strong>und</strong> klang, als bringe sie einem Kind bei, <strong>das</strong>s<br />

der Weihnachtsmann nicht existiert.<br />

„Als Andenken an eine von Voldemorts größten Taten?“, fauchte<br />

<strong>Harry</strong>.<br />

62


„Patroni stehen NICHT für schlechte Dinge!“, schnaubte Hermine<br />

<strong>zur</strong>ück. „Wann verwendest du endlich deinen Kopf so, wie er gedacht<br />

ist? Du weißt <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s Patroni Glück symbolisieren!“<br />

„Hermine, dann muss es eben einen Fehler in deiner tollen<br />

Patronus-Theorie geben“, wurde <strong>Harry</strong> langsam wütend. Er wollte nicht<br />

darüber nachdenken, was die Hirschkuh bedeuten könnte. „Vielleicht war<br />

er mit seinem Dad früher <strong>auf</strong> der Jagd <strong>und</strong> erinnert sich an <strong>das</strong><br />

berauschende Gefühl, eine Hirschkuh getötet zu haben –“<br />

„So funktionieren Patroni aber nicht! Sie erscheinen nicht in<br />

Erinnerung an eine schlechte, schändliche Tat.“<br />

„Und? Was willst du mir eigentlich sagen?“, brodelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> sah<br />

sie unheilvoll an, <strong>auf</strong> <strong>das</strong> wartend, was nun kommen musste, was er<br />

aber nicht ausgesprochen hören wollte, weder heute noch irgendwann.<br />

„Ich denke, <strong>das</strong>s Snape in deine Mutter verliebt war <strong>und</strong> ist“, sagte<br />

Hermine sehr leise <strong>und</strong> zuckte zusammen, als <strong>Harry</strong> wie angestochen<br />

vom Bett <strong>auf</strong>sprang, die Tür <strong>auf</strong>riss <strong>und</strong> im Dunkel verschwand.<br />

Rasend vor Wut <strong>und</strong> wie ins Gesicht geschlagen von dem, was er<br />

gerade von Hermine gehört hatte, hastete <strong>Harry</strong> durch die düsteren<br />

Gänge vom Grimmauldplatz Nummer 12. Ohne zu merken wo er hinlief,<br />

rannte er Treppen hin<strong>auf</strong> <strong>und</strong> wieder hinab, ging zwei Korridore entlang,<br />

von denen er von wenigstens einem nicht wusste, wo er hinführte, aber<br />

er achtete nicht <strong>auf</strong> seine Umgebung. Unterwegs traf er niemand vom<br />

Orden, <strong>und</strong> <strong>das</strong> obwohl er sicher fünf Minuten im Haus umherirrte, bevor<br />

er endlich keuchend stehen blieb.<br />

Wie konnte Hermine nur <strong>auf</strong> so einen Gedanken kommen? Allein<br />

die Vorstellung, <strong>das</strong>s Snape in der Lage sein sollte, jemanden zu lieben,<br />

kam <strong>Harry</strong> vollkommen irrwitzig vor. Und dann auch noch seine Mutter<br />

… welche von der Hand Voldemorts gestorben war, dem Snape nach<br />

<strong>Harry</strong>s Meinung vielleicht immer noch gehorchte. Nein, <strong>das</strong> konnte nicht<br />

sein, beruhigte sich <strong>Harry</strong>. Die Patronusform war seltsam, sicher, aber<br />

dafür gab es eine andere Erklärung. MUSSTE es eine andere Erklärung<br />

geben. Mit einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung fiel <strong>Harry</strong> die<br />

Szene ein, die er einst in Snapes Büro gesehen hatte, Snape, wie er<br />

seine Mutter übel beschimpft hatte. „Schlammblut“ hatte er sie genannt,<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> zeugte nun wahrlich nicht von wohl gesinnten Gefühlen.<br />

Hermine war nicht dabei gewesen, <strong>und</strong> soweit er sich erinnerte hatte er<br />

ihr <strong>und</strong> Ron nie erzählt, was genau er im Denkarium gesehen hatte.<br />

Deswegen ging sie von falschen Voraussetzungen aus, ließ sich zu sehr<br />

leiten von ihren Theorien, von denen sie so schwer abzubringen war,<br />

sobald sie eine entwickelt hatte. Nein, wirklich nicht, dachte <strong>Harry</strong>, wer<br />

sich so gegenüber einer Person benimmt, kann sie nicht lieben.<br />

Das Wort „Oder?“ verkniff er sich, als er urplötzlich eine Wand im<br />

fast völligen Dunkel eines abgelegenen Ganges übersah <strong>und</strong> prompt<br />

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einen Schritt zuviel <strong>auf</strong> sie zuging. Instinktiv hob er die Hände, um den<br />

Aufprall abzumindern, aber zu seiner Überraschung gab die Wand nach,<br />

<strong>und</strong> er stolperte vorwärts in einen Korridor, der schien, als habe ihn seit<br />

langer Zeit niemand mehr betreten. Staunend schaute er <strong>zur</strong>ück zu dem<br />

Wandteppich, der sich vom Muster her so täuschend echt an die feste<br />

Wand anschloss, <strong>das</strong>s er nur zufällig entdeckt werden konnte. Neugierig<br />

schaute <strong>Harry</strong> den Gang entlang, war aber nicht in der Lage, viel zu<br />

entdecken. Es war so dunkel, <strong>das</strong>s er die unangezündeten Gaslampen<br />

<strong>und</strong> Kerzenhalter an der Decke nur vermuten konnte. Kurzerhand zog er<br />

seinen Zauberstab, den er nunmehr stets bei sich trug, <strong>und</strong> sprach den<br />

Lumos-Zauber. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, wegen der<br />

Zauberei Minderjähriger angezeigt zu werden, er befand sich in einem<br />

Haus voller erwachsener Zauberer, <strong>und</strong> bekanntlich konnte <strong>das</strong><br />

Ministerium nur feststellen, DASS ein Zauber gesprochen wurde, nicht,<br />

WER ihn sprach. Im Ligusterweg war er der einzige Zauberer gewesen,<br />

so war es leicht, einen Zauber zu ihm <strong>zur</strong>ückzuverfolgen. Nicht aber hier.<br />

Das Licht erschien an der Spitze seines Zauberstabes <strong>und</strong> erhellte<br />

nicht wirklich stark, aber ausreichend seine Umgebung. Zögernd ging er<br />

einige Schritte vorwärts. Dies schien ein Korridor zu sein wie jeder<br />

andere, er hatte einen dunklen, zerschlissenen Teppich, eine völlig<br />

zerstörte Tapete an den Wänden, die in Streifen herabhing, mit<br />

Spinnenweben verzierte Leuchter hoch oben an der Decke <strong>und</strong> zwei<br />

Türen, die links <strong>und</strong> rechts abgingen. Ansonsten war er enttäuschend<br />

kurz, höchstens fünf Meter lang.<br />

<strong>Harry</strong> richtete seinen Zauberstab <strong>auf</strong> die rechte Tür. Sie war<br />

ziemlich groß, aus altem, dunklem Eichenholz gefertigt <strong>und</strong> mit einem<br />

Türkn<strong>auf</strong> von der Form einer Schlange aus angel<strong>auf</strong>enem Silber<br />

versehen. Ohne große Erwartungen, sie öffnen zu können, griff <strong>Harry</strong><br />

nach dem Kn<strong>auf</strong>, wobei sein Zauberstab die andere, gegenüber liegende<br />

Tür flüchtig streifte, als er ihn in die linke Hand nahm. Unwillkürlich warf<br />

er einen Blick dar<strong>auf</strong> <strong>und</strong> schrak zusammen.<br />

Nicht, <strong>das</strong>s sie Furcht einflößend aussah. Im Gegenteil, anders als<br />

ihr Gegenüber ließ sie keine Anzeichen schwarzmagischer Gesinnung<br />

erkennen, sie war vielmehr aus weitaus hellerem Holz gefertigt <strong>und</strong><br />

besaß zum Öffnen eine normale Türklinke. Was ihn an ihr so verstört<br />

hatte, war ihre Aufschrift. In rotgoldenen, verschnörkelten Buchstaben<br />

konnte er einen Namen lesen, der in ihm nur abgr<strong>und</strong>tiefe Trauer<br />

hervorrief.<br />

Sirius Black.<br />

Er hatte Sirius` Zimmer gef<strong>und</strong>en. Warum es in einem geheimen<br />

Gang verborgen war, wusste er momentan nicht, aber nun stand er<br />

davor, bereit, die Tür <strong>auf</strong>zumachen. Was er wohl darin finden würde?<br />

64


Nichts, schalt er sich, nichts als Erinnerungen oder Verzweiflung, denn<br />

was mache es für einen Unterschied, ob er eintrat oder nicht?<br />

Er tat es dennoch.<br />

Knarrend schwang die Tür <strong>auf</strong> <strong>und</strong> enthüllte staubige Dunkelheit.<br />

Stockend hob <strong>Harry</strong> seinen Zauberstab. Er war sich nicht sicher, was er<br />

erwartete zu sehen, oder gar, was er erhoffte zu sehen, aber er war sich<br />

mittlerweile bewusste, <strong>das</strong>s Sirius <strong>das</strong> letzte Mal vor seinem Askaban-<br />

Aufenthalt diesen Ort betreten hatte. Auf dem ehemals wohl leuchtend<br />

roten Teppich lag so viel Staub, <strong>das</strong>s sich gar kein anderer Schluss<br />

ergab.<br />

Auf den ersten Blick erkannte <strong>Harry</strong> nicht viel. Die Dunkelheit gab<br />

nacheinander ein großes, mit einem eisernen Gestell versehenes Bett,<br />

einen ebenso großen wie breiten, klobigen Schrank <strong>und</strong> einen<br />

Schreibtisch von bestimmt zwei Quadratmeter Fläche preis. Leise, als ob<br />

er jemanden in dem verlassenen Raum erschrecken könnte, setzte<br />

<strong>Harry</strong> einen Fuß vor den anderen <strong>und</strong> näherte sich dem Schreibtisch. Er<br />

schien leer, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> verfluchte sich, überhaupt hierher gekommen zu<br />

sein – natürlich war alles leer, schließlich hatte sich Sirius hier <strong>das</strong> letzte<br />

Mal vor vielen Jahren <strong>auf</strong>gehalten, <strong>und</strong> nach seinem Auszug aus dem<br />

Elternhaus hatte die Familie Black wohl alle Erinnerungen an ihn<br />

ausgelöscht.<br />

Er wollte sich schon von dem Schreibtisch abwenden, als der<br />

Schein seines Zauberstabes <strong>auf</strong> die Wand vor sich fiel. Zuerst dachte er<br />

erschrocken, es befinde sich noch jemand im Raum, was nach allen<br />

Regeln der Logik schlicht unmöglich gewesen wäre, dann aber erkannte<br />

er, <strong>das</strong>s die Bewegungen, die ihn hatten erschaudern lassen, von Fotos<br />

kamen, die sich wie üblich in der Zaubererwelt bewegten.<br />

Neugierig beugte er sich über die riesige Schreibtischfläche <strong>und</strong><br />

erblickte etwa ein halbes Dutzend kleiner Fotos, die ein großes<br />

Hogwarts-Wappen aus Stoff umrahmten, <strong>auf</strong> dem ein goldener Löwe, ein<br />

brauner Dachs, ein bronzener Adler <strong>und</strong> eine silberne Schlange einem<br />

großen H in ihrer Mitte zugewandt waren. Die Fotos zeigten alle Sirius`<br />

damalige Fre<strong>und</strong>e, die zu ihrer Zeit als die so genannten Rumtreiber von<br />

Lehrern im ganzen Schloss gefürchtet worden waren. Schwitzend in der<br />

warmen, stickigen Luft des über einem Jahrzehnt ungelüfteten Zimmers<br />

sah <strong>Harry</strong> seinen Vater, wie er mit Lupin <strong>und</strong> dem Verräter Pettigrew<br />

unter den Bäumen am Seeufer Hogwarts saß, die auch <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong><br />

Hermine oft an heißen Sommertagen <strong>auf</strong>suchten. Ein weiteres Bild<br />

zeigte einen großen Hirsch mit einem gewaltigen Geweih, der stolz <strong>und</strong><br />

kraftvoll ungeduldig <strong>auf</strong> der Stelle trat, <strong>auf</strong> seinem Rücken einen großen,<br />

schwarzen, zottigen H<strong>und</strong>, der die Vorderpfoten um den Hals des<br />

Hirsches gelegt hatte, <strong>und</strong> ganz oben <strong>auf</strong> dem H<strong>und</strong> turnte eine kleine,<br />

fette, graue Ratte, die ängstlich quiekte, wenn sie <strong>auf</strong> den fast zwei<br />

Meter entfernten Boden blickte. <strong>Harry</strong> musste beim Anblick der drei Tiere<br />

65


lachen, wurde dann aber von jäher Trauer <strong>und</strong> Wehmut erfüllt, denn zwei<br />

von diesen Zauberern lebten nicht mehr, <strong>und</strong> der dritte war als Verräter<br />

bei Voldemort untergekrochen. Lupin hatte <strong>das</strong> Bild wohl geschossen,<br />

denn als Werwolf konnte er natürlich nicht auch in seiner Tierform<br />

erscheinen <strong>und</strong> auch noch <strong>das</strong> Bild machen. Andere Fotos waren im<br />

Schloss gemacht worden <strong>und</strong> zeigten die vier in einem Klassenraum<br />

wohl kurz vor dem Unterricht, im Gryffindor-Gemeinschaftsraum <strong>und</strong> <strong>auf</strong><br />

dem Quidditchfeld.<br />

Bedächtig wandte <strong>Harry</strong> sich nun den Schubladen des<br />

Schreibtisches zu <strong>und</strong> öffnete sie nacheinander. Er hatte erwartet, <strong>das</strong>s<br />

sie leer seien, aber zu seiner Überraschung fand er eine Unmenge an<br />

vergilbten Pergamenten, alten Schreibfedern, ausgel<strong>auf</strong>enen<br />

Tintenfässern <strong>und</strong> einige alte Schulbücher, die, wie er erkannte, für<br />

Schüler der ersten vier Klassen bestimmt waren. Die Bücher aus<br />

höheren Klassen hatte Sirius wohl mitgenommen, als er von zu Hause<br />

weggel<strong>auf</strong>en war. Grinsend stieß <strong>Harry</strong> ganz unten in dem Gerümpel <strong>auf</strong><br />

alte Arbeiten von Sirius, eine aus Zaubertränke (welchen Lehrer er wohl<br />

gehabt hatte, fragte er sich, bestimmt einen besseren als Snape), zwei<br />

von Verwandlung <strong>und</strong> eine aus Geschichte der Zauberei. In den ersten<br />

beiden Fächern war Sirius anscheinend einer der Klassenbesten<br />

gewesen, jedenfalls hatte er bei jeder Aufgabe volle Punktzahl, <strong>und</strong> unter<br />

der Zaubertränke-Arbeit war in krakeliger Schrift, wahrscheinlich vom<br />

damaligen Lehrer, geschrieben worden: „Wie üblich perfekt, aber<br />

dennoch nicht ganz so gut wie unsere Klassenbeste“. <strong>Harry</strong> fragte sich,<br />

wer die Beste wohl gewesen war <strong>und</strong> stellte sich in Gedanken ein<br />

Mädchen ganz wie Hermine vor, <strong>das</strong> hinter einem großen Bücherstapel<br />

<strong>auf</strong> ihrem Platz fast verschwand.<br />

Nur in Geschichte der Zauberei verspürte Sirius augenscheinlich<br />

keine große Lust, für Arbeiten zu lernen, denn dort hatte er nur eine<br />

durchschnittliche Note. „Ohne deine Faulheit könntest du leicht der Beste<br />

sein“, stand darunter in einer kleinen, säuberlichen Schrift, die <strong>Harry</strong> als<br />

diejenige von Binns erkannte. „Und <strong>das</strong> ohne ein Wort zu lernen oder<br />

länger als fünf Minuten im Unterricht wach zu bleiben“, folgte darunter in<br />

Sirius` Schrift, wohl für seinen Banknachbarn gedacht, der auch gleich<br />

daneben geschrieben hatte: „Ohne mich wärst du schon in der ersten<br />

Klasse durchgefallen!“ <strong>Harry</strong> erkannte diese Schrift nicht, vermutet aber,<br />

<strong>das</strong>s sie dem Mädchen gehörte, <strong>das</strong> schon in Zaubertränke so gut<br />

gewesen war.<br />

Andere interessante Dinge fand er nicht im Schreibtisch, deswegen<br />

schaute er zu dem Bett. Er musste in der Dunkelheit einige Schritte<br />

vorwärts gehen, um überhaupt im schwachen Licht seines Zauberstabes<br />

etwas zu erkennen, <strong>und</strong> sah dann eine alte, zerschlissene Decke aus<br />

dem Dunkel erscheinen, die ganz in den Gryffindor-Farben Rot <strong>und</strong> Gold<br />

gehalten war, <strong>und</strong> eine ungeheuer große Gryffindor-Fahne, die die<br />

66


gesamte Wand über dem Bett bedeckte. Unter ihr war ein kleiner Phönix<br />

<strong>auf</strong> die Wand gemalt, hinter dem <strong>Harry</strong> Sirius` Unterstützung für den<br />

Orden vermutete, auch wenn er damals ganz gewiss noch kein Mitglied<br />

gewesen war. Ob die Blacks in ihrem Haus diese Symbole des<br />

Widerstandes gegen die Todesser <strong>und</strong> Voldemort geduldet hätten?<br />

<strong>Harry</strong> konnte es sich nicht vorstellen, andererseits hatte sie niemand<br />

nach Sirius` Abgang entfernt. Hatten ihn seine Eltern <strong>doc</strong>h ein wenig<br />

vermisst? Aber <strong>das</strong> schien ihm absolut unmöglich, wenn er an Mrs.<br />

Blacks Gezeter in der Eingangshalle dachte.<br />

Die Antwort fand er, als er sich wieder anschickte, <strong>das</strong> Zimmer zu<br />

verlassen. Er wollte gerade die Tür schließen, als <strong>das</strong> Licht über der Tür<br />

<strong>auf</strong> der Flurseite einen kleinen Spruch erleuchtete, der ebenfalls in Rot-<br />

Gold geschrieben war.<br />

„Es trete nur durch dieses <strong>Tor</strong>, wer ist ein wahrer Gryffindor“<br />

Ohne es zu merken, war <strong>Harry</strong> durch einen Zauber gegangen, den<br />

Sirius vor vielen Jahren <strong>auf</strong> seine Tür gelegt hatte. Nur wer dem Haus<br />

Gryffindor angehörte, konnte sein Zimmer betreten, was die beste<br />

Schutzmaßnahme gegen seine unerwünschten Familienmitglieder war,<br />

da diese alle nach Slytherin gekommen waren. Deswegen hatte auch<br />

niemand Sirius` alte Sachen weggeräumt; die Blacks hatten vermutlich<br />

einige frustrierende St<strong>und</strong>en vor der Tür verbracht <strong>und</strong> vergeblich<br />

versucht, einen Gegenzauber zu finden; <strong>und</strong> der Phönixorden hatte den<br />

versteckten Korridor nie gef<strong>und</strong>en.<br />

Bei der Vorstellung, in diesem Zimmer Sachen verstecken zu<br />

können, an die z.B. Snape nie herankam, schlug <strong>Harry</strong>s Herz höher. Er<br />

wünschte, den Zauberspruch auch zu kennen. Obwohl er sich nicht<br />

sicher war, diesen auch anwenden zu können, denn es war sicher ein<br />

sehr schwerer <strong>und</strong> seltener. Sirius musste tatsächlich einer der besten<br />

Schüler seiner Zeit gewesen sein.<br />

Bei der Vergangenheitsform, die er bei Gedanken an Sirius<br />

verwenden musste, krampfte sich in <strong>Harry</strong> wieder alles zusammen.<br />

Langsam stürzten die Ereignisse aus dem Ministerium, die er in den<br />

Ferien verzweifelt hatte verdrängen wollen, über ihm zusammen. Die<br />

Trauer schnürte ihm die Luft ab, <strong>und</strong> er hatte <strong>das</strong> Verlangen, sich einfach<br />

in den dunklen Korridor zu setzen <strong>und</strong> nie wieder <strong>auf</strong>zustehen.<br />

Müde lehnte er sich gegen den Schlangengriff der zweiten Tür<br />

gegenüber von Sirius` Zimmer <strong>und</strong> drehte sich dann um, kraftlos <strong>und</strong><br />

gleichgültig den Raum dahinter betretend.<br />

Was er sah, besser, was sein erleuchteter Zauberstab der<br />

drückenden, schwülen Dunkelheit seiner allernächsten Umgebung<br />

entreißen konnte, ließ ihn seinen Schmerz für ein paar Augenblicke<br />

zumindest teilweise vergessen.<br />

67


Um ihn herum ragten Regale über Regale scheinbar in den<br />

Himmel. Es waren massenweise Regale, so viele, <strong>das</strong>s er selbst die<br />

paar in seiner Nähe kaum zu zählen in der Lage war. Und in diesen<br />

Regalen befanden sich tausende von Büchern.<br />

Er hatte die Privatbibliothek der Blacks gef<strong>und</strong>en.<br />

Staunend ging er einige Schritte vorwärts, unfähig, die schiere<br />

Menge an Büchern zu verarbeiten, die er erblickte. An den Wänden <strong>und</strong><br />

in engen Reihen, die den Raum des ohnehin riesigen Zimmers<br />

bestmöglich ausnutzen wollten, mussten sich insgesamt um die h<strong>und</strong>ert<br />

Regale befinden. An etlichen Stellen waren kleine Sitzgruppen<br />

eingerichtet mit gemütlichen Sesseln, kleinen Ablagetischen <strong>und</strong><br />

mindestens einem großen Schreibtisch. Alle paar Schritte war die Wand<br />

durch einen Ofen unterbrochen, auch wenn diese allesamt so aussahen,<br />

als wären sie viele Jahre nicht mehr benutzt worden. Überhaupt lagen<br />

<strong>auf</strong> dem Boden, der aus einer alten, w<strong>und</strong>erschön gemusterten Dielung<br />

aus dunklem Holz bestand, sowie <strong>auf</strong> den Sesseln <strong>und</strong> Tischen mehrere<br />

Zentimeter Staub. <strong>Harry</strong> musste nicht raten, um sicher zu sein, <strong>das</strong>s hier<br />

seit dem Tod von Mrs. Black niemand mehr gewesen war.<br />

Vorsichtig näherte er sich mit seinem Zauberstab den Regalen.<br />

Sie bestanden aus vielen Reihen Büchern, Bücher, wie er sie noch nie<br />

gesehen hatte. Es waren riesige, alte Bände, so dick, <strong>das</strong>s man drei von<br />

ihnen übereinander gestapelt als Stuhl verwenden könnte. Neugierig<br />

nahm <strong>Harry</strong> einen in die Hand. Es war blutrot, groß wie eine kleine<br />

Herdplatte <strong>und</strong> wog bestimmt zehn Kilo. Sein Titel <strong>auf</strong> dem Einband war<br />

nicht mehr zu lesen, aber innen stand <strong>auf</strong> der ersten Seite: „Die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der schwarzen Magie – was sie wissen müssen, um wirklich<br />

böse zu sein“. Die Texte waren in alter Schrift verfasst, <strong>und</strong> einige der<br />

Abbildungen ließen <strong>Harry</strong> erschaudern. Schnell steckte er <strong>das</strong> Buch<br />

<strong>zur</strong>ück.<br />

Die anderen Bücher in diesem Regal trugen alle ähnliche Titel.<br />

„Schwarze Magie <strong>und</strong> Sie – mit diesem Buch werden Sie Profi“<br />

„Dunkle Zauber <strong>und</strong> Hexereien des Mittelalters“<br />

„Das Einmaleins der bösen Zauberer – ihr Leben, ihre<br />

Entdeckungen, ihre Leistungen“<br />

Zuletzt staunte er über ein Buch mit dem Titel „Geheime Flüche –<br />

so geheim, <strong>das</strong>s sie nicht in einem Buch stehen dürfen“.<br />

Angewidert wandte <strong>Harry</strong> sich ab <strong>und</strong> untersuchte die anderen<br />

Regale. Scheinbar war dieser Teil des Zimmers nur den dunklen<br />

Mächten gewidmet, denn viele Regale trugen Hinweise <strong>auf</strong> Flüche,<br />

tödliche Zaubertränke, Willensmanipulation, Foltermethoden <strong>und</strong><br />

geschichtliche Werke über dunkle Magier.<br />

Dann aber trat er an Regale heran, die andere Bücher enthielten,<br />

Bücher in vielen verschiedenen Farben <strong>und</strong> Größen, <strong>und</strong> überrascht<br />

68


erkannte er einige seiner Schulbücher wieder. Er fand allein zwei Regale<br />

voller Werke über Verwandlung, drei über Zaubertränke, vier über<br />

Verteidigung gegen die dunklen Künste <strong>und</strong> viele andere, die sämtliche<br />

Gebiete der Zauberei abdeckten, darunter einige, die er aus der Schule<br />

gar nicht kannte. Er wollte gerade ein Buch mit dem Titel „Tarnen <strong>und</strong><br />

getarnt – wie Sie sich mit einfachen Zaubern unsichtbar machen können“<br />

ansehen, als sein Blick <strong>auf</strong> eine kleine Ecke am anderen Ende des<br />

Zimmers fiel. Dort stand ein sehr kleines Regal, kaum einen Meter breit<br />

<strong>und</strong> zwei Meter hoch, aber im Gegensatz zu allen anderen in der<br />

Bibliothek war es durch eine Glasscheibe geschützt, <strong>und</strong> die Bücher<br />

darin waren nicht in Reihen gestapelt, sondern lagen mit der Vorderseite<br />

nach oben nebeneinander. Eine fast spürbare Präsenz schien von ihren<br />

Umschlägen aus dunklem Pergament, Leder oder Haut auszugehen, als<br />

flüsterten sie seit Urzeiten in der verlassenen Bibliothek miteinander.<br />

<strong>Harry</strong> legte „Tarnen <strong>und</strong> getarnt“ <strong>auf</strong> einen der kleinen<br />

Beistelltische zwischen den Regalreihen <strong>und</strong> näherte sich dem<br />

unscheinbaren Schränkchen. Ehrfürchtig starrte er <strong>auf</strong> dessen hinter der<br />

Scheibe aus Glas gefangene Bücher, <strong>auf</strong> dicke, große mit Umschlägen<br />

aus Tierhaut, <strong>und</strong> <strong>auf</strong> kleine mit ausgefransten Ledereinschlägen.<br />

Allesamt waren sie in dunklen Farben gehalten <strong>und</strong> trugen Titel in<br />

kleinen Buchstaben, die <strong>Harry</strong> von außen nicht entziffern konnte.<br />

Prüfend schaute er den Griff an, mit dem man die Glasscheibe öffnen<br />

konnte. Er hatte in seinem Leben zu oft Bekanntschaft mit gefährlichen<br />

Büchern gemacht, um nicht argwöhnisch eine Falle zu erwarten, wenn er<br />

eines der unheimlichen Werke von seinem Lagerort entfernen würde.<br />

Schließlich, als er keine Hinweise <strong>auf</strong> etwaige schützende Flüche oder<br />

sonstige Hindernisse ausmachen konnte, schob er langsam <strong>und</strong><br />

<strong>auf</strong>merksam <strong>auf</strong> sonderbare Bewegungen oder Geräusche achtend die<br />

Glasplatte beiseite.<br />

Nichts geschah. Aufatmend ließ <strong>Harry</strong> die Augen über die etwa<br />

zwei Dutzend Bücher gleiten. Die meisten Titel waren in Sprachen<br />

geschrieben, die er nicht verstand, teils sogar in Schriften, die er nicht<br />

einordnen konnte. Eine sah verdächtig arabisch aus, so<strong>das</strong>s er<br />

vermutete, <strong>das</strong>s sie womöglich alte alchemistische Schriften enthielt.<br />

Binns hatte in einer der wenigen St<strong>und</strong>en, in denen <strong>Harry</strong> nicht nach ein<br />

paar Minuten weggenickt war, über die Arbeit der Alchemisten aus dem<br />

Mittelalter oder noch früheren Zeiten erzählt; dabei hatte er erwähnt,<br />

<strong>das</strong>s es einige uralte Werke mit dem gesammelten bekannten<br />

alchemistischen Wissen gab, <strong>das</strong>s diese heute aber als verschollen<br />

galten. Obendrein sollten früher auch ein oder zwei Ausgaben mit<br />

vergessenen Erkenntnissen sehr alter Kulturen existiert haben, deren<br />

Inhalt nur als verschwommene Legende bis in die Gegenwart überlebt<br />

hatte. Und <strong>das</strong>s es von ihnen seit Jahrh<strong>und</strong>erten keine Kopie mehr<br />

gegeben hatte. Aber <strong>Harry</strong> hätte es nicht verw<strong>und</strong>ert, wenn er gerade<br />

69


eine davon anschaute. Die Blacks als eine der ältesten reinblütigen<br />

Zaubererfamilien hatten mit Sicherheit Interesse daran gehabt, <strong>das</strong><br />

jahrtausende Jahre alte Erbe der Zauberei zu sammeln. Nur ihre<br />

Motivation, dieses Wissen mit anderen Zauberern zu teilen, schien sich<br />

in Grenzen gehalten zu haben.<br />

Enttäuscht ging <strong>Harry</strong> von einem für ihn nicht entzifferbaren Buch<br />

zum nächsten <strong>und</strong> wollte schon die Glasplatte wieder schließen, als sein<br />

Blick bekannte Buchstaben streifte. Genau in der Mitte der uralten<br />

Bücher lag ein großes, aber handhabbares Werk mit einem Umschlag<br />

aus Drachenhaut <strong>und</strong> silbernen kleinen Kordeln aus etwas, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong><br />

verdächtig wie Einhornhaar vorkam, welche offenbar als Lesezeichen<br />

dienten. Der Titel war in goldenen, großen, verschnörkelten Lettern in die<br />

Haut gestanzt worden:<br />

„Die Mysterien des Lebens“<br />

Zuerst klangen die Worte für <strong>Harry</strong> wie einige der zu Tode<br />

langweiligen, abgegriffenen Heftchen, die er früher im Ethikunterricht<br />

seiner alten Schule hatte lesen müssen, in denen die ausschweifenden<br />

Gedankengänge längst verstorbener Männer über den ihrer Meinung<br />

nach so <strong>und</strong> so aussehenden Sinn des Lebens gestanden hatten; dann<br />

aber schien es ihm ausgeschlossen, <strong>das</strong>s die Blacks solche<br />

Groschenromane mitten in ihre Sammlung uralter <strong>und</strong> geheimer Bücher<br />

der Zauberei stellen würden. Vorsichtig nahm er den Wälzer in die Hand,<br />

er fühlte sich staubig, ansonsten aber recht gut erhalten an, obwohl er<br />

sicher schon viele Jahre alt war. Ein wenig Staub rieselte <strong>auf</strong> den Boden,<br />

als er den schweren Drachenhautdeckel umschlug <strong>und</strong> durch die ersten<br />

Seiten blätterte. Furchtbar komplizierte Formeln, Ausdrücke <strong>und</strong> Sätze<br />

folgten Überschriften wie Die Existenz der Nichtexistenz oder Die<br />

Anatomie der Wut.<br />

Verwirrt schlug <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> Buch wieder zu, sein Arm tat weh vom<br />

Gewicht des Buches, während er mit dem anderen seinen Zauberstab<br />

halten musste. Er beschloss, morgen einen intensiven Blick <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />

Buch zu werfen; sicher konnte Hermine auch mehr damit anfangen als<br />

er. Beim Gedanken daran, ihr die Bibliothek zu zeigen, musste er<br />

unwillkürlich kurz <strong>auf</strong>lachen, sie würde bestimmt den Rest der Ferien in<br />

diesem Raum verbringen, hinter Stapeln von steinalten Büchern. Er<br />

fühlte sich durch seine Entdeckung so beschwingt, <strong>das</strong>s er ihr den<br />

Fehler ihrer Patronus-Theorie gern verzieh.<br />

Zögernd nahm er „Mysterien des Lebens“ aus dem Schrank,<br />

kaschierte die entstandene Lücke, indem er die übrigen Bücher mit ihren<br />

fremdländischen Titeln ein wenig näher zusammenrückte <strong>und</strong> schloss<br />

die Glasscheibe über dem Regal. Er konnte nicht ganz erklären, wieso er<br />

es mitnahm, aber diese dunkle Bibliothek machte ihm etwas Angst,<br />

70


vielleicht auch nur, weil es dunkel war <strong>und</strong> <strong>das</strong> Licht seines<br />

Zauberstabes nicht annähernd ausreichte, um alle Ecken des gewaltigen<br />

Zimmers <strong>auf</strong> einmal zu erleuchten. Jedenfalls gefiel ihm die Aussicht, bei<br />

hellerem Tageslicht <strong>und</strong> in einem gemütlicheren Raum die mysteriösen<br />

Seiten seines Buches zu lesen, besser. Er lief <strong>zur</strong>ück <strong>zur</strong> Tür, zog sie an<br />

ihrem Schlangenkn<strong>auf</strong> hinter sich zu <strong>und</strong> trat noch einmal durch die Tür<br />

zu Sirius` Zimmer, bestand als Gryffindor den Zauber <strong>und</strong> versteckte <strong>das</strong><br />

Buch in einem der unteren Schubladen des Schreibtisches. Erst dann<br />

schlich er den Korridor entlang zum Wandvorhang, lauschte, <strong>und</strong><br />

schlüpfte, als er keinen Laut hörte, wieder <strong>auf</strong> den bekannten Gang. Er<br />

hatte keine Lust, Mrs. Weasley oder den anderen erklären zu müssen,<br />

wieso er sich nachts in verborgenen Gängen des Black-Hauses<br />

herumschlich. Schnell fand er den Weg zu seinem <strong>und</strong> Rons<br />

Schlafzimmer <strong>und</strong> ging hinein. Hermine war nicht mehr da, sie hatte sich<br />

vermutlich schon vor einiger Zeit in ihr Zimmer begeben, um sich <strong>und</strong><br />

ihm die nötige Ruhe zu verschaffen, nachzudenken. Ron schnarchte<br />

nach wie vor in Klamotten <strong>auf</strong> seinem Bett, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> legte sich,<br />

nachdem er sich umgezogen hatte, <strong>auf</strong> sein eigenes. Und auch wenn er<br />

es nicht für möglich gehalten hätte bei allem, was ihm noch im Kopf<br />

herumging, schlief er <strong>auf</strong> der Stelle ein.<br />

Nach einer scheinbar recht kurzen Nacht mit einigen wilden<br />

Träumen über Drachen fressende Bücher <strong>und</strong> sprechende Türen wurde<br />

<strong>Harry</strong> am nächsten Morgen mit einem Ruck wach, als etwas Schweres<br />

<strong>und</strong> Schnelles sein Bett attackierte. Mit klopfendem Herzen blinzelte er<br />

ohne seine Brille in <strong>das</strong> helle Tageslicht, welches durch <strong>das</strong> nun offene<br />

Fenster herein schien.<br />

„Das tut mir Leid, <strong>Harry</strong>!“, hörte er in seine Verwirrung hinein<br />

Hermines hektische Stimme. „Er rennt mir ständig nach, ich glaube, er<br />

mag in diesem Haus nicht allein bleiben.“<br />

Als er eine Masse aus weichem Fell in seinem Gesicht spürte <strong>und</strong><br />

sein Blickfeld von einem Meer aus Rostrot blockiert wurde, wurde ihm<br />

bewusst, <strong>das</strong>s Hermines Kater Krummbein beschlossen hatte, mit unter<br />

seine Decke zu kommen. Schnell sprang er <strong>auf</strong>.<br />

„Ich wollte dich wirklich nicht wecken“, meinte Hermine mit einem<br />

angemessen schuldbewussten Gesicht.<br />

„Schon in Ordnung, es gibt sicherlich bald Frühstück“, nuschelte<br />

<strong>Harry</strong> noch schlaftrunken. Ron war anscheinend schon <strong>auf</strong>, jedenfalls<br />

konnte <strong>Harry</strong> ihn nirgendwo entdecken. Dafür war reichlich Krach aus<br />

den unteren Etagen des Grimmauldplatz zu vernehmen, der Orden war<br />

also bereits voll<strong>auf</strong> beschäftigt.<br />

Hermine zuckte angesichts der geschäftigen Geräusche die<br />

Schultern.<br />

71


„Das geht schon so, seit wir hier eingetroffen sind. Ab<br />

Morgengrauen beginnt die Tagesschicht des Ordens. Im Schnitt gehen<br />

hier pro St<strong>und</strong>e zwei Mitglieder <strong>und</strong> drei Patroni ein <strong>und</strong> aus.“<br />

<strong>Harry</strong> fragte lieber nicht, woher sie <strong>das</strong> so genau wusste, was<br />

Hermine als verstocktes Schweigen <strong>auf</strong>fasste <strong>und</strong> hastig sagte:<br />

„Was ich gestern Abend erzählt habe – weißt du, ich habe darüber<br />

noch einmal nachgedacht <strong>und</strong> bin zu dem Schluss gekommen, <strong>das</strong>s ich<br />

womöglich <strong>doc</strong>h Unrecht habe. Bitte trage mir diese Patronus-Sache<br />

nicht ewig nach. Es war nur eine Idee.“<br />

An ihren Streit gestern Abend hatte <strong>Harry</strong> nun gar nicht gedacht,<br />

aber nun, da sie ihn erwähnte, fiel ihm mit einem Paukenschlag sein<br />

nächtlicher Ausflug ein.<br />

„Hermine“, flüsterte er <strong>auf</strong>geregt, er wollte nicht, <strong>das</strong>s ein<br />

eventueller Besucher <strong>auf</strong> der Treppe zufällig seine Worte mitbekam.<br />

Leicht fröstelnd in seinem Schlafanzug setzte er sich <strong>auf</strong> sein Bett.<br />

„Als ich gestern – äh, weggel<strong>auf</strong>en bin, habe ich einen neuen<br />

Korridor gef<strong>und</strong>en, wo bisher noch keiner von uns war.“<br />

Seine Eröffnung schien keinen Eindruck zu machen.<br />

„Ich weiß“, meinte Hermine gleichmütig. „Das Haus ist weitaus<br />

größer, als es von außen wirkt, Lupin meint, die Blacks hätten es mit<br />

einem Zauber magisch vergrößert. Überall zweigen Gänge, Treppen <strong>und</strong><br />

Korridore ab, den Teil des Hauses, den wir letzten Sommer sauber <strong>und</strong><br />

bewohnbar gemacht haben, war nur <strong>das</strong> Kernstück des Gebäudes <strong>und</strong><br />

längst nicht alles an Zimmern, die die Blacks benutzt haben. Für uns<br />

würde es aber viel zu viel Arbeit machen, <strong>das</strong> ganze Haus zu<br />

unterhalten, deswegen beschränken wir uns <strong>auf</strong> einige Zimmer.“<br />

Das hatte <strong>Harry</strong> zwar nicht gewusst, aber nun, da er darüber<br />

nachdachte, schien es ihm absurd, in einem von außen so klein<br />

wirkenden Haus derartig viel Platz zu finden. Natürlich, hier war Magie<br />

am Werk. Doch <strong>das</strong> war nicht die jetzige Frage.<br />

„Aber in meinem Korridor war tatsächlich seit den Blacks keiner<br />

mehr gewesen“, meinte er <strong>auf</strong>geregt. „Du <strong>und</strong> Ron müsst euch <strong>das</strong><br />

unbedingt nach dem Frühstück ansehen –"<br />

„Was ansehen?“, begrüßte ihn Mrs. Weasley, die, verborgen hinter<br />

einem großen Korb mit Wäsche ins Zimmer trat.<br />

„Meine – äh, Zaubertrankhaus<strong>auf</strong>gaben“, log <strong>Harry</strong> rasch. Ohne<br />

eine bestimmte Absicht zu haben, fand er es besser, von der<br />

Entdeckung der Bibliothek erst einmal nur Ron <strong>und</strong> Hermine zu erzählen.<br />

Zu oft hatte er die Erfahrung gemacht, <strong>das</strong>s Erwachsene ein Talent dafür<br />

hatten, ihm all <strong>das</strong> zu verbieten, was er wollte. Nein, zuerst wollte er sie<br />

sich mit den beiden genau ansehen, bevor sie entschieden, wie sie<br />

vorgehen wollten.<br />

„Du willst mit diesem Unsinns-Fach weitermachen?“, platzte Ron<br />

mit <strong>auf</strong>gerissenen Augen hinter seiner Mutter ins Zimmer. „Ich dachte,<br />

72


mit unserer Snape-Abschieds-Party im Zug hat sich dieses Kapitel<br />

endgültig erledigt.“<br />

„<strong>Harry</strong> ist eben nicht so kindisch wie du“, setzte Hermine ihm<br />

entgegen. Seine Mutter machte auch den Eindruck, einen ganz<br />

ähnlichen Satz parat zu haben. Ron warf ihr einen beleidigten Blick zu<br />

<strong>und</strong> ließ sich <strong>auf</strong> sein noch ungemachtes Bett fallen.<br />

„Weißt du, um Auror zu werden, muss ich einen UTZ in<br />

Zaubertränke haben, deswegen habe ich mich entschlossen, wenigstens<br />

die Haus<strong>auf</strong>gaben vorzubereiten, auch wenn ich nur dann durch die<br />

Prüfung komme, wenn Snape vorhat, mir einen Ordens-Bonus zu geben,<br />

wor<strong>auf</strong> ich ewig warten kann“, meinte <strong>Harry</strong> mit schlechtem Gewissen,<br />

weil seine Notlüge Ron in Ungnade gebracht hatte.<br />

„Und deswegen musst du gleich mit deinen Haus<strong>auf</strong>gaben<br />

hausieren gehen?“, murrte Ron <strong>und</strong> schaute <strong>Harry</strong> an, als wäre der nicht<br />

ganz dicht.<br />

„Gut, du musst ja nicht dabei sein“, wollte <strong>Harry</strong> die Angelegenheit<br />

schnell beenden.<br />

„Vergesst nicht, zum Frühstück zu kommen, in zehn Minuten geht<br />

es los“, rief Mrs. Weasley ihnen von der Treppe aus zu, bevor sie,<br />

beladen mit neuer dreckiger Wäsche, verschwand.<br />

<strong>Harry</strong> beugte sich vor. „Ron, was ich wirklich sagen wollte, war,<br />

<strong>das</strong>s ich einen geheimen Gang gef<strong>und</strong>en habe…“<br />

Das Frühstück, so lecker es auch war, zog sich nach <strong>Harry</strong>s<br />

Empfinden viel zu sehr in die Länge. Auch <strong>das</strong>s Ron seine üblichen zwei<br />

Teller voll Toast, Würstchen, Ei, Speck <strong>und</strong> Brötchen noch hastiger als<br />

sonst in sich hineinsch<strong>auf</strong>elte, trug nicht dazu bei, <strong>das</strong>s Mrs. Weasley<br />

den vor einigen Minuten geschöpften Verdacht, die drei würden etwas<br />

aushecken, vergaß. Hermine warf Ron ein ums andere Mal einen<br />

vorwurfsvollen Blick zu, allerdings schien <strong>das</strong> zu ihrem Morgenritual zu<br />

gehören, so<strong>das</strong>s Mrs. Weasley schließlich erschöpft <strong>auf</strong> einen Stuhl<br />

sank <strong>und</strong> auch zu essen begann.<br />

Mit dem Versprechen, am späteren Vormittag <strong>das</strong> Mittagessen mit<br />

vorzubereiten, stolperten die drei förmlich aus der Küche.<br />

„Wo geht es denn nun hin?“, keuchte Ron nach einem Sprint über<br />

die Treppen.<br />

„Wartet, gestern bin ich diesen Korridor lang <strong>und</strong> dann die Treppe<br />

an der rechten Seite hoch, dann an diesem hässlichen Bild einer<br />

Wasserschlange vorbei <strong>und</strong> dann …“<br />

<strong>Harry</strong> fürchtete, nicht mehr <strong>zur</strong>ück zu dem verborgenen Korridor zu<br />

finden, dann aber erkannte er <strong>das</strong> Tapetenmuster, hinter welchem sich<br />

an einer Stelle der Zugang befand. Mühelos schob er den Wandvorhang<br />

73


eiseite <strong>und</strong> führte seine staunenden Fre<strong>und</strong>e durch die rechte Tür in die<br />

Bibliothek.<br />

Leicht knarrend öffnete sich die alte Tür <strong>und</strong> gab den Blick frei <strong>auf</strong><br />

die nun im Tageslicht noch beeindruckender wirkenden, unendlichen<br />

Regalreihen voller Bücher. Selbst <strong>Harry</strong> erkannte, <strong>das</strong>s er die Größe der<br />

Bibliothek in der Nacht noch unterschätzt hatte.<br />

Hermine stand wie angewurzelt <strong>auf</strong> der Türschwelle <strong>und</strong> sagte<br />

minutenlang nichts, aber ein zunehmendes Leuchten in ihren Augen <strong>und</strong><br />

ein leicht stupider Ausdruck <strong>auf</strong> ihrem Gesicht, der wohl Glücksseligkeit<br />

darstellen sollte, verrieten ihre Gefühle. Als sie begann, Regal für Regal<br />

abzul<strong>auf</strong>en, wobei sie mit dem Finger über die Buchrücken fuhr <strong>und</strong> die<br />

Titel leise vor sich hinmurmelte, <strong>und</strong> dabei alle paar Sek<strong>und</strong>en scharf<br />

Luft holte oder seufzte, wurde Rons Miene kontinuierlich säuerlicher.<br />

Dann schlug Hermine beim Anblick eines besonders großen<br />

Wälzers die Hände vor den M<strong>und</strong>, <strong>und</strong> Ron platzte heraus: „Lass mal gut<br />

sein, <strong>das</strong> sind <strong>doc</strong>h nur Bücher! Du tust so, als hättest du noch nie eins<br />

gesehen!“<br />

Mit einer überlegenen Haltung drehte sich Hermine langsam zu<br />

ihm um, bevor sie in etwas hochmütigem Ton meinte: „Nur Bücher? Das<br />

ist die größte Bibliothek, in der ich je war, <strong>und</strong> es ist keine gewöhnliche!<br />

Die Blacks haben wahrscheinlich eine der besten Sammlungen alter <strong>und</strong><br />

seltener Bücher der ganzen Welt – abgesehen vom Vereinten Archiv der<br />

Zaubereiministerien in Memphis – schau dir nur diese Ausgabe von<br />

„Verwandlung – die Lehre der Vielfältigkeit“ an, <strong>das</strong> erste Buch, was ja<br />

über Verwandlung geschrieben wurde, mit Originaltexten ganz früher<br />

Verwandlungszauber. Oder die „Zauberkunst Tasmaniens“, die als<br />

verschollen gilt <strong>und</strong> vergessene Zaubersprüche beinhaltet. Ganz zu<br />

schweigen von der Abteilung über schwarze Magie – natürlich alles<br />

verbotene Exemplare, aber nichtsdestotrotz enorm wertvolle<br />

Manuskripte.“ Hermine schien sich in einen Wahn zu steigern, es türmte<br />

sich bereits ein wackeliger Stapel von etwa einem Dutzend Büchern in<br />

ihren Armen <strong>auf</strong>, dem sie nun „Anfänge der Arithmantik in Ägypten“<br />

hinzufügte.<br />

Ron dagegen machte immer noch ein verbissenes Gesicht.<br />

„Dennoch kein Gr<strong>und</strong>, gleich auszuticken“, murrte er. „Bücher sind<br />

zum Haus<strong>auf</strong>gabenerledigen da, nicht, um wegen ihnen in Ekstase<br />

auszubrechen.“ Ein klein wenig Bew<strong>und</strong>erung konnte allerdings auch er<br />

nicht verbergen, als er die Regalwände in ihrer schieren Größe<br />

betrachtete. „Vielleicht finde ich hier etwas zu den Singzaubern von<br />

Flitwick“, murmelte er vor sich hin <strong>und</strong> ging zum Zauberkunst-Regal.<br />

„Hier“, rief Hermine leicht spöttisch <strong>und</strong> warf ihm ein dickes, grünes<br />

Buch zu.<br />

74


„Danke!“, meinte Ron erfreut. Hermine schüttelte nur den Kopf,<br />

immer noch besonders interessante Bücher suchend, die sie mittlerweile<br />

<strong>auf</strong> einen der Tische gestapelt hatte, weil sie ihr zu schwer wurden.<br />

<strong>Harry</strong> amüsierte sich über Hermines Begeisterung <strong>und</strong> war froh<br />

über <strong>das</strong> Zauberkunst-Buch, denn damit konnte er seine Aufgaben hier<br />

in der Bibliothek erledigen <strong>und</strong> später die ersten, damit arbeitsfreien<br />

Tage in Hogwarts genießen. Langsam ging er zu dem kleinen Regal mit<br />

der Glaswand.<br />

„Schaut mal her“, grinste er vor allem Hermine an. „Der<br />

Familienschatz der Blacks.“<br />

Hermines Entzücken erreichte neue Ebenen, als sie vor den<br />

wertvollsten Büchern des Black-Hauses stand.<br />

„Viele davon handeln von alter Alchemie“, bestätigte sie <strong>Harry</strong>s<br />

Vermutungen von letzter Nacht, „einige auch von alten Druidenzaubern<br />

oder altägyptischer <strong>und</strong> sogar babylonischer Zauberkunst, es ist<br />

unglaublich, fast alle dieser Bücher gelten seit Jahrh<strong>und</strong>erten als<br />

verschollen!“<br />

„Jetzt weiß man wenigstens, wohin sie verschollen sind“, feixte<br />

<strong>Harry</strong>.<br />

„Woher weißt du eigentlich, welche Bücher <strong>das</strong> sind, ich kann nicht<br />

mal die Buchstaben lesen, oder hast du in den letzten zwei Wochen<br />

auch noch Aramäisch, Arabisch <strong>und</strong> Hieroglyphenschrift gelernt?“, fragte<br />

Ron sarkastisch.<br />

„Natürlich nicht“, fauchte Hermine. „Aber in Hogwarts gibt es ein<br />

Buch über seltene Bücher – lach nicht so dumm –, <strong>und</strong> darin kann man<br />

Abbildungen <strong>und</strong> Übersetzungen der berühmten Buchdeckel<br />

nachschlagen.“<br />

„Na dann“, grummelte Ron <strong>und</strong> schlenderte zwischen den<br />

turmhohen Regalen umher.<br />

„Schade, <strong>das</strong>s ich sie nicht lesen kann“, bedauerte Hermine mit<br />

einem sehnsüchtigen Blick <strong>auf</strong> die verstaubten Umschläge. Plötzlich fuhr<br />

sie herum, als sich ein Gesicht in dem Glasschrank spiegelte.<br />

„Was macht ihr hier?“, fragte Lupin, der <strong>auf</strong> die drei zukam <strong>und</strong><br />

ungläubig <strong>auf</strong> die Bücher starrte. „Wie es aussieht, habt ihr die berühmte<br />

Bibliothek der Blacks entdeckt.“<br />

„Jaaa“, meinte <strong>Harry</strong> gedehnt. Er wollte die Wahrheit für sich<br />

behalten <strong>und</strong> antwortete stattdessen: „Wir sind ein wenig durch die<br />

Gänge gel<strong>auf</strong>en, wissen Sie, uns die Füße vertreten, weil wir nicht vor<br />

die Tür können. Und dabei sind wir durch den Wandbehang gestolpert.“<br />

Lupin sah ihn mit beunruhigendem Zweifel an, sagte aber nichts.<br />

Er wandte sich dem kleinen Regal zu.<br />

„Wisst ihr, was diese Bücher wert sind?“, fragte er. „Zwar bin ich<br />

noch nie hier gewesen, aber über die Bibliothek der Blacks sind etliche<br />

Gerüchte im Uml<strong>auf</strong> gewesen. Die größte Englands soll es sein, mit<br />

75


Exemplaren der seltensten Bücher der Zauberergemeinde. Die Blacks<br />

haben sie schon vor Jahrh<strong>und</strong>erten gesammelt, <strong>auf</strong> diese Art kamen sie<br />

an uralte Ausgaben heran. Heute findet man einige dieser Bücher<br />

nirgendwo mehr.“ Stirnrunzelnd näherte er sich der Abteilung für dunkle<br />

Magie. „Das Ministerium wäre sehr interessiert an einigen dieser<br />

Sachen“, murmelte er leise. „So etwas dürfte nicht im Uml<strong>auf</strong> sein.“<br />

„Sie wollen <strong>das</strong> Ministerium herkommen lassen?“, japste <strong>Harry</strong>.<br />

„Natürlich nicht“, lächelte Lupin. „Zwar sind einige dieser Bände<br />

illegal, aber wenn wir sie jetzt dem Ministerium überlassen, dann gehen<br />

wir große Gefahr ein, <strong>das</strong>s Todesser sie in die Hände bekommen. Ich<br />

habe keinen Zweifel, <strong>das</strong>s es Voldemort leicht fallen würde, jemanden<br />

einzuschleusen, der sie ihm besorgt. Und von diesem Bestand an<br />

Abscheulichkeiten“ – er fuhr mit der Hand über einen Buchrücken, der<br />

verdächtig danach aussah, aus Menschenhaut gefertigt zu sein –<br />

„könnte sogar Voldemort noch etwas lernen.“<br />

„Denken Sie, die Blacks haben die Bücher für schwarze Magie<br />

benutzt?“, fragte Hermine erschaudernd.<br />

„Nein. Sie gehörten nicht zu den Leuten, denen viel daran lag, aktiv<br />

zu sein. Es hat ihnen gefallen, eine exquisite Sammlung sehr wertvoller<br />

Sachen zusammenzuschaffen – die Bücher sind nur ein Teil davon –<br />

aber sie hatten es nicht nötig, Geld zu verdienen, <strong>und</strong> sie hatten nicht<br />

genug Mut, um sich der Ehre willen den Todessern anzuschließen. Die<br />

Blacks sind eine Familie der alten Art: Sie sind damit zufrieden, zu sein,<br />

wer sie sind, <strong>und</strong> in ihren Augen war <strong>das</strong> eine, wenn nicht die am<br />

meisten geachtete Zaubererfamilie Englands.“<br />

Er ging zu der Tür <strong>zur</strong>ück. „Beim heutigen Treffen werden wir<br />

diskutieren, wie wir mit der Bibliothek verfahren“, sagte er im Weggehen<br />

<strong>und</strong> verschwand durch den Wandvorhang.<br />

Erschöpft von ihrer intensiven Suche ließ Hermine sich <strong>auf</strong> den<br />

nächsten Stuhl fallen <strong>und</strong> strich einem in Samt geb<strong>und</strong>enen, roten Buch<br />

über die Seiten, bevor sie es <strong>auf</strong>schlug.<br />

„Wir werden sie vor Schulbeginn nicht mehr hier wegkriegen“,<br />

flüsterte Ron zu <strong>Harry</strong>. „Und auch nur, wenn sie einen Waggon des<br />

Hogwartsexpresses für ihre Bücher beschlagnahmen kann.“<br />

76


KAPITEL FÜNF<br />

Das verbotene Buch<br />

Später am Abend, Ron <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> hatten gerade mit gutem Gefühl<br />

ihre Aufsätze über Singzauber beendet, nahmen sie am ersten richtigen<br />

Ordenstreffen teil. Entgegen ihrer Annahmen war es allerdings wenig<br />

spannend, es ging die meiste Zeit um Wacheinteilungen für<br />

verschiedene Orte, z.B. für die Mysteriumsabteilung, für St. Mungo, wo<br />

einige von Todessern verletzte Zauberer <strong>und</strong> Hexen lagen, von denen<br />

man annahm, <strong>das</strong>s sie sich noch im Visier von Voldemort befanden, <strong>und</strong><br />

für Hogsmeade, dem einzigen nur von Hexen <strong>und</strong> Zauberern bewohnten<br />

Dorf Großbritanniens. Nach der fünften Diskussion, wer am nächsten<br />

Abend Zeit hätte, in den Straßen Hogsmeades für Sicherheit zu sorgen,<br />

gähnte Ron verstohlen, <strong>und</strong> auch <strong>Harry</strong> ertappte sich dabei, <strong>das</strong>s er sich<br />

<strong>zur</strong>ück in sein Zimmer sehnte, wo er <strong>und</strong> Ron nach dem Essen eine<br />

Partie Zauberschach spielen wollten.<br />

„Warum übernimmt <strong>das</strong> Ministerium nicht die Wachen für diese<br />

Orte?“, fragte Hermine, die als Einzige von ihnen jedes Wort interessiert<br />

<strong>auf</strong>nahm.<br />

„Weil wir dem Ministerium nicht trauen“, meinte Moody, der nach<br />

einem langen Arbeitstag erst vor einer St<strong>und</strong>e erschöpft am<br />

Grimmauldplatz angekommen war. Ron schnaubte leise neben <strong>Harry</strong>.<br />

Moody traute niemandem.<br />

„Keiner weiß, wen die Todesser bereits unter Kontrolle haben oder<br />

wen sie in zwei Tagen unter Kontrolle haben werden. Deswegen<br />

verlassen wir uns bei den wichtigsten Aufgaben nur <strong>auf</strong> unsere eigenen<br />

Leute.“<br />

„Und wieso ist die Mysteriumsabteilung so wichtig?“, schaltete sich<br />

<strong>Harry</strong> ein. Es war ihm schleierhaft, was dort nach dem Verlust der<br />

Prophezeiung noch von Interesse der Todesser sein konnte.<br />

77


„Im Ministerium gibt es noch ältere <strong>und</strong> gefährlichere Dinge als<br />

Prophezeiungen“, meinte Lupin, der auch zwei Jahre nach seiner<br />

Kündigung immer noch ein wenig wie ein Lehrer klingen konnte. „In der<br />

Mysteriumsabteilung werden seit Jahrh<strong>und</strong>erten die größten<br />

Geheimnisse der Welt untersucht. Sie ist in 12 Themengebiete<br />

untergeteilt – ihr habt die 12 Türen gesehen – <strong>und</strong> in jedem davon<br />

arbeiten etliche Zauberer daran, Dinge wie den Tod, <strong>das</strong> Leben oder die<br />

Zeit zu enträtseln. Wer diese Mysterien versteht <strong>und</strong> nutzen kann, kann<br />

Sachen vollbringen, die über unser derzeitiges Verständnis von Zauberei<br />

weit hinausgehen. Sollten die Todesser über die Informationen der<br />

Unsäglichen verfügen, so wären sie uns hoffnungslos überlegen.“<br />

„Aber jedem der Mysteriums-Mitarbeiter ist es verboten, auch nur<br />

einen Satz ihrer Erkenntnisse <strong>auf</strong>zuschreiben oder in einem Denkarium<br />

zu speichern“, warf Hermine ein. „Jedes Jahr wird eine bestimmte<br />

Anzahl von Auszubildenden in die Arbeit eingewiesen, <strong>und</strong> die älteren<br />

Zauberer geben ihr Wissen an sie weiter. Sie werden auch mit einem<br />

Zauber belegt, der angeblich vor Imperius-Flüchen schützt.“<br />

„Ob es einen derartigen Zauber gibt, wage ich zu bezweifeln“,<br />

entgegnete Mr. Weasley. „Es ist nicht viel bekannt über die<br />

Arbeitsbedingungen der Unsäglichen, <strong>und</strong> über ihre Arbeit schon gar<br />

nicht. Niemand hat zu keinem Zeitpunkt auch nur ein Wort<br />

<strong>auf</strong>geschrieben über <strong>das</strong>, was im Keller des Ministeriums erforscht wird.“<br />

„Außer Rosier“, flüsterten George <strong>und</strong> Fred im Einklang.<br />

„Wer?“, fragte <strong>Harry</strong> unwillkürlich, als sich Stille über die Küche<br />

senkte. Selbst Ron schien wieder <strong>auf</strong>merksam.<br />

„Es gibt Gerüchte – nur Gerüchte, also nehmt nicht zu ernst, was<br />

ich nun sage“, meinte Lupin vorsichtig <strong>und</strong> sah die drei warnend an.<br />

„Vor etwa 30 Jahren lebte ein Unsäglicher namens Rosier, der<br />

unzufrieden war mit dem Schreibverbot, weil er kein so gutes Gedächtnis<br />

hatte <strong>und</strong> immer seine Angestellten fragen musste, wenn er etwas<br />

vergessen hatte – er war der Leiter der Mysteriumsabteilung,<br />

offensichtlich nicht wegen seiner Befähigung, sondern, weil er der Sohn<br />

des Ministers war. Um sich nicht jeden Tag blamieren zu müssen,<br />

fertigte er ein geheimes Buch über <strong>das</strong> bis zu dem damaligen Zeitpunkt<br />

gesammelte Wissen seiner Abteilung an <strong>und</strong> versteckte es. Da er damit<br />

gegen ein Gesetz verstieß, behielt er <strong>das</strong> Buch für sich <strong>und</strong> erzählte nie<br />

jemandem davon. Dennoch entstand nach seinem Tod hartnäckiges<br />

Gerede über die Existenz eines solchen Werks. Bis heute ist es aber<br />

nicht gef<strong>und</strong>en worden“, meinte er enttäuscht. „Ich hatte ein klein wenig<br />

gehofft, es in der Bibliothek zu entdecken, denn Rosier war ein<br />

Verwandter von Druella Rosier, die Walburga Blacks Bruder Cygnus<br />

geheiratet hat. Hätten die Blacks Wind von so einem Buch bekommen,<br />

hätten sie es sicher in ihren Besitz gebracht.“ Er lehnte sich <strong>zur</strong>ück.<br />

78


„Lassen wir den Quatsch“, fuhr Moody dazwischen. „Es gibt <strong>das</strong><br />

Rosier-Buch nicht, <strong>das</strong> ist nur eine Legende. Reden wir lieber über die<br />

Bibliothek der Blacks.“<br />

Aber <strong>Harry</strong> war gerade etwas eingefallen, was ihm einen heißen<br />

Blitz durch den Körper fahren ließ.<br />

„Wie soll <strong>das</strong> Buch geheißen haben?“, fragte er <strong>und</strong> hoffe, <strong>das</strong>s<br />

niemand sein Herz klopfen hörte. Doch keiner schien seine Aufregung zu<br />

bemerken, außer Hermine, die ihm einen prüfenden Blick zuwarf.<br />

„Mysterien des Lebens“, mampfte Mr. Weasley unter den<br />

missbilligenden Augen seiner Frau mit einem großen Löffel Kartoffelbrei<br />

im M<strong>und</strong>.<br />

<strong>Harry</strong> schluckte, sagte aber nichts. Irgendwie wollte er nicht, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> Buch dem Orden in die Hände geriet, jedenfalls noch nicht jetzt.<br />

„Und kommt nicht <strong>auf</strong> die Idee, es suchen zu wollen“, warnte Mrs.<br />

Weasley, die <strong>Harry</strong>s Schweigen falsch interpretierte. „Erstens gibt es <strong>das</strong><br />

Buch nicht, zweitens ist es für den äußerst unwahrscheinlichen anderen<br />

Fall mit Sicherheit nicht hier, <strong>und</strong> drittens“ – sie machte eine Pause, um<br />

den ihrer Meinung nach wichtigsten Punkt anzukündigen – „ist <strong>das</strong> kein<br />

Buch für Kinder.“<br />

„Ganz recht, <strong>und</strong> nun lasst uns über die Bibliothek reden“, knurrte<br />

Moody <strong>und</strong> ließ die Pergamentblätter mit den Ergebnissen der heutigen<br />

Diskussion <strong>und</strong> der Arbeits<strong>auf</strong>teilung in einer Schublade verschwinden.<br />

„Also ich denke, die Kinder sollten nicht dorthin <strong>zur</strong>ück“, machte<br />

Mrs. Weasley ihren Standpunkt mit störrischem Gesicht klar. „Die<br />

Abteilung für schwarze Magie ist nicht jugendfrei!“<br />

„Und du glaubst, wir würden die Bücher nutzen, um aus Spaß<br />

Eingeweide-Ausweide-Flüche zu üben?“, empörte sich Ron. <strong>Harry</strong><br />

schnaubte in seine Hackfleischpastete.<br />

„Nein, natürlich nicht“, kam es etwas verlegen von Mrs. Weasley.<br />

„Ob es uns passt oder nicht, Molly, die drei haben schlimmere<br />

Dinge erlebt <strong>und</strong> gesehen, als sie in diesen Büchern finden können“,<br />

beruhigte sie Lupin. „Ohnehin denke ich, <strong>das</strong>s sie sich eher für<br />

Verteidigung interessieren als für Schwarze Magie.“ Er zwinkerte <strong>Harry</strong><br />

zu, offensichtlich an die DA denkend. „Außerdem dürfen Schüler der<br />

UTZ-Klassen zu Studienzwecken in die verbotene Abteilung der<br />

Hogwarts-Bibliothek, in der sich, wie ich versichern kann, auch einige der<br />

Bücher befinden, die die Blacks gesammelt haben.“<br />

So wurde beschlossen, die Bibliothek für jedes Ordensmitglied<br />

zugänglich zu machen, ihre Existenz aber vor dem Ministerium zu<br />

verschweigen – genau aus dem Gr<strong>und</strong>, den Lupin genannt hatte,<br />

nämlich, um sie vor den Todessern geheim zu halten.<br />

Eine halbe St<strong>und</strong>e später waren alle satt <strong>und</strong> zufrieden, die<br />

Tagespunkte waren besprochen, <strong>und</strong> einige der Mitglieder machten sich<br />

79


<strong>auf</strong> den Weg zu einer Nachtwache, so z.B. Lupin <strong>und</strong> Mrs. Weasley, die<br />

sich je einen Besen schnappten <strong>und</strong> durch die Haustür verschwanden.<br />

Moody <strong>und</strong> die Zwillinge räumten mit ein paar schnellen Zaubern<br />

die Küche <strong>auf</strong>, während <strong>Harry</strong> sich anschickte, Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

nachzugehen, die bereits <strong>auf</strong> der Treppe standen. In diesem Moment<br />

wurde die düstere Eingangshalle der Blacks so hell erleuchtet, als hätte<br />

die Sonne nach etlichen Regentagen die sie verbergenden Wolken<br />

durchbrochen, <strong>und</strong> ein fast unnatürliches Strahlen breitete sich in dem<br />

Raum aus, nur <strong>das</strong>s es gleichzeitig natürlicher wirkte als alles andere in<br />

dem Haus.<br />

Überrascht fuhr <strong>Harry</strong> herum <strong>und</strong> spürte fast sofort ein<br />

überwältigendes Gefühl von Hoffnung <strong>und</strong> Glück, <strong>das</strong> ihm nicht<br />

unbekannt war. Zu oft hatte er es in den DA-St<strong>und</strong>en mit Patroni zu tun<br />

bekommen, um nicht zu erkennen, wenn sich einer in seiner Nähe<br />

befand.<br />

Neugierig, wer dem Orden eine Nachricht schicken wollte, schaute<br />

er <strong>das</strong> Tier an, welches sich seinen Weg von der Haustür zu der Küche<br />

im unteren Teil des Hauses bahnte. Zuerst dachte er erschrocken,<br />

seinen eigenen Patronus zu sehen, so bekannt erschien ihm <strong>das</strong> große,<br />

silberne, vierbeinige Tier, <strong>das</strong> anmutig im Raum umherhüpfte <strong>und</strong><br />

innehielt, als es ihn bemerkte. Obwohl ihm bewusst war, <strong>das</strong>s Patroni<br />

nicht selbst lebten oder handelten, hätte <strong>Harry</strong> schören können, <strong>das</strong>s<br />

dieser ihn ansah <strong>und</strong> nach kurzem Warten langsam, aber nicht<br />

unentschlossen <strong>auf</strong> ihn zuging. Es war ein schönes, großes Tier, dem zu<br />

<strong>Harry</strong>s Patronusform bloß eins fehlte, nämlich <strong>das</strong> Geweih. Es hielt nur<br />

eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt an <strong>und</strong> schaute aus ruhigen,<br />

sanften Augen <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>, der stocksteif <strong>das</strong>tand <strong>und</strong> sich nicht rühren<br />

konnte. Durchdrungen von der Sicherheit <strong>und</strong> Mut, die jeder Patronus<br />

ausstrahlt, stellte er irritiert einen Anflug von Vertrautheit fest, den er<br />

nicht erklären konnte. Das Tier senkte langsam seine schmale Schnauze<br />

<strong>und</strong> sah ihn mit silbernen Augen, die einen Stich ins Grüne zu haben<br />

schienen, einige Sek<strong>und</strong>en direkt an. Auch wenn <strong>Harry</strong> nie einen<br />

Patronus so etwas hatte tun sehen, empfand er keine Angst oder<br />

Bedrohung, sondern nur ein unendliches Verlangen, die Hand<br />

auszustrecken <strong>und</strong> <strong>das</strong> Tier zu berühren, eine Sehnsucht, die ihn fast<br />

zerriss. Bevor er je<strong>doc</strong>h den Arm heben konnte, sprang die Hirschkuh<br />

mit einem eleganten Satz davon <strong>und</strong> entschwand in die Küche, Kälte<br />

<strong>und</strong> Finsternis <strong>zur</strong>ücklassend.<br />

Völlig durcheinander wandte sich <strong>Harry</strong> um <strong>und</strong> sah Hermine, die<br />

hinter ihm stand, einen <strong>und</strong>efinierbaren Ausdruck im Gesicht. Ron starrte<br />

den silbernen Wirbeln immer noch nach.<br />

„Was zum Teufel war <strong>das</strong>?“, presste er hinaus. „Ich habe noch nie<br />

einen Patronus gesehen, der so – äh –“ Ihm schienen die Worte zu<br />

fehlen.<br />

80


„Präsent war“, brachte <strong>Harry</strong> den Satz zu Ende.<br />

„Ja man, <strong>das</strong> war unheimlich“, schüttelte sich Ron.<br />

„Fand ich nicht“, widersprach <strong>Harry</strong>. „Nur eigenartig.“<br />

„Wem gehört er?“, wollte Ron wissen, anscheinend voller<br />

Bew<strong>und</strong>erung angesichts eines so gelungenen Patronus`.<br />

„Snape“, meinte <strong>Harry</strong> widerwillig, auch wenn dieser der letzte war,<br />

an den er jetzt denken wollte. Hermines Behauptung, die Hirschkuh<br />

stehe für seine Mutter, erschien ihm nun nicht mehr so abwegig, zu sehr<br />

war ihm der Patronus vertraut gewesen, obwohl er ihn noch nie gesehen<br />

hatte. Dennoch bannte er weitergehende Überlegungen in einen<br />

entfernten Teil seines Gehirns, den er nie wieder <strong>auf</strong>suchen wollte.<br />

„Hätte nicht gedacht, <strong>das</strong>s der Schleimbeutel so einen Zauber<br />

hinkriegt“, murrte Ron neidisch. „Klar, er ist ein guter Zauberer, aber der<br />

Patronus passt nicht zu ihm. Ich hätte eher eine Kellerassel erwartet<br />

oder eine richtig eklige schleimige Schnecke …“<br />

Hermine verdrehte die Augen, wor<strong>auf</strong>hin Ron schwieg. Die beiden<br />

hatten dem Anschein nach nach ihrem letzten Streit Waffenstillstand<br />

geschlossen <strong>und</strong> versuchten zumindest, sich gegenseitig nicht zu sehr<br />

zu reizen. <strong>Harry</strong> war es recht, auch wenn es ihm derzeit so vorkam, mit<br />

einem H<strong>auf</strong>en hoch explosivem Zündstoff unterwegs zu sein, wenn Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine in der Nähe waren – stets fiel ihm ein Naserümpfen<br />

Hermines über Rons Naivität oder ein Schnauben Rons über Hermines<br />

Hochnäsigkeit <strong>auf</strong>, die beide auch nur deswegen an den Tag zu legen<br />

schienen, um den anderen versteckt <strong>auf</strong>zustacheln.<br />

Der Patronus kam nicht mehr <strong>zur</strong> Sprache, was <strong>Harry</strong> ungemein<br />

erleichterte, <strong>das</strong> letzte, was er brauchte, war eine Diskussion mit<br />

Hermine über Snape <strong>und</strong> <strong>das</strong>s vielleicht sie Recht gehabt hatte.<br />

Dafür sprang sie ihn beinahe an, sobald sie die Zimmertür hinter<br />

sich geschlossen hatte.<br />

„Du hast <strong>das</strong> Buch.“ Das war keine Frage, sondern eine trockene,<br />

unbeirrbare Feststellung.<br />

<strong>Harry</strong> nickte, während Ron „Welches Buch?“, fragte.<br />

„Es ist oben in Sirius` Zimmer“, meinte er <strong>und</strong> wusste, was nun<br />

kam. Hermine war in der Tat schon aus dem Zimmer gerannt.<br />

„Sie wird mir Tag <strong>und</strong> Tag mehr zu einem Rätsel“, schüttelte Ron<br />

den Kopf <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> ratlos an. „Dass sie in anderen Sphären denkt<br />

wie wir, gut, aber wenigstens könnte sie sich zwingen, wie ein normaler<br />

Mensch zu reden.“<br />

Sie liefen Hermine nach <strong>und</strong> holten sie im verborgenen Korridor<br />

ein. Dort stand sie vor Sirius` Zimmertür <strong>und</strong> blickte sie ehrfürchtig an.<br />

<strong>Harry</strong> hatte gerade Zeit, sich zu fragen, wieso sie solch einen Respekt<br />

hatte, in <strong>das</strong> Zimmer zu gehen, sicher hatte sie Sirius gekannt <strong>und</strong><br />

81


gemocht, aber war es nicht etwas anderes, wenn er, dessen Patensohn,<br />

ihm gedachte?, als sie flüsterte:<br />

„Selektionszauber.“ Es war kaum der Hauch eines Flüsterns, <strong>und</strong><br />

Rons Miene wandelte sich von Irritiertheit über völlige Ahnungslosigkeit<br />

zu Sorge, während er Hermine fast genauso ehrfürchtig ansah wie sie<br />

die Tür.<br />

„Irgendwas stimmt nicht mit dir“, zweifelte er <strong>und</strong> wedelte mit der<br />

Hand vor ihrem Gesicht. Sie sah ihn beleidigt an.<br />

„Das ist ein Selektionszauber, du Ignorant. Die sind wahnsinnig<br />

selten, kaum einer kennt sie oder beherrscht sie gar. Weil sie so<br />

unglaublich schwer sind, kommen sie weder in den UTZ noch in den<br />

meisten Ausbildungslehrgängen dran.“<br />

„Was faselst du da?“ Ron trat beschwingt durch die Tür. „Ist <strong>doc</strong>h<br />

nichts dabei! Dein Selektionszauber scheint sich <strong>auf</strong>gelöst zu haben.“<br />

Hermine zwang sich, ihre Wut zu schlucken.<br />

„Das würdest du jetzt nicht sagen, wenn du ein Slytherin oder<br />

Ravenclaw wärst“, meinte sie bissig.<br />

Ein etwas dümmlicher Ausdruck trat in Rons Augen, bevor er<br />

bew<strong>und</strong>ernd sagte: „Clever, clever, <strong>das</strong>s er so etwas konnte …“ Hermine<br />

beachtete ihn nicht weiter.<br />

Zielstrebig ging sie <strong>auf</strong> den Schreibtisch zu <strong>und</strong> durchsuchte die<br />

Schubladen, <strong>und</strong> bevor <strong>Harry</strong> ihr helfen konnte, hielt sie „Mysterien des<br />

Lebens“ in der Hand.<br />

Ron starrte es an. „Sirius hatte <strong>das</strong> Rosier-Buch?“, fragte er<br />

ungläubig.<br />

„Nein, ich habe es gestern aus der Bibliothek genommen“,<br />

berichtigte ihn <strong>Harry</strong>. „Wollte es eigentlich nur mal anschauen, immerhin<br />

war es <strong>das</strong> einzige aus dem Glasschrank, was ich lesen konnte.“<br />

„Ist euch klar, <strong>das</strong>s wir gerade eines der verbotensten Bücher der<br />

Welt in der Hand halten?“, wisperte Hermine <strong>und</strong> schaute unbehaglich<br />

<strong>auf</strong> den Drachenhautledereinband. Sie schien einen Kampf mit sich<br />

selbst auszutragen, ihre nie versiegende Neugier <strong>auf</strong> neue, interessante<br />

Bücher triumphierte je<strong>doc</strong>h nach ein paar Sek<strong>und</strong>en über ihre Ordnungs-<br />

<strong>und</strong> Regelliebe <strong>und</strong> sie schlug <strong>das</strong> Buch <strong>auf</strong>.<br />

„Und überlege erst, was es wert ist!“ Ron sah mit einer anders<br />

begründeten Sehnsucht <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Buch, in dessen Seiten Hermine nun mit<br />

leuchtenden Augen blätterte.<br />

„Du wirst darin vermutlich nicht viel finden“, warnte <strong>Harry</strong> sie in<br />

ihrem Eifer vor. „Es ist voll von Formeln <strong>und</strong> seltsamen Sätzen.“<br />

„Nun, es behandelt eben keinen einfachen Inhalt, sondern die<br />

kompliziertesten Gesetze <strong>und</strong> Phänomene des Lebens“, meinte Hermine<br />

mit begeisterter Stimme, während sie ihren Blick nicht von dem Buch<br />

lassen konnte.<br />

82


„Lass dich bloß nicht beim Orden damit erwischen“, grinste <strong>Harry</strong>.<br />

„Rons Mum würde es dir sofort wegnehmen.“<br />

„Ich würde es mir <strong>auf</strong> der Stelle selbst wegnehmen, wenn … nun,<br />

wenn nicht mein –“<br />

„Verstand aussetzten würde, sobald ein Buch in deiner Nähe ist?“,<br />

schlug Ron vor.<br />

„Jaaaa …“ Entschlossen schlug Hermine <strong>das</strong> Buch zu. „Ich werde<br />

es einen Abend behalten, <strong>und</strong> gleich morgen früh geben wir es dem<br />

Orden. Es ist zu brisant, als <strong>das</strong>s wir es <strong>auf</strong>bewahren könnten. Allein für<br />

den Besitz könnten wir nach Askaban gebracht werden, <strong>das</strong> Absolute<br />

Verbot der Niederschrift der Mysterien von 156 n. Ch. schreibt bei<br />

Zuwiderhandeln eine lebenslängliche Haftstrafe vor. Aber eine Nacht –“<br />

liebevoll sah sie <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Buch – „wird es schon gehen.“<br />

„Und wir sind dir zu schade, um uns in solch eine Gefahr zu<br />

bringen?“, entrüstete sich Ron. „Ich will auch von den Mysterien lesen!“<br />

„Du würdest keine einzige Seite von dem verstehen, was hier<br />

geschrieben steht“, konterte Hermine gehässig.<br />

„Ah, <strong>und</strong> du natürlich schon?“<br />

„Ja, in der Tat!“<br />

„Schluss jetzt“, kam <strong>Harry</strong> einem neuerlichen Streit zuvor.<br />

„Hermine liest von uns am schnellsten, deshalb ist es besser, sie behält<br />

es <strong>und</strong> erzählt uns morgen alles, was sie herausgef<strong>und</strong>en hat.“ Rons<br />

grimmige Miene zeigte sein Missfallen, er schwieg aber. Vermutlich<br />

ahnte er, <strong>das</strong>s er nach einer Seite mit langen, schweren Sätzen ohnehin<br />

<strong>das</strong> Interesse verlieren würde.<br />

So begaben sich die drei, nachdem Ron <strong>und</strong> Hermine noch schnell<br />

Sirius` Zimmer begutachtet hatten, nach unten in ihr Zimmer, wo<br />

Hermine dem Rosier-Buch per Tarnzauber ein neues Aussehen inklusive<br />

Einband gab, so<strong>das</strong>s es für den Rest des Tages aussah, als könne sie<br />

sich nicht von ihrem neuen „Runen für Profis – wenn sie besser sind als<br />

andere“ trennen – was sie auch tatsächlich nicht tat. Während sie<br />

buchstäblich jede Minute in dem Buch las <strong>und</strong> vor Anstrengung die Stirn<br />

mehr <strong>und</strong> mehr runzelte, spielten <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron etliche Partien<br />

Zauberschach, bevor sie sich in eine wilde Diskussion über Quidditch<br />

verloren, <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> derer Hermine entnervt <strong>das</strong> Zimmer verließ <strong>und</strong> in die<br />

Bibliothek ging.<br />

Nach einem sehr faulen Abend gingen Ron <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> spät ins Bett,<br />

letzterer allerdings hatte Schwierigkeiten, einzuschlafen, <strong>und</strong> begab sich<br />

statt dessen vor die Tür, um Hermine noch einen Besuch abzustatten.<br />

Wie erwartet fand er sie in der Bibliothek, obwohl es schon nach<br />

Mitternacht war. Noch immer hing sie über „Mysterien des Lebens“<br />

gebeugt, den Kopf schwer <strong>auf</strong> die Arme gestützt. Als <strong>Harry</strong> sich ihr im<br />

warmen Feuerschein einiger Kerzen, die sie <strong>auf</strong> ihren kleinen Tisch<br />

83


gestellt hatte, näherte, blinzelte sie ihn an, als bräuchten ihre Augen Zeit,<br />

sich an Dinge zu gewöhnen, die weiter als 15 Zentimeter von ihr entfernt<br />

waren.<br />

„Hast du immer noch nicht genug?“, wies <strong>Harry</strong> fragend <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />

Buch.<br />

„Doch, ich bin am Ende“, gab sie erschöpft zu. „Sieben St<strong>und</strong>en<br />

ohne Pause zu lesen strengt sogar mich an.“ Sie schlug <strong>das</strong> Buch zu<br />

<strong>und</strong> streckte ihre Beine, um sie nach dem langen Sitzen zu dehnen.<br />

„Kann ich noch einen Blick hineinwerfen?“, fragte <strong>Harry</strong>.<br />

„Klar“, gähnte sie <strong>und</strong> gab ihm den schweren Wälzer. „Aber<br />

erwarte keine Abenteuergeschichte“, grinste sie schwach. „Das Meiste<br />

ist reine Wissenschaft in entsprechender Sprache. Ich erzähle euch<br />

morgen, was ich gelesen habe, sonst beschwert Ron sich wieder, <strong>das</strong>s<br />

ich ihn außen vorgelassen hätte. Allerdings habe ich nicht wirklich viel<br />

Verständliches herausfiltern können.“<br />

<strong>Harry</strong> fand es schon erstaunlich, <strong>das</strong>s sie es so lange ausgehalten<br />

hatte, in so anspruchsvollen Seiten zu lesen, ein Gefühl, <strong>das</strong> er,<br />

nachdem er Hermine gute Nacht gewünscht hatte <strong>und</strong> alleine in der<br />

riesigen, einsamen Bibliothek saß, bestätigt fand.<br />

Lange, unverständliche Sätze füllten Seiten über Seiten ohne<br />

Abbildungen, allesamt in einer Handschrift verfasst, die nur schwer<br />

lesbar war. Für den Anspruch, <strong>das</strong> geheimste, verbotenste Buch der<br />

Welt zu sein, <strong>das</strong> die größten <strong>und</strong> essentiellsten Rätsel der Welt<br />

behandelte, war es erstaunlich langweilig.<br />

„Die Zeit. Was sagen wir zu dem Medium, <strong>das</strong> uns alle erst von<br />

dem, was wir sind werden lässt zu dem, was wir sein werden, die<br />

Gr<strong>und</strong>substanz, welche die Bewegung der Materie im Gefüge des Seins<br />

ermöglicht <strong>und</strong> den Bestand des Momentanzustandes verhindert …“<br />

Gefüge des Seins ... Momentanzustand …<br />

<strong>Harry</strong> verschwammen die Buchstaben vor den Augen, welche<br />

durch <strong>das</strong> trübe Licht der Kerzen angefangen hatten zu brennen. Er<br />

blätterte durch die 12 Kapitel des Buches, las da einen Satz über die<br />

Lageranordnung der verschiedenen Prophezeiungen in der großen<br />

Halle, die er vor einigen Wochen betreten hatte, dort eine Formel <strong>zur</strong><br />

Berechnung der Gehirnaktivitäten beim Ausführen eines Accio-Zaubers,<br />

<strong>und</strong> ab <strong>und</strong> zu sah er Diagramme <strong>und</strong> Tabellen, die mit unendlichen<br />

Zahlenreihen mehrere Seiten Papier in Anspruch nahmen.<br />

Er beschloss, zu Bett zu gehen, sollten die Mysterien welche für<br />

ihn bleiben, er wurde aus dem Gekritzel einfach nicht schlau. Gähnend<br />

wollte er <strong>das</strong> Buch zuschlagen, da erblickte er etwas, <strong>das</strong> ihm eine<br />

Gänsehaut über den Rücken jagte <strong>und</strong> die Bibliothek <strong>auf</strong> einmal viel<br />

kälter <strong>und</strong> düsterer erschienen ließ. Auf der nächsten Seite war ein Bild<br />

zu sehen, ein Bild von einem <strong>Tor</strong>bogen, den er nur zu gut kannte,<br />

begegnete er ihm <strong>doc</strong>h fast jede Nacht in seinen Albträumen – der alte,<br />

84


schwarze Bogen mit dem sich ohne jeden Wind bewegenden,<br />

abschreckenden Vorhang, den er nur vor sich sehen musste, um ein<br />

Gefühl der Angst <strong>und</strong> des Horrors zu empfinden, <strong>das</strong> nicht nur durch den<br />

Tod von Sirius verursacht wurde.<br />

Die Kapitelüberschrift lautete „Der Tod“, ein kurzer, trockener Text,<br />

der es nicht annähernd schaffte, den Schrecken <strong>und</strong> die Unsicherheit,<br />

die Hilflosigkeit <strong>und</strong> den Verlust zu beschreiben, die mit ihm<br />

einhergingen. <strong>Harry</strong> fing leicht an zu zittern, als er wieder <strong>und</strong> stärker als<br />

in den letzten paar Tagen die alles auslöschende Trauer in sich<br />

<strong>auf</strong>kommen fühlte, die als ein ihn von innen her taub machender Ersatz<br />

für die Leere zu dienen schien, die Sirius hinterlassen hatte.<br />

Beklemmt überflog er die folgenden Sätze, sie sagten ihm nichts,<br />

nichts, was seine Stumpfheit zu überwinden vermochte.<br />

„Wer zu den anderen geht, kommt nicht <strong>zur</strong>ück … die Verbindung<br />

zwischen ihnen <strong>und</strong> uns ist unerforscht. Nie sah jemand je einen durch<br />

den Durchgang <strong>zur</strong>ückkehren, der ihn zuvor durchschritten hatte, nicht<br />

außer am Totentag, nicht für immer. Überlieferte Gerüchte aus dem<br />

zwölften Jahrh<strong>und</strong>ert nach Christus berichten natürlich vom Hexer aus<br />

Hexham. Dokument in der zweiten Schublade des Sperrschrankes, in<br />

dem Aussage von Augenzeugen enthalten ist. Besagt: „Tot ist nicht<br />

immer tot – Person trat unbeschadet aus der Welt der Anderen <strong>und</strong> lebte<br />

noch etliche Jahre.“ An Augenzeugen wurde allerdings später ein<br />

Verwirrungszauber nachgewiesen.“<br />

Ein dumpfer Schlag hallte durch die Bibliothek, als der mit<br />

Drachenhaut bezogene Einband des Buches <strong>auf</strong> den weichen, mit Staub<br />

bedeckten Boden fiel, eine Wolke aus feinen Staubpartikeln um sich<br />

<strong>auf</strong>wirbelnd. Ein einzelnes Einhornhaar, silbrig glänzend im flackernden<br />

Kerzenlicht, war von der Kordel abgerissen worden <strong>und</strong> hing noch in<br />

<strong>Harry</strong>s Faust, die <strong>das</strong> Buch fallen gelassen hatte. Er kümmerte sich nicht<br />

darum, sondern versuchte, mit wild klopfendem Herzen seiner rasenden<br />

Gedanken Herr zu werden.<br />

Zurück? Konnte <strong>das</strong>, was er gerade gelesen hatte, wahr sein?<br />

Oder hatte er Dinge in den Text hineininterpretiert, die ihm seine<br />

verzweifelten Wünsche <strong>auf</strong>gedrängt hatten? Hastig hob er „Mysterien<br />

des Lebens“ vom Boden <strong>auf</strong> <strong>und</strong> überflog die Stelle fieberhaft noch<br />

einmal. Dort stand es, tintenblau <strong>auf</strong> pergamentbeige: „Tot ist nicht tot.“<br />

Unwillkürlich wanderten <strong>Harry</strong>s Augen zum Ausgang der Bibliothek,<br />

hinter der sich Sirius` Zimmer befand.<br />

Tot ist nicht tot.<br />

Sollte <strong>das</strong> stimmen? Es war unglaublich, aber <strong>Harry</strong> hatte in den<br />

fünf Jahren, die er nun schon in der Zaubererwelt verbrachte, gelernt,<br />

<strong>das</strong>s es Dinge gab, die über seinen Verstand hinausgingen. Mit<br />

85


Zauberkraft konnte soviel bewerkstelligt werden, warum sollte man mit<br />

ihr nicht auch gegen den Tod kämpfen können? Dennoch versuchte er,<br />

seine durchbrechende Hoffnung zu unterdrücken. Tote kamen nicht<br />

<strong>zur</strong>ück. Ernüchtert <strong>und</strong> von Schmerz geplagt dachte er an all die<br />

Zauberer <strong>und</strong> Hexen, die er gekannt hatte <strong>und</strong> die gestorben waren. Und<br />

wie unendlich viele musste es geben, denen er nie begegnen würde, <strong>und</strong><br />

die trotzdem jeden Tag irgendwo den Weg in die „andere Welt“, wie sie<br />

im Buch genannt wurde, antreten mussten. Und noch nie hatte er gehört,<br />

gelesen oder gar gesehen, <strong>das</strong>s einer davon ins Leben <strong>zur</strong>ückgekehrt<br />

war. Die Mysterien logen.<br />

Anders konnte es nicht sein.<br />

Nie kehrte jemand <strong>zur</strong>ück.<br />

Entmutigt <strong>und</strong> wütend <strong>auf</strong> sich selbst, <strong>das</strong>s er der Versuchung<br />

erlegen war, Wege <strong>und</strong> Mittel zu suchen, mit denen er wieder in<br />

Verbindung mit Sirius treten konnte, schlug er <strong>das</strong> Buch zu <strong>und</strong> blies die<br />

Kerzen aus, ging aus dem Raum mit der betonten Überzeugung,<br />

vergessen zu können, was er gerade gelesen hatte. Er ignorierte die<br />

helle Holztür mit dem Gryffindor-Spruch <strong>und</strong> lief stattdessen <strong>auf</strong> direktem<br />

Weg in sein Zimmer, wo Ron friedlich <strong>und</strong> ohne Zweifel oder Hader<br />

schlief, ein Bein aus dem Bett baumelnd. Ohne Zeit zu verlieren<br />

verstaute <strong>Harry</strong> „Mysterien des Lebens“ unter seinem Bett <strong>und</strong> zog sich<br />

die Decke über den Kopf, versuchte, nicht an <strong>das</strong> Buch, den Tod oder<br />

Sirius zu denken, ja, er startete sogar einen kläglichen Versuch,<br />

Okklumentik anzuwenden, bis er aus lauter Verbissenheit, seine<br />

Gedanken <strong>und</strong> Gefühle aus seinem Kopf zu bekommen, einschlief.<br />

Am nächsten Morgen erwachte <strong>Harry</strong> nach einer unruhigen <strong>und</strong><br />

kurzen Nacht unausgeschlafen, zwang sich aber dennoch, <strong>auf</strong>zustehen<br />

<strong>und</strong> mit Ron zu plaudern. Kurz dar<strong>auf</strong> stürmte Hermine fröhlich ins<br />

Zimmer, <strong>Harry</strong> fragend ansehend, wor<strong>auf</strong>hin er ihr wortlos „Mysterien<br />

des Lebens“ reichte.<br />

Seufzend strich sie noch einmal über den Drachenhauteinband <strong>und</strong><br />

nahm den Tarnzauber von ihm, bevor die drei sich <strong>auf</strong> den Weg <strong>zur</strong><br />

Treppe machten, um dem Orden <strong>das</strong> Buch zu übergeben.<br />

Eine Stufe. <strong>Harry</strong> bekam den Hexer von Hexham nicht aus seinem<br />

Kopf. Die nächste Stufe. Aber <strong>das</strong> war alles gelogen, war <strong>das</strong> Werk<br />

eines gestörten, von einem Verwirrungszauber getroffenen Zeugens. Die<br />

dritte Stufe. Dennoch: er wurde den Mysteriumstext nicht los, der ihm im<br />

Kopf umherschwirrte wie eine lästige Fliege.<br />

„Ron, Hermine.“<br />

Er stoppte <strong>auf</strong> der Treppe, direkt neben dem Bild eines schattigen<br />

Weihers, an dessen Ufer eine Herde Rehe graste. Eine Ricke wandte<br />

ihm neugierig den Kopf zu. Ich sehe nur noch die Toten, dachte <strong>Harry</strong><br />

betrübt.<br />

86


„Was?“ Hermine sah ihn forschend an.<br />

„In dem Buch“, begann <strong>Harry</strong> langsam, nicht sicher, wie er <strong>das</strong> in<br />

Worte fassen konnte, welche nicht allzu verrückt klangen, „gibt es ein<br />

Kapitel über den Tod.“<br />

„Ja?“, runzelte Hermine die Stirn. „Nun, muss es wohl, da wir selbst<br />

im Raum des Todes gewesen sind. Aber ich bin bis zu dem Teil des<br />

Buches nicht mehr gekommen.“<br />

„Dieses Kapitel berichtet über den <strong>Tor</strong>bogen mit dem Vorhang, ihr<br />

wisst schon, der mit den unheimlichen Stimmen.“<br />

„<strong>Harry</strong>, wir beide haben nie Stimmen gehört“, klang Hermine nun<br />

ein wenig vorsichtig, als nähere sich <strong>das</strong> Gespräch einem Terrain, <strong>auf</strong><br />

dem die von ihr geliebte Logik einen schweren Stand hatte.<br />

Jetzt fiel es ihm wieder ein, nur er <strong>und</strong> Luna hatten die leisen,<br />

flüsternden Stimmen hören können, die scheinbar von jenseits des<br />

<strong>Tor</strong>bogens kamen.<br />

„Jedenfalls waren da Stimmen“, entgegnete er trotzig.<br />

„OK, wir nehmen für den Augenblick an, <strong>das</strong>s da tatsächlich<br />

Stimmen waren“, stöhnte Hermine. „Egal, ich denke, wir alle wissen,<br />

welchen Bogen du meinst.“ <strong>Harry</strong> ignorierte ihre schnippische Art, viel zu<br />

<strong>auf</strong>gewühlt von dem, was er über den Hexer gelesen hatte.<br />

Er schaute sich nach allen Seiten um <strong>und</strong> entdeckte im ersten<br />

Stock eine Tür, <strong>auf</strong> die er wies <strong>und</strong> den anderen bedeutete,<br />

mitzukommen.<br />

Der Raum dahinter stelle sich als eine Art kleines<br />

Aufenthaltszimmer heraus, von dem es anscheinend ungezählte im<br />

Black-Haus gab. <strong>Harry</strong> knallte „Mysterien des Lebens“ <strong>auf</strong> den Tisch <strong>und</strong><br />

blätterte bis zu dem ominösen Kapitel, <strong>das</strong> er Ron <strong>und</strong> Hermine zum<br />

Lesen gab.<br />

Als die beiden fertig waren, schaute Hermine nachdenklich in die<br />

Luft, Ron hatte einen fast ehrfurchtsvollen Ausdruck <strong>auf</strong> dem Gesicht.<br />

„Soll <strong>das</strong> heißen, <strong>das</strong>s Tote <strong>zur</strong>ückkehren können?“, fragte er mit großen<br />

Augen. „Aber wieso hat es dann noch niemand getan – außer diesem<br />

Hexer, <strong>und</strong> <strong>das</strong> ist über zwei Jahrtausende her.“<br />

„Eben“, warf Hermine ein. „Es scheint nur dieses eine Beispiel zu<br />

geben, <strong>das</strong> die These untermauert. Und derjenige, der <strong>das</strong> Beispiel<br />

bezeugt, ist verwirrt. Ehrlich gesagt, von allen Standpunkten aus, dem<br />

logischen, rechtlichen <strong>und</strong> magischen, kann man dem Kapitel keinen<br />

Glauben schenken. Überhaupt, ich habe aus dem ganzen Buch nichts<br />

Verständliches herauslesen können.“<br />

<strong>Harry</strong> hatte eine solche Reaktion erwartet, wiederholte Hermine<br />

<strong>doc</strong>h eben die Argumente, mit denen er sich die halbe Nacht versucht<br />

hatte, ein<strong>zur</strong>eden, <strong>das</strong>s alles, was dort stand, eine Lüge war.<br />

„OK“, brachte er die Idee ein, die er sich dar<strong>auf</strong>hin <strong>zur</strong>echtgelegt<br />

hatte, „<strong>das</strong> hört sich zwar vernünftig an, aber was ist, wenn der Zeuge<br />

87


erst nachdem er den Hexer <strong>zur</strong>ückkehren sah, verzaubert wurde?“ Eifrig<br />

schaute er seine Fre<strong>und</strong>e an.<br />

„Wieso <strong>das</strong>?“ w<strong>und</strong>erte sich Ron.<br />

„Vielleicht war es der Hexer selbst, der nicht wollte, <strong>das</strong>s jemand<br />

wusste, <strong>das</strong>s er wieder am Leben war. Oder andere Unsägliche haben<br />

ihn verwirrt, um zu verhindern, <strong>das</strong>s er etwas ausplaudert, um die Sache<br />

zu vertuschen <strong>und</strong> selbst Profit daraus zu schlagen.“<br />

„Zu vertuschen, <strong>das</strong>s Tote <strong>zur</strong>ückkommen können?“, staunte Ron.<br />

„Das wäre die Mysteriumsabteilungsentdeckung des Jahrtausends, noch<br />

spektakulärer als die Entwicklung des Patronus-Zaubers!“<br />

Beide, <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine sahen ihn perplex an.<br />

„Hat Dad mal erzählt“, wurde Ron rot.<br />

Hermine nickte anerkennend <strong>und</strong> wandte sich <strong>Harry</strong> zu. „So dumm<br />

wie die Theorie <strong>auf</strong> den ersten Blick klingt, ist sie nicht. Nein, hört zu“,<br />

beharrte sie, als Ron sie unterbrechen wollte, „natürlich wäre es eine<br />

wissenschaftliche Revolution, wenn ein Weg zwischen den Welten<br />

gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> genutzt werden könnte. Niemand müsste mehr sterben.<br />

Aber genau <strong>das</strong> liegt <strong>doc</strong>h <strong>das</strong> Problem.“ Ihre Stimme klang seltsam<br />

belegt. „Der Tod ist notwendig. Menschen müssen schlicht <strong>und</strong><br />

ergreifend sterben.“<br />

„So ein Unsinn“, herrschte <strong>Harry</strong> sie an. „Das kannst du nur sagen,<br />

weil du noch nie jemanden richtig gekannt <strong>und</strong> gemocht hast, der<br />

sterben musste! Du weißt nicht, wie <strong>das</strong> ist, wenn du einen Fre<strong>und</strong> oder<br />

Verwandten für immer verloren hast, genau weißt, <strong>das</strong>s du nie wieder<br />

mit ihm wirst sprechen können, <strong>und</strong> die Trauer <strong>und</strong> Verzweiflung dir den<br />

Verstand nehmen, so<strong>das</strong>s du nach jedem kleinen Strohhalm suchst, um<br />

einen Ausweg zu finden, um <strong>das</strong> Geschehene ungeschehen zu machen,<br />

<strong>und</strong> sei es, in einem alten, dummen Buch irgendwelche Geschichten von<br />

verzauberten, verwirrten Leuten zu lesen <strong>und</strong> sich daran zu klammern!“<br />

Wutentbrannt schnaubte er sie an, sie wusste gar nichts, wusste<br />

nicht, von was sie da erzählte. Er hatte gehofft, die beiden würden ihn<br />

verstehen, sich zumindest vernünftig mit dem Hexer von Hexham<br />

auseinander setzen <strong>und</strong> diskutieren, ob es vielleicht <strong>doc</strong>h eine winzig<br />

kleine Chance gab, Sirius <strong>zur</strong>ückzuholen. Stattdessen wollte Hermine<br />

ihm weismachen, <strong>das</strong>s der Tod unabänderlich <strong>und</strong> sogar unentbehrlich<br />

war.<br />

Sie schien <strong>auf</strong> ihrem Stuhl immer kleiner zu werden, hatte aber<br />

trotzdem einen trotzigen Blick <strong>auf</strong>gesetzt.<br />

„Eben“, versuchte sie langsam <strong>und</strong> sanft zu erklären, „der Tod ist<br />

ein Thema, <strong>das</strong> von Menschen, die ihn fürchten oder unter ihm leiden,<br />

nicht objektiv beurteilt werden kann.“<br />

<strong>Harry</strong> sah sie mordlüstern an.<br />

„Stellt euch <strong>doc</strong>h mal vor, keiner würde mehr endgültig sterben. Es<br />

werden Menschen geboren, jeden Tag, aber keiner würde für sie<br />

88


weichen müssen. Das würde zu Überbevölkerung, Entwicklungsstillstand<br />

<strong>und</strong> einer Unmenge an Konflikten führen. Der Tod ist ein natürlicher<br />

Katalysator, der für <strong>das</strong> Bestehen der Menschen notwendig ist.“<br />

Ron schwante wohl Übles, denn er sprang vor, um <strong>Harry</strong><br />

festzuhalten, aber der stürzte bereits zu Hermine hin <strong>und</strong> schrie sie an,<br />

nun außer sich vor Wut.<br />

„Du musst immer mit deiner Logik, mit deiner Objektivität kommen!<br />

Soll ich dir was sagen? Es gibt keine Objektivität, sondern nur jeden<br />

einzelnen von uns, der sein eigenes Leben sieht <strong>und</strong> danach urteilt!“<br />

„Genau deswegen –“, versuchte Hermine anzusetzen, nun Tränen<br />

in den Augen, aber <strong>Harry</strong> ließ ihr keine Chance.<br />

„Ich glaube du hast gar nicht die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden,<br />

weil du zu sehr durchdrungen bist von deiner alles bestechenden, über<br />

jedem stehenden Logik!“<br />

„<strong>Harry</strong> James <strong>Potter</strong>!“, kreischte Hermine <strong>und</strong> sprang ebenfalls <strong>auf</strong>,<br />

wischte sich die Tränen weg.<br />

„Jetzt fängst du schon an wie meine Mutter“, setzte <strong>Harry</strong> einen<br />

reflexartigen Satz gehässig dagegen.<br />

„Ach, woher willst du <strong>das</strong> wissen?“, zischte Hermine, während Ron<br />

immer noch mit der erfolglosen Aufgabe beschäftigt war, die beiden<br />

auseinander zu halten.<br />

„Gar nicht, <strong>und</strong> zwar genau wegen solchen Leuten wie dir“, sagte<br />

<strong>Harry</strong> kalt <strong>und</strong> hart.<br />

Hermine sank in sich zusammen, schaute ihn abgr<strong>und</strong>tief entsetzt<br />

an <strong>und</strong> rannte schluchzend aus dem Zimmer.<br />

Ron gelang es endlich, <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> einen Stuhl zu drängen. Einige<br />

Minuten herrschte Stille.<br />

„Ich hasse ihre Art manchmal“, knurrte <strong>Harry</strong> unnötig heftig. Ihm<br />

selbst tat der Streit schon wieder leid. Er hatte Hermine nicht verletzen<br />

wollen, aber emotionale Überreaktionen waren leider immer noch seine<br />

Schwäche.<br />

„Klar, aber deswegen lohnt es sich nicht zu streiten“, wiegelte Ron<br />

ab. Ihn als vernünftigen Schlichter zu erleben, ließ <strong>Harry</strong> nun fast<br />

grinsen. „Vermutlich war der Hexer-Zeuge sowieso ein Spinner <strong>und</strong><br />

niemand ist von den Toten <strong>zur</strong>ückgekehrt. Ihr habt also beide Unrecht.“<br />

„Danke für die Aufmunterung“, seufzte <strong>Harry</strong>.<br />

Ron meinte neugierig: „Ich wusste gar nicht, <strong>das</strong>s du einen zweiten<br />

Vornamen hast.“<br />

„Ich auch nicht.“<br />

„Es ist richtig gehend unheimlich, was sie alles weiß <strong>und</strong> wir nicht.<br />

Soll ich dir was sagen – sie ist uns unerreichbar weit voraus <strong>und</strong> wird<br />

<strong>das</strong> immer sein.“<br />

89


Entgegen ihrer beider Befürchtungen gestaltete sich <strong>das</strong> Verhältnis<br />

mit Hermine nicht so schwierig wie nach dem Streit erwartet; sie schien<br />

genauso wenig Interesse an gegenseitigem Anschweigen zu haben wie<br />

<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron, so<strong>das</strong>s sie sich bei <strong>Harry</strong> entschuldigte <strong>und</strong> zusetzte:<br />

„Der Hexer hat wahrscheinlich ohnehin nicht existiert“, <strong>und</strong> da er<br />

ebenfalls seinen Fehler eingestand, zu heftig <strong>und</strong> <strong>auf</strong>brausend reagiert<br />

zu haben, war die Auseinandersetzung für sie erledigt.<br />

Was <strong>Harry</strong> allerdings um einiges weniger einfach fiel, war,<br />

„Mysterien des Lebens“ zu vergessen. Der Orden hatte <strong>das</strong> Buch mit<br />

großer Überraschung <strong>und</strong> Freude <strong>auf</strong>genommen, sogar misstrauische<br />

Fragen, wo es denn plötzlich <strong>auf</strong>getaucht sei, blieben aus. Es wurde<br />

beschlossen, <strong>das</strong> Buch vor dem Ministerium <strong>auf</strong> jeden Fall geheim zu<br />

behalten, <strong>und</strong> es in den nächsten Monaten von zwei Unsäglichen, die<br />

Mitglieder des Ordens waren, <strong>auf</strong> inhaltliche Fehler untersuchen zu<br />

lassen <strong>und</strong> eventuell nützliche Zauber gegen im Kampf gegen die<br />

Todesser dar<strong>auf</strong> zu ziehen. <strong>Harry</strong>, Ron, Hermine <strong>und</strong> Ginny durften mit<br />

abstimmen.<br />

So schnell, <strong>das</strong>s er es kaum bemerkt hatte, kam der letzte Julitag<br />

<strong>und</strong> damit sein 16. Geburtstag. Die Sonne schien, als er erwachte <strong>und</strong><br />

erstaunt Ron, Hermine, Mr. <strong>und</strong> Mrs. Weasley, Fred, George, Bill, Ginny,<br />

Lupin, Moody, Kingsley, M<strong>und</strong>ungus Fletcher <strong>und</strong> Tonks an seinem Bett<br />

stehen <strong>und</strong> lauthals „Happy Birthday“ im durch die geschlossenen<br />

Fenster getrübt hereinflutenden Licht singen hörte.<br />

„Danke“, stammelte er, leicht errötend, als sie fertig waren. Mrs.<br />

Weasley umarmte ihn. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“,<br />

meinte sie fröhlich <strong>und</strong> überreichte ihm ein riesiges Päckchen in rotgoldenem<br />

Papier mit einem kleinen Phönix, der mittels farbenfrohen<br />

Bändern an dem Paket festgeb<strong>und</strong>en war, ungeduldig mit seinen<br />

winzigen Flügeln schlug <strong>und</strong> dabei heißer kreischte. Dann traten Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine vor. Auch sie umarmte ihn kurz, wor<strong>auf</strong>hin Ron einen leicht<br />

verdrießlichen Ausdruck bekam, der aber schnell wieder verschwand, als<br />

er <strong>Harry</strong> ebenfalls gratulierte. Von beiden bekam er ein Päckchen, <strong>das</strong> er<br />

zu dem von Mrs. Weasley <strong>auf</strong> den Nachttischschrank legte.<br />

Anschließend, als alle anderen ihre Glückwünsche losgeworden waren,<br />

trat Lupin vor <strong>und</strong> übergab <strong>Harry</strong> einen Briefumschlag.<br />

„Wir haben uns überlegt, <strong>das</strong>s wir alle zusammenlegen <strong>und</strong> dir ein<br />

Geschenk suchen, an <strong>das</strong> du dich noch lange erinnern kannst. Immerhin<br />

wird man nicht jeden Tag 16.“ Gespannt wurde <strong>Harry</strong> von den<br />

Ordensmitgliedern beobachtet, während er <strong>das</strong> schöne Pergamentpapier<br />

des Briefes <strong>auf</strong>riss <strong>und</strong> ein Stückchen Schreibpergament entfaltete, <strong>auf</strong><br />

dem in dunkelroter, glitzernder Tinte geschrieben stand:<br />

90


Herzlichen Glückwunsch zum neuen Lebensjahr! Da jeder Tag uns<br />

etwas Neues bringen, uns zu wichtigen Erfahrungen leiten soll, möchten<br />

wir dir ein Erlebnis schenken, welches dir für dein weiteres Leben viele<br />

neue Sichten beschert.<br />

Der Phönixorden<br />

Darunter fand <strong>Harry</strong> eine mit einer Büroklammer angeheftete<br />

Fahrkarte. Er besah sie sich genauer. Es handelte sich um ein Zugticket,<br />

<strong>das</strong> von London nach Paris führte, von dort nach Madrid <strong>und</strong> Lissabon,<br />

<strong>und</strong> darunter fand er noch ein Flugticket von Portugal <strong>zur</strong>ück nach<br />

London. Perplex schaute er <strong>auf</strong>.<br />

„Na ja“, meinte Mr. Weasley zwinkernd, „ehrlich gesagt, für die<br />

Unterbringung müsst ihr selbst sorgen – aber wir denken, ihr werdet Mrs.<br />

Figgs Zelt zu verwenden wissen.“<br />

„Ihr?“, war alles, was <strong>Harry</strong> völlig überwältigt herausbrachte.<br />

„Wir haben auch welche!“, rief Hermine begeistert, offensichtlich<br />

glücklich, diese Information endlich loswerden zu können, nachdem sie<br />

die letzten zwei Minuten ungeduldig <strong>auf</strong>- <strong>und</strong> abgewippt war <strong>und</strong> wedelte<br />

mit zwei anderen Karten.<br />

„Oder denkst du, wir lassen dich völlig alleine durch die Welt<br />

ziehen?“, grinste Ron. „Jeder weiß <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s du nur Unsinn anstellst,<br />

wenn du <strong>auf</strong> dich gestellt bist.“<br />

„Und <strong>das</strong>s noch mehr Unsinn geschieht, wenn ihr dabei seid.“<br />

<strong>Harry</strong> lachte <strong>auf</strong>, konnte noch nicht ganz fassen, <strong>das</strong>s sie drei bald<br />

unterwegs in Europa sein würden, ohne Aufsicht tun <strong>und</strong> lassen konnten,<br />

was sie wollten. Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht.<br />

„Ist <strong>das</strong> nicht zu gefährlich?“, fragte er. Den Namen Voldemorts<br />

erwähnte er nicht, aber dem Phönixorden brauchte man dar<strong>auf</strong> wohl<br />

nicht <strong>auf</strong>merksam zu machen.<br />

„Nun, deswegen werdet ihr als Muggel reisen, <strong>auf</strong> Muggelart <strong>und</strong><br />

euch nur in Muggelgebieten <strong>auf</strong>halten“, erklärte Moody. „Und natürlich<br />

werden Vorkehrungen getroffen, Zauber <strong>und</strong> Kommunikationsmöglichkeiten<br />

eingerichtet werden, so<strong>das</strong>s wir immer wissen, wo ihr seid<br />

<strong>und</strong> euch in Sek<strong>und</strong>en <strong>zur</strong> Hilfe kommen können.“<br />

<strong>Harry</strong> verstand, der Orden stellte für diese Zeit einen Zauberer nur<br />

für ihn ab, der die ganze Zeit überwachte, ob die drei in Gefahr waren,<br />

aber in London blieb.<br />

„Wir fanden ganz einfach, <strong>das</strong>s Voldemort dir nicht die Möglichkeit<br />

nehmen darf, ein eigenes Leben zu führen“, meinte Lupin.<br />

„Danke“, erwiderte <strong>Harry</strong> ehrlich. „Das ist <strong>das</strong> schönste Geschenk,<br />

<strong>das</strong> ich je bekommen habe.“<br />

Nach einer Weile waren die Ordensmitglieder wieder gegangen,<br />

<strong>und</strong> <strong>Harry</strong> blieb mit Ron <strong>und</strong> Hermine alleine <strong>zur</strong>ück.<br />

91


„Das wird klasse, Mann“, strahlte Ron <strong>und</strong> schlug <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die<br />

Schulter. „Nur wir drei <strong>und</strong> zwei Wochen voller Freiheit!“ In seiner seligen<br />

Freude schien ihn aber ein störender Gedanke zu überkommen.<br />

„Allerdings wird es vor nächstem Sommer nichts werden.“<br />

„Wieso?“, fragte <strong>Harry</strong> enttäuscht.<br />

„Weil meine Mum überhaupt nur eingewilligt hat, mich gehen zu<br />

lassen, wenn ich volljährig bin. Und <strong>das</strong> werde ich erst nächsten März –<br />

da wir uns in den Osterferien <strong>auf</strong> die Prüfungen vorbereiten müssen,<br />

schätze ich, haben wir erst nach dem sechsten Schuljahr Zeit.“<br />

Hermine schien <strong>Harry</strong> nicht die Laune verderben zu wollen <strong>und</strong><br />

wandte schnell ein:<br />

„Dadurch haben wir noch fast ein Jahr Vorbereitungszeit <strong>und</strong><br />

können uns genau überlegen, wohin wir wollen <strong>und</strong> was wir sehen <strong>und</strong><br />

tun möchten. Wir könnten z.B. eine Liste <strong>auf</strong>stellen, in die jeder ein paar<br />

Dinge schreibt, die ihn interessieren oder die er schon immer ein Mal tun<br />

wollte. Ich z.B. möchte einen Tag surfen gehen.“<br />

„Das kannst du <strong>doc</strong>h gar nicht“, prustete Ron.<br />

„Eben deswegen will ich es lernen, du unverbesserlicher Zweifler.“<br />

„Abgesehen davon“, grinste <strong>Harry</strong>, der Hermine genau kannte,<br />

„kannst du uns nicht weismachen, <strong>das</strong>s diese Liste nicht schon existiert.<br />

Du kennst Frankreich, Spanien <strong>und</strong> Portugal sicher bereits besser als<br />

jeder Reiseführer.“<br />

Hermine lief leicht rot an <strong>und</strong> murmelte etwas von Langeweile in<br />

den Ferien, wor<strong>auf</strong>hin <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron sich einen viel wissenden Blick<br />

zuwarfen.<br />

„Aber ihr seit jetzt an der Reihe“, forderte sie energisch. „Lest euch<br />

<strong>doc</strong>h ein wenig in die Geschichte dieser Länder ein, damit ihr eine<br />

genaue Vorstellung davon habt, was uns erwartet –“<br />

„Ach, warum denn?“, gähnte Ron faul. „Du weißt <strong>doc</strong>h alles, wir<br />

müssen dich nur fragen.“<br />

Hermine gab es <strong>auf</strong>.<br />

Neugierig wandte <strong>Harry</strong> sich nun den drei Päckchen <strong>auf</strong> seinem<br />

Nachtschrank zu.<br />

Mrs. Weasleys Geschenk enthielt neben einigen kleinen, lecker<br />

aussehenden Kuchen den ihm mittlerweile bekannten Pullover, diesmal<br />

in dunklem Grün mit einem kleinen, kunstvoll gewebten Phönix <strong>auf</strong> dem<br />

Rücken.<br />

„Jeder vom Orden ist inzwischen mit einem davon ausgestattet“,<br />

lachte Ron. „Sie hat sich nur nicht getraut, Snape auch einen<br />

anzubieten. Was wohl auch besser so ist. Stell dir vor, er würde damit<br />

vor Du-Weißt-Schon-Wem herumstolzieren.“<br />

Außer dem Pullover fand <strong>Harry</strong> einen selbst gebastelten Kalender,<br />

der zwar für nächstes Jahr war, dafür aber fantastische Bilder von<br />

Hogwarts, Hogsmeade, der Winkelgasse, sogar dem Fuchsbau <strong>und</strong> der<br />

92


Quidditch-WM enthielt, <strong>auf</strong> einigen waren auch Ron <strong>und</strong> Hermine zu<br />

sehen, Hagrid mit Seidenschnabel oder – <strong>Harry</strong> zuckte unmerklich<br />

zusammen, Sirius in der Küche des Black-Hauses. Er strahlte in die<br />

Kamera, nichts ließ ahnen, <strong>das</strong>s er wenige Wochen nach dieser<br />

Aufnahme tot sein würde. Genauso wie die meisten der Mitglieder <strong>auf</strong><br />

dem Foto des alten Ordens, <strong>das</strong> er <strong>Harry</strong> vor einem Jahr gezeigt hatte.<br />

„Der Orden hat die Fotos in den letzten Monaten zusammengestellt<br />

– Mrs. Weasley dachte, es wäre eine schöne Idee, dir Bilder von der<br />

Zaubererwelt zu schenken – weil du noch keine hast, <strong>und</strong> besonders für<br />

deine Zeit bei den Dursleys. Und weil Ron ihr erzählt hat, <strong>das</strong>s er noch<br />

nie einen Kalender bei dir gesehen hat.“<br />

„Das stimmt“, meinte <strong>Harry</strong> beschwingt, „<strong>und</strong> im Ligusterweg muss<br />

ich nicht immer nur Dudleys dummes Gesicht vor mir sehen.“<br />

Nun machte er sich an Rons Geschenk. Erstaunt entnahm er dem<br />

sehr kleinen Päckchen eine Karte, die mit einem Besen versehen war.<br />

„In Hogwarts wird dieses Jahr ein Länderspiel ausgetragen“,<br />

erklärte dieser mit wachsender Begeisterung in der Stimme. „Schottland<br />

gegen England, der Klassiker des britannischen Quidditch-Sports.<br />

Wegen der Unruhen durch die Todesser werden dieses Jahr nur Spiele<br />

an absolut sicheren Orten ausgetragen – <strong>und</strong> da gehört Hogwarts<br />

natürlich dazu. Wegen des kleinen Stadions war es irre schwer, an<br />

Karten zu kommen, aber Dad hat uns drei im Ministerium besorgt. Eine<br />

Mitarbeiterin der Abteilung für magische Sportarten ist im Orden.“<br />

„Wirklich eine klasse Idee, danke!“, meinte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> begann sich<br />

schon jetzt <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Spiel zu freuen.<br />

Schließlich machte er sich daran, sein letztes Geschenk<br />

auszupacken, <strong>das</strong> von Hermine.<br />

Es überraschte ihn nicht wirklich, als er zwei dicke Bücher<br />

auswickelte, zusammen mit einer ganzen Wagenladung an Süßigkeiten.<br />

„Da ich wusste, was du von den anderen bekommst, dachte ich,<br />

Bücher würden dazu ganz gut passen“, meinte sie unbeschwert. „Und<br />

diese kannst du wohl gut gebrauchen. Das eine ist für deinen Unterricht,<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> andere eher als Unterhaltung gedacht.“<br />

Bei dem Wort „Unterricht“ ahnte <strong>Harry</strong> Übles <strong>und</strong> stellte sich ein<br />

todlangweiliges Buch über Singzauber oder Ähnliches vor, als er aber<br />

<strong>das</strong> in einem hübschen dunklen Blauton gehaltene Werk näher<br />

betrachtete, sah er, <strong>das</strong>s es Verteidigung gegen die dunklen Künste<br />

behandelte, <strong>und</strong> zwar, soweit er beim Überfliegen abschätzen konnte,<br />

nicht den Anfängerstoff, den er aus dem Unterricht kannte, sondern<br />

fortgeschrittene Zauber <strong>und</strong> einige seltene Anwendungen.<br />

„Ach so!“, rief er lachend, „du meintest tatsächlich für meinen<br />

Unterricht!“<br />

93


„Es enthält viele Zauber <strong>und</strong> Hexerein, die in den Standardwerken<br />

des Schulunterrichts nicht behandelt werden“, erklärte Hermine. „So weit<br />

ich weiß, wird es auch in der Aurorenausbildung mit verwendet.“<br />

„Toll“, freute sich <strong>Harry</strong>. „Damit lassen sich die DA-St<strong>und</strong>en sicher<br />

noch verbessern, vielleicht können wir daraus statt einer<br />

Unterrichtsalternative sogar eine Art Fortgeschrittenenkurs machen,<br />

insofern wir im normalen Unterricht dieses Jahr endlich einen<br />

ordentlichen Lehrer haben.“<br />

„Falls die DA noch existiert“, warnte Ron.<br />

„Dann werden wir sie eben wieder zum L<strong>auf</strong>en bringen“, antwortete<br />

<strong>Harry</strong> entschlossen.<br />

Das zweite Buch handelte zu seiner Verblüffung von antiken<br />

Sagen.<br />

Hermine sah seine Verwirrung <strong>und</strong> meinte: „Ich hoffe immer noch,<br />

etwas zu finden, was dir Spaß macht zu lesen. Vielleicht sind es ja<br />

Sagen. Abgesehen davon ist es sehr spannend, in diesen Sagen<br />

magische Einflüsse zu entdecken. Nicht alles davon ist nur Mythos.“<br />

<strong>Harry</strong> erinnerte sich vage an seine Schulzeit in der Muggelwelt, wo<br />

er auch einige der bekannten Sagen hatte lesen müssen. Soweit er<br />

wusste, hatte er sie immer ganz interessant gef<strong>und</strong>en.<br />

„Vielen Dank euch beiden“, meinte er, während er die Geschenke<br />

<strong>auf</strong> seinem Nachtschrank verstaute. „So viel Schönes habe ich noch nie<br />

bekommen.“<br />

Den Rest des Tages verbrachte er mit seinen Geschenken, aber<br />

auch damit, zusammen mit Ron eine wilde Diskussion gegen Hermine zu<br />

führen, die die beiden davon überzeugen wollte, weiter für <strong>das</strong> nächste<br />

Schuljahr vorzuarbeiten. Schließlich gab sie ihre Beteuerungen, sie<br />

würden durch jede Jahresabschlussprüfung fallen, <strong>auf</strong> <strong>und</strong> wendete sich<br />

lieber ihrem neuen Arithmantik-Buch zu.<br />

<strong>Harry</strong> verzog sich am Abend mit seinem Sagenbuch ins<br />

Schlafzimmer, während Ron verträumt in einer Ausgabe der "Quidditch<br />

täglich" blätterte, einer Sportzeitung mit den neuesten Ligaberichten, <strong>und</strong><br />

bei besonders interessanten Neuigkeiten überrascht <strong>auf</strong>stöhnte.<br />

Unentschlossen, mit welcher Geschichte er beginnen wollte,<br />

überflog <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> Inhaltsverzeichnis <strong>und</strong> entschied sich dann für die<br />

Geschichte des Tantalos <strong>und</strong> danach für die der Europa, bevor er<br />

schließlich in <strong>das</strong> Buch vertieft von den Abenteuern des Orpheus las.<br />

Plötzlich, als er begriff, was dort geschrieben stand, sprang er mit<br />

klopfendem Herzen <strong>auf</strong> <strong>und</strong> rief Ron. Dieser schaute abwesend von<br />

seiner Zeitschrift <strong>auf</strong>.<br />

„Was?“<br />

„Hier steht es auch!“, plapperte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>geregt.<br />

„Was steht wo? Du hörst dich langsam an wie Hermine.“<br />

94


„Die <strong>Unterwelt</strong>! In dem Buch steht, wie jemand – äh, namens<br />

Orpheus in die <strong>Unterwelt</strong> ging, um seine tote Frau vom Tod<br />

<strong>zur</strong>ückzufordern!“<br />

„Und hat er sie bekommen?“, fragte Ron neugierig.<br />

„Mmm, nein, weil er geschummelt hat … Aber <strong>das</strong> ist <strong>doc</strong>h egal.<br />

Tatsache ist, hier steht ein weiterer Beweis dafür, <strong>das</strong>s man in die<br />

<strong>Unterwelt</strong> <strong>und</strong> wieder <strong>zur</strong>ück gelangen kann.“<br />

„Die Geschichte kenne ich“, meinte Ron <strong>und</strong> beugte sich über <strong>das</strong><br />

Sagenbuch. „Mum hat sie uns manchmal erzählt, als wir noch klein<br />

waren. Wieso haben Muggel dieselben Sagen wie wir?“<br />

„Hermine meinte, in einigen der Geschichten steckt magischer<br />

Einfluss – vielleicht war Orpheus ein Zauberer …“<br />

„Ja, aber dennoch ist es nur eine Geschichte“, meinte Ron<br />

langsam.<br />

„Wir rufen Hermine“, bestimmte <strong>Harry</strong>. Zwar hatte er den Streit mit<br />

ihr nicht vergessen, dem ungeachtet wusste sie je<strong>doc</strong>h mehr über<br />

Geschichte der Zauberei als sie beiden zusammen.<br />

„Bin zu faul“, murrte Ron. „Wahrscheinlich ist sie in der Bibliothek,<br />

<strong>das</strong> ist eine Meile weit weg.“<br />

„Dann nehmen wir eben die DA-Münzen“, entschied <strong>Harry</strong>. Er<br />

suchte aus seinem Geldsäckchen die mit einer ihm nur zu bekannten<br />

Nummer versehene Galleone <strong>und</strong> tippte sie sanft mit seinem Zauberstab<br />

an, wor<strong>auf</strong>hin sie heiß wurde <strong>und</strong> ihre Zahlen änderte. Er hatte <strong>das</strong><br />

aktuelle Datum <strong>und</strong> die momentane Uhrzeit eingraviert.<br />

Tatsächlich erschien Hermine fünf Minuten später <strong>und</strong> schaute die<br />

beiden erstaunt an.<br />

„Wieso habt ihr die Münzen aktiviert?“, wollte sie wissen.<br />

„Weil wir dich was fragen müssen“, antwortete <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> wollte ihr<br />

<strong>das</strong> Sagenbuch unter die Nase halten.<br />

„Seid ihr völlig durchgebrannt?“, rief sie, riss ihren Zauberstab<br />

hervor <strong>und</strong> murmelte hektisch ein paar Worte, während sie die Münze<br />

leicht damit berührte.<br />

„Habt ihr vielleicht daran gedacht, <strong>das</strong>s alle DA-Mitglieder dieselbe<br />

Nachricht erhalten haben? Natürlich kann jetzt kein DA-Treffen sein,<br />

deswegen denken sie womöglich, jemand ist in Gefahr!“<br />

Wütend funkelte sie die beiden an. Ron wurde rot <strong>und</strong> machte ein<br />

schuldbewusstes Gesicht.<br />

„Das haben wir nicht berücksichtigt“, gab <strong>Harry</strong> zu <strong>und</strong> steckte<br />

kleinlaut seine Münze <strong>zur</strong>ück.<br />

„Toll“, verdrehte Hermine die Augen. „Und <strong>das</strong> nur, weil ihr zu faul<br />

wart, mich zu holen!“<br />

„Es tut uns <strong>doc</strong>h leid“, brummte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> hielt ihr nun endlich <strong>das</strong><br />

Buch hin.<br />

„Was ist damit?“, fragte sie. „Gefällt es dir nicht?“<br />

95


„Nein, es ist sehr gut“, meinte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>richtig. „Es ist nur so, diese<br />

Geschichte solltest du dir mal durchlesen.“<br />

Hermine nahm es in die Hand <strong>und</strong> überflog stirnrunzelnd die kurze<br />

Erzählung. Schließlich legte sie <strong>das</strong> Buch seufzend <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Bett <strong>und</strong><br />

wandte sich <strong>Harry</strong> zu.<br />

„Ich weiß, was du damit andeuten willst“, begann sie, bedacht<br />

Worte wählend, welche ihre Meinung zwar ausdrücklich wiedergaben,<br />

aber andererseits <strong>Harry</strong> nicht wieder <strong>auf</strong>brausen ließen.<br />

„Ich kann mir vorstellen, <strong>das</strong>s es verlockend ist zu glauben,<br />

Orpheus hätte es tatsächlich gegeben. Dass er wirklich in <strong>das</strong> Totenreich<br />

gegangen wäre, um seine Frau <strong>zur</strong>ückzuholen. Aber leider ist <strong>das</strong> nichts<br />

als eine jahrtausende alte, griechische Erzählung, welche schon<br />

Millionen von Menschen unterhalten hat, genauso wie z.B. Hänsel <strong>und</strong><br />

Gretel oder Rotkäppchen oder sonst ein Märchen –“<br />

„Muggel hören sich tatsächlich Märchen über Rotkappen an?“,<br />

babbelte Ron dazwischen, <strong>doc</strong>h keiner erwiderte seine Frage.<br />

„Du hast selbst gesagt, <strong>das</strong>s man Magie in den Sagen finden<br />

kann!“, verteidigte sich <strong>Harry</strong>. „Es warst du, die mich <strong>auf</strong>forderte, danach<br />

Ausschau zu halten –“<br />

„Aber <strong>doc</strong>h nicht, indem du schon wieder angebliche Beweise für<br />

die Existenz einer <strong>Unterwelt</strong> suchst.“<br />

<strong>Harry</strong> schnaubte. „Und wieso kennen Zaubererfamilien dann<br />

dieselben Sagen wie Muggel?“<br />

„Vor tausenden von Jahren lebten Muggel <strong>und</strong> Zauberer noch in<br />

beidseitiger Kenntnis miteinander. Nicht, <strong>das</strong>s die Zauberer <strong>und</strong> Hexen<br />

allzu öffentlich Magie anwandten oder den Muggel ihre Geheimnisse<br />

verrieten, aber zumindest wussten beide Parteien voneinander <strong>und</strong><br />

durchstanden die Probleme <strong>und</strong> Herausforderungen des Lebens<br />

gemeinsam. Die Muggel halfen den Zauberern in praktischen Fragen<br />

<strong>und</strong> die Zauberer erwiesen den Muggeln hin <strong>und</strong> wieder einen<br />

magischen Dienst.<br />

„Aber <strong>das</strong> ist untersagt“, meinte Ron.<br />

„Ja, vom Zaubereiministerium, <strong>und</strong> dieses gab es damals noch<br />

nicht. Das Verbot der Zauberei in Gegenwart von Muggeln wurde<br />

sowieso erst im Mittelalter eingeführt. Das würdest du auch wissen,<br />

wenn du bei Binns nicht immer schlafen würdest“, setzte sie gehässig<br />

hinzu.<br />

„Nun, so haben sich die Legenden beider Gesellschaften mit der<br />

Zeit vermischt. Zauberer wie Muggel kennen die alten Sagen <strong>und</strong><br />

Märchen, in denen die Alltagssituationen <strong>und</strong> die Lebensart der Antike<br />

geschildert werden. Nichts desto trotz sind sie aber nur Erfindungen,<br />

Übertreibungen, Ausschmückungen, so wie alle Geschichten.“<br />

„Das ist nicht wahr“, fuhr <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>. „Hinter jeder Geschichte<br />

verbirgt sich eine Wahrheit!“<br />

96


„Sicher, aber nicht die, die man sich aussuchen möchte.“<br />

Sie diskutierten noch eine Weile weiter, ohne je<strong>doc</strong>h zu einem<br />

sinnvollen Ende zu kommen, so<strong>das</strong>s sich Hermine am Ende entnervt in<br />

ihr Zimmer begab. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron, der sich allein schon, um Hermine<br />

mal wieder zu reizen, <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s Seite gestellt hatte, hingen beide ihren<br />

Gedanken nach bis sie einschliefen.<br />

97


KAPITEL SECHS<br />

Wieder zu Hause<br />

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong><br />

Hermine verbrachten herrliche lange <strong>und</strong> faule Tage in den vielen<br />

Räumen des Black-Hauses. Zwar durften sie nach wie vor nicht vor die<br />

Tür gehen, was sie angesichts des andauernden tadellosen<br />

Sommerwetters bedrückte, aber andererseits waren sie noch nie so<br />

lange zusammen gewesen, ohne irgendwelche Haus<strong>auf</strong>gaben erledigen<br />

oder für Arbeiten lernen zu müssen. <strong>Harry</strong> baute seine Fähigkeiten im<br />

Zaubererschach aus <strong>und</strong> schlug eines legendären Nachmittags Mitte<br />

August Ron <strong>das</strong> erste Mal; Hermine beteiligte sich trotz der ausgiebigen<br />

St<strong>und</strong>en, die sie unermüdlich in der Bibliothek der Blacks verbrachte, oft<br />

an Spielen wie Snape explodiert, Koboldstein oder Zaubererdart, bei<br />

dem man mittels speziell dazu gehörender Zauberstäbe, die nur einen<br />

einzigen Bewegungszauber ausführen konnten, kleine Pfeile <strong>auf</strong> eine<br />

Zielscheibe hexen musste.<br />

Der Orden hatte in diesen Wochen recht wenig zu tun, es schien,<br />

als hätten selbst die Todesser bei dem heißen Wetter keine Lust, aktiv<br />

zu werden. Ab <strong>und</strong> zu wurden Treffen abgehalten, an denen die drei<br />

auch teilnahmen, aber es gab nichts Interessantes zu berichten. Snape<br />

sah <strong>Harry</strong> die ganze Zeit über nicht, worüber er auch nicht traurig war.<br />

Vermutlich hatte er außerhalb zu tun.<br />

Bevor sich es <strong>Harry</strong> versah, kam <strong>das</strong> Ende des Monats <strong>und</strong> somit<br />

der Abschied aus dem Black-Haus immer näher. Eines Abends,<br />

nachdem er, Hermine <strong>und</strong> die Weasleys schon begonnen hatten, für<br />

Hogwarts zu packen, kamen drei Eulen aus dem Kamin geplumpst, als<br />

sie gerade beim Abendessen in der Küche saßen.<br />

Hermine stützte sich beim Aufstehen in ihrem Suppenteller <strong>auf</strong>, so<br />

schnell sprang sie <strong>auf</strong>, um zu den Eulen zu kommen.<br />

98


„Unsere ZAG-Ergebnisse!“, quiekte sie <strong>auf</strong>geregt, während Mrs.<br />

Weasley ihren Ärmel mit einem Trockenzauber bearbeitete.<br />

„Ich warte schon seit Tagen dar<strong>auf</strong>, Professor McGonagall sagte<br />

mir gestern, in den nächsten ein oder zwei Tagen wäre es soweit, aber<br />

<strong>das</strong>s es so fix ging –“ Über beide Füße stolpernd erreichte sie die drei<br />

Eulen, welche in der Zwischenzeit versuchten, den Kaminstaub aus dem<br />

Gefieder zu putzen.<br />

Hastig schnappte sie sich eine helle Schleiereule, betrachtete <strong>das</strong><br />

Kuvert des kleinen Briefes, den sie am Bein trug <strong>und</strong> drückte <strong>das</strong> Tier<br />

dem überraschten Ron in die Hand. Danach versuchte sie es mit einem<br />

hübschen Steinkauz, schüttelte aber wieder den Kopf <strong>und</strong> ließ den Vogel<br />

ohne hinzusehen in die Richtung fallen, in der sie <strong>Harry</strong> vermutete. Er<br />

konnte ihn gerade noch <strong>auf</strong>fangen. Schließlich drückte sie den kleinen<br />

Waldkauz, der noch übrig war, fest an sich, so<strong>das</strong>s er empört <strong>auf</strong>schrie,<br />

<strong>und</strong> lief <strong>zur</strong>ück zu ihrem Platz.<br />

„Du nimmst aber nicht an, <strong>das</strong>s dieses Verhalten noch als normal<br />

gilt?“, verleiherte Ron die Augen. Hermine beachtete ihn nicht, sondern<br />

versuchte mit derartig zitternden Händen den Brief von ihrer Eule zu<br />

lösen, <strong>das</strong>s diese ihr schließlich leicht in den Finger biss <strong>und</strong> mit einem<br />

hochmütigen Blick begann, die Schnur um ihr Bein mittels ihres scharfen<br />

Schnabels selbst durchzubeißen.<br />

<strong>Harry</strong> war es ganz mulmig geworden, als der Steinkauz in seine<br />

Arme gefallen war. Vorsichtig löste er den Brief, der <strong>das</strong> Wappen<br />

Hogwarts trug, <strong>und</strong> entfaltete <strong>das</strong> Pergament. Die ZAG-Ergebnisse hatte<br />

er ganz vergessen, sie waren in den langen Ferientagen voll freier Zeit,<br />

in der er nie an die Schule gedacht hatte, einfach untergegangen. Ohne<br />

Erwartungen, aber auch ohne Furcht senkte er den Blick <strong>auf</strong> seine<br />

Notenliste.<br />

Zuerst sprang ihm ein großes, in rot geschriebenes „E“ ins Auge.<br />

Mit klopfendem Herzen suchte er <strong>das</strong> dazugehörige Fach <strong>und</strong> fand es zu<br />

seinem Erstaunen in Verwandlung. Auch in Pflege Magischer Geschöpfe<br />

hatte er ein „E“ bekommen, <strong>das</strong> zweitbeste Prüfungsergebnis, was zu<br />

erreichen war. Freudig fuhr er mit dem Finger die weiteren Notenzeilen<br />

entlang. Ein trockenes, kurzes „S“ zierte je<strong>doc</strong>h den Platz nach den<br />

Fächern Wahrsagen <strong>und</strong> Geschichte der Zauberei, aber <strong>Harry</strong><br />

verw<strong>und</strong>erte <strong>das</strong> schlechte Ergebnis nicht, da er in diese beiden<br />

Prüfungen nur mit sehr ungenügenden Vorbereitungen gegangen war<br />

<strong>und</strong> zudem in Geschichte der Zauberei auch noch zusammengebrochen<br />

war.<br />

Mit jähem Glücksgefühl entdeckte er dann ein „O“, die höchste<br />

ZAG-Note, hinter Verteidigung gegen die dunklen Künste. Zwar hatte er<br />

immer gehofft, in diesem Fach seine beste Note zu kriegen, aber nach<br />

einigen Wochen des Grübelns war er sich unsicher gewesen, ob seine<br />

99


Prüfungsleistung tatsächlich so sauber gewesen war, wie er es direkt<br />

danach im Gefühl gehabt hatte.<br />

Ebenfalls durchgefallen war er mit einem „M“ in Astronomie,<br />

wohingegen er ein sehr gutes „E“ in Zauberkunst <strong>auf</strong>weisen konnte.<br />

Schon vier ZAGs, dachte er freudig <strong>und</strong> fand ohne Überraschung in<br />

Kräuterk<strong>und</strong>e mit einem „E“ seinen fünften.<br />

Als er in die letzte Zeile schaute, wohl ahnend, welches Fach<br />

noch fehlte, machte er sich bereit für <strong>das</strong> „M“ oder „S“, <strong>das</strong> ihm seinen<br />

Berufswunsch verwehren würde. Vielleicht hatte er sogar ein „T“, <strong>das</strong><br />

angeblich für Troll stand. Vollkommen verblüfft riss er je<strong>doc</strong>h die Augen<br />

<strong>auf</strong> <strong>und</strong> ließ <strong>das</strong> Pergament in seine Suppe fallen. Hastig zog er es vom<br />

Teller <strong>und</strong> wedelte damit irgendwie schockiert in der Luft.<br />

„Was ist, man?“, fragte Ron besorgt. „Bist du überall<br />

durchgefallen?“ <strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf, ihm war es nicht möglich,<br />

etwas zu sagen. Hermine schien nichts zu bemerken, denn sie hielt ihr<br />

Pergament so nah an ihre Nase, <strong>das</strong>s nichts von ihrem Gesicht zu sehen<br />

war. Die Ordensmitglieder schauten neugierig zu <strong>Harry</strong>.<br />

„Es ist Zaubertränke“, krächzte er hinaus <strong>und</strong> blickte wieder <strong>auf</strong><br />

seine Notenliste. Vielleicht lag ein Zauber <strong>auf</strong> ihr, der ihn Dinge sehen<br />

ließ, die nicht existierten.<br />

Ron schnaubte kurz.<br />

„Und wenn schon, es war <strong>doc</strong>h klar, <strong>das</strong>s wir bei diesem Kotz – äh,<br />

bei Snape durchfallen würden“, meinte er mit einem Seitenblick <strong>auf</strong> seine<br />

Mutter. „Was hast du denn erwartet außer ein „S“ oder „M“?“<br />

„Ich habe ein „O“, flüsterte <strong>Harry</strong>, der seiner Note weiterhin keinen<br />

Glauben schenkte, einfach, weil es so abwegig war. Snape würde ihm<br />

nie ein „O“ geben. Eher würde er ihn <strong>auf</strong> seinen Geburtstag einladen <strong>und</strong><br />

ihm ein Stück <strong>Tor</strong>te reichen.<br />

„Ein „Ohnegleichen“ in Zaubertränke?“, japste Ron <strong>und</strong> starrte<br />

<strong>Harry</strong> an, als hätte dieser angekündigt, an der WM für Zauberschach<br />

teilnehmen zu wollen.<br />

„<strong>Harry</strong>, ich auch!“, kreischte Hermine, <strong>das</strong> Gesicht vor Aufregung<br />

fleckig.<br />

„Bei dir w<strong>und</strong>ert <strong>das</strong> keinen, mach also kein Drama draus“, murrte<br />

Ron <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> widmete sich etwas enttäuscht seiner eigenen<br />

Notenliste.<br />

„Immerhin habe ich auch einen ZAG“, tröstete er sich. „Ein „A“ ist<br />

mehr, als ich in fünf Jahren Zaubertränke je zu hoffen gewagt habe.“<br />

„Ehrlich?“, stürmte Mrs. Weasley, die es nun nicht mehr <strong>auf</strong> ihrem<br />

Platz hielt, los <strong>und</strong> nahm Rons Brief in die Hand.<br />

„Sechs ZAGs“!“ jubelte sie. „Alles geschafft außer Geschichte,<br />

Astronomie <strong>und</strong> Wahrsagen – na, <strong>das</strong> sind auch alles unwichtige Fächer.<br />

Dafür – lass mal sehen – ein „O“ in Verteidigung! Gut zu wissen, <strong>das</strong>s<br />

eure Geheimgesellschaft wenigstens etwas gebracht hat. Und ein „E“ in<br />

100


Verwandlung <strong>und</strong> Zauberkunst, ich muss schon sagen, ein sehr gutes<br />

Zeugnis!“ Sie strahlte den ganzen Abend um die Wette mit Ron, der sich<br />

für den letzten Tag prompt ein Essen wünschen durfte.<br />

Zusammen mit seinem Zeugnis fand er ein weiteres Blatt<br />

Pergamentpapier. Er las es durch <strong>und</strong> sah Ron erstaunt an.<br />

"Ich bin zum Quidditch-Kapitän ernannt worden", stammelte er.<br />

Ron dagegen schien nicht überrascht.<br />

"Was hast du denn erwartet, jetzt, wo Wood <strong>und</strong> Angelina weg<br />

sind? Du bist unser bester Flieger, <strong>und</strong> mit der DA hast du auch<br />

bewiesen, <strong>das</strong>s du Leuten was beibringen kannst, warum also nicht?"<br />

So hatte <strong>Harry</strong> die Sache noch nicht gesehen, aber als er etwas<br />

erwidern wollte, hatte Ron auch schon wieder begonnen, eifrig jeden im<br />

Raum von seinen Noten <strong>und</strong> den schweren Aufgaben, die er für sie hatte<br />

lösen müssen, zu erzählen.<br />

Hermine, die natürlich in jedem ihrer elf Fächer ein „O“ bekommen<br />

hatte, bedankte sich die nächsten St<strong>und</strong>en so oft bei <strong>Harry</strong> für die DA,<br />

ohne die sie ihrer Meinung nach nie so gut in Verteidigung gewesen<br />

wäre, <strong>das</strong>s sich dieser dann in ein Schachspiel mit Ron flüchtete. An<br />

Snapes „O“ wollte er lieber nicht mehr denken, er fürchtete, sich falsche<br />

Hoffnungen zu machen. Wenn er nach Hogwarts kam, würde sich sicher<br />

alles als ein böser Scherz herausstellen.<br />

Der Morgen ihrer Abreise brach strahlend blau <strong>und</strong> mit dem<br />

Versprechen an, genauso heiß zu werden wie fast jeder Tag der<br />

Wochen davor. <strong>Harry</strong>, Ron, Hermine <strong>und</strong> Ginny hatten ihre Koffer<br />

gepackt (Arthur Weasley hatte ihre Schulbücher per Bestellung an<br />

seinen Arbeitsplatz liefern lassen, es war momentan zu gefährlich, sich<br />

in der Winkelgasse herumzutreiben, zumal die Todesser über dem<br />

Grimmauldplatz immer noch Wache hielten) <strong>und</strong> warteten gespannt in<br />

der Eingangshalle, wie der Transport nach Hogwarts erfolgen sollte.<br />

Denn einfach so zum Hogwartsexpress zu gehen schien <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> der<br />

immer noch andauernden Todesserbewachung des Black-Hauses<br />

unmöglich.<br />

„Na, wir disapparieren, was denn sonst?“, fragte Lupin leicht<br />

verwirrt, als Ron ihn dar<strong>auf</strong> ansprach.<br />

„Aber wieso konnten wir dann <strong>Harry</strong> nicht mit Apparieren herholen,<br />

sondern mussten einen Umweg über ganz Europa fliegen?“<br />

„Weil man natürlich nur aus dem Haus heraus apparieren kann,<br />

nicht hinein. Sonst würde es wohl schon von Todessern hier wimmeln.<br />

Dumbledore hat einen entsprechenden Zauber <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Haus gelegt.“<br />

Lupin, Mrs. Weasley, Moody <strong>und</strong> Tonks stellten sich dar<strong>auf</strong>hin<br />

jeder an die Seite eines der Schüler <strong>und</strong> ergriffen seinen Arm.<br />

101


„Halte dich gut fest <strong>und</strong> lass ja nicht los, wer weiß, wo du sonst<br />

landest“, warnte Lupin <strong>Harry</strong>, den er als Partner auserkoren hatte. „Und<br />

pass genauso <strong>auf</strong> deine Sachen <strong>auf</strong>.“<br />

<strong>Harry</strong> packte sogleich seinen Koffer so fest, <strong>das</strong>s seine Finger<br />

schmerzten, Lupin ergriff Hedwigs Käfig. Sie gab einen kleinen,<br />

ängstlichen Laut von sich, als ahnte sie, <strong>das</strong>s ihr etwas ganz <strong>und</strong> gar<br />

Ungeheuerliches widerfahren sollte.<br />

Lupin schloss die Augen, schien sich kurz zu konzentrieren <strong>und</strong><br />

wirbelte plötzlich aus dem Stand herum, aber <strong>Harry</strong> bekam es kaum mit,<br />

denn schon schien sich ein schweres Gewicht mit ungeheurer Kraft um<br />

seinen Körper zu legen <strong>und</strong> ihn zusammenzupressen. Die Luft wurde<br />

aus seiner Lunge gedrückt, er hatte <strong>das</strong> Gefühl zu ersticken <strong>und</strong> konnte<br />

sich keinen Zentimeter rühren, auch wenn es ihm gleichzeitig so schien,<br />

als rase er.<br />

Auf einmal war der Druck um ihn vorbei <strong>und</strong> ließ ihn so unerwartet<br />

frei, so<strong>das</strong>s er den Halt verlor <strong>und</strong> <strong>auf</strong> den Boden fiel. Harter Beton fing<br />

seinen Sturz nicht gerade sanft ab, seine Brille flog davon. Als nächstes<br />

machte er mit Mühe einen Arm aus, der sich seinem Gesicht<br />

entgegenstreckte. Verwirrt nahm er seine Brille, <strong>und</strong> ergriff die Hand von<br />

Hermine, die ihm half <strong>auf</strong>zustehen.<br />

„Nicht gerade die gemütlichste Art zu reisen, was?“, fragte sie,<br />

allerdings schien sie nicht hingefallen zu sein.<br />

„Sorry, <strong>Harry</strong>, ich bin fast <strong>auf</strong> Moody appariert <strong>und</strong> musste einen<br />

Schritt ausweichen“, entschuldigte sich Lupin <strong>und</strong> reichte <strong>Harry</strong> den<br />

Eulenkäfig. Hedwig warf ihm daraus einen nicht sehr wohlwollenden<br />

Blick entgegen <strong>und</strong> schüttelte ihr durcheinander gebrachtes Gefieder.<br />

Plötzlich gewahrte er, wo er sich befand. Direkt vor ihm pustete der<br />

scharlachrote Hogwartsexpress eine dicke Rauchwolke in die Luft über<br />

dem Bahngleis 9 ¾, herumwuselnde Mütter, Väter, Onkel, Tanten <strong>und</strong><br />

Geschwister brachten die Hogwartsschüler zu den Waggons, überall<br />

standen Koffer, Beutel, Taschen, Käfige <strong>und</strong> Schachteln herum, Katzen<br />

aller Farben <strong>und</strong> Ratten aller Größen, Eulen aller Arten <strong>und</strong> Kröten aller<br />

Rassen sprangen, liefen oder hüpfen <strong>auf</strong> dem Bahnsteig umher oder<br />

saßen in Käfigen. Von weitem sah <strong>Harry</strong> Luna Lovegood winken, welche<br />

eine Klasse unter ihm war <strong>und</strong> sich auch an der DA beteiligt hatte. Er<br />

winkte kurz <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> machte sich dann mit Ron, Hermine <strong>und</strong> Ginny<br />

<strong>auf</strong> zum Zug.<br />

Keuchend schoben sie mit Hilfe von Lupin <strong>und</strong> Mr. Weasley die<br />

schweren Koffer in ein noch leeres Abteil <strong>und</strong> verstauten ihr Gepäck <strong>auf</strong><br />

der Ablage. Schließlich gingen sie alle hinaus, um sich vom Orden zu<br />

verabschieden.<br />

„Passt <strong>auf</strong> euch <strong>auf</strong>“, gab ihnen Mrs. Weasley mit <strong>auf</strong> den Weg.<br />

„Keine geheimen Organisationen, keine Abstecher in <strong>das</strong> Ministerium,<br />

bringt niemanden in Lebensgefahr <strong>und</strong> benehmt euch den Lehrern<br />

102


gegenüber respektvoll.“ Letzteres schien besonders <strong>auf</strong> Snape <strong>und</strong> in<br />

böser Erinnerung an Umbridge gemeint zu sein.<br />

<strong>Harry</strong> nickte abwesend, tief in seinem Inneren piekste ihn die<br />

unheilvolle Vorahnung, <strong>das</strong>s sie davon nicht einen Punkt einhalten<br />

würden.<br />

„Voldemort ist fast wieder <strong>auf</strong> dem Höhepunkt seiner Macht, <strong>und</strong> zu<br />

was er in der Lage ist, um seine Ziele zu erreichen, habt ihr gesehen. Er<br />

wird nicht rasten, bis er dich hat, <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> er wird sich immer neue<br />

Raffinessen einfallen lasse. Deswegen ist es wichtiger denn je, <strong>das</strong>s du<br />

den Anweisungen der Lehrer folgst <strong>und</strong> <strong>das</strong>s du keine Alleingänge in der<br />

Umgebung Hogwarts unternimmst“, richtete Lupin <strong>das</strong> Wort an <strong>Harry</strong>.<br />

„Solange du dort bist, solltest du sicher sein.“<br />

„Und wenn ihr mit dem Orden in Verbindung treten müsst, weil<br />

euch unerklärliche Dinge passieren“ – Moody schaute viel sagend zu<br />

<strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> jeder dachte an dessen Träume über Voldemort – „wendet<br />

euch an die Lehrer, die Mitglied im Orden sind. Professor Dumbledore<br />

<strong>und</strong> Professor McGonagall wären da wohl eure ersten<br />

Ansprechpartner.“<br />

<strong>Harry</strong> versuchte sich gar nicht vorzustellen, nachts an Snapes Tür<br />

zu klopfen, um ihn über einen Traum zu informieren, den er über<br />

Voldemort gehabt hatte, <strong>und</strong> nickte.<br />

„Gut“, meinte Mrs. Weasley knapp, als der Hogwartsexpress ein<br />

durchdringendes Pfeifen hören ließ, „ihr müsst euch beeilen.“ Sie<br />

umarmte Ron <strong>und</strong> Ginny, dann auch <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine. „Gebt <strong>auf</strong> euch<br />

Acht“, flüsterte sie. „Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn einem<br />

von euch etwas passiert.“<br />

Dar<strong>auf</strong> wusste <strong>Harry</strong> nichts zu antworten, sondern verabschiedete<br />

sich <strong>und</strong> lief mit den anderen drein zum Zug. Kurz bevor dieser sich<br />

langsam <strong>und</strong> ächzend, als sei er mit Schülern <strong>und</strong> Gepäck überbeladen,<br />

in Bewegung setzte, sprangen sie <strong>auf</strong> <strong>und</strong> winkten den<br />

Ordensmitgliedern, bis sie hinter einer Kurve verschwanden.<br />

Ron lief beschwingt den Gang hinunter.<br />

„Irgendwie ist es <strong>doc</strong>h schön, wieder für sich zu sein“, grinste er<br />

<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine an. „Dieses Eingesperrtsein hat mich ganz irre<br />

gemacht.“<br />

Und nun überkam es auch <strong>Harry</strong>; ein Gefühl der Freiheit, der<br />

Losgelöstheit, <strong>das</strong> ihn augenblicklich in bessere Laune versetzte. Er<br />

freute sich unbändig <strong>auf</strong> Hogwarts, <strong>auf</strong> einmal merkte er, wie er trotz<br />

Rons <strong>und</strong> Hermines Gesellschaft im Black-Haus <strong>das</strong> alte Schloss<br />

vermisst hatte. Er sah die ungeheuer vielen Treppen vor sich, lächelte<br />

beim Gedanken an seine altbekannten Geheimgänge, er roch förmlich<br />

die frische, klare Luft der wilden Landschaft, die die Ländereien prägte.<br />

Er spürte die weichen Polster der gemütlichen Sessel im Gryffindor-<br />

Gemeinschaftsraum <strong>und</strong> die wohlige Wärme der flackernden<br />

103


Kaminfeuer, die gegen die raue Kälte im Schloss ankämpften. Sein<br />

Magen knurrte beinahe, als ihm die ausgedehnten Abendessen in der<br />

großen Halle in den Sinn kamen; <strong>und</strong> natürlich freute er sich am meisten<br />

<strong>auf</strong> die Menschen, die diese Schule bevölkerten; seine Fre<strong>und</strong>e, die DA-<br />

Kollegen, <strong>das</strong> Gryffindor-Quidditch-Team, die Geister <strong>und</strong> vor allem<br />

Hagrid.<br />

„Ja!“, rief er, selbst überrascht von seinem Ungestüm, aus, „es wird<br />

Zeit, <strong>das</strong>s wir wieder rauskommen.“<br />

„Aber vergesst nicht, was Mrs. Weasley gesagt hat“, warnte<br />

Hermine. „Keine Geheimgesellschaften mehr, <strong>und</strong> aus Hogwarts raus<br />

dürfen wir vermutlich auch nicht. Ich denke ohnehin, <strong>das</strong>s dieses Jahr<br />

Hogsmeade aus dem Schulprogramm gestrichen wird.“<br />

„Und wenn schon“, ließ sich <strong>Harry</strong> nicht beeindrucken. Seit seine<br />

Beziehung mit Cho im vergangenen Schuljahr dort entscheidende Risse<br />

bekommen hatte, war er nicht sehr scharf dar<strong>auf</strong>, dorthin<br />

<strong>zur</strong>ückzukehren.<br />

„Was meinst du mit keine Geheimgesellschaften mehr?“, empörte<br />

sich Ron. „Soll <strong>das</strong> heißen, du bist gegen die DA?“ Er wandte sich an<br />

<strong>Harry</strong>, als die drei ihr Abteil gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sich gesetzt hatten. „Wir<br />

ziehen <strong>das</strong> weiter durch, oder?“<br />

„Klar“, antwortete <strong>Harry</strong> ohne nachzudenken. Er hatte sich in den<br />

Ferien schon neue Lektionen überlegt <strong>und</strong> dafür auch Hermines<br />

Geburtstagsgeschenk als überaus nützlich empf<strong>und</strong>en.<br />

Hermine machte einen unglücklichen Eindruck.<br />

„Schau uns nicht so an, jetzt, wo Umbridge weg ist, wäre die DA<br />

<strong>doc</strong>h nicht mehr geheim“, argumentierte Ron. „Und demnach würden wir<br />

<strong>das</strong> Verbot meiner Mutter nicht umgehen.“ Zufrieden lehnte er sich in<br />

seinem Sitz <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> versuchte, nicht in Hermines immer noch<br />

skeptisches Gesicht zu sehen.<br />

In dem Moment ging die Abteiltür <strong>auf</strong> <strong>und</strong> Neville, Ginny <strong>und</strong> Luna<br />

traten ein.<br />

„Wieso seid ihr nicht bei der Vertrauensschülerversammlung?“,<br />

w<strong>und</strong>erte sich Loona. Sie trug heute ausnahmsweise einmal un<strong>auf</strong>fällige<br />

Kleidung, zumindest, wenn man davon absah, <strong>das</strong>s ihr Umhang, den sie<br />

sich bereits übergezogen hatte, grün-rot gestreift war. Ron starrte sie an.<br />

„Oh, ich dachte, ein wenig Farbe könnte in dieser Zeit nicht schaden“,<br />

meinte sie unbeschwert <strong>und</strong> ließ sich zusammen mit den anderen beiden<br />

<strong>auf</strong> einem leeren Sitz nieder. „Aber in Hogwarts muss ich leider wieder<br />

den schwarzen Umhang anziehen, so sind ja die Vorschriften. Mein<br />

Vater startet übrigens gerade eine Aktion für die Durchsetzung farbiger<br />

Umhänge an Hogwarts“ – sie wedelte mit einer Zeitung, die <strong>Harry</strong> als<br />

den Klitterer erkannte.<br />

Bevor sie fortfahren konnte, war Hermine <strong>auf</strong>gesprungen.<br />

„Vertrauensschülerversammlung!“, keuchte sie <strong>und</strong> packte Ron am<br />

104


Ärmel. „Das habe ich ganz vergessen. Los!“ Murrend erhob sich Ron aus<br />

dem weichen Sitz <strong>und</strong> trabte hinter der hibbeligen Hermine aus dem<br />

Abteil heraus.<br />

„Na, wie waren deine Ferien, <strong>Harry</strong>?“, fragte Neville. Er hielt seine<br />

Kröte Trevor im Schoß <strong>und</strong> hatte eine neue, unidentifizierbare Pflanze<br />

mit seltsam viereckigen Blättern neben sich abgestellt.<br />

„Ganz OK“, entgegnete dieser.<br />

„Bei mir ist auch nicht allzu viel passiert“, stellte Neville eine Spur<br />

enttäuscht fest. „Nur <strong>das</strong>s meine Großmutter es keinen Tag versäumt<br />

hat, mir zu sagen, wie stolz sie <strong>auf</strong> mich ist, weil ich gegen Voldemort<br />

gekämpft habe. Sie meint, ich käme ganz nach meinen Eltern.“<br />

Nevilles Eltern lebten, seit Todesser sie gefoltert hatten, mit<br />

schweren psychischen Schäden im Krankenhaus <strong>und</strong> erkannten<br />

niemanden mehr.<br />

„Wann geht’s mit der DA weiter?“, wollte Luna wissen, <strong>und</strong> auch<br />

Neville <strong>und</strong> Ginny schauten <strong>Harry</strong> erwartungsvoll an.<br />

„Na ja, wisst ihr, der Orden hat uns ziemlichen Druck gemacht<br />

wegen der DA“, erklärte <strong>Harry</strong>. „Rons Mum meint, sie sperrt uns die<br />

nächsten Ferien über in unsere Zimmer ein, wenn wir uns noch einmal in<br />

Gefahr begeben. Nicht, <strong>das</strong>s die jetzigen Ferien so weit davon entfernt<br />

waren“, setzte er mürrisch hinzu.<br />

„Wir können nicht einfach <strong>auf</strong>hören“, erregte sich Neville. „Die<br />

Todesser <strong>und</strong> Du-Weißt-Schon-Wer haben immer noch Macht. Sie<br />

werden nicht <strong>auf</strong>hören, dich zu jagen, bis sie dich haben. Und deswegen<br />

müssen wir unsere Verteidigung perfektionieren.“ Er sprach mit einer<br />

Begeisterung, die <strong>Harry</strong> in den gesamten fünf Jahren, die er ihn nun<br />

kannte, an ihm noch nie bemerkt hatte.<br />

„Aber wir haben Dumbledore schwer geschadet“, entgegnete<br />

<strong>Harry</strong>. Ihn plagte immer noch ein schlechtes Gewissen, weil der<br />

Schulleiter den Regelbruch, den die Gründung der DA bedeutet hatte,<br />

<strong>auf</strong> seine Kappe genommen hatte <strong>und</strong> deswegen aus Hogwarts hatte<br />

verschwinden müssen.<br />

„Na <strong>und</strong>? Das ist <strong>doc</strong>h alles vergessen. Außerdem wird wohl kaum<br />

ausgerechnet Dumbledore Widerstand gegen Todesser für schlecht<br />

befinden“, setzte Luna nach. <strong>Harry</strong> wurde bewusst, <strong>das</strong>s die beiden<br />

diese Sätze geübt haben mussten.<br />

„Außerdem“, fiel ihm plötzlich mit Schrecken ein, „will vielleicht<br />

niemand mehr mitmachen. Jetzt, wo Umbridge weg ist, haben wir unser<br />

Ziel verloren – uns gegen ihren unmöglichen Unterricht zu wehren.“<br />

„Das ist <strong>doc</strong>h Unsinn, <strong>Harry</strong>“, wandte Ginny ein, die neugierig<br />

Nevilles seltsame Pflanze in Augenschein genommen hatte. „Es geht<br />

längst um den Kampf gegen die Todesser <strong>und</strong> nicht mehr gegen diese<br />

Kröte.“ Trevor quakte empört.<br />

105


„OK, vielleicht entscheiden sich einige wirklich, mit der DA<br />

<strong>auf</strong>zuhören, weil ihnen die Sache zu heiß wird, nun, da Du-Weißt-Schon-<br />

Wer bewiesenermaßen <strong>zur</strong>ück ist. Aber ich wette, wir finden dennoch<br />

genug, die bereit sind, etwas zu unternehmen.“<br />

„Ich möchte auch mit der DA weitermachen“, beteuerte er. „Aber<br />

ich schlage vor, <strong>das</strong>s wir abwarten, wer der neue Verteidigungs-Lehrer<br />

wird <strong>und</strong> mit ihm die Sache absprechen. Dann dürfte uns niemand mehr<br />

etwas vorwerfen können, <strong>und</strong> wir haben unsere Ruhe.“<br />

Allzu glücklich wirkten die beiden nicht, einen Lehrer in die DA mit<br />

einzubeziehen, einigten sich aber <strong>auf</strong> diesen Kompromiss.<br />

„Was ist <strong>das</strong> eigentlich für eine Pflanze?“, wollte Ginny wissen <strong>und</strong><br />

wollte die Hand nach den kleinen, blauen Blüten des braun-grünen<br />

Gewächses ausstrecken.<br />

„Nicht!“ Neville riss die Pflanze <strong>zur</strong>ück. „Das ist Eisenhut oder<br />

Wolfswurz“, erklärte er <strong>und</strong> hörte sich an, als stelle er einen Kameraden<br />

vor.<br />

<strong>Harry</strong> dachte düster an seine erste Zaubertrankst<strong>und</strong>e, als Snape<br />

ihn nach dieser Pflanze gefragt hatte, er aber natürlich nichts gewusst<br />

hatte.<br />

„Aber die sind <strong>doc</strong>h nicht gefährlich, wenn man sie anfasst“,<br />

belehrte Luna. „Nur wenn du sie isst, <strong>und</strong> ich glaube nicht, <strong>das</strong>s Ginny<br />

<strong>das</strong> wollte. Oder wolltest du?“, wandte sie sich höflich um.<br />

„Nein, natürlich nicht“, schnaubte diese <strong>und</strong> verdrehte in Richtung<br />

<strong>Harry</strong> die Augen.<br />

„Normalerweise nicht!“, triumphierte Neville <strong>und</strong> schaute angetan<br />

zu, wie eine der kleinen Blüten sich langsam öffnete. „Aber <strong>das</strong> hier ist<br />

eine ganz besondere Art, die nur <strong>auf</strong> den Fidschi-Inseln wächst. Ich habe<br />

sie zum Geburtstag bekommen. Wer sie anfasst, wird sofort in einen<br />

Rauschzustand versetzt, <strong>und</strong> nimmt man davon auch nur eine Blattspitze<br />

in den M<strong>und</strong>, stirbt man.“<br />

<strong>Harry</strong> konnte Nevilles Verzückung nicht ganz <strong>auf</strong> sich übertragen.<br />

„Aber keine Angst, ich passe <strong>auf</strong> sie <strong>auf</strong>“, strahlte er, als wäre es<br />

die Pflanze, die Schutz nötig hätte.<br />

Eine St<strong>und</strong>e später kehrten Ron <strong>und</strong> Hermine von ihrem Treffen<br />

<strong>zur</strong>ück, hungrig <strong>und</strong> ein wenig erschöpft ließen sie sich <strong>auf</strong> die Sitze<br />

sinken. Zu berichten gab es allerdings wenig, Malfoy sei nicht<br />

erschienen, er habe sich entschuldigen lassen, die neuen<br />

Vertrauensschüler aus der fünften Klasse seien eingeführt worden <strong>und</strong><br />

ansonsten sei es nur um die üblichen Aufgabenverteilungen gegangen.<br />

„Also wisst ihr nichts über den neuen Verteidigungslehrer oder <strong>das</strong><br />

neue Schulfach?“, fragte <strong>Harry</strong> enttäuscht; er hatte sich einige<br />

Informationen erhofft.<br />

„Leider nein, <strong>das</strong> erfahren auch wir erst beim Essen.“<br />

106


Die nächsten St<strong>und</strong>en verbrachten sie mit Diskussionen über <strong>das</strong><br />

kommende Schuljahr, spekulierten über <strong>das</strong> neue Schulfach <strong>und</strong><br />

machten sich über ganze Berge von Kesselkuchen, Pasteten <strong>und</strong><br />

Süßigkeiten her, die sie vom Imbisswagen gek<strong>auf</strong>t hatten.<br />

Schließlich wurde es vor den Fenstern des Zuges immer dunkler,<br />

die Dämmerung schritt rasch voran, während die Landschaft immer<br />

wilder <strong>und</strong> unwirtlicher wurde, ein untrügliches Zeichen dafür, <strong>das</strong>s<br />

Hogwarts näher rückte. Sie zogen sich ihre Umhänge über, hoben mit<br />

Mühen die schweren Koffer von der Ablage <strong>und</strong> zogen sie <strong>auf</strong> den Gang.<br />

Als sie gerade am letzten Abteil vor dem Ausgang vorbeikamen, trat<br />

ihnen ein Junge mit einem bösen Grinsen <strong>auf</strong> dem Gesicht in den Weg.<br />

„Malfoy!“, keuchte <strong>Harry</strong>, der seinen Koffer gleichzeitig am<br />

Umfallen hindern <strong>und</strong> den grauen, kalten Augen seines Gegenübers<br />

standhalten musste.<br />

„<strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>“, kam es in einem hochmütigen Ton <strong>zur</strong>ück. „Der<br />

Erwählte!“ Ein gehässiges Lachen echote durch den Zug. Die Slytherin-<br />

Kollegen von Draco Malfoy schienen seine Kommentare für etwas<br />

Lustiges zu halten.<br />

„Ach, halte die Klappe“, zischte Ron <strong>und</strong> zerrte <strong>Harry</strong> hinter sich<br />

her, der mordlüstern die Slytherins beäugte.<br />

„Wie fühlt man sich als der Einzige, der den dunklen Lord<br />

bezwingen kann?“, fragte Malfoy mit einem hinterlistigen Grinsen. „Was<br />

natürlich heißt, der Einzige, der dabei sterben wird!“ Wieder brachen<br />

seine Kumpels in wieherndes Gelächter aus.<br />

„Besser als der Einzige in diesem Zug, der sich <strong>auf</strong> den Knien<br />

rutschend vor Voldemort erniedrigt“, knurrte <strong>Harry</strong>.<br />

Malfoy wurde blasser, als er ohnehin schon war.<br />

„Du wagst es, seinen Namen zu nennen?“<br />

„Was, du etwa nicht?“, stichelte <strong>Harry</strong>. „Haben du <strong>und</strong> deine Eltern<br />

zu viel Angst vor diesem Schlangengesicht?“<br />

Mittlerweile war jedes Blut aus Malfoys Gesicht gewichen, er<br />

taumelte <strong>zur</strong>ück.<br />

„Niemand geht so mit dem Dunklen Lord um“, meinte er leise. „Und<br />

genauso wenig mit denen, die ihm mit Freuden zu Diensten sind.“<br />

Auf einmal sah <strong>Harry</strong> nur noch eine schnelle Bewegung von<br />

Malfoys Hand, sah ein schwirrendes längliches Ding, <strong>das</strong> sein<br />

überfordertes Hirn zu spät als Malfoys Zauberstab identifizierte, <strong>und</strong><br />

schon konnte er nichts mehr machen als untätig dem blitzenden, grellgelben<br />

Lichtstrahl, der <strong>auf</strong> ihn <strong>zur</strong>aste, zuzusehen.<br />

„Protego!“, schallte es durch den Waggon <strong>und</strong> ein mächtiger<br />

Schutzzauber fand seinen Weg rasend schnell bis vor <strong>Harry</strong>s Brust <strong>und</strong><br />

ließ Malfoys Zauberspruch daran wirkungslos abprallen. Mit<br />

107


wutverzerrtem Gesicht schnaubte der <strong>Harry</strong> noch einmal an <strong>und</strong> verzog<br />

sich eilig <strong>zur</strong>ück in sein Abteil.<br />

„Hi <strong>Harry</strong>, wusste ja nicht, <strong>das</strong>s ich dich bereits während der<br />

Zugfahrt retten muss. Ich habe zu Moody gesagt, <strong>das</strong> wird erst am<br />

Festabend der Fall sein, wenn du vielleicht statt in der großen Halle zu<br />

sitzen im Verbotenen Wald herumschleichst <strong>und</strong> Riesen trainierst.“<br />

Grinsend bahnte sich Tonks ihren Weg durch die überall im Gang<br />

herumstehenden Koffer.<br />

„Tonks? Was machst du hier?“, fragte <strong>Harry</strong> perplex.<br />

„Na, <strong>auf</strong> euch <strong>auf</strong>passen, was denn sonst? Der Orden übernimmt<br />

während der Zugfahrt die Aufsicht über die Schüler. Irgendwer muss<br />

<strong>doc</strong>h Acht geben, <strong>das</strong>s Du-Weißt-Schon-Wer nicht allzu leicht an sein<br />

Ziel herankommt.“ Sie zwinkerte <strong>Harry</strong> zu.<br />

„Warum hast du uns nicht während der Fahrt besucht?“ <strong>Harry</strong><br />

konnte sich vorstellen, <strong>das</strong>s es interessanter gewesen wäre, über die<br />

neuesten Ordensaktionen zu reden als über hochgiftige Pflanzen. Sogar<br />

Neville mit seinem neu entdeckten Widerstandsgeist hätte da kaum Nein<br />

gesagt.<br />

„Wir dürfen nicht. Und schließlich soll nicht jeder erfahren, <strong>das</strong>s ihr<br />

zum Orden gehört, was?“<br />

„Das weiß <strong>doc</strong>h sowieso jeder“, murmelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> dachte an den<br />

Tagespropheten <strong>und</strong> dessen eingehende Schilderung der Geschehnisse<br />

im Ministerium.<br />

In dem Moment spürten sie ein deutliches Abbremsen des Zuges,<br />

der schließlich vollständig zum Stillstand kam.<br />

Mit Hilfe von Tonks trugen sie ihre Koffer zu den Kutschen, die sie<br />

nach Hogwarts bringen würden. Sie verschwand dann allerdings schnell,<br />

um einem kleinen Mädchen zu helfen, <strong>das</strong> anscheinend im Zug erste<br />

einfache, aber verunglückte Zauber ausprobiert hatte.<br />

Zusammen mit Luna <strong>und</strong> Neville teilten sich die drei eine Kutsche.<br />

<strong>Harry</strong> betrachtete die knochigen Pferde mit den großen, schwarzen<br />

Schwingen, von denen sie gezogen wurde. Noch vor einem Jahr hatten<br />

ihm die Thestrale eine ungeheure Angst eingejagt, nicht zuletzt deshalb,<br />

weil sie nur von denen gesehen werden konnten, die den Tod gesehen<br />

hatten. Mittlerweile aber sah er sie als etwas eigenwillige, aber äußerst<br />

umgängliche <strong>und</strong> nützliche Tiere.<br />

„So sehen sie also aus“, meinte Hermine leise neben ihm. <strong>Harry</strong><br />

drehte sich um. Sie stand einen Meter von dem knochigen Kopf eines<br />

der Pferde entfernt <strong>und</strong> starrte es mit großen Augen direkt an.<br />

„Du kannst sie sehen?“, w<strong>und</strong>erte sich <strong>Harry</strong>. Als er fragend den<br />

Blick zu Ron wandte, fand er ihn genauso fasziniert von den Tieren <strong>auf</strong><br />

deren ledrige Flügel sehen.<br />

„Damit sind wir geflogen? Gut, <strong>das</strong>s ich erst jetzt weiß, wie sie<br />

aussehen, sonst wäre ich wohl nicht <strong>auf</strong>gestiegen.“<br />

108


„Wieso könnt ihr sie sehen?“ <strong>Harry</strong> ackerte in Gedanken die<br />

Geschehnisse im Ministerium durch, <strong>und</strong> dann fiel es ihm schlagartig ein<br />

–<br />

„Wegen Sirius“, erklärte Hermine. „Wir haben ihn genauso wie du<br />

durch den Bogen fallen sehen.“<br />

Natürlich, da hätte er auch selbst dr<strong>auf</strong> kommen können.<br />

Missgestimmt nahm er in der Kutsche Platz, im Kopf wieder die<br />

grausamen Szenen von Sirius’ Tod.<br />

„Hör mal –“, begann Hermine, aber <strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf. Er<br />

wollte mit niemanden über seinen Paten reden. Nie wieder.<br />

Schweigend schauten sie alle in verschiedene Richtungen, als die<br />

Kutschen sich holpernd in Bewegung setzten, nur <strong>das</strong> leise Schnauben<br />

der Thestrale war ab <strong>und</strong> an zu hören. Der Himmel über ihnen hatte eine<br />

mattschwarze Farbe angenommen, in der die hellen Sterne sich<br />

gegenseitig im Leuchten zu überbieten versuchten. Ein paar Eulen<br />

flatterten über ihre Köpfe hinweg, offensichtlich <strong>auf</strong> dem Weg nach<br />

Hogwarts, um einem nervösen Erstklässer die erste Post von zu Hause<br />

zu bringen.<br />

Dann brachen hinter den dunklen Tannen die ersten hohen Türme<br />

von Hogwarts hervor. Majestätisch erhob sich <strong>das</strong> riesige Schloss vor<br />

dem unendlichen Schwarz, <strong>das</strong> es umgab. Viele dutzende Türme,<br />

Giebel, Zinnen <strong>und</strong> Spitzen ragten empor, aus h<strong>und</strong>erten kleiner Fenster<br />

drang warmes Kerzenlicht in die Nacht.<br />

<strong>Harry</strong> merkte, wie ihn langsam die Freude überwältigte, wieder hier<br />

zu sein. Nirgendwo <strong>auf</strong> der Welt fühlte er sich so wohl wie in Hogwarts,<br />

ja, keinen Ort <strong>auf</strong> der Welt würde er sein Zuhause nennen außer <strong>das</strong><br />

gewaltige, voller Überraschungen steckende <strong>und</strong> vor Zauberei fast<br />

sprühende Schloss. Als sie durch <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> mit den beidseits wachenden<br />

Ebern fuhren <strong>und</strong> Kurs <strong>auf</strong> die große Eingangstreppe nahmen, hatte er<br />

fast mit Widerwillen seine Trauer wegen Sirius schwinden gespürt – er<br />

war einfach überglücklich, wieder hier zu sein.<br />

Während ihre Koffer zu den Schlafräumen gebracht worden, traten<br />

sie durch die große Eichentür, die den Eingang zum Schloss markierte.<br />

Unterwegs mussten sie sich durch Horden von Erstklässlern kämpfen,<br />

die vor Aufregung zitternd <strong>und</strong> über ihre Füße stolpernd von Professor<br />

McGonagall in die kleine Kammer neben der großen Halle geführt<br />

worden, um dort <strong>auf</strong> die Auswahlzeremonie zu warten. Mit einem<br />

seltsam wehmütigen Stechen im Bauch erinnerte sich <strong>Harry</strong> an seinen<br />

ersten Abend in Hogwarts, als ihm vor Angst schlecht geworden war,<br />

vielleicht <strong>doc</strong>h kein Zauberer zu sein. Beinahe sehnte er sich in diese<br />

Zeit <strong>zur</strong>ück, in der es keine anderen Probleme gegeben hatte als sich<br />

einen alten Hut über den Kopf zu ziehen.<br />

109


Alle paar Schritte einen Mitschüler begrüßend bahnten sie sich<br />

ihren Weg durch den Eingangsraum, um dann rechts in die große Halle<br />

abzubiegen, die erfüllt war vom stetigen Geräusch h<strong>und</strong>erter Stimmen<br />

<strong>auf</strong>gekratzter Schüler, die mit ihren Fre<strong>und</strong>en die <strong>zur</strong>ückliegenden Ferien<br />

diskutierten oder sich über noch unerledigte Haus<strong>auf</strong>gaben Sorgen<br />

machten. Die verzauberte Decke des Raumes spiegelte den Himmel von<br />

draußen wieder, so<strong>das</strong>s sie heute ein samtenes, tiefes Schwarz mit<br />

vereinzelten Sternen zeigte. Die Halle selbst war erleuchtet von<br />

tausenden kleinen Kerzen, die über den vier langen Tischen schwebten,<br />

an denen die Schüler der vier Häuser nach <strong>und</strong> nach Platz nahmen.<br />

Ganz am Ende stand der Tisch der Lehrer <strong>auf</strong> einem kleinen Podest.<br />

Ohne <strong>auf</strong>gehalten zu werden gelangten zum Gryffindor-Tisch an<br />

der äußersten rechten Seite <strong>und</strong> setzten sich <strong>auf</strong> die noch ziemlich leere<br />

Bank, die sich in den folgenden Minuten aber schnell mit Gryffindor-<br />

Schülern füllte, von denen fast die Hälfte <strong>Harry</strong> wegen der DA ansprach.<br />

Nach der fünften Erklärung, <strong>das</strong>s er noch nicht wisse, wie es mit der<br />

Verteidigungsgruppe weitergehen sollte, erhob er sich leicht genervt <strong>und</strong><br />

flüsterte, damit ihn drei Slytherins, die hinter ihm zu ihrem Tisch gingen,<br />

nicht hörten, <strong>das</strong>s er für <strong>das</strong> erste Wochenende ein Treffen planen<br />

würde, um <strong>das</strong> weitere Vorgehen zu besprechen. Zeit <strong>und</strong> Ort würden<br />

wie üblich über die Münzen bekannt gegeben werden.<br />

Dermaßen beruhigt zerstreute sich die Menschentraube um ihn,<br />

<strong>und</strong> bald war so etwas wie Ordnung in der Halle eingekehrt.<br />

Automatisch ging <strong>Harry</strong>s Blick vor an den Lehrertisch. Dort fand er<br />

schnell den Schulleiter Albus Dumbledore, der in seinem <strong>auf</strong>fälligen<br />

dunkelblau-goldenen Umhang <strong>und</strong> mit seinem langen, weißen Bart nicht<br />

zu übersehen war (<strong>Harry</strong> fragte sich vergnügt, ob Dumbledore den<br />

Artikel im Klitterer, der für farbige Schulumhänge warb, gelesen hatte).<br />

Links <strong>und</strong> rechts neben ihm saßen die anderen Lehrer, Professor Binns<br />

für Geschichte der Zauberei, der Zauberkunst-Lehrer Professor Flitwick,<br />

Professor Sprout für Kräuterk<strong>und</strong>e, <strong>und</strong>, zwei Köpfe größer als alle<br />

anderen Personen am Lehrertisch, Hagrid, einer von <strong>Harry</strong>s besten<br />

Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Wildhüter von Hogwarts, seit drei Jahren auch stolzer<br />

Lehrer für die Pflege magischer Geschöpfe, mit denen ihn eine<br />

unglücklich leidenschaftliche Beziehung verband. Er erblickte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

winkte ihm strahlend zu, wobei er Professor Flitwick ein Buch aus der<br />

Hand schlug, <strong>das</strong> dieser gerade enthusiastisch Professor Sprout zeigen<br />

wollte.<br />

Grinsend wandte <strong>Harry</strong> sich zu Ron, der gerade zum dritten Mal in<br />

den letzten Minuten forderte, <strong>das</strong>s es endlich Essen geben sollte.<br />

„Du weißt <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s erst die Auswahl der neuen Schüler erfolgen<br />

muss“, fauchte Hermine genervt. Ron hob die Augenbrauen <strong>und</strong> sah<br />

<strong>Harry</strong> fragend an, der nur die Schultern zucken konnte.<br />

110


Plötzlich ging ein lautes Knarren durch die Halle <strong>und</strong> h<strong>und</strong>erte<br />

Schüleraugen folgten den Flügeln der großen Hallentür, welche nun von<br />

Professor McGonagall <strong>auf</strong>gestoßen wurde. Hinter ihr tapsten kleine,<br />

verängstigte Erstklässler in den riesigen Raum, schauten sich mit<br />

<strong>auf</strong>gerissenen Augen um <strong>und</strong> versuchten, nicht im Gedränge hinzufallen<br />

<strong>und</strong> sich bereits am ersten Abend zu blamieren.<br />

Ron kicherte leise neben ihm, als ein kleiner Junge Snape am<br />

Lehrertisch erblickte <strong>und</strong> sich erschreckt hinter Professor McGonagall<br />

versteckte. Hermine sah ihn über den Tisch hinweg vernichtend an.<br />

Die neuen Schüler blieben vor einem Stuhl stehen, der in Front der<br />

vier Haustische stand <strong>und</strong> <strong>auf</strong> dem ein alter, geflickter, verschlissener<br />

Hut lag. <strong>Harry</strong> wusste, was jetzt kommen würde; jeder Erstklässler würde<br />

sich den Hut <strong>auf</strong>setzen, welcher dann entschied, für welches Haus der<br />

Schüler am besten geeignet war.<br />

Die Schlange der Wartenden wurde kürzer <strong>und</strong> kürzer, je mehr<br />

Jungen <strong>und</strong> Mädchen nach Ravenclaw, Slytherin, Hufflepuff oder<br />

Gryffindor gewählt wurden, nach jedem Ausruf des Sprechenden Hutes<br />

ertönte stürmischer Beifall vom Tisch des betreffenden Hauses. Auch<br />

zehn neue Gryffindors fanden sich an ihrem Tisch ein <strong>und</strong> setzten sich<br />

schüchtern zwischen die Älteren.<br />

„Waren wir auch mal so klein?“, staunte Ron <strong>und</strong> betrachtete einen<br />

winzigen Jungen, der angestrengt versuchte, niemanden anzusehen.<br />

„Nein, DU bist sicher so groß geboren worden“, schnaubte<br />

Hermine. Ihr <strong>und</strong> Rons Umgang miteinander schien sich wieder <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />

übliche aggressive Niveau zu begeben.<br />

Zum Glück erhob sich in dem Moment Professor Dumbledore von<br />

seinem Stuhl, <strong>und</strong> sofort wurde es still in der Großen Halle.<br />

„Herzlich willkommen zu einem neuen Schuljahr!“, rief er <strong>und</strong> ließ<br />

seinen Blick über die vielen, neugierigen Schüler schweifen, die in<br />

Erwartung von Neuigkeiten zu ihm <strong>auf</strong>sahen.<br />

„Ich begrüße ganz besonders diejenigen von euch, die <strong>das</strong><br />

Vergnügen haben, an der Hogwarts-Schule für Hexerei <strong>und</strong> Zauberei<br />

<strong>auf</strong>genommen worden zu sein. Ihr werdet neue Fre<strong>und</strong>e in den Häusern<br />

finden, denen ihr zugeordnet seid – wobei ich hoffe, <strong>das</strong>s ihr solchen<br />

auch außerhalb eures Hauses begegnen werdet – ihr werdet die<br />

Gelegenheit bekommen, für eure Häuser Punkte durch gute Leistungen<br />

zu erringen, <strong>und</strong> natürlich werdet ihr Freude am Unterricht selbst haben.<br />

Möge ein jeder von euch ein Gewinn für Hogwarts sein.“<br />

Es gab Beifall, auch wenn er zumindest am Gryffindor-Tisch von<br />

Rons gewaltigem Bauchknurren gestört wurde.<br />

„Und von allen anderen hoffe ich, <strong>das</strong>s sie die freie Zeit in den<br />

Ferien sinnvoll genutzt haben <strong>und</strong> sich von all dem Wissen befreit<br />

haben, <strong>das</strong> wir im letzten Jahr so müheselig in ihre Köpfe versucht<br />

haben zu bekommen.“<br />

111


Nun wurde der Beifall lauter, einige lachten <strong>und</strong> die Erstklässler<br />

sahen mit recht eindeutigem Misstrauen in den Augen zu Dumbledore.<br />

<strong>Harry</strong> dachte an sein Einführungsfest <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> daran, <strong>das</strong>s er damals<br />

Dumbledore auch für verrückt gehalten hatte.<br />

„Zu Beginn <strong>und</strong> bevor wir mit unserem hochgeschätzten Mahl<br />

beginnen können, muss ich euch einige Dinge mitteilen. Zum einen,<br />

<strong>das</strong>s der Verbotene Wald auch dieses Jahr genau <strong>das</strong> ist, was ihm<br />

seinen Namen gegeben hat – nämlich verboten. Nach etlichen Jahren<br />

Erfahrung muss ich sagen, <strong>das</strong>s der ursprüngliche Hintergr<strong>und</strong> der<br />

Namenswahl, nämlich, den Schülern diese ganz spezielle Eigenschaft<br />

des Waldes stets in Erinnerung zu halten, nichts gebracht hat, im<br />

Gegenteil. Ich bitte euch demnach einmal mehr, euch von ihm<br />

fernzuhalten.“<br />

„Des Weiteren besitzt <strong>das</strong> Ministerium seit diesem Jahr <strong>das</strong> Recht,<br />

Hausdurchsuchungen in Hogwarts durchzuführen, um etwaige<br />

schwarzmagische Tätigkeiten <strong>auf</strong>zudecken – auch wenn ich Fudge<br />

versucht habe zu überzeugen, <strong>das</strong>s kein Hogwarts-Schüler etwas mit<br />

Voldemort zu tun hat.“<br />

<strong>Harry</strong> schnaubte <strong>und</strong> schaute hinüber zu Malfoy, der eine<br />

überlegene Miene <strong>auf</strong>gesetzt hatte.<br />

„Die Durchsuchung wird ein Be<strong>auf</strong>tragter des Ministeriums halten.<br />

Auch wenn wir mit Personen aus diesem Arbeitsumfeld bereits gewisse<br />

Dispute hatten“ – er machte eine kurze Pause, um zu einem leeren Stuhl<br />

hinter sich zu blicken, <strong>auf</strong> dem im letzten Jahr Umbridge gesessen hatte<br />

– „so besitzen wir dennoch die Pflicht, demjenigen mit Respekt<br />

gegenüberzutreten.“ Stille trat ein.<br />

„Und was, wenn dieser Mitarbeiter selbst unter dem Imperiusfluch<br />

steht?“, flüsterte <strong>Harry</strong>. „Was ist eigentlich mit Fudge, ich meine, der<br />

Orden hatte ihn <strong>doc</strong>h verhext? Dann könnte Dumbledore ihn <strong>doc</strong>h<br />

einfach von diesen Hausdurchsuchungen abhalten!“<br />

„Der Orden wird Fudge sicher längst wieder vom Fluch befreit<br />

haben“, meinte Hermine. „Schließlich ist er der Zaubereiminister. Und<br />

eine Durchsuchung ist vielleicht gar nicht so schlecht, denkt nur an<br />

Crouch Junior.“<br />

Nach ein oder zwei Minuten, in denen Dumbledore den Schülern<br />

Zeit gegeben hatte, ihren ersten Gedanken zu dieser Neuigkeit Luft zu<br />

machen, erhob er wieder die Stimme.<br />

„Auch wird es dieses Jahr eine Überraschung bei der Austragung<br />

der Quidditch-Spiele geben.“<br />

Das Gemurmel schwoll nun zu einer beeindruckenden Lautstärke<br />

an. Dumbledore hob die Hand, <strong>und</strong> sofort wurde es still.<br />

„Ihr müsst euch allerdings noch ein wenig in Geduld üben, erst am<br />

Samstag, wenn die Auswahlspiele stattfinden, werde ich euch über die<br />

neuen Regeln informieren.<br />

112


Des Weiteren möchte ich euch euren neuen Lehrer in<br />

Verteidigung gegen die dunklen Künste vorstellen – auch wenn er<br />

<strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> unerwarteter Erledigungen in London noch nicht hier sein kann.<br />

Im nächsten Jahr werdet ihr von Jamie McGonagall unterrichtet werden,<br />

der extra aus Amerika angereist ist, um hier Dienst zu tun. Er wird die<br />

Arbeit zusammen mit seinem Assistenten Rick Franbery verrichten.“<br />

Beim der Erwähnung des Namens „McGonagall“ hatte <strong>Harry</strong> so<br />

schnell den Kopf hochgerissen, <strong>das</strong>s er seine Halswirbel unangenehm<br />

knacken hörte. Natürlich erwartete er nicht, den Genannten zu sehen,<br />

aber sein Blick ging automatisch zu Professor McGonagall, die<br />

eigenartigerweise ein ausgesprochen saures Gesicht zu machen schien.<br />

Ihre Lippen wirkten schmaler als je zuvor, <strong>und</strong> sie rümpfte die Nase.<br />

„Glaubt ihr, <strong>das</strong>s er ein Verwandter von McGonagall ist?“, fragte<br />

<strong>Harry</strong> verwirrt.<br />

„Sicher, so genervt, wie sie dreinschaut“, meinte Ron prüfend. „Das<br />

ist genau der Blick, den mein Vater immer <strong>auf</strong>setzt, wenn es um Percy<br />

geht.“<br />

Auch an den anderen Haustischen war die ablehnende Reaktion<br />

ihrer Verwandlungslehrerin nicht unbemerkt geblieben, hier <strong>und</strong> da sah<br />

man Schüler die Köpfe zusammenstecken <strong>und</strong> tuscheln.<br />

„Da ich verstehen kann, <strong>das</strong>s euch die Ankunft eines neuen<br />

Lehrers in Aufruhr versetzt, gebe ich euch nun genügend Zeit, diese<br />

wichtige Angelegenheit in all ihren Aspekten zu diskutieren. Lasst es<br />

euch schmecken!“<br />

Mit diesen Worten tauchte wie von Zauberhand (wortwörtlich zu<br />

nehmen, wie <strong>Harry</strong> wusste) überall <strong>auf</strong> den Tellern, Platten <strong>und</strong> Tabletts,<br />

in den Bechern, Gläsern, Suppentöpfen <strong>und</strong> Soßenkannen Essen <strong>und</strong><br />

Trinken <strong>auf</strong>. Dutzende Gerichte, von gebratenen Hühnerschenkeln über<br />

Pasteten aller Art, jede Menge Fisch, Bratkartoffeln, Reis, Nudelgerichte,<br />

Obst, Früchte, eine Unmenge an Soßen <strong>und</strong> Beilagen ließen die Tische<br />

unter sich ächzen.<br />

Hungrig machten sich die Schüler über die Gerichte her. <strong>Harry</strong> aß<br />

als Vorspeise eine lecker aussehende Gulaschsuppe, danach ein großes<br />

Roastbeef mit Kartoffelbrei <strong>und</strong> anschließend noch eine gewaltige<br />

Schüssel voll mit Obstsalat. Während der nächsten halben St<strong>und</strong>e war in<br />

der großen Halle kaum ein Laut zu hören, so beschäftigt waren alle mit<br />

essen. Schließlich verschwanden die schmutzigen Teller <strong>und</strong> eine<br />

kolossale Auswahl an Nachtisch erschien. Ron stürzte sich <strong>auf</strong> die<br />

einladende Eierkremtorte, von der auch Dumbledore, wie <strong>Harry</strong><br />

bemerkte, sich drei Stück <strong>auf</strong> dem Lehrertisch genehmigte.<br />

Nachdem alle pappsatt in ihren Sitzen hingen, erhob sich<br />

Dumbledore noch einmal.<br />

113


„Nun da wir alle einmal mehr dem Festmahl zugesagt haben, sehe<br />

ich nur noch einen Wunsch in euren Augen, <strong>und</strong> den möchte ich erfüllen.<br />

Lasst uns die Schlafsäle aussuchen!“<br />

Unter Stühlerücken <strong>und</strong> dem lauten Rufen der Vertrauensschüler,<br />

die die Erstklässler um sich versammelten, verließ <strong>Harry</strong> zusammen mit<br />

den anderen Gryffindors die Große Halle (Ron <strong>und</strong> Hermine würden erst<br />

später wieder <strong>auf</strong> ihn treffen) <strong>und</strong> begab sich <strong>auf</strong> den Weg in den<br />

Gemeinschaftsraum. Er ging die große weiße Marmortreppe hoch in die<br />

oberen Stockwerke, vorbei an quietschenden Rüstungen, flackernden<br />

Kerzen in schattigen, einsamen Ecken, welche die dunklen Gänge vor<br />

ihm erhellten, er nahm unterwegs ein, zwei seiner Geheimgänge, um vor<br />

dem Pulk der Schüler am Gemeinschaftsraum zu sein <strong>und</strong> traf vor dem<br />

Porträt der Fetten Dame Neville.<br />

„Phönix“, meinte dieser <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s fragenden Blick hin. „Das erste<br />

Passwort für dieses Schuljahr. Ron hat es mir vorhin noch schnell<br />

gesagt.“ Zusammen duckten sie sich unter dem bei diesem Wort<br />

<strong>auf</strong>schwingenden Porträt hindurch <strong>und</strong> betraten den warmen,<br />

gemütlichen r<strong>und</strong>en Raum mit seinen knuffigen Sesseln <strong>und</strong> dem<br />

prasselnden Kaminfeuer. Noch lagen keine Lehrbücher quer <strong>auf</strong> den<br />

Tischen, mit Tintenflecken bekleckst <strong>und</strong> umgeben von halbfertigen<br />

Aufsätzen, noch trat man in keiner Ecke <strong>auf</strong> heruntergefallene Figuren<br />

von Zauberschachspielen, noch verzierten keine gelben Flecken<br />

verschütteten Kürbissafts die Tische <strong>und</strong> den Kaminsims. Aber schon in<br />

einigen Tagen würde es hier aussehen wie den Großteil des Schuljahres<br />

über.<br />

Gähnend gingen <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Neville die gew<strong>und</strong>ene Treppe zu<br />

ihrem Schlafsaal hoch. Eigentlich hatte er noch <strong>auf</strong> Ron warten wollen,<br />

aber <strong>auf</strong> einmal spürte er eine ungeheure Müdigkeit, der er zusammen<br />

mit dem Sättigkeitsgefühl, <strong>das</strong> ihn durchdrang, nachgab, <strong>und</strong> ohne<br />

seinen Koffer noch auszupacken sank er <strong>auf</strong> sein Bett, umgeben von<br />

den schweren Vorhängen.<br />

Er fühlte sich ein wenig, als würde er schweben, von Zufriedenheit<br />

<strong>und</strong> Glück durchdrungen schaute er aus dem Stück Fenster, <strong>das</strong> er<br />

erkennen konnte <strong>und</strong> freute sich einfach nur <strong>auf</strong> die nächsten Tage,<br />

darüber, <strong>das</strong>s er wieder an dem Ort war, an dem er sich am besten<br />

fühlte, darüber, <strong>das</strong>s er wieder mit all seinen Fre<strong>und</strong>en zusammen sein<br />

konnte, letztendlich darüber, <strong>das</strong>s er wieder derjenige sein konnte, der er<br />

war.<br />

114


KAPITEL SIEBEN<br />

Der Neue<br />

Am nächsten Morgen wurde er vom geschäftigen Rumoren um<br />

sich herum geweckt. Gähnend blieb <strong>Harry</strong> noch ein paar Minuten liegen<br />

<strong>und</strong> dachte über den Tag nach. Heute würden sie ihre St<strong>und</strong>enpläne<br />

bekommen <strong>und</strong> ihre ersten UTZ-Kurse erleben. Und er würde mit<br />

Sicherheit erfahren, <strong>das</strong>s er in Zaubertränke <strong>doc</strong>h durchgefallen war.<br />

Aber selbst diese düsteren Aussichten konnten seine Laune nicht<br />

drücken, <strong>und</strong> beschwingt stand er <strong>auf</strong>. Heller Sonnenschein fiel in <strong>das</strong><br />

Turmzimmer, allerdings schien es in der Nacht geregnet zu haben: Im<br />

Licht des Tages glänzende Tautropfen schillerten im dunkelgrünen Gras<br />

von Hogwarts Ländereien, die Schlossmauern wirkten vor Nässe<br />

dunkler, als hätte jemand über Nacht die Wände neu eingestrichen, <strong>und</strong><br />

am Horizont konnte man noch eine graue Wolkenwand ausmachen, die<br />

langsam dem strahlend blauen Himmel entfloh.<br />

<strong>Harry</strong> zog sich schnell an <strong>und</strong> ging in den Gemeinschaftsraum.<br />

Hermine konnte er nirgends sehen, aber Ron stand schon am<br />

Portraitloch <strong>und</strong> wartete <strong>auf</strong> ihn.<br />

„Ich dachte schon, du willst den ganzen Tag schlafen“, begrüßte er<br />

ihn. „Los, in einer halben St<strong>und</strong>e haben wir den ersten Unterricht.“<br />

Automatisch ging <strong>Harry</strong>s Blick <strong>zur</strong> Treppe, die zu den<br />

Mädchenschlafsälen führte.<br />

„Hermine ist schon unten“, antwortete Ron <strong>auf</strong> seine<br />

unausgesprochene Frage, <strong>und</strong> zwar in einem Ton, der <strong>Harry</strong> verriet,<br />

<strong>das</strong>s es schon wieder Streit zwischen den beiden gegeben hatte.<br />

„Was ist?“<br />

115


„Ach, gestern bei der Erstklässlereinführung haben wir<br />

unterschiedliche Ansichten darüber gehabt, ob wir die Neuen eine<br />

Kostprobe von Peeves’ Programm erleben lassen.“<br />

Peeves war der Poltergeist von Hogwarts <strong>und</strong> sah seinen einzigen<br />

Todesinhalt darin, den Schülern <strong>das</strong> Leben möglichst schwer zu<br />

machen.<br />

„Ich meine, sie müssen in den nächsten sieben Jahren lernen, mit<br />

ihm <strong>zur</strong>echtzukommen, da kann es nicht schaden, wenn wir sie ihre<br />

eigenen Erfahrungen machen lassen. Aber sie war natürlich wieder<br />

dagegen.“ Er verdrehte die Augen <strong>und</strong> kletterte nach <strong>Harry</strong> durch den<br />

Eingang.<br />

„Dabei ging es <strong>doc</strong>h nur darum, <strong>das</strong>s er einem Ersti die Unterhose<br />

anzünden wollte, da frage ich mich, was will sie …“ Ron rätselte<br />

weiterhin über die Natur von Hermines Denkweise, während sie <strong>auf</strong> dem<br />

kürzesten Weg in die Große Halle liefen. Eine hinter einem<br />

Wandvorhang versteckte Treppe, ein angebliches Portrait, <strong>das</strong> in<br />

Wirklichkeit eine Tür war <strong>und</strong> zwei als Wand getarnte Geheimgänge<br />

später betraten sie die Große Halle.<br />

Hermine saß schon am Tisch, hatte eine Schüssel Cornflakes vor<br />

sich <strong>und</strong> blätterte gedankenverloren in der aktuellen Ausgabe des<br />

Tagespropheten.<br />

Als <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron sich setzten, begrüßte sie Ersteren, warf<br />

Letzterem aber nur einen kühlen Blick zu. Ron schaute erst gar nicht <strong>auf</strong>,<br />

sondern scheffelte sich wortlos seinen Teller mit Rührei <strong>und</strong> Schinken<br />

voll.<br />

<strong>Harry</strong> spürte seinen Ärger über <strong>das</strong> kindische Verhalten seiner<br />

Fre<strong>und</strong>e größer werden. Natürlich hatte er mittlerweile eine Ahnung,<br />

woher die Gründe für die ständigen Streits <strong>und</strong> die schlechte Luft<br />

zwischen den beiden kamen. Rons abfällig-zynische Bemerkungen über<br />

Hermine wurden durch seine wie zufällig scheinende kurze, heimliche<br />

Blicke <strong>auf</strong> sie, die eine unverkennbare Sehnsucht enthielten, Lügen<br />

gestraft. Und auch Hermine, so wusste <strong>Harry</strong>, war keineswegs so<br />

unbeeindruckt von ihren Streits, wie sie tat. Sie hielt ihre Zeitung ein<br />

wenig zu verkrampft <strong>und</strong> ignorierte Ron ein wenig zu angestrengt, um<br />

ihrem Desinteresse Überzeugung zu geben.<br />

Seufzend nahm sich <strong>Harry</strong> eine Scheibe Toast. Gerade als er sie<br />

mit Marmelade bestreichen wollte, stieß ihn Ron in die Seite.<br />

„Schau mal“, meinte er gedämpft <strong>und</strong> nickte in Richtung<br />

Lehrertisch.<br />

Zuerst wusste <strong>Harry</strong> nicht, was Ron wollte. Was war so spannend<br />

an Flitwick, wie er, angeregt mit Professor Sprout erzählend, sein Müsli<br />

löffelte? Oder an Snape, der mit seinem üblichen grimmigen Ausdruck<br />

die Schülerreihen vor sich betrachtete, währenddessen er gleichgültig<br />

eine Toastscheibe aß? Aber dann schweifte sein Blick weiter zu<br />

116


Professor McGonagall, die noch missmutiger als gestern Abend vor<br />

einem leeren Teller saß. Und zwei Stühle neben ihr sah er zwei<br />

Personen, die er nicht kannte.<br />

Fasziniert betrachtete er – nun, auch wenn es unfair <strong>und</strong> unhöflich<br />

klang, so war es <strong>doc</strong>h genau diese Beschreibung, die ihm durch den<br />

Kopf ging – einen der hässlichsten Menschen, denen er je begegnet war.<br />

Sogar <strong>das</strong> Aussehen von Moody wurde durch <strong>das</strong> Wissen relativiert,<br />

<strong>das</strong>s er sein zerstörtes Äußeres dem jahrelangen Kampf gegen<br />

Todesser verdankte. Und auch Sirius’ Jahre in Askaban hatten eine<br />

Ahnung von seiner früheren Attraktivität übrig gelassen. Doch der Mann,<br />

der gerade Professor McGonagall etwas zuflüsterte <strong>und</strong> anschließend<br />

laut <strong>auf</strong>lachte, war schlicht <strong>und</strong> ergreifend unansehnlich. Obwohl er<br />

stand, überragte ihn die sitzende Verwandlungslehrerin um einige<br />

Zentimeter. Er schien noch recht jung zu sein – <strong>Harry</strong> schätzte ihn <strong>auf</strong><br />

Mitte 20. Auch wenn er keine direkt zu identifizierende Missbildung hatte,<br />

war er einfach nur hässlich. Kurze, hellbraune Haare, ein Grinsen, <strong>das</strong><br />

irgendwie den Eindruck entstehen ließ, <strong>das</strong>s seine Gesichtszüge<br />

allesamt fehlproportioniert wären, <strong>und</strong> eine Narbe, die sich über die<br />

gesamte rechte Gesichtshälfte zog.<br />

Nichtsdestotrotz ging derjenige von Lehrer zu Lehrer, begrüßte<br />

jeden Einzelnen <strong>und</strong> wechselte mit ihm ein paar Worte. Bei Snape<br />

verharrte er nach einem vernichtenden Blick von diesem allerdings nur<br />

ein paar Sek<strong>und</strong>en.<br />

„Wer ist <strong>das</strong>?“, fragte <strong>Harry</strong>. Ron zuckte mit den Schultern.<br />

„Rick Franbery“, kam es hinter Hermines Tagespropheten hervor.<br />

„Der Assistent von unserem neuen Vereidigungslehrer.“<br />

Inzwischen hatte sich Franbery <strong>zur</strong>ück <strong>auf</strong> seinen Stuhl gesetzt. In<br />

dem Mann neben ihm vermutete <strong>Harry</strong> den Nachfolger von Professor<br />

Umbridge. Als er ihn sich genauer ansah, blieb sein Herz für eine<br />

Sek<strong>und</strong>e stehen. Einen Moment glaubte er, wieder vor dem Spiegel<br />

Nerhegeb zu sitzen <strong>und</strong> seinen Vater zu sehen, nur <strong>das</strong>s er diesmal<br />

einen Menschen aus Fleisch <strong>und</strong> Blut vor sich hatte. Natürlich war Jamie<br />

McGonagall älter als sein Vater je geworden war – er war vielleicht ein<br />

paar Jahre älter als James <strong>Potter</strong> heute gewesen wäre, würde er noch<br />

leben. Ansonsten je<strong>doc</strong>h war er sein Ebenbild: Groß <strong>und</strong> schlank, mit<br />

einer Brille, die <strong>Harry</strong> stark an seine eigene erinnerte, mit recht langen,<br />

pechschwarzen Haaren, die <strong>das</strong> gewisse Maß an Unordnung erkennen<br />

ließen, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> jeden Tag im Spiegel erblickte.<br />

„Es ist unheimlich“, keuchte Ron. „Das ist, als sähe man dich in 20<br />

Jahren.“<br />

<strong>Harry</strong> konnte nur weiterhin wie festgenagelt <strong>auf</strong> den Lehrertisch<br />

schauen. Unterdessen hatten auch einige der Schüler die seltsame<br />

Ähnlichkeit zwischen dem Lehrer <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> bemerkt <strong>und</strong> schauten<br />

neugierig zum Gryffindor-Tisch. <strong>Harry</strong> hatte überhaupt keine Lust, sich<br />

117


egaffen zu lassen <strong>und</strong> wollte mit seinem Toastbrot verschwinden, als<br />

Professor McGonagall ankam <strong>und</strong> die St<strong>und</strong>enpläne verteilte. Genervt<br />

blieb er sitzen. Als er den seinigen entgegennahm (Professor<br />

McGonagall schien heute nicht sehr gesprächig), besah er sich sofort<br />

den heutigen Tag.<br />

„Ich habe tatsächlich Zaubertränke!“, stieß er hervor.<br />

Seine Verwandlungslehrerin drehte sich langsam um.<br />

„Was glauben Sie denn, Mr. <strong>Potter</strong>?“, fragte sie unwirsch. „Mit<br />

einem „O“ darf man <strong>das</strong> ja wohl erwarten.“<br />

„Ich dachte, <strong>auf</strong> dem Zeugnis war ein Fehler gemacht worden“,<br />

meinte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>geregt. Es war also wahr, er hatte tatsächlich eine<br />

überragende Zaubertrank-Leistung erbracht.<br />

„Hogwarts-Zeugnisse enthalten keine Fehler. Und nun beeilen Sie<br />

sich, der Unterricht beginnt gleich.“<br />

<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron warfen sich einen viel sagenden Blick zu.<br />

„Du scheinst nicht der Einzige in Hogwarts zu sein, den dieser<br />

McGonagall durcheinander bringt.“<br />

Sie griffen schnell nach ihren Schultaschen <strong>und</strong> schauten <strong>auf</strong> die<br />

St<strong>und</strong>enpläne, die sie bekommen hatten.<br />

„Gleich Verwandlung!“, stöhnte Ron. „Da nimmt sie uns bestimmt<br />

doppelt dran, so wie ihre Laune ist, <strong>und</strong> dabei ist <strong>das</strong> Fach sonst auch<br />

anstrengend genug.“<br />

„Und schau mal“, überflog <strong>Harry</strong> den Tag. „Danach haben wir<br />

Kräuterk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> am Nachmittag Verteidigung … “ Er war schon<br />

neugierig, wie der neue Lehrer den Unterricht gestalten wollte –<br />

besonders, da er selbst mittlerweile Erfahrung im Unterrichten von<br />

Verteidigung hatte.<br />

„Und warte erst, bis du siehst, wie viele Freist<strong>und</strong>en wir dieses<br />

Jahr haben“, jauchzte Ron. „16 Stück, <strong>und</strong> ich sogar 20, <strong>das</strong> ist ja wie<br />

Ferien!“<br />

Hermine rümpfte die Nase <strong>und</strong> steckte ihren St<strong>und</strong>enplan ein, der<br />

nur sechs Freist<strong>und</strong>en beinhaltete, obwohl sie sich entschieden hatte,<br />

unter anderem1 Geschichte sausen zu lassen <strong>und</strong> bloß mit neun<br />

Fächern weiterzumachen.<br />

„Die wirst du brauchen, um all die Haus<strong>auf</strong>gaben zu erledigen“,<br />

erklärte sie. „Ich habe im letzten Schuljahr mit Angelina geredet, sie<br />

meint, in der 6. Klasse geben die Lehrer weit mehr Arbeit <strong>auf</strong> als in den<br />

früheren Klassen.“<br />

„Noch mehr?“, fragte Ron entgeistert.<br />

1 In Hermines Zeugnis ist die Rede von 11 ZAGs (HbP, Kapitel 5), uns sind dagegen nur 10 Fächer bekannt<br />

(Zauberkunst, Zaubertränke, Verwandlung, Kräuterk<strong>und</strong>e, Pflege, Geschichte, Astronomie, Alte Runen,<br />

Arithmantik, DADA), in denen sie ZAGs gemacht hat. (Muggelk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Wahrsagen hat sie nach dem 3. Jahr<br />

<strong>auf</strong>gegeben, Flugunterricht gibt es offensichtlich nur im 1. Jahr.) Bleibt ein unbekanntes Fach, <strong>das</strong> sie bei mir im<br />

6. Jahr neben Geschichte <strong>auf</strong>gibt. Somit macht sie bei mir mit 9 Fächern weiter, <strong>Harry</strong> mit 6, Ron mit 5.<br />

118


„Wir sind jetzt UTZ-Schüler, <strong>das</strong> heißt, wie studieren unsere Fächer<br />

sehr intensiv. Es wird erwartet, <strong>das</strong>s jeder Schüler allein unter der<br />

Woche drei bis vier St<strong>und</strong>en für ein Fach arbeitet. Und dann noch einmal<br />

bis zu zwei am Wochenende.“<br />

Ron machte einen ungeheuer schockierten Eindruck <strong>und</strong> rechnete<br />

hektisch nach, was <strong>das</strong> für seine Zeitgestaltung bedeutete.<br />

„Das sind ja um die 50 St<strong>und</strong>en Arbeit die Woche! Was wollen die<br />

erreichen, <strong>das</strong>s wir uns zu Tode schuften?“<br />

„Nur, <strong>das</strong>s wir unsere UTZ ordentlich bestehen“, meinte Hermine<br />

hochnäsig.<br />

<strong>Harry</strong> wollte gar nicht erst an Quidditch <strong>und</strong> die DA denken.<br />

„In Ordnung, Angelina sagte auch, <strong>das</strong>s es bis nach den<br />

Weihnachtsferien nicht ganz so viel Stress ist, wie es sich anhört, erst<br />

während der Prüfungsvorbereitung wird es wirklich anstrengend“, fügte<br />

Hermine schnell an, als sie Rons bemitleidenswerte Mine sah.<br />

„Na toll, sag <strong>das</strong> mal McGonagall“, brummte Ron, während sie sich<br />

in ihrem alt bekannten Verwandlungs-Klassenzimmer <strong>auf</strong> drei freie<br />

Stühle in der vordersten Reihe niedergelassen hatten – <strong>und</strong> tatsächlich<br />

sah die Verwandlungslehrerin die Sache ähnlich streng wie Hermine.<br />

„Sie sind jetzt in einem UTZ-Kurs, <strong>und</strong> für diejenigen von Ihnen, die<br />

keine genaue Vorstellung davon haben, was <strong>das</strong> heißt: Arbeit, Arbeit <strong>und</strong><br />

nochmals Arbeit. Was Sie bisher in diesem Fach gelernt haben, sind<br />

Gr<strong>und</strong>lagen. Sehr gute Gr<strong>und</strong>lagen aus allen wichtigen Zweigen der<br />

Verwandlungskunst, aber nichts desto trotz nur die Voraussetzungen,<br />

um mit dem tiefgründigen Studium weiterzumachen. Wer von Ihnen<br />

ernsthaft vorhat, seinen UTZ zu bestehen, der sollte von nun an den<br />

Unterricht nicht mehr so locker <strong>und</strong> nachlässig nehmen, wie viele von<br />

Ihnen es während der letzten Jahre getan haben.“<br />

Ein entrüsteter Aufschrei ging durch die Klasse, die meisten<br />

Schüler hatten auch in den letzten Klassen wie verrückt für dieses<br />

vielleicht schwerste Fach der Zauberei geschuftet.<br />

„Ja, auch wenn Sie es vermutlich anders sehen, aber verglichen<br />

mit dem, was nun vor Ihnen liegt, war der bisherige<br />

Verwandlungsunterricht ein Spaziergang.“<br />

<strong>Harry</strong> schwante Übles, <strong>und</strong> seine Befürchtungen bestätigten sich,<br />

als sie während der folgenden Doppelst<strong>und</strong>e den Lernstoff aus dem<br />

fünften Schuljahr wiederholen sollten. Er brauchte eine viertel St<strong>und</strong>e,<br />

bis er seinen Raben endlich zum Verschwinden gebracht hatte, obwohl<br />

ihm <strong>das</strong> in den ZAG-Prüfungen <strong>auf</strong> Anhieb mit einem Leguan gelungen<br />

war. Ron mühte sich genauso mit einer kleinen Katze ab, die<br />

hauptsächlich damit beschäftigt war, mit seinem Zauberstab zu spielen,<br />

den er vor ihr herumwedelte, bevor sie dann von einem seiner Zauber<br />

getroffen verschwand. Hermine natürlich saß gelangweilt <strong>auf</strong> ihrem<br />

119


Stuhl, nachdem sie in zwei Minuten eine Eidechse, einen Frosch <strong>und</strong> ein<br />

Hermelin weggezaubert hatte.<br />

Danach mussten sie einige theoretische Fragen McGonagalls über<br />

sich ergehen lassen, <strong>und</strong> auch wenn es <strong>Harry</strong> schien, als hätte er von<br />

diesen nie gehört, behauptete die Lehrerin, sie direkt von den ZAG-<br />

Frageblättern genommen zu haben. Sein Gedächtnis fühlte sich an wie<br />

ausgetrocknet <strong>und</strong> schien keine Anstalten machen zu wollen, sich an<br />

irgendetwas aus dem letzten Schuljahr zu erinnern. Hermine durfte sich<br />

nach fünf richtig beantworteten Fragen in Folge nicht mehr melden,<br />

wor<strong>auf</strong>hin Rons Miene noch saurer wurde als sie ohnehin schon war.<br />

Während des gesamten Unterrichtes je<strong>doc</strong>h hörte man aus<br />

verschiedenen Ecken Getuschel, was so gut wie noch nie in<br />

McGonagalls Unterricht passiert war. Dementsprechend genervt kehrte<br />

sie nach etwa der Hälfte der Zeit zu ihrem Pult <strong>zur</strong>ück, nachdem sie von<br />

Schüler zu Schüler gel<strong>auf</strong>en war, um Fehler zu korrigieren.<br />

„Im Normalfall würde ich die Störenfriede, die nun seit etlichen<br />

Minuten meinen Unterricht stören, kompromisslos vor die Tür setzen. Da<br />

ich bei Ihnen in den vergangenen Jahren aber noch keine<br />

außergewöhnliche Tendenz <strong>zur</strong> Disziplinlosigkeit in meinem<br />

Klassenraum habe entdecken können, nehme ich an, <strong>das</strong>s dies ein<br />

Ausnahmefall ist, <strong>und</strong> des Weiteren, <strong>das</strong>s dieser mit dem neuen<br />

Verteidigungslehrer zu tun hat.“<br />

Augenblicklich wurde es so still im Klassenraum, <strong>das</strong>s man ein<br />

unternehmungslustiges Krächzen von Nevilles immer noch existenten<br />

Raben hören konnte. Sogar Padma <strong>und</strong> Parvati, die ihren ersten<br />

gemeinsamen Verwandlungsunterricht zum ausgiebigen Schwatzen<br />

genutzt hatten, schauten neugierig nach vorne.<br />

„Wie Ihnen zweifellos <strong>auf</strong>gefallen ist, trägt er meinen<br />

Familiennamen. Und die meisten von Ihnen wissen sicherlich, <strong>das</strong>s<br />

schottische Namen, die einem bestimmten Clan zugeordnet werden<br />

können, ausschließlich für Mitglieder dieses Clans bestimmt sind. Somit<br />

liegt die Schlussfolgerung nahe, <strong>das</strong>s Jamie McGonagall mein<br />

Verwandter ist.“ Ihre Nasenlöcher weiteten sich, <strong>und</strong> die Augen hinter<br />

den viereckigen Brillengläsern funkelten <strong>auf</strong>gebracht. „Was tatsächlich<br />

der Fall ist. Er ist mein Neffe.“ Erregtes Murmeln brach aus, <strong>das</strong> nach<br />

einem besonders strengen Blick von Professor McGonagall aber schnell<br />

verstummte.<br />

„Allerdings haben wir in den letzten Jahren kaum Kontakt gehabt,<br />

<strong>und</strong> dabei möchte ich es bewenden lassen.“ Sie drehte sich abrupt um<br />

<strong>und</strong> begann Seamus für seine schlampige Arbeit mit<br />

Verschwindezaubern zu tadeln.<br />

„Ich möchte gerne wissen, was dahinter steckt“, flüsterte <strong>Harry</strong> zu<br />

Hermine <strong>und</strong> Ron. „Da scheint es reichlich Ärger gegeben zu haben, sie<br />

120


ist <strong>doc</strong>h sonst nicht so“ – er suchte nach einem passenden Wort –<br />

„verächtlich.“<br />

„Doch“, wisperte Hermine <strong>zur</strong>ück. „Denk nur an Umbridge.“<br />

Dann machten sie sich schnell wieder daran, sich mit dem ZAG-<br />

Stoff auseinander zu setzen.<br />

Nach der St<strong>und</strong>e waren sie geplättet. <strong>Harry</strong> schwirrte der Kopf von<br />

all den Dingen, die sie heute hatten wiederholen müssen, <strong>und</strong> außerdem<br />

von den Massen an Haus<strong>auf</strong>gaben, die Professor McGonagall ihnen<br />

gegeben hatte. Unter anderem sollten sie ihren Aufsatz zu<br />

Materialisierungs- <strong>und</strong> Verschwindezaubern, der <strong>das</strong> fünfte <strong>und</strong> sechste<br />

Schuljahr quasi verband, überarbeiten <strong>und</strong> einige neue Aspekte mit<br />

<strong>auf</strong>nehmen. Des Weiteren erwartete sie von jedem eine Rolle<br />

Pergament, in dem sie sich kritisch mit ihrer ZAG-Leistung in<br />

Verwandlung auseinandersetzen sollten, <strong>und</strong> zusätzlich sollten sie noch<br />

drei Kapitel zu Materialisierungszaubern lesen, um den nächsten<br />

Unterricht am Mittwoch vorzubereiten.<br />

„Und woher soll ich noch wissen, wie meine Leistung in den ZAGs<br />

gewesen war?“, maulte Ron, als sie durch die Gänge Hogwarts rannten,<br />

um rechtzeitig zu Kräuterk<strong>und</strong>e zu kommen. „Das ist Ewigkeiten her. Hi,<br />

Neville.“ Dieser kam ihnen aus dem Verwandlungsraum nachgel<strong>auf</strong>en,<br />

nachdem Professor McGonagall ihn wegen seiner ZAGs hatte sprechen<br />

wollen.<br />

„Konnte kaum glauben, <strong>das</strong>s ich wirklich ein „E“ gekriegt habe <strong>und</strong><br />

wollte wissen, wie ich <strong>das</strong> geschafft habe. Natürlich habe ich keine<br />

Ahnung, ich schätze mal, ich hatte einfach Glück. Sie war nicht<br />

besonders begeistert.“<br />

„Nun, du hättest ihr einfach sagen können, <strong>das</strong>s wir zusammen viel<br />

für die Prüfungen gelernt haben“, kam es ein wenig träumerisch von<br />

jemandem hinter ihm. Loona hatte ihn begleitet, schwenkte jetzt aber in<br />

einen anderen Gang um.<br />

„Ich werde Kräuterk<strong>und</strong>e nächstes Jahr wohl abwählen, ich denke,<br />

Alte Runen sind wichtiger für meine spätere Karriere“, meinte sie mit<br />

einem fast erstaunten Blick <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s Kräuterk<strong>und</strong>ebuch <strong>und</strong><br />

verschwand hüpfend hinter einer Biegung.<br />

„Für welche Karriere“, fragte Hermine stirnrunzelnd. „Als<br />

Erforscherin nichtexistenter Pflanzen <strong>und</strong> Tiere?“<br />

Loona <strong>und</strong> Hermine kamen zwar miteinander aus, allerdings<br />

würden sie <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> ihrer Verschiedenheit nie wirkliche Fre<strong>und</strong>e werden.<br />

Wobei Hermine nun mit wachsendem Erstaunen Nevilles Schwärmerei<br />

für Loonas Verwandlungsfähigkeiten zuhörte. Anscheinend war sie mit<br />

Ginny zusammen die beste Verwandlerin ihrer Klassenstufe.<br />

„Kommt, wir sind spät dran“, rief Neville plötzlich <strong>und</strong> schritt<br />

energisch an den Beeten vorbei, die zu einer Reihe Gewächshäuser<br />

121


führten, in denen sie Kräuterk<strong>und</strong>e hatten. Wieder wurden sie<br />

zusammen mit den Ravenclaws unterrichtet, was die Klasse ziemlich<br />

groß werden ließ, denn Professor Sprout nahm auch Schüler mit einem<br />

„A“ aus den ZAGs <strong>auf</strong>.<br />

In den kommenden zwei St<strong>und</strong>en gaben sie ihre<br />

Haus<strong>auf</strong>gabenberichte ab <strong>und</strong> diskutierten dann dabei <strong>auf</strong>getretene<br />

Probleme (Ron hatte es tatsächlich geschafft, seinen Kreischbeißer<br />

vertrocknen zu lassen – „Wir sind zum Grimmauldplatz umgezogen <strong>und</strong><br />

ich habe ihn zu Hause vergessen. Das nächste Mal, als Dad<br />

nachgesehen hat, war es zu spät.“). <strong>Harry</strong> bekam ein extra Lob für<br />

seinen detaillierten Bericht über die Entwicklung einer jungen<br />

Teufelsschlinge, allerdings unterließ er es, den Gr<strong>und</strong> für seine<br />

ungewohnte Pedanterie zu nennen, nämlich, <strong>das</strong>s er wochenlang<br />

wortwörtlich nichts Besseres zu tun gehabt hatte als einer magischen<br />

Pflanze beim Wachsen zuzusehen.<br />

Obwohl die Arbeit in den Gewächshäusern stets recht angenehm<br />

war, da man ausreichend Gelegenheit für ein ausgiebiges Gespräch mit<br />

seinen Fre<strong>und</strong>en hatte, waren die drei froh, als sie die feuchte, warme<br />

Luft hinter sich lassen <strong>und</strong> wieder in die kühlen Gänge des Schlosses<br />

<strong>zur</strong>ückkehren konnten. Nach dem Mittagessen <strong>und</strong> den nun folgenden<br />

Freist<strong>und</strong>en vergrub sich Hermine erst in ihre Verwandlungs<strong>auf</strong>gaben,<br />

bevor sie dann zu Alte Runen verschwand, die ganze Zeit den Kopf über<br />

<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron schüttelnd, welche lieber ihre neuesten<br />

Schokofroschkarten mit denen von Neville <strong>und</strong> Seamus verglichen,<br />

anstatt ihren sich langsam erhöhenden Berg an Haus<strong>auf</strong>gaben<br />

anzugehen (Professor Sprout verlangte bis zum nächsten Mal eine<br />

Abhandlung über Dianthuskraut). Aber die drückende Schwüle des<br />

Tages wirkte sich ziemlich negativ <strong>auf</strong> ihre Unternehmungslust <strong>und</strong><br />

Konzentrationsfähigkeit aus.<br />

Nach den zwei St<strong>und</strong>en machten sie sich wieder <strong>auf</strong> den Weg<br />

durch die Gänge <strong>und</strong> betraten <strong>das</strong> sich im ersten Stock befindende<br />

Klassenzimmer für Verteidigung gegen die dunklen Künste. Hermine<br />

stieß kurz dar<strong>auf</strong> leicht keuchend <strong>auf</strong> sie <strong>und</strong> schwärmte wieder einmal<br />

von ihren Runenunterricht <strong>und</strong> davon, <strong>das</strong>s sie diesmal keine<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben <strong>auf</strong>bekommen hatten.<br />

Weder Jamie McGonagall noch sein Assistent waren zu sehen,<br />

aber dennoch stand die Tür offen, so<strong>das</strong>s sie sich freie Plätze in dem<br />

großen, von hohen Fenstern begrenzten Raum mit dem eisernen<br />

Kronleuchter suchen konnten. <strong>Harry</strong> dachte gedankenverloren an die<br />

vielen Lehrer, die er hier hatte kommen <strong>und</strong> gehen sehen: Den<br />

Voldemort ergebenen Quirrell, den selbstverliebten, inkompetenten<br />

Lockhart, Lupin, der sich ernsthaft <strong>und</strong> erfolgreich bemüht hatte, ihnen<br />

guten Unterricht zu geben, den Todesser Crouch, der sich für Moody<br />

122


ausgegeben hatte, <strong>und</strong> die grausame, ministeriumstreue Umbridge. Was<br />

würde ihn heute erwarten? Allzu schlimm konnte es nicht werden, dachte<br />

<strong>Harry</strong> resignierend, bis <strong>auf</strong> Lupin hatten sie nie einen ordentlichen Lehrer<br />

für dieses Fach gehabt.<br />

Die heiße Sonne stach ihm durch die Fenster in die Augen,<br />

während eine Fliege träge vor seinem Gesicht summte. Es war<br />

mittlerweile recht spät, alle Schüler hatten sich bereits gesetzt. Der<br />

warme Tag schien ihnen die Lust zu schwatzen genommen zu haben,<br />

jedenfalls war es ziemlich still im Klassenraum, die Art von Stille, die<br />

allein durch gedrückte, schläfrige Unkonzentriertheit zu Stande kommt.<br />

Hermine rückte noch schnell ihre Bücher <strong>zur</strong>echt, während Ron ihr<br />

ungläubig zusah.<br />

„Wo hast du die ganzen Wälzer her? Wir haben <strong>doc</strong>h nur ein<br />

Kursbuch!“<br />

„Das ist Sek<strong>und</strong>ärliteratur“, meinte sie <strong>und</strong> gab einem großen<br />

braunen Buchrücken einen liebevollen Klapps.<br />

„Du spinnst“, murrte Ron <strong>und</strong> ließ seinen Kopf <strong>auf</strong> die Arme sinken.<br />

„Wenn es nicht bald losgeht, verschwinde ich. Dean will heute eine<br />

R<strong>und</strong>e <strong>auf</strong> dem Besen drehen, als Vorbereitung <strong>auf</strong> die Auswahlspiele.<br />

Dort wäre ich wohl auch besser <strong>auf</strong>gehoben …“<br />

Dean hatte als einziges DA-Mitglied den Verteidigungs-ZAG nicht<br />

bestanden <strong>und</strong> nahm nicht weiter am Verteidigungsunterricht teil.<br />

In den Moment schwang die Tür von neuem <strong>auf</strong>, <strong>und</strong> McGonagall<br />

trat ein. Er hielt nur seinen Zauberstab in der Hand, sonst nichts, was<br />

Hermine einen verstohlenen Blick <strong>auf</strong> ihre vielen Bücher werfen ließ.<br />

Hinter ihrem neuen Lehrer betrat nun auch Rick Franbery den Raum.<br />

Wie sein Vorgesetzter trug er einen einfachen, schwarzen Umhang, im<br />

Gegensatz zu diesem aber brachte er einen kleinen schwarzen Koffer<br />

mit <strong>und</strong> legte diesen <strong>auf</strong> einem der leeren vorderen Tische ab.<br />

Die Klasse war nun vollkommen ruhig <strong>und</strong> schaute neugierig nach<br />

vorne, wo Franbery sich neben McGonagall gestellt hatte.<br />

„Hi“, begrüßte sie ihr zukünftiger Lehrer <strong>und</strong> strahlte die Schüler<br />

an.<br />

„Ich freue mich, zumindest für <strong>das</strong> kommende Schuljahr zuständig<br />

für euren Unterricht in Verteidigung gegen die dunklen Künste zu sein –“<br />

„Mit Sicherheit nicht länger“, meinte Ron gehässig <strong>und</strong> warf einen<br />

mit Verbitterung versehenen Blick <strong>auf</strong> Hermine, die ihre Bücher<br />

vergessen zu haben schien <strong>und</strong> verzückt den Worten McGonagalls<br />

lauschte, der es sich nun <strong>auf</strong> einer Tischkante bequem gemacht hatte.<br />

„Jedenfalls wäre er da der erste“, brabbelte Ron weiter, Hermine<br />

mit Blicken durchbohrend.<br />

„Hör <strong>auf</strong>, Ronald!“, zischte sie <strong>zur</strong>ück. „Früher waren alle<br />

Verteidigungs-Lehrer lange im Amt, wir hatten halt nur <strong>das</strong> Pech,<br />

diejenigen zu erleben, die am ungeeignetsten für den Job sind.“<br />

123


<strong>Harry</strong> wollte gerade hitzig Lupin in Schutz nehmen, als McGonagall<br />

weitersprach.<br />

„Ich war schon ein wenig überrascht, als Professor Dumbledore<br />

mich angerufen hat, um meinem Angebot, hier zu unterrichten,<br />

zuzusagen“, plauderte er in breitestem Amerikanisch. Als er die<br />

Verwirrung der Klasse bemerkte, lachte er laut <strong>auf</strong>.<br />

„Versucht einmal, eine Eule über den Atlantik zu schicken, vor<br />

allem noch in den hintersten Winkel des B<strong>und</strong>esstaates Washington.“ Er<br />

zuckte mit den Schultern. „Die Muggel haben einige Sachen erf<strong>und</strong>en,<br />

die tatsächlich nützlich sind. Ein Telefon zu benutzen ist effektiver <strong>und</strong><br />

schneller als jeder Kommunikationszauber, den ich kenne.“ Vergnügt<br />

wies er <strong>auf</strong> seinen Assistenten Franbery. „Rick zum Beispiel hat zu<br />

Hause einen Fernseher; unglücklicherweise stellte sich heraus, <strong>das</strong>s er<br />

ihn hier nicht benutzen kann … ich hatte ganz vergessen, <strong>das</strong>s<br />

elektronische Medien hier nicht funktionieren.“<br />

„Mit der Einstellung wird er sich Schwierigkeiten bei den Slytherins<br />

einhandeln“, fürchtete Hermine.<br />

„Na <strong>und</strong>“, flötete Ron.<br />

„Meinen Namen wisst ihr inzwischen bestimmt, so wie ich Minerva<br />

kenne, wird sie es kaum unterlassen haben, den wild wuchernden<br />

Gerüchten um meinen Nachnamen ein Ende zu bereiten, indem sie euch<br />

die langweilige Wahrheit erzählt hat“, meinte er lächelnd. Von der<br />

verärgerten Bitterkeit seiner Tante war nichts zu bemerken.<br />

„Aber tut mir einen Gefallen <strong>und</strong> nennt mich Jamie; mit diesem<br />

albernen Professorentitel angesprochen zu werden ist mir unangenehm.“<br />

Einige der Schüler hoben erstaunt die Augenbrauen, etwas<br />

anderes zu ihren Lehrern zu sagen als „Professor“ waren sie nicht<br />

gewohnt. Hermine schien überhaupt nicht überrascht.<br />

„Ich habe gelesen, <strong>das</strong>s es in amerikanischen Zaubererschulen<br />

üblich ist, sich mit dem Vornamen anzusprechen, <strong>das</strong> entspricht der<br />

amerikanischen informellen Umgangsweise“, erklärte sie, noch immer<br />

keine Sek<strong>und</strong>e den Blick von McGonagall wendend.<br />

„Nun denn, dann lasst uns zum Wesentlichen kommen. Ich werde<br />

mit euch in diesem Jahr einen genau ausgearbeiteten Plan durchgehen,<br />

den ich ausgehend von eurem bisherigen Verteidigungsunterricht erstellt<br />

habe. Leider habt ihr in diesem Fach oft recht unglückliche, äh<br />

Professoren erwischt. Wenn ihr mir diese Feststellung erlaubt.“ Keiner<br />

machte Anstalten zu widersprechen. „Mein Assistent Rick wird mir bei<br />

der Vorbereitung des Unterrichtes helfen; er möchte später selbst Lehrer<br />

werden uns nutzt <strong>das</strong> kommende Jahr zum Sammeln von Erfahrung.“<br />

Damit trat Franbery einen Schritt nach vorne <strong>und</strong> grinste die Klasse<br />

seltsam verzerrt an. Die Narbe an seiner rechten Gesichtshälfte stach<br />

weiß hervor.<br />

124


„Herzlich willkommen auch von mir“, begann er mit einem<br />

ungeheuer schweren Akzent; <strong>Harry</strong> kam es ein wenig so vor, als würde<br />

Fleur versuchen, ihre ersten englischen Worte auszusprechen.<br />

„Ich komme im Gegensatz zu Jamie nicht aus den Staaten,<br />

sondern bin im frankophonen Teil von Kanada <strong>auf</strong>gewachsen.<br />

Deswegen ist es mir eine besondere Freude, die Chance erhalten zu<br />

haben, an der wohl berühmtesten Zaubererschule der Welt arbeiten zu<br />

dürfen.“<br />

„Schleimer“, brummelte <strong>Harry</strong>. „Wen will er denn beeindrucken?“<br />

Und es schien wirklich, als höre Franbery niemand zu, aller Augen<br />

folgten unablässig McGonagall, der neugierig den Klassenraum abschritt<br />

<strong>und</strong> Bilder, Skelette <strong>und</strong> Regale musterte, sich nun aber beschwingt<br />

umdrehte <strong>und</strong> zum Lehrertisch <strong>zur</strong>ückkehrte.<br />

„Nun denn, dann wäre es an der Zeit, zu beginnen“, strahlte er.<br />

„Offensichtlich hat der ungenügende Unterricht, den ihr in Verteidigung<br />

erhalten habt, euch nicht davon abgehalten, außergewöhnlich gute ZAG-<br />

Resultate zu erzielen.“ Er blätterte ein paar Pergamente durch, die er<br />

Franberys Koffer entnommen hatte.<br />

„Lasst mal sehen … sieben „Ohnegleichen“, <strong>das</strong> ist wahrscheinlich<br />

Rekord … <strong>und</strong> fast alle anderen Teilnehmenden haben ein „Erwartungen<br />

übertroffen“.“ Bew<strong>und</strong>ernd schaute er in die Klasse.<br />

„Ich nehme an, dieses außerordentliche Ergebnis ist eine Folge<br />

eures berühmten Hangs <strong>zur</strong> selbstständigen, freiwilligen<br />

Verteidigungsarbeit außerhalb des Unterrichtes.“ Sein Blick schweifte<br />

kurz durch die Klasse, dann hatte er sein Ziel gef<strong>und</strong>en. „Die von<br />

niemand anderem initiiert worden ist als von <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>.“ Fre<strong>und</strong>lich<br />

lächelte er <strong>Harry</strong> an. Dieser hatte geahnt, nein, gewusst, <strong>das</strong>s der<br />

Moment hatte kommen müssen, an dem McGonagall ihn ansprechen<br />

würde; für gewöhnlich passierte <strong>das</strong> bei neuen Lehrern noch viel früher.<br />

Keiner konnte es sich nehmen lassen, den legendären Bezwinger<br />

Voldemorts besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.<br />

Mittlerweile war er daran gewöhnt, aber in seinen ersten Hogwarts-<br />

Jahren war es ihm ein ständiger Gräuel gewesen, ungewollt im<br />

Mittelpunkt zu stehen. Seltsamerweise empfand er McGonagalls<br />

Interesse als nicht <strong>auf</strong>dringlich oder sensationslüstern; vielleicht, weil ihn<br />

dieser wegen der DA angesprochen hatte <strong>und</strong> somit eine direkte<br />

Verbindung zum Unterricht bestand.<br />

„Mm, ja“, nickte <strong>Harry</strong> unbestimmt, nicht wissend, was der Lehrer<br />

von ihm wollte.<br />

„Fantastische Idee, die hätte auch von mir kommen können“,<br />

meinte McGonagall begeistert. „Wenn ich nicht genau wüsste, <strong>das</strong>s ich<br />

euch als ein von Schülern im Normalfall gemiedener Lehrer stören<br />

würde, würde ich selbst sofort in die DA eintreten.“ Bei dem Gedanken<br />

125


musste er noch breiter grinsen <strong>und</strong> setzt sich wieder lässig <strong>auf</strong> eine<br />

Tischkante.<br />

Das hatte er nun nicht erwartet. Er hätte sich vorstellen können,<br />

wegen der DA <strong>auf</strong> heftigen Widerstand zu treffen, im besten Fall hatte er<br />

gehofft, die Verteidigungsgruppe nach intensiver Diskussion mit<br />

McGonagall weiterführen zu dürfen, er hatte sich sogar bereits einige<br />

Argumente überlegt.<br />

Seine Überraschung muss ihm deutlich angesehen gewesen zu<br />

sein, denn McGonagall lachte wieder laut <strong>auf</strong>.<br />

„Dachtest du, ich hätte was dagegen, wenn ihr außerhalb des<br />

Unterrichts übt? Jeder Lehrer würde vor Freude in die Luft springen,<br />

wenn seine Schüler solche Hingabe zeigen.“<br />

„Es ist nur so, <strong>das</strong>s unsere ehemalige Lehrerin uns mit<br />

Schulverweis gedroht hat, sollten wir eine geheime Organisation für<br />

Verteidigung gründen“, erklärte <strong>Harry</strong>. Ihm war nie in den Sinn<br />

gekommen, die DA als Unterrichtsergänzung zu sehen, selbst jetzt, wo<br />

Umbridge weg war, hatte sie für ihn noch immer den Hauch des<br />

Verbotenen an sich.<br />

„Ach, die alte Umbridge“, verzog McGonagall <strong>das</strong> Gesicht. „Sie hat<br />

einmal ein Jahr lang Arithmantik in Hogwarts gegeben, als ich noch an<br />

der Schule war. Ja, ich kann mir vorstellen, <strong>das</strong>s ihr mit diesem<br />

Ministeriumsableger Schwierigkeiten hattet. Vor allem nach dem, was<br />

Dumbledore mir alles erzählt hat. Früher hat sie jeden, der die<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben nicht erledigt hat, <strong>zur</strong> Strafarbeit in ihr Büro gerufen. Ich<br />

glaube, damals war <strong>das</strong> mein zweites Zuhause.“ Er klang versucht<br />

fröhlich, aber <strong>Harry</strong> entging nicht der kurze Blick, den er <strong>auf</strong> seine linke<br />

Hand warf. Mehr als alles andere ließ <strong>das</strong> ihm McGonagall sympathisch<br />

erscheinen.<br />

„Aber vergessen wir die alten Zeiten <strong>und</strong> stürzen wir uns lieber in<br />

die Arbeit, denn davon wartet in den nächsten Monaten eine Menge <strong>auf</strong><br />

uns. Was die DA angeht, könnt ihr mich gern um Rat fragen, welche<br />

Zauber ich euch empfehlen könnte zu lernen, für die wir im Unterricht<br />

keine Zeit haben. Ansonsten könnt ihr euch treffen sooft <strong>und</strong> wo ihr<br />

wollt.“<br />

Er schlug in die Hände, sprang <strong>auf</strong> <strong>und</strong> richtete seinen Zauberstab<br />

<strong>auf</strong> die leere Tafel. In krakeliger Schrift erschien dort die Überschrift<br />

„Wiederholung des ZAG-Stoffes“.<br />

Die Klasse stöhnte.<br />

„Ja, ja, ich weiß, <strong>das</strong>s meine liebe Tante euch schon mit dem<br />

Verwandlungs-ZAG gequält hat, aber glaubt mir, über die Ferien vergisst<br />

man eine Menge. Meiner Meinung nach sollte man <strong>das</strong> Verbot der<br />

minderjährigen Zauberei <strong>auf</strong>heben, aber gut, <strong>auf</strong> mich hört keiner. Nun,<br />

zuerst wiederholen wir den Entwaffnungszauber. Wer möchte ihn<br />

vorführen?“<br />

126


Zwar drängte sich kein Schüler in den Vordergr<strong>und</strong>, aber <strong>Harry</strong><br />

wusste, <strong>das</strong>s fast alle in dieser Klasse einen exzellenten Expelliamus zu<br />

Stande brachten.<br />

„Das ist ja wie in einer Gr<strong>und</strong>lagenst<strong>und</strong>e der DA“, murrte Ron, <strong>und</strong><br />

auch wenn sein Genörgel <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die Nerven ging, fühlte er sich ein<br />

wenig stolz bei diesen Worten. Sein Unterricht war es gewesen, der<br />

einen Entwaffnungszauber für all diese Schüler zu einer<br />

Selbstverständlichkeit gemacht hatte.<br />

„Möchte denn niemand? Laut den ZAG-Ergebnissen beherrscht ihr<br />

alle einen Expelliamus“, meinte McGonagall mit einer Spur<br />

Enttäuschung, die <strong>Harry</strong>, es erstaunte ihn selbst, sich melden ließ.<br />

Schließlich befand sich die Ehre der DA <strong>auf</strong> dem Prüfstand.<br />

„W<strong>und</strong>erbar, <strong>Harry</strong>, komm nur vor. Ich bin gespannt <strong>auf</strong> dein<br />

berühmtes Talent für Verteidigung“, freute sich McGonagall <strong>und</strong> brachte<br />

einige leere Tische in der ersten Reihe mit einem Schwung seines<br />

Zauberstabes dazu, sich an den Wänden zu stapeln, so<strong>das</strong>s ein<br />

genügend großer freier Raum in der Mitte blieb.<br />

<strong>Harry</strong> stellte sich McGonagall gegenüber <strong>und</strong> zückte seinen<br />

eigenen Zauberstab aus Stechpalmenholz. Es fühlte sich gut an, endlich<br />

wieder Magie anwenden zu dürfen. Sofort spürte er, wie seine<br />

Konzentration zunahm, er wartete <strong>auf</strong> eine Bewegung seines<br />

Gegenübers <strong>und</strong> richtete all seine Sinne <strong>auf</strong> die Ausführung des<br />

Zaubers.<br />

Vermutlich war es diese Fixiertheit, die ihn in den ersten Sek<strong>und</strong>en<br />

ablenkte, bevor er McGonagall näher kam als er es bisher je gewesen<br />

war. Dann je<strong>doc</strong>h fiel ihm schlagartig wieder dessen unheimliche<br />

Ähnlichkeit mit seinem Vater, mit ihm <strong>auf</strong>, welche während der<br />

bisherigen St<strong>und</strong>e ein wenig in dem ungewohnten amerikanischen<br />

Akzent untergegangen war.<br />

Er hörte Geflüster in der Klasse, glaubte einen erstaunten Ruf zu<br />

vernehmen, der von Parvati kam. Selbst McGonagall sah für eine kurze<br />

Zeit irritiert zu <strong>Harry</strong> hinüber. Dann fing er sich aber wieder.<br />

„Gut, ich würde sagen, du zeigst deinen Mitschülern einen<br />

musterhaften Expelliamus“, forderte er ihn <strong>auf</strong>. „Ich werde mich nicht<br />

verteidigen.“<br />

Das war auch nicht schwieriger, als Neville einen guten<br />

Beispielzauber zu geben. <strong>Harry</strong> hob seinen Zauberstab, führte eine<br />

kurze, schmerzlose Bewegung durch, rief entschlossen „Expelliamus!“,<br />

<strong>und</strong> schon flog McGonagalls Zauberstab quer durch den Klassenraum.<br />

„Klasse!“, rief dieser, während er sich ihn wieder holte. „Hättest du<br />

vielleicht Lust, <strong>das</strong> gegen Rick noch einmal zu versuchen? Er ist froh,<br />

wenn er ein wenig Unterrichtspraxis bekommt.“<br />

<strong>Harry</strong> wandte sich automatisch Franbery zu, der die ganze Zeit an<br />

der Seite gestanden hatte.<br />

127


„Ich arbeite an einer ganz neuen Ausdrucksweise der Zauberei“,<br />

begann er, während er hingebungsvoll seinen Zauberstab von ein paar<br />

Staubflocken befreite.<br />

„Ja, Rick ist in der Beziehung sehr eigen“, meinte McGonagall mit<br />

einem Lachen, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> allerdings sehr gequält vorkam.<br />

„Zauberei ist nicht nur Peitschen <strong>und</strong> Knallen <strong>und</strong> Schreien“,<br />

erklärte Franbery <strong>auf</strong>geregt. „Nein, es benötigt eine Eleganz, die ich<br />

vorhabe zum Erscheinen zu bringen.“<br />

<strong>Harry</strong> hatte keine Ahnung, von was er da redete, deswegen<br />

schwieg er.<br />

„Ihr müsste wissen, <strong>das</strong>s die Art, wie ein Zauber ausgeführt wird,<br />

genauso wichtig ist wie sein Ergebnis“, redete Franbery weiter <strong>zur</strong><br />

Klasse gewandt. „Schließlich wollen wir der Schönheit der Zauberei<br />

Rechnung tragen, nicht wahr? Wo bliebe sonst der Spaß, die<br />

Leichtigkeit, <strong>das</strong> Mehr?“<br />

Offensichtlich wusste die Klasse auch nicht, was Franbery meinte,<br />

denn sie sah genauso ratlos aus wie <strong>Harry</strong>,<br />

„Ach komm, Rick, zaubere einfach“, grinste McGonagall.<br />

Franbery stellte sich gegenüber <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>, ein paar Schritte vor<br />

McGonagall.<br />

„Wir werden gleichzeitig angreifen“, sprach er <strong>Harry</strong> an. „Doch<br />

zuvor lass mich euch zeigen, was ich meine.“ Dann führte er eine<br />

ungeheuer komplizierte Bewegung mit seinem Zauberstab aus, der er<br />

noch eine elegante Drehung <strong>und</strong> zwei Ausfallschritte hinzufügte. <strong>Harry</strong><br />

hätte am liebsten <strong>auf</strong> seinen Zauberstab gebissen, um nicht loslachen zu<br />

müssen. Mühsam beherrschte er sich.<br />

„Erst so werdet ihr erfahren, was es heißt, Zauberei zu fühlen“,<br />

plapperte er frenetisch. „Und nun los!“<br />

Er begann wieder seine gelenkigen Bewegungen, bevor er seinen<br />

Zauberstab <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> richtete <strong>und</strong> „Expelliamus!“ richtiggehend<br />

musizierte. Das tat er allerdings im Fallen, denn <strong>Harry</strong>s direkt<br />

ausgeführter Entwaffnungszauber hatte ihn schon geraume Zeit zuvor<br />

getroffen. Franbery flog einige Meter durch die Luft, krachte gegen<br />

McGonagall, <strong>und</strong> beide machten einen Salto rückwärts über einen der an<br />

der Seite gestapelten Tische.<br />

Erschrocken sprang <strong>Harry</strong> vor.<br />

„Haben Sie sich verletzt?“, fragte er <strong>und</strong> stellte den Tisch wieder<br />

<strong>auf</strong>recht. Franbery rappelte sich hoch <strong>und</strong> hielt sich schmerzverzerrt <strong>das</strong><br />

Bein. „Ich glaube, es ist gebrochen“, japste er.<br />

„Das tut mir Leid!“, rief <strong>Harry</strong> entsetzt. „Das wollte ich nicht, <strong>das</strong> …“<br />

„Nur keine Panik, <strong>Harry</strong>“, beruhigte ihn McGonagall. Er stand<br />

gerade wieder <strong>auf</strong>, klopfte sich den Staub vom Umhang <strong>und</strong> schüttelte<br />

sich die Haare aus dem Gesicht. „Im Krankenflügel kann man ihm in<br />

128


wenigen Sek<strong>und</strong>en helfen. Übrigens, ist immer noch Madame Pomfrey<br />

die fürsorgliche Herrin des Flügels?“<br />

„Ja“, antwortete <strong>Harry</strong> erleichtert, der schon Angst gehabt hatte,<br />

wegen Franberys Verletzung verantwortlich gemacht zu werden.<br />

„War ein hübscher Expelliamus“, grinste McGonagall schelmisch,<br />

nachdem Franbery den Raum verlassen hatte, zusammen mit Parvati,<br />

die ihm den Weg zeigte.<br />

Den Rest der St<strong>und</strong>e übten die Schüler Entwaffnungszauber,<br />

Reduktio-Zauber, Impedimenta <strong>und</strong> andere ZAG-Zauber, am Ende<br />

durften sie sogar einen Patronus vorführen. Da so viele diesen<br />

ungeheuer schweren Zauber bereits in der DA gelernt hatten, bevölkerte<br />

zum Pausenklingeln fast ein Dutzend silbriger Tiere den Klassenraum.<br />

Sie sprangen herum, neckten sich gegenseitig <strong>und</strong> wurden von ihren<br />

Besitzern bew<strong>und</strong>ert. Sogar Ron fand heraus, welche Form sein<br />

Patronus annahm.<br />

„Ein H<strong>und</strong>! Ich habe einen H<strong>und</strong>!“, jauchzte er <strong>und</strong> schaute diesem<br />

verzückt dabei zu, wie er Hermines Otter in eine Ecke jagte. <strong>Harry</strong>s<br />

Hirsch schaute den beiden dabei mit erhabenem Blick zu.<br />

„Siehst du“, freute sich <strong>Harry</strong>, „du brauchst nur eine genügend<br />

glückliche Vorstellung.“<br />

„Jaaa“, feixte Ron. „Ich habe mir vorgestellt, selbst gegen Franbery<br />

antreten <strong>und</strong> ihm einen Flederwichtfluch <strong>auf</strong>halsen zu dürfen.“<br />

Nach der St<strong>und</strong>e begaben sie sich in die große Halle zum<br />

Abendessen. Ron stürzte sich hungrig <strong>auf</strong> die Kaninchenkeulen, die zu<br />

H<strong>auf</strong> in großen Schüsseln überall <strong>auf</strong> dem Tisch standen, zusammen mit<br />

Bratkartoffeln <strong>und</strong> Bergen von Risotto.<br />

„Insgesamt ist die erste St<strong>und</strong>e Verteidigung <strong>doc</strong>h recht gut<br />

verl<strong>auf</strong>en“, begann Hermine mit zufriedenem Gesicht.<br />

„Ja, besonders gut war der Moment, als <strong>Harry</strong> den Assistenten des<br />

Lehrers zerlegt hat“, prustete Neville von der anderen Tischseite her.<br />

<strong>Harry</strong> wurde rot.<br />

„Das war keine Absicht“, meinte er eilig. „Und ich finde es auch<br />

nicht lustig …“ Als er aber wieder an Franberys Gefuchtel denken<br />

musste, konnte er sich nur schwer ein Grinsen verkneifen. „Was wedelt<br />

er auch solange mit seinem Zauberstab herum, bis er endlich einen<br />

Fluch spricht … erinnert mich ein wenig an Lockhart.“<br />

„Er ist vielleicht ein bisschen …“ Ron machte eine<br />

unmissverständliche Handbewegung vor seiner Stirn.<br />

„Ich habe von solchen Leuten gehört“, schaltete sich Loona ein.<br />

„Von welchen Leuten, den Irren?“, grinste Ron.<br />

„Nein“, antwortete sie geduldig <strong>und</strong> ernsthaft erstaunt, wie Ron <strong>auf</strong><br />

diese Idee kommen konnte. „Von der Bewegung für ästhetische<br />

Zauberei.“<br />

129


<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron glotzten sie verblüfft an.<br />

„Klingt irgendwie <strong>doc</strong>h nach Irren“, platzte letzterer heraus. „Wo<br />

hast du davon gelesen? So ein Mist steht <strong>doc</strong>h sonst nur im Klitterer.“<br />

In dem Moment schien ihm einzufallen, <strong>das</strong>s Loonas Vater die <strong>auf</strong><br />

eigenartige Themen spezialisierte Zeitung verlegte. Beschämt wandte er<br />

sich seinem Kaninchen zu.<br />

Loona je<strong>doc</strong>h schien von der Bemerkung nicht berührt. „In der Tat<br />

hatten wir im letzten Monat einen Bericht über die Gruppe drin. Kurz<br />

gesagt handelt es sich um ein paar Leute, die meinen, in der Zauberei<br />

soll mehr Gewicht <strong>auf</strong> Ästhetik <strong>und</strong> Eleganz gelegt werden als bisher nur<br />

<strong>auf</strong> Effizienz. Ich glaube, der Gedanke ist irgendwo in Kanada <strong>und</strong><br />

Frankreich <strong>auf</strong>gekommen.“<br />

„Totaler Müll“, ereiferte sich Hermine. „Als ob damit irgendwem<br />

geholfen wäre. Wenn ihr mich fragt, sind <strong>das</strong> Spinner, die sich zu sehr<br />

langweilen <strong>und</strong> letztendlich mit gebrochenem Bein im Krankenflügel<br />

landen.“<br />

<strong>Harry</strong> sah erstaunt <strong>auf</strong>. So war Hermine noch nie über eine<br />

Lehrperson hergezogen, auch wenn Franbery nur Assistent war.<br />

„Ist <strong>doc</strong>h wahr“, rechtfertigte sie sich. „In jedem echten Duell wäre<br />

er <strong>doc</strong>h tot, bevor er sich auch nur entschieden hat, welchen Zauber er<br />

nimmt – ganz zu schweigen von den neuen Zauberspruchbewegungen,<br />

die man entwickeln muss, um der –“ verächtlich fügte sie hinzu –<br />

„Eleganz Raum zu geben, aber gleichzeitig <strong>das</strong> Ergebnis des Zaubers<br />

beizubehalten …“<br />

„Wir geben dir ja Recht, nur keine Aufregung“, grinste Ron <strong>und</strong><br />

schien ganz vergessen zu haben, <strong>das</strong>s er Hermine eigentlich noch böse<br />

war.<br />

„Übrigens hat sich Franbery gar nichts gebrochen, sondern nur den<br />

Knöchel verstaucht“, warf Parvati ein, die während der St<strong>und</strong>e vom<br />

Krankenflügel <strong>zur</strong>ückgekommen war.<br />

Ron schüttelte sich vor Lachen. „Dabei hat er gejammert wie ein<br />

Schlossh<strong>und</strong>!“<br />

Dann wurde er wieder ernst <strong>und</strong> wandte sich <strong>Harry</strong> zu, an dem in<br />

den letzten Minuten überdurchschnittlich viele Schüler vorbeigegangen<br />

waren, nicht ohne zuvor einen genauen Blick <strong>auf</strong> Jamie McGonagall<br />

geworfen zu haben, der vorne am Lehrertisch saß.<br />

„Sag mal, hast du eine Ahnung, wieso er dir so ähnlich sieht?“,<br />

fragte Ron verschwörerisch.<br />

„Ich weiß es nicht, <strong>das</strong> habe ich dir <strong>doc</strong>h schon gesagt!“<br />

„Weil es mich nicht verw<strong>und</strong>ern würde, wenn ihr verwandt wärt.“<br />

„Wie sollte <strong>das</strong> gehen?“, fuhr <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>. „Meine einzigen<br />

Verwandten sind die Dursleys, <strong>das</strong> hat mir Dumbledore selbst gesagt!“<br />

„Zumindest waren es die einzigen Verwandten, von denen er<br />

wusste“, meinte Hermine leise.<br />

130


„Was soll <strong>das</strong> heißen?“ <strong>Harry</strong> konnte nicht verstehen, wie jemand<br />

ernsthaft <strong>auf</strong> die Idee kommen konnte, <strong>das</strong>s er unbekannte Verwandte<br />

hätte. Sollten nicht zumindest seine Fre<strong>und</strong>e genug Anstand besitzen,<br />

um sich nicht in die Reihe der sensationslüsternen Schüler ein<strong>zur</strong>eihen,<br />

die ihn seit gestern beobachteten, als sei er ein zweischwänziger<br />

Drache?<br />

„Er hat bisher in Amerika gelebt, nicht? Was, wenn niemand hier<br />

von ihm wusste?“<br />

„Aber er ist <strong>doc</strong>h <strong>auf</strong> Hogwarts gegangen! Er ist McGonagalls<br />

Verwandter! Wie sollte man ihn hier vergessen?“<br />

„Ja, du hast ja Recht“, meinte Hermine kleinlaut. „Ich sage nur,<br />

<strong>das</strong>s es seltsam ist. Niemand sieht einem anderen so ähnlich, ohne <strong>das</strong>s<br />

beide verwandt sind.“<br />

Den restlichen Abend passierte nicht mehr viel, sogar Hermine war<br />

von dem ersten, turbulenten Tag in Hogwarts so erschöpft, <strong>das</strong>s sie vor<br />

dem Schlafengehen keine Haus<strong>auf</strong>gaben mehr erledigte. Was natürlich<br />

auch daran liegen konnte, <strong>das</strong>s sie bereits alle anliegenden Arbeiten<br />

fertig hatte <strong>und</strong> die Nase voll davon, Ron abzuwehren, der es nicht<br />

lassen konnte, sie wegen ihrer Verwandlungs<strong>auf</strong>gaben zu fragen.<br />

So gingen sie alle drei recht früh zu Bett <strong>und</strong> schliefen schnell ein.<br />

131


KAPITEL ACHT<br />

Die Rückkehr des Adlers<br />

Am nächsten Tag quälte sich <strong>Harry</strong> die Treppen hinunter <strong>zur</strong><br />

großen Halle; seinen Appetit hatte es in den letzten Minuten gründlich<br />

verhagelt, denn nun stand ihm die erste UTZ-St<strong>und</strong>e in Zaubertränke<br />

bevor. Die beiden Doppelst<strong>und</strong>en wölkten sich wie ein<br />

unheilschwangeres Ungewitter über seinem Tag, <strong>und</strong> er brachte kaum<br />

einen Bissen Toastbrot hinunter.<br />

„Nimm es nicht so schwer“, versuchte Ron ihn zu trösten. „Du hast<br />

die letzten fünf Jahre <strong>doc</strong>h auch überlebt.“<br />

„Klar“, krächzte <strong>Harry</strong>. Ron hatte gut reden, er konnte sich jetzt<br />

zwei schöne St<strong>und</strong>en mit seinen Quidditch-Büchern oder Neville<br />

machen.<br />

„Ich bin <strong>doc</strong>h auch da“, beruhigte ihn Hermine. „Ich weiß ohnehin<br />

nicht, wieso du so nervös bist.“<br />

„Weil Snape es hasst, mich in seiner UTZ-Klasse zu haben“,<br />

brachte <strong>Harry</strong> hervor. „Er wird mir <strong>das</strong> Leben <strong>zur</strong> Hölle machen.“<br />

„Was ist daran so neu?“, wollte Ron wissen. „Und überhaupt, er<br />

war es schließlich, der dir ein „Ohnegleichen“ gegeben hat.“<br />

„Das muss nicht stimmen“, widersprach Hermine. „Ich habe mich in<br />

den letzten Tagen ein wenig in die Prüfungsregeln der ZAGs eingelesen,<br />

<strong>und</strong> es gibt die Regel, <strong>das</strong>s die Lehrer des betreffenden Faches zwar<br />

einen Notenvorschlag machen dürfen, aber die Ministeriumsfachleute die<br />

Note noch um einen Grad nach oben oder unten korrigieren können.<br />

Aber Snape durfte es sich einfach nicht erlauben, deine Leistung zu weit<br />

unter Wert zu verk<strong>auf</strong>en, <strong>das</strong> hätte seiner Reputation als Lehrer<br />

geschadet, was Dumbledore sicher nicht gern gesehen hätte.“<br />

„Willst du damit sagen, <strong>das</strong>s ich mein „O“ nur meiner besonderen<br />

Beziehung zu Dumbledore zu verdanken habe?“, polterte <strong>Harry</strong> los.<br />

132


Konnten sie nicht verstehen, <strong>das</strong>s er nicht wollte, <strong>das</strong>s jemand für ihn die<br />

Geschicke lenkte?<br />

„Nein“, meinte Hermine ruhig. „Ich will damit sagen, <strong>das</strong>s<br />

Dumbledore Snape davon abgehalten hat, deine Arbeit aus persönlichen<br />

Gründen schlechter zu machen, als sie ist.“<br />

Dar<strong>auf</strong> wusste niemand etwas zu sagen, <strong>und</strong> fünf Minuten später<br />

war es Zeit, in den Keller des Schlosses zu gehen, wo sich der<br />

Klassenraum für Zaubertränke befand. Ron verabschiedete sich mit<br />

einem entschuldigenden Grinsen von den beiden an der Marmortreppe,<br />

die in die oberen Stockwerke führte.<br />

Als sie dem Kellerraum näher kamen, kam <strong>Harry</strong> die zunehmende<br />

Kälte in den alten, dunklen Gängen stärker vor als er sie in Erinnerung<br />

hatte, vielleicht lag <strong>das</strong> auch an dem schönen, sonnigen Wetter, welches<br />

verlockend an der Decke der großen Halle widergespiegelt worden war.<br />

Trübsinnig trat er in den düsteren Kelleraum, in dem wie üblich Kessel<br />

<strong>auf</strong> den Bänken standen, nur waren es viel weniger, als <strong>Harry</strong> es<br />

gewohnt war. Er sah sich um <strong>und</strong> fand seine Vermutung bestätigt; nur<br />

neun Schüler hatten es in die UTZ-Klasse geschafft, ihn <strong>und</strong> Hermine<br />

schon mit eingerechnet. Da saß Seamus an einem Tisch <strong>und</strong> schaute<br />

recht eingeschüchtert hinüber zu einer Gruppe von Kesseln, um den sich<br />

die drei Slytherins Draco Malfoy, Pansy Parkinson <strong>und</strong> Blaise Zabini<br />

gesetzt hatten. In einer Ecke hockten noch Hannah Abbott von den<br />

Hufflepuffs <strong>und</strong> zwei Ravenclaws, Terry Boot <strong>und</strong> ein Schüler, den <strong>Harry</strong><br />

nicht kannte.<br />

„Pansy Parkinson?“, zischte Hermine leise neben ihm, die böse zu<br />

ihr herübersehende Slytherin verächtlich ignorierend. „Die kann kaum<br />

einen Kessel richtig herum <strong>auf</strong>stellen, geschweige denn ein „O“ in<br />

Zaubertränke bekommen!“<br />

„Snape hat sie bestimmt durchgeboxt“, brummte <strong>Harry</strong>. „Der ist<br />

<strong>doc</strong>h froh, wenn möglichst viele Slytherins in seiner Klasse sind.“<br />

Hermine sah zwar zweifelnd drein, setzte sich nun aber neben<br />

Seamus, der einen ungeheuer erleichterten Eindruck machte.<br />

„Und ich dachte schon, ich bin der einzige Gryffindor“, meinte er<br />

mit einem ängstlichen Blick <strong>auf</strong> die Gruppe Slytherins.<br />

„Nein, aber <strong>das</strong> wird uns auch nicht helfen“, argwöhnte <strong>Harry</strong>.<br />

„Snape wird sein Haus wie üblich bevorzugen.“<br />

„Immerhin sind hier fünf Leute von der DA“, schöpfte Seamus<br />

Hoffnung <strong>und</strong> winkte kurz Hannah <strong>und</strong> Terry zu.<br />

„Und? Sollen wir noch eine Gruppe für Zaubertranknachhilfe<br />

gründen?“, murmelte <strong>Harry</strong>, Seamus’ Nervosität hatte ihn nun auch<br />

angesteckt.<br />

Für einen kurzen Moment schien Seamus diese Bemerkung für<br />

ernst zu halten, sein flüchtiges Strahlen verschwand aber genauso<br />

133


schnell wieder, wie es gekommen war, denn Snape betrat den Raum,<br />

betrachtete die Schüler kurz mit seinem kalten Blick <strong>und</strong> trat dann vor die<br />

Klasse.<br />

Hämisch grinsend schaute er zu den Gryffindors.<br />

„Allzu weit her ist es mit euren Fertigkeiten im Zaubertrankbrauen<br />

nicht, wenn nur drei von eurem Haus die höchste ZAG-Note erhalten<br />

haben. Aber anderes bin ich von Gryffindors auch nicht gewohnt.“ Seine<br />

Bemerkung brachte die Slytherins zum Feixen, <strong>das</strong>s sie selbst auch nur<br />

drei waren, schien weder ihnen noch Snape groß <strong>auf</strong>zufallen.<br />

„Und auch diese Leistung, für so großartig Sie sie auch halten<br />

mögen, reflektiert Ihr tatsächliches Können in diesem Fach nicht im<br />

Geringsten. Ich weiß nicht, wie einige von Ihnen“ – sein Blick streifte<br />

Seamus <strong>und</strong> besonders <strong>Harry</strong>, Hermine ließ er aus – “dieses „O“<br />

geschafft haben, lassen Sie mich nur klarstellen, <strong>das</strong>s in diesem Kurs<br />

nichts zählt als <strong>das</strong>, was Sie hier erbringen werden.“<br />

<strong>Harry</strong> sah die bösen Augen des Zaubertranklehrers <strong>und</strong> erinnerte<br />

sich erschaudernd an Hermines Worte: Er hatte sein „Ohnegleichen“ nur<br />

bekommen, weil die Ministeriumsprüfer seine Note nach oben korrigiert<br />

hatten … In diesem Moment wurde ihm bewusst, <strong>das</strong>s er einen UTZ<br />

kaum würde schaffen können. Snape würde ihm die Arbeit so schwer<br />

machen, <strong>das</strong>s seine Noten automatisch in den Keller gehen würden, <strong>und</strong><br />

Snapes hinterlistiges Grinsen ließ seine Befürchtungen wachsen.<br />

„Ich hoffe, Sie alle haben die Haus<strong>auf</strong>gaben gewissenhaft erledigt.<br />

Ich möchte von jedem eine Probe <strong>auf</strong> dem Schreibtisch haben.“<br />

Ein allgemeines Kramen <strong>und</strong> Murmeln entstand, als die Schüler<br />

kleine Glasröhrchen aus ihren Taschen nahmen <strong>und</strong> sie vorsichtig <strong>auf</strong><br />

Snapes Tisch legten. <strong>Harry</strong> schaffte auch sein Röhrchen nach vorne,<br />

mittels dessen er seinem am Grimmauldplatz fertig gestellten Tranks der<br />

lebenden Toten eine Probe entnommen hatte. Er war noch einen Meter<br />

vom Tisch entfernt, als ihn jemand so heftig anrempelte, <strong>das</strong>s er <strong>das</strong><br />

Gleichgewicht verlor <strong>und</strong> hinfiel. Sein Röhrchen zerbrach, <strong>und</strong> die klare<br />

Flüssigkeit sickerte <strong>auf</strong> den kalten Steinboden. Hämisches Gelächter ließ<br />

<strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>blicken.<br />

Malfoy <strong>und</strong> seine Slytherin-Kollegen standen neben ihm <strong>und</strong><br />

hielten sich vor Lachen die Seiten. Snape fiel zwar nicht ein, tat aber<br />

auch nichts, um die drei zu stoppen.<br />

„Das sind dann heute wohl wieder einmal Null Punkte, <strong>Potter</strong>“,<br />

höhnte er.<br />

<strong>Harry</strong> sagte nichts, stand <strong>auf</strong> <strong>und</strong> ging ruhig zu seinem Platz<br />

<strong>zur</strong>ück, wo er aus seinem Rucksack eine identische Phiole mit<br />

demselben wasserfarbenen Zaubertrank holte, wieder nach vorne ging<br />

<strong>und</strong> sie wortlos neben die der anderen legte.<br />

„Sollte aus Versehen auch dieses Röhrchen kaputt gehen, dann<br />

bringe ich Ihnen eine weitere Probe zu Ihrem Zimmer.“<br />

134


Niemand sprach ein Wort, <strong>und</strong> Snape sah so aus, als wolle er<br />

gleich explodieren, schien aber keinen rechten Ansatzpunkt für einen<br />

Ausbruch zu finden.<br />

„Nun gut, <strong>Potter</strong>, dann sehen wir mal, ob Sie tatsächlich so clever<br />

sind, wie Sie scheinen.“ Seine Augen sprühten vor Hass.<br />

Den Rest der St<strong>und</strong>e wollte <strong>Harry</strong> hinterher bloß noch vergessen.<br />

Einmal mehr mussten sie sich <strong>zur</strong> Wiederholung durch den ZAG-Stoff<br />

quälen, aber nun, da Snape alle paar Sek<strong>und</strong>en überheblich in seinen<br />

Kessel starrte <strong>und</strong> jedes Mal ein unheilvolles Schauben hören ließ, wenn<br />

<strong>Harry</strong> eine Zutat zu seinem Stärkungstrank hinzufügte, nahm seine<br />

Konzentration beträchtlich ab <strong>und</strong> er begann wie so oft, die Anweisungen<br />

an der Tafel durcheinander zu bringen.<br />

„Soviel zu den ZAGs“, meinte Snape kalt, als er am Ende der<br />

St<strong>und</strong>e <strong>Harry</strong>s erbärmliches Gemisch betrachtete. Zum Glück gab es<br />

keine Noten, was Hermine allerdings ein wenig zu bedauern schien, sie<br />

hatte ihren perfekten Trank bereits nach der Hälfte der St<strong>und</strong>e fertig<br />

gebraut.<br />

Kurz nach dem Pausenklingeln ging plötzlich die Tür zum<br />

Klassenraum <strong>auf</strong> <strong>und</strong> Jamie McGonagall trat ein. <strong>Harry</strong> war gerade<br />

dabei, seine Sachen einzupacken, während Hermine noch schnell ihre<br />

beiden Kessel säuberte. Der Verteidigungslehrer trat <strong>auf</strong> Snape zu, <strong>und</strong><br />

was <strong>Harry</strong> danach in dessen Gesicht beobachtete, ließ ihn glauben, <strong>das</strong>s<br />

Snape ihn in den bisherigen Jahren stets wohlwollend <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich<br />

angesehen hatte. Mit Hass konnte man den Abscheu gar nicht<br />

beschreiben, mit dem Snape McGonagall betrachtete. Zunehmend<br />

zögerlich ging der Amerikaner <strong>auf</strong> Snape zu <strong>und</strong> richtete ein paar Worte<br />

an ihn, anscheinend mit wenig Erfolg, denn Snape schnappte etwas<br />

<strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> drehte sich abrupt um. Verwirrt verließ McGonagall den<br />

Raum.<br />

„Was war denn <strong>das</strong>?“, fragte <strong>Harry</strong> Hermine, als die beiden in die<br />

Eingangshalle rannten. „Snape kann zwar keinen leiden, aber so<br />

gehässig war er <strong>doc</strong>h selbst Lockhart oder Umbridge gegenüber nie.“<br />

Hermine seufzte.<br />

„Erkennst du es nicht? McGonagall erinnert Snape an jemanden,<br />

den er mehr hasst als alles andere <strong>auf</strong> dieser Welt.“<br />

„Meinen Vater“, erkannte <strong>Harry</strong>. Natürlich, es muss Snape<br />

vorkommen, als wäre James wieder in Hogwarts …<br />

„OK, dann bis später!“, rief Hermine gehetzt <strong>und</strong> rannte weiter zum<br />

Astronomieturm, <strong>auf</strong> dem sie nun ihren theoretischen Unterricht hatte.<br />

<strong>Harry</strong> ging zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors, kletterte durch<br />

<strong>das</strong> Portrait („Expelliamus!“ – <strong>Harry</strong> hatte die leise Ahnung, <strong>das</strong>s Ron<br />

dahinter steckte) <strong>und</strong> erzählte Ron <strong>und</strong> Neville von der St<strong>und</strong>e.<br />

„Klasse, <strong>das</strong>s du daran gedacht hast, mehrere Proben abzufüllen“,<br />

nickte Ron beifällig.<br />

135


„Aber nun hasst Snape mich noch mehr … “<br />

„Immerhin gibt es <strong>das</strong> erste Mal jemanden an der Schule, den er<br />

noch mehr hasst. Vielleicht weiß Snape ja, wieso du McGonagall so<br />

ähnlich siehst.“<br />

„Dann geh <strong>und</strong> frag ihn“, gähnte <strong>Harry</strong> faul <strong>und</strong> streckte sich müde<br />

<strong>auf</strong> einem der Sessel aus. Eigentlich wäre es keine schlechte Idee, mit<br />

der Unmenge an Zaubertrank-Haus<strong>auf</strong>gaben anzufangen, die sie<br />

<strong>auf</strong>bekommen hatten, allerdings wollte er im Moment an nichts weniger<br />

denken als an dieses Fach.<br />

„Aber ich weiß, wen du tatsächlich fragen kannst“, überlegte Ron<br />

weiter. „Diesen McGonagall. Er wird dich <strong>doc</strong>h über seine Familie<br />

<strong>auf</strong>klären können. Du gehst einfach zu ihm <strong>und</strong> sagst, du willst ein paar<br />

Dinge wegen der DA absprechen, <strong>und</strong> dann kommt <strong>das</strong> Gespräch<br />

zufällig <strong>auf</strong> eure Ähnlichkeit … “<br />

„Nee, vergiss es. Ich will nicht so aussehen, als interessiere mich<br />

<strong>das</strong> so brennend. Am Ende ist die Ähnlichkeit nur Zufall.“<br />

Ron schaute <strong>auf</strong>.<br />

„Aber du willst es <strong>doc</strong>h wissen“, stellte er sachlich fest.<br />

„Vielleicht nicht so sehr wie du“, konterte <strong>Harry</strong>, zog nun <strong>doc</strong>h sein<br />

Zaubertrankbuch hervor <strong>und</strong> durchblätterte es nach Hinweisen über den<br />

Amortentia. Er verspürte keine Lust, McGonagall wegen dubioser<br />

Verwandtschaftsbeziehungen auszufragen; zu oft hatte er <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong><br />

seiner besonderen Familien- <strong>und</strong> Lebensgeschichte schon im Mittelpunkt<br />

der Aufmerksamkeit gestanden. Seine letzten Wochen <strong>und</strong> die ersten<br />

beiden Tage in Hogwarts waren angenehm konfliktfrei verl<strong>auf</strong>en, <strong>und</strong><br />

diese Ruhe wollte er sich bewahren. Irgendwann, in wohl nicht allzu<br />

ferner Zeit, würde Voldemort einen weiteren Plan verfolgen, um ihn zu<br />

jagen <strong>und</strong> zu töten. Bis dahin hatte er vor, jeden Tag seines Lebens an<br />

Hogwarts zu genießen; <strong>und</strong> etwaige Verwandtschaftsbeziehungen mit<br />

Lehrern zu untersuchen gehörte nicht dazu.<br />

„Womöglich hast du nur Angst“, bohrte Ron weiter.<br />

„Warum sollte ich Angst haben?“, fuhr <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>. „Ich habe<br />

Voldemort ein ums andere Mal besiegt, da habe ich <strong>doc</strong>h keine Angst<br />

vor meinem Verteidigungslehrer!“<br />

„Nicht vor ihm, sondern vor der Wahrheit“, kam es <strong>zur</strong>ück.<br />

Ron war heute wieder einmal gereizt, mutmaßte <strong>Harry</strong>.<br />

Wahrscheinlich hatte er sich mit Hermine gestritten, mal wieder.<br />

„Es gibt keine Wahrheit, mit wem sollte McGonagall denn verwandt<br />

sein … glaubst du, er ist ein vergessener Onkel von mir oder ein<br />

Großcousin, der plötzlich aus heiterem Himmel <strong>auf</strong>getaucht ist?<br />

Dumbledore hätte mir etwas von ihm gesagt, wenn er mit mir verwandt<br />

wäre. In der Zaubererwelt kennt <strong>doc</strong>h jeder jeden!“<br />

„Wie auch immer“, brummte Ron <strong>und</strong> stand <strong>auf</strong>. „Wenn du den Mut<br />

nicht <strong>auf</strong>bringst, ihn zu fragen, bitte, meine Sache ist es nicht.“ Damit<br />

136


verließ er mit entschlossenen Schritten den Gemeinschaftsraum, etwas<br />

von „Verwandlung“ murmelnd.<br />

Eindeutig Hermine, dachte <strong>Harry</strong>. Wieso mussten die beiden sich<br />

auch ständig angiften <strong>und</strong> danach ihre ganze Umgebung ebenfalls?<br />

Müde versuchte er in den nächsten Minuten, sich <strong>auf</strong> Zaubertränke<br />

zu konzentrieren, aber ihm wollten die Worte über den Amortentia nicht<br />

in den Kopf. Viel mehr dagegen beschäftigten ihn Rons Worte; war er<br />

wirklich zu feige, um McGonagall zu fragen?<br />

Unsinn, antwortete er sich selbst, ich möchte nur mit diesen<br />

verrückten Geschichten um einen vergessenen Verwandten nichts zu<br />

tun haben. Es war ohnehin unmöglich. Alle seine Verwandte waren tot,<br />

<strong>und</strong> die einzigen, die es nicht waren, hassten ihn. Trotzdem gelang es<br />

ihm während der restlichen Freist<strong>und</strong>e nicht, mit Zaubertränken<br />

voranzukommen.<br />

Als nächstes mussten sie alle drei zu Pflege magischer Geschöpfe;<br />

erstaunlicherweise verhielten sich Ron <strong>und</strong> Hermine <strong>auf</strong> dem Weg zu<br />

Hagrids Hütte normal <strong>und</strong> gingen recht fre<strong>und</strong>lich miteinander um. <strong>Harry</strong><br />

genoss die strahlende Sonne <strong>und</strong> die angenehme Wärme des<br />

Septembertages, <strong>und</strong> entsprechend gut gelaunt erreichten sie den<br />

Bereich vor der kleinen Holzhütte des Wildhüters <strong>und</strong> Professors für die<br />

Pflege magischer Geschöpfe. Bisher hatte <strong>Harry</strong> noch keine Gelegenheit<br />

gef<strong>und</strong>en, mit einem seiner besten Fre<strong>und</strong>e an Hogwarts zu reden; er<br />

hoffte, <strong>das</strong>s sich vor dem Unterricht noch Zeit finden ließ.<br />

Allerdings erblickte er als Erstes eine Horde Slytherins, als er die<br />

sanften Rasenhänge in Richtung des Verbotenen Waldes entlang ging.<br />

Verärgert stieß er aus stieß er hervor:<br />

„Es kann <strong>doc</strong>h nicht sein, <strong>das</strong>s wir schon wieder mit denen haben!<br />

Es gibt noch zwei andere Häuser, warum können wir nicht mit den<br />

Ravenclaws zusammen sein …“ Noch während er <strong>das</strong> sagte, fiel ihm<br />

Ernie ins Auge, der Hufflepuff, der auch in der DA war, dazu wiederum<br />

Terry Boot von den Ravenclaws …<br />

„Alle vier Klassen werden zusammen unterrichtet“, meinte<br />

Hermine. Und tatsächlich; genau wie in Zaubertränke kamen nur wenige<br />

Schüler zusammen, gerade einmal vierzehn, die mit dem Fach<br />

weitermachen wollten.<br />

„Warum haben sich alle gegen Pflege entschieden?“, murrte <strong>Harry</strong>,<br />

er vermutete eine erneute Rebellion gegen die eigenwillige<br />

Unterrichtspraxis von Hagrid, die auch ihm nicht selten Bauchschmerzen<br />

bereitete, auch wenn er Hagrid stets verteidigte. Der Wildhüter besaß<br />

nämlich die nachteilige Vorliebe, möglichst gefährliche Kreaturen mit in<br />

den Unterricht zu bringen. Diese bezeichnete er zwar im ärgsten Fall als<br />

„interessant“, normale Menschen je<strong>doc</strong>h, also solche, die nicht die<br />

137


Größe eines Halbriesen erreichten, rannten in solchen Situationen lieber<br />

davon.<br />

Gerade wollten sie sich, <strong>das</strong> höhnische Gelächter der Slytherins<br />

ignorierend, der Hütte nähern, da hörten sie ein ohrenbetäubendes<br />

Röhren, <strong>das</strong> verdächtig aus der Richtung von Hagrids Garten kam.<br />

„Was war <strong>das</strong>?“<br />

Den zu Tode erschrockenen Ausruf hatte Draco Malfoy<br />

ausgestoßen. Bleich hob sich sein Gesicht gegen den schwarzen<br />

Umhang ab.<br />

„Na, schon Angst, Malfoy?“, spottete Ron.<br />

Wütend kniff der Slytherin den M<strong>und</strong> zusammen.<br />

„Nicht so große wie dein Dad, seinen so genannten Job zu<br />

verlieren, weil er Sympathisant von Dumbledores kleiner Bruderschaft<br />

ist“, antwortete Malfoy mit einem hinterhältigen Grinsen.<br />

„Was für eine –“, begann <strong>Harry</strong>, wurde aber von Hermine<br />

unterbrochen.<br />

„Die Zeiten sind vorbei, <strong>das</strong>s du <strong>und</strong> dein Vater uns drohen<br />

konntet“, fauchte sie. „Übrigens, wie gefällt es ihm in Askaban?“ Malfoy<br />

verlor auch noch <strong>das</strong> letzte bisschen Farbe <strong>und</strong> machte einen Satz in<br />

Hermines Richtung. Bevor er sie erreicht hatte, ging je<strong>doc</strong>h die Tür zu<br />

Hagrids Hütte <strong>auf</strong> <strong>und</strong> der Wildhüter trat hinaus.<br />

„’nen schönen Tag allerseits!“, strahlte er <strong>und</strong> winkte <strong>Harry</strong>, Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine kurz zu. „Toll, <strong>das</strong>s sich so viele von euch entschieden<br />

haben, mit meinem Fach weiterzumachen; wisst ihr, ist nich’ für jeden<br />

was, mit Tieren richtig umzugehen <strong>und</strong> so.“ Er sah stolz in die R<strong>und</strong>e, als<br />

seien 14 Schüler viel mehr, als er erhofft hatte.<br />

Vermutlich stimmte <strong>das</strong>, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> war sofort froh, mit<br />

Pflege weitergemacht zu haben, obwohl er es weder brauchte noch<br />

besonders Lust dar<strong>auf</strong> hatte, wieder Feuer spuckende Skorpionszüchtungen<br />

spazieren zu führen oder fingerdicke Würmer mit<br />

zentnerweise Futter voll zu stopfen. Auch Ron <strong>und</strong> Hermine hatten sich<br />

erst nach einigem Zögern entschlossen, Hagrid zu Liebe <strong>das</strong> Fach<br />

weiterhin zu belegen. Eigentlich hatten sie genug andere Arbeit, aber so<br />

wie <strong>Harry</strong> die Sache sah, brauchte Hagrid gegen die Slytherins ein wenig<br />

Unterstützung. Malfoy schien nur noch hier zu sein, um Hagrid Ärger zu<br />

machen, anders konnte sich <strong>Harry</strong> seine Anwesenheit nicht erklären. Er<br />

glaubte kaum, <strong>das</strong>s Malfoys Berufswunsch Drachenzüchter oder<br />

Thestralbändiger war.<br />

„Nun, ihr habt euch sicher schon gefragt, was wir dieses Jahr<br />

drannehmen werden –“<br />

Das hatten die drei sich wirklich, <strong>und</strong> Hermine hatte vorsorglich<br />

„Die übelsten Kreaturen <strong>und</strong> wie sie ihnen lebend entkommen“<br />

durchgelesen.<br />

138


„Deswegen habe ich euch was ganz Besonderes besorgt. So<br />

etwas wie ihn habt ihr noch nich’ gesehen, <strong>und</strong> werdet es wohl auch<br />

nich’ mehr, so selten sind die.“ Glücklich winkte Hagrid die Klasse in<br />

seinen Garten.<br />

„Selten heißt bei ihm außerordentlich tödlich“, flüsterte <strong>Harry</strong><br />

seinen beiden Fre<strong>und</strong>en zu. „Er wird <strong>doc</strong>h wohl nicht einen Letifold oder<br />

einen Mantikor angeschleppt haben.“<br />

„Natürlich hat er keinen Letifold“, wies Hermine ihn <strong>zur</strong>echt. „Der<br />

würde nicht so brüllen.“ Alle fuhren zusammen, als der nächste Schrei<br />

über die Wiesen hallte, für <strong>Harry</strong> hörte es sich an, als hätten sich<br />

sämtliche Dämonen der Hölle in Hagrids Garten versammelt.<br />

„Das beruhigt mich ungemein“, stöhnte <strong>Harry</strong>. „Vermutlich wird es<br />

nur ein Mantikor oder eine Chimäre sein oder ein harmloser Ungarischer<br />

Hornschwanz, den Hagrid kurzerhand adoptiert hat.“<br />

Der Wildhüter trat nun beschwingt in den Garten, während die<br />

Schüler vorsorglich <strong>zur</strong>ückblieben.<br />

„Wo seid ihr denn? Kommt schon, seht ihn euch an, er tut euch<br />

nichts. Sind ganz zutrauliche Tiere, wirklich, stimmt gar nich’, was man<br />

sich immer über sie erzählt. Los, er wird euch mögen!“<br />

„Fragt sich nur, ob roh oder gekocht“, meinte Ron trocken.<br />

Nun traten auch sie in den Garten, die meisten Schüler je<strong>doc</strong>h<br />

trauten sich immer noch nicht.<br />

Was <strong>Harry</strong> eine Sek<strong>und</strong>e später erblickte, ließ ihn glauben, sich<br />

heute in Zaubertränke irgendwie vergiftet zu haben. Dieses Tier – er<br />

wusste nicht, wie er es sonst nennen sollte, auch wenn es nichts<br />

unähnlicher sah als einem Tier – wirkte wie die Kreation eines äußerst<br />

unbegabten Malers.<br />

Es war recht groß, sicherlich halb so groß wie Hagrid, was hieß,<br />

<strong>das</strong>s seine Schultern etwa <strong>auf</strong> Höhe von <strong>Harry</strong>s Augen waren. Es hatte<br />

vier Beine mit Zehen an den Füßen, <strong>und</strong> einen dünnen, mit einzelnen<br />

Haaren versehenen Schwanz, <strong>und</strong> sicher konnte man behaupten, <strong>das</strong>s<br />

die spitze Schnauze mit den roten, bösen Augen fast ziegenähnlich<br />

wirkte, was zusammen mit den enorm langen, dicken, schwarzen<br />

Hörnern <strong>und</strong> dem höckerigen Buckel <strong>auf</strong> dem Rücken eine eigenartige<br />

Mischung aus Bergziege <strong>und</strong> Kamel ergab. Seine größtenteils haarlose<br />

Haut war gräulich <strong>und</strong> mit einem leichten violetten Schimmer überzogen.<br />

„Ist er nicht prächtig?“, fragte Hagrid vollkommen aus dem<br />

Häuschen <strong>und</strong> näherte sich dem Ungetüm bis <strong>auf</strong> ein paar Schritte. Das<br />

hatte unangenehme Folgen, denn <strong>das</strong> Tier bäumte sich <strong>auf</strong>, schlug mit<br />

seinen mächtigen Hinterläufen aus <strong>und</strong> schrie mit einem pfeifenden<br />

Röhren so laut, <strong>das</strong>s in Hogsmeade sicher jemand vom Stuhl gefallen<br />

war.<br />

„Ist ’nen bisschen schüchtern“, gab Hagrid zu.<br />

„Was ist <strong>das</strong>?“, war alles, was <strong>Harry</strong> ausstoßen konnte.<br />

139


„Ein Graphorn natürlich. Hab’s in den Bergen gef<strong>und</strong>en, als ich<br />

letztes Jahr – na, ihr wisst schon, Urlaub gemacht habe.“ Er warf einen<br />

kurzen Blick zu den Slytherins. „Hat ein bisschen gedauert, bis <strong>das</strong><br />

Ministerium mir erlaubt hat, es einzuführen, aber nun ist es da.“ Seine<br />

Freude über die geglückte Überführung stimmte Hagrid regelrecht<br />

euphorisch, jedenfalls klopfte er jetzt den erstarrten Malfoy <strong>auf</strong> die<br />

Schultern.<br />

„Na, wenigstens kann er <strong>das</strong> nächste Mal nicht ein noch<br />

gefährlicheres Tier anschaffen“, meinte Hermine händeringend.<br />

„Würde <strong>das</strong> Ministerium <strong>das</strong> nicht zulassen?“, fragte <strong>Harry</strong> sie<br />

hoffnungsvoll.<br />

„Nein, ich sage <strong>das</strong>, weil Graphörner als eines der bedrohlichsten<br />

Geschöpfe der magischen Welt gelten – zumindest unter denen, die<br />

überhaupt eingeführt werden dürfen. Sie sind enorm aggressiv <strong>und</strong> töten<br />

fast jeden, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekommen.“<br />

„Ach so, <strong>und</strong> ich dachte schon an etwas Schlimmeres“, witzelte<br />

<strong>Harry</strong>, obwohl er sich kaum je unwohler gefühlt hatte.<br />

Alle drei sahen angsterfüllt <strong>auf</strong> <strong>das</strong> gigantische, groteske Tier, wie<br />

es Hagrids Garten verwüstete. Gerade, als es sich die Riesenkürbisse<br />

vornahm, ging der Wildhüter wieder nach vorne <strong>und</strong> nahm die Leine in<br />

die Hand, welche <strong>das</strong> gehörnte Wesen im Zaum hielt.<br />

„Hagrid, nicht!“, schrie <strong>Harry</strong>, aber schon war es zu spät, Hagrid<br />

löste <strong>das</strong> Seil, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Graphorn stürmte nach vorne wie eine<br />

losgelassene Rakete. Fassungslos stoben die Schüler auseinander. Nur<br />

einer blieb stehen <strong>und</strong> konnte sich offensichtlich nicht mehr rühren;<br />

Malfoy stierte bloß zu Tode entsetzt <strong>auf</strong> <strong>das</strong> galoppierende Ungetüm,<br />

<strong>das</strong> sich schnurstracks seinen Weg <strong>auf</strong> ihn zu bahnte.<br />

Ohne zu denken oder auch nur im Ansatz zu erahnen, <strong>auf</strong> was er<br />

sich einließ, warf sich <strong>Harry</strong> in die Bahn des Geschöpfes <strong>und</strong><br />

schleuderte ihm einen Zauber entgegen.<br />

„Protego!“, schrie er, einen starken Schutzzauber vor sich<br />

errichtend. Irgendwo hinter ihm kauerte sich Malfoy wimmernd <strong>auf</strong> den<br />

Boden. Das mit Magie gestützte Schild erschien, beruhigend <strong>und</strong><br />

schimmernd baute es wie eine Wand vor ihm <strong>auf</strong>. Doch anscheinend<br />

gehörten Graphörner zu den Wesen, die ihre eigenen<br />

Abwehrmechanismen gegen Zauber besaßen, jedenfalls rannte dieses<br />

unbeeindruckt weiter.<br />

<strong>Harry</strong> warf sich in der letzten Sek<strong>und</strong>e <strong>zur</strong> Seite <strong>und</strong> richtete seinen<br />

Zauberstab ein weiteres Mal <strong>auf</strong> die eigenartige Bergziege.<br />

„Locomotor Mortis!“, brüllte er mit aller Anstrengung, die er<br />

<strong>auf</strong>bringen konnte <strong>und</strong> erwischte die Kreatur zwischen den Beinen an<br />

ihrem empfindlichen Bauch. Augenblicklich knickte sie in vollem L<strong>auf</strong> mit<br />

gelähmten Beinen ein <strong>und</strong> schlitterte hilflos die letzten Meter <strong>auf</strong> Malfoy<br />

140


zu. Brüllend blieb <strong>das</strong> Graphorn liegend <strong>und</strong> schnappte mit seinem<br />

scharfen Maul nur ein paar Zentimeter vor dem Slytherin zu.<br />

Ein paar Sek<strong>und</strong>en herrschte absolute Stille, in der nur <strong>das</strong><br />

empörte Knurren des magischen Tiers zu hören war.<br />

„Mein Gott!“, dröhnte es aus Hagrids Garten. „Aber es war <strong>doc</strong>h<br />

sonst so friedlich …“ Aufgeregt kam der Wildhüter angel<strong>auf</strong>en. „Alles in<br />

Ordnung, <strong>Harry</strong>?“, fragte er <strong>und</strong> legte besorgt die Hand <strong>auf</strong> die Flanke<br />

des Graphorns.<br />

„Ja, klar“, rappelte sich <strong>Harry</strong> wieder <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schaute <strong>auf</strong> <strong>das</strong> am<br />

Boden liegende Tier. Seine Beine waren bewegungsunfähig, ansonsten<br />

ging es ihm gut, jedenfalls dem furchtbaren Brüllen nach zu urteilen, <strong>das</strong><br />

es von sich gab.<br />

„Ich hätte nie gedacht, <strong>das</strong>s er sich so ungestüm verhält“, meinte<br />

Hagrid betrübt. „Die letzten Wochen habe ich ihn dressiert, <strong>und</strong> er ist mir<br />

gefolgt – muss wohl nervös sein wegen den vielen Leuten, ist er nich’<br />

gewohnt.“<br />

„Was heißt ungestüm? Es hätte uns fast getötet!“, hickste Ron<br />

immer noch etwas verstört hervor.<br />

„Aber jeder weiß <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s Graphörner nichts tun, wenn man nur<br />

still stehen bleibt <strong>und</strong> ihnen nich’ in die Augen sieht“, erklärte Hagrid.<br />

„Wieso seid ihr alle weggel<strong>auf</strong>en?“<br />

„Ja, wieso nur?“, fauchte Ron ungewohnt heftig. „Vielleicht weil <strong>das</strong><br />

Vieh den Eindruck gemacht hat, <strong>das</strong>s es uns über den H<strong>auf</strong>en rennen<br />

will? Aber <strong>das</strong> war sicher nur Fassade, in Wirklichkeit wollte es uns<br />

bestimmt nur begrüßen!“<br />

<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine zogen Ron <strong>zur</strong> Seite, bevor Hagrid seine Worte<br />

hören konnte. Aber auch Hermine war ausgesprochen sauer.<br />

„Er wird sich nie ändern“, ärgerte sie sich. „Wieso schleppt er alle<br />

diese Ungeheuer an? Jeder weiß, <strong>das</strong>s Graphörner kaum zu bändigen<br />

sind. Mit seiner Kraft schafft er es sicher, aber wir sind ja nicht alle<br />

Halbriesen.“<br />

Auch <strong>Harry</strong> spürte, <strong>das</strong>s Hagrid diesmal eindeutig zu weit<br />

gegangen war. „Hoffentlich bekommt er keinen Schulverweis“,<br />

prophezeite er düster.<br />

„Nein, <strong>das</strong> glaube ich nicht“, antwortete Hermine. „Malfoy wird<br />

nichts gegen ihn unternehmen, jetzt, wo sein Vater ihm nicht mehr den<br />

Rücken stärken <strong>und</strong> beim Ministerium gewisse Fäden ziehen kann.“<br />

Tatsächlich hatte sich Malfoy, von allen unbeachtet, einige Meter<br />

von Hagrids Hütte entfernt <strong>und</strong> beobachtete <strong>das</strong> Geschehen mit einer<br />

von Hass verzerrten, aber seltsam hilflosen Miene, die anderen<br />

Sytherins standen untätig um ihn herum. Genugtuung ob der isolierten<br />

Lage des Slytherins breitete sich in <strong>Harry</strong> aus, allerdings schlich sich<br />

auch eine Spur Verständnis hinein – was Hagrid gemacht hatte, war<br />

unverantwortlich gewesen.<br />

141


Der Wildhüter unterdessen hatte sich wieder gefangen <strong>und</strong><br />

erzählte der nun neugierig an <strong>das</strong> wehrlose Graphorn herangerückten<br />

Klasse von der vielfältigen Verwendung des schwarzen Hornes, welches<br />

in gemahlener Form eine begehrte Zaubertrankzutat war. Der Rest der<br />

St<strong>und</strong>e verging ereignislos, <strong>und</strong> alle waren froh, als sie sich wieder <strong>auf</strong><br />

den Weg zum Schloss machten. In der Ferne hörte man noch <strong>das</strong> nun<br />

leicht heisere Brüllen der Bergziege, welche <strong>Harry</strong> aus sicherer<br />

Entfernung von dem Beinklammerfluch befreit hatte, bevor Hagrid sich<br />

wieder <strong>auf</strong> sie gestürzt hatte.<br />

Malfoys Blick traf den <strong>Harry</strong>s, während beide die Eingangstreppe<br />

hochgingen, <strong>und</strong> obwohl er keine Dankbarkeit erwartet hatte, so<br />

erstaunte <strong>Harry</strong> <strong>doc</strong>h die Intensität der Abscheu, mit der Malfoy ihn<br />

bedachte. Er musste an Dumbledores Worte über Snape denken; <strong>das</strong>s<br />

dieser erst wieder seinen Vater unbeschwert hassen konnte, nachdem er<br />

sich für dessen Lebensrettung revanchiert hatte. Aber was sollte es,<br />

dachte <strong>Harry</strong>, warum sollte es ihn interessieren, was Malfoy über ihn<br />

dachte. Wenn ihn nur nicht ständig im Kopf herumschwirren würde, was<br />

Malfoy ihm Zug über Voldemort gesagt hatte. Und die, die ihm zu<br />

Diensten sind … War Malfoy bereits ein Todesser, der <strong>auf</strong> eine<br />

geeignete Gelegenheit wartete, ihn Voldemort ausliefern zu können?<br />

Obwohl es noch recht früh am Nachmittag war, hatten <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

Ron bereits Schluss, nur Hermine rannte wie üblich zu einer ihrer vielen<br />

Unterrichtsst<strong>und</strong>en (diesmal Arithmantik). Der wolkenlose Himmel<br />

draußen verlockte sie dazu, sich an den See zu setzen <strong>und</strong> den<br />

Gedanken freien L<strong>auf</strong> zu lassen, aber <strong>Harry</strong> musste schweren Herzens<br />

an seine unfertigen Zaubertrankhaus<strong>auf</strong>gaben denken. So verbrachte er<br />

die nächsten St<strong>und</strong>en damit, zusammen mit Seamus Informationen über<br />

den Liebestrank Amortentia zu suchen <strong>und</strong> sie in einen geordneten Text<br />

zu bringen. Hermine gesellte sich während des Abendessens wieder zu<br />

ihnen <strong>und</strong> gab <strong>Harry</strong> ein paar Tipps für seinen Aufsatz; vermutlich<br />

glaubte sie, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> in den nächsten Zaubertrankst<strong>und</strong>en Hilfe gut<br />

gebrauchen konnte.<br />

Als sich die Gryffindors wieder <strong>auf</strong> den Weg in den<br />

Gemeinschaftsraum machen wollten – auch Hagrid hatte ihnen<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben <strong>auf</strong>gegeben – bahnte sich Jamie McGonagall einen Weg<br />

durch die Menge an Schülern, die satt <strong>und</strong> zufrieden die große Halle<br />

verließ.<br />

„<strong>Harry</strong>!“, rief er <strong>und</strong> näherte sich der kleinen Gruppe von<br />

Gryffindors, darunter auch Ron, Hermine, Ginny, Dean, Seamus <strong>und</strong><br />

Neville.<br />

„Ja?“, fragte <strong>Harry</strong> leicht unsicher, er konnte sich nicht vorstellen,<br />

was sein Verteidigungslehrer jetzt von ihm wollte.<br />

142


„Wie wäre es, wenn du heute Abend in mein Büro kommen<br />

könntest? Natürlich nur, wenn du möchtest, aber dann könnten wir über<br />

die DA reden.“<br />

Einige der DA-Mitglieder machten leicht saure Gesichter, zwar<br />

hatten sie alle <strong>Harry</strong> als Anführer gewählt, aber sie wären natürlich gerne<br />

mit dabei, wenn ein Lehrer über „ihre“ Gruppe diskutierte.<br />

<strong>Harry</strong> spürte Nevilles enttäuschten Blick in seinem Rücken <strong>und</strong><br />

wandte sich an McGonagall.<br />

„Wäre es möglich, <strong>das</strong>s Sie zu unserem ersten DA-Treffen<br />

kommen <strong>und</strong> wir dann gemeinsam über alles entscheiden?“<br />

„Selbstverständlich, eine guter Vorschlag. Dann können alle ihre<br />

Ideen einbringen. Wo trefft ihr euch denn immer?“<br />

So genau wusste <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> selbst nicht; wollten sie weiterhin im<br />

Raum der Wünsche üben, wo die Slytherins sie letztes Jahr entdeckt<br />

hatten? Obwohl, sie hatten nie erfahren, wie man ihn betrat.<br />

Nach einem kurzen Blick zu Ron <strong>und</strong> Hermine fragte er<br />

McGonagall:<br />

„Kennen Sie den Raum der Wünsche?“<br />

Anscheinend nicht, denn McGonagall machte einen verwirrten<br />

Eindruck.<br />

„Raum der Wünsche? Nie gehört. Ist <strong>das</strong> ein Spitzname für einen<br />

der Klassenräume?“<br />

„Nein, ein geheimer Raum im siebten Stock … am besten, Sie<br />

treffen sich mit einem von uns vorher <strong>und</strong> wir zeigen Ihnen den Weg.“ Es<br />

war nämlich alles andere als einfach, in den Raum der Wünsche zu<br />

gelangen – man musste sich genau vor Augen halten, was man suchte,<br />

nur dann offenbarte er sich.<br />

„In Ordnung, wann ist denn euer erstes Treffen?“<br />

„Keine Ahnung, <strong>das</strong> müssten wir noch absprechen. Aber vielleicht<br />

wäre es möglich, Sonntag einen Termin anzusetzen, so<strong>das</strong>s jeder Zeit<br />

hat. Und dann könnten wir zu dem Anlass auch einen festen Zeitpunkt<br />

unter der Woche vereinbaren.“<br />

„OK, dann freue ich mich, Sonntag an eurem Treffen teilnehmen zu<br />

können. Wäre euch 18 Uhr genehm?“<br />

Zumindest keiner der Anwesenden hatte etwas dagegen, <strong>und</strong> da<br />

Loona von den Ravenclaws <strong>und</strong> mittlerweile auch Ernie von Hufflepuff<br />

ihr Einverständnis gaben, konnte <strong>Harry</strong> dar<strong>auf</strong> hoffen, <strong>das</strong>s ihnen kein<br />

vergessenes Quidditch-Training von einem der Häuser dazwischenkam.<br />

Das Auswahltraining der Gryffindors war soweit er wusste am Samstag.<br />

McGonagall verabschiedete sich gut gelaunt <strong>und</strong> sah den Schülern<br />

nach, bis sie aus der großen Halle gegangen waren, während <strong>Harry</strong>,<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine erschöpft <strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum gingen; es<br />

war ein langer <strong>und</strong> ereignisreicher Tag gewesen. Schon nach zwei<br />

143


Schultagen an Hogwarts fühlte <strong>Harry</strong> sich, als hätte er einen Monat<br />

Hauself bei den Dursleys spielen müssen.<br />

Sie trennten sich von der lärmenden Menge <strong>und</strong> traten in einer<br />

dunklen Ecke in einen ihrer bevorzugten Geheimgänge, als Ron vor<br />

ihnen zusammenfuhr <strong>und</strong> rückwärts in Hermine hineintaumelte.<br />

„Was soll <strong>das</strong>, Ron?“, zischte sie erschrocken.<br />

„Hier ist jemand“, keuchte Ron <strong>und</strong> starrte in die Finsternis des<br />

engen Wendelganges.<br />

„Oh, entschuldigt, ich wollte euch nicht erschrecken“, hörten sie <strong>auf</strong><br />

einmal die Stimme McGonagalls. „Aber ich dachte mir schon, <strong>das</strong>s ihr<br />

diese Abkürzung nehmen würdet.“<br />

„Sie wissen von ihr?“, fragte <strong>Harry</strong> überrascht. Ihr<br />

Verteidigungslehrer hatte nun die Spitze seines Zauberstabes erleuchten<br />

lassen, so<strong>das</strong>s sich ein schwacher Lichtschimmer um sie herum<br />

ausbreitete.<br />

„Klar, ich habe in meiner Schulzeit <strong>das</strong> ganze Schloss bis in den<br />

letzten Winkel untersucht <strong>und</strong> bin in Räume <strong>und</strong> Gänge vorgedrungen,<br />

die die anderen nie gesehen haben. Meistens, weil ich <strong>auf</strong> der Flucht vor<br />

gewissen Lehrern war.“ Er grinste bei der Erinnerung. „Vermutlich<br />

wusste in diesen Jahren keiner über Hogwarts so gut Bescheid wie ich.<br />

Außer den Rumtreibern natürlich.“<br />

Nun blieb <strong>Harry</strong> wie erstarrt stehen.<br />

„Sie kannten die Rumtreiber?“, fragte er verblüfft.<br />

„Nun ja, ich habe meinen Abschluss gemacht, als sie gerade in die<br />

dritte Klasse kamen. Deswegen <strong>und</strong> weil sie Gryffindors waren, ich aber<br />

ein Ravenclaw, hatten wir keinen engen Kontakt. Doch die Rumtreiber<br />

kannte jeder. Sie machten die Schule schlichtweg unsicher, <strong>und</strong> <strong>das</strong> eine<br />

oder andere Mal war ich dabei gewesen.“<br />

<strong>Harry</strong> hätte ihn am liebsten alles über diese Zeit gefragt, über<br />

seinen Vater, Sirius – der Magen drehte sich beim Gedanken an seinen<br />

Paten wieder einmal um – , aber irgendwie machte die Anwesenheit von<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine ihn verlegen.<br />

„Warum sind Sie uns eigentlich gefolgt?“, kam Ron nun <strong>zur</strong> Sache.<br />

„Ich bin euch nicht gefolgt, sondern habe euch erwartet.“ McGonagall<br />

lachte beim Anblick ihrer erstaunten Gesichter.<br />

„Scheinbar kenne ich noch ein paar Abkürzungen mehr als ihr. Bei<br />

Gelegenheit kann ich sie euch zeigen.“ Ernster fuhr er fort: „Der Gr<strong>und</strong><br />

für dieses ungewöhnliche Treffen ist <strong>Harry</strong>.“<br />

Dieser konnte nicht behaupten, <strong>das</strong>s er es nicht geahnt hätte nach<br />

den letzten Sätzen.<br />

„Ich wollte dich <strong>auf</strong> heute Abend in mein Büro einladen, aber die<br />

DA hat als offizieller Gr<strong>und</strong> wohl nicht funktioniert. Deswegen dachte ich<br />

mir, eine diskretere Anfrage ohne h<strong>und</strong>ert Schüler als Zeugen wäre in<br />

deinem Sinne.“<br />

144


<strong>Harry</strong> nickte. Obwohl er nach Kräften versuchte, Rons zufriedene<br />

Miene zu übersehen, wusste er, <strong>das</strong>s ein Gespräch mit McGonagall<br />

unumgänglich war. Besser, er wollte es nun auch.<br />

Er hat meinen Vater gekannt.<br />

Bisher hatte er in der Überzeugung gelebt, <strong>das</strong>s alle, die ihm von<br />

seinem Vater erzählen konnten, entweder tot waren, ihm bereits alles<br />

über ihn gesagt hatten oder Snape hießen. Auch wenn McGonagall in<br />

einem anderen Haus gewesen war, so konnte er vielleicht Dinge über<br />

James <strong>Potter</strong> berichten, die <strong>Harry</strong> nicht bekannt waren.<br />

„Gut, dann sehen wir uns in einer St<strong>und</strong>e? Wo mein Büro ist, weißt<br />

du ja, so oft wie du bei der alten Kröte hast nachsitzen müssen.“<br />

Er nickte Ron <strong>und</strong> Hermine fre<strong>und</strong>lich zu <strong>und</strong> war schon hinter der<br />

nächsten Biegung verschw<strong>und</strong>en, Schwärze <strong>zur</strong>ücklassend. Schnell<br />

verschaffte Hermine ihnen mit ihrem Zauberstab Licht.<br />

„Kommt euch <strong>das</strong> auch so vor, aber ich fühle mich, als hätten wir<br />

Verteidigungsunterricht bei einem dritten Zwilling von Fred <strong>und</strong> George“,<br />

meinte Ron kopfschüttelnd. „Na ja, immer noch besser als die meisten<br />

Lehrer, die wir in dem Fach hatten. Wer weiß, vielleicht hilft er uns,<br />

Snape ein paar Streiche zu spielen.“<br />

„Hast du dich ins Kindergartenalter <strong>zur</strong>ückentwickelt, in dem ich<br />

dich zum Glück noch nicht gekannt habe?“, fuhr Hermine ihn wie so oft<br />

unnötig heftig an. „McGonagall würde sich nie so albern <strong>auf</strong>führen!“<br />

Hochnäsig stürmte sie davon.<br />

„Oh <strong>doc</strong>h, ich glaube er würde“, flüsterte Ron leise zu <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

sah Hermine mit einem gleichzeitig missvergnügten <strong>und</strong> hilflosen Blick<br />

nach.<br />

<strong>Harry</strong> war froh, den Abend nicht im Beisammensein der beiden<br />

verbringen zu müssen.<br />

Eine St<strong>und</strong>e später, in der die Minuten, die er in der Bibliothek<br />

verbracht hatte, an ihm vorbei geflogen waren wie wütende Eulen, begab<br />

er sich durch die schon fast leeren Gänge zum Büro des<br />

Verteidigungslehrers in den zweiten Stock. Die Tür war angelehnt, aber<br />

er klopfte <strong>und</strong> wartete <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Zeichen McGonagalls.<br />

„Nur herein!“, kam es von drinnen, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> trat in <strong>das</strong> Büro, <strong>das</strong><br />

er nunmehr unter vier Lehrern erlebt hatte. Anstatt seltsamer Wesen in<br />

Wassertanks wie bei Lupin oder Umbridges Teller mit miauenden<br />

Kätzchen in schreiend bunten Farben an den Wänden sah er sich nun<br />

einer großen amerikanischen Flagge gegenüber, die eine Wand <strong>zur</strong><br />

Hälfte bedeckte – die andere Hälfte nahm ein nicht minder großes<br />

Wappen Hogwarts ein, bei dem der Adler Ravenclaws besonders zu<br />

leuchten schien. Die anderen Wände zeigten vereinzelte Fotos <strong>und</strong><br />

Zeitungsausschnitte von Orten <strong>und</strong> Personen, die <strong>Harry</strong> nicht kannte <strong>und</strong><br />

hinter denen er McGonagalls Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e in Washington<br />

145


vermutete. Ansonsten war der Raum ausgestattet mit gemütlich<br />

wirkenden Holzmöbeln, darunter ein großer Schreibtisch <strong>und</strong> ein hohes<br />

Regal voller abgegriffener Bücher. Im nächsten Moment je<strong>doc</strong>h kam<br />

etwas <strong>auf</strong> ihn zugeschossen <strong>und</strong> bedeckte ihn mit einer gewaltigen<br />

Menge an Federn, die ihm um die Ohren geschlagen wurden.<br />

„Jerry!“, rief McGonagall <strong>und</strong> befreite <strong>Harry</strong> von dem kreischenden<br />

Federbündel, <strong>das</strong> sich <strong>auf</strong> größere Distanz als Adler herausstellte.<br />

„Tut mit Leid, aber er reagiert immer so ungestüm, wenn Besuch<br />

kommt“, erklärte sein Lehrer <strong>und</strong> strich dem braun-weiß gefiederten Tier<br />

über die Flügel. Zurück bei seinem Herrchen entspannte sich Jerry<br />

augenblicklich <strong>und</strong> rieb seinen Kopf an McGonagalls Hand.<br />

„Ungewöhnliches Haustier“, bemerkte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> hielt argwöhnisch<br />

Abstand.<br />

„Ich habe ihn <strong>auf</strong>gelesen, als er noch klein war. Seine Eltern waren<br />

tot, also habe ich ihn großgezogen – <strong>und</strong> nun hört er <strong>auf</strong> mich wie ein<br />

H<strong>und</strong>. Völlig zwecklos, ihn auswildern zu wollen. Einmal bin ich mit ihm<br />

bis nach Kalifornien gefahren <strong>und</strong> habe ihn fliegen lassen – aber er ist<br />

den ganzen Weg nach Washington <strong>zur</strong>ück meinem Auto gefolgt.“ Jerry<br />

gab einen zufriedenen kleinen Schrei von sich <strong>und</strong> flatterte zu einer<br />

großen Stange, die unter der Decke befestigt war, um sich dort<br />

niederzulassen.<br />

„Bei den Schuleulen fühlt er sich nicht wohl“, zuckte der<br />

Verteidigungslehrer mit den Schultern. „Aber er kann genauso gut Briefe<br />

überbringen wie sie, zumindest zu Orten, an denen er schon einmal<br />

war.“<br />

„Sie haben ein Auto?“, fiel <strong>Harry</strong> ein, was McGonagall gerade<br />

gesagt hatte.<br />

„Ja – aber setze dich <strong>doc</strong>h erst einmal.“ Er wies <strong>auf</strong> einen Tisch<br />

aus dunklem Holz, der von zwei Stühlen umgeben war. Dar<strong>auf</strong> standen<br />

zwei Teetassen <strong>und</strong> auch zwei Teller.<br />

„Möchtest du etwas trinken oder essen?“, fragte McGonagall. „Ich<br />

kann alles aus der Küche kommen lassen, was du möchtest.“<br />

Hermine würde <strong>das</strong> nicht gefallen, dachte <strong>Harry</strong> mit Hinblick <strong>auf</strong><br />

ihre Hauselfenbefreiungsfront.<br />

„Nein, ich bin vom Abendessen satt. Ein Tee wäre aber nicht<br />

schlecht.“<br />

Die Hauselfen für einen Tee zu rufen, schien seinem Lehrer <strong>doc</strong>h<br />

unnötiger Aufwand, denn er holte einen großen gusseisernen Kessel,<br />

den er mittels seines Zauberstabs mit Wasser füllte <strong>und</strong> über <strong>das</strong><br />

Kaminfeuer hängte.<br />

„Nun, was deine Frage anging“, meinte er, nachdem er sich gesetzt<br />

<strong>und</strong> ihnen beiden Tee eingeschenkt hatte, „in Amerika ist es für Zauberer<br />

<strong>und</strong> Hexen nicht ungewöhnlich, sich Muggelsachen anzuschaffen. Ich<br />

glaube, bei uns gibt es weniger Vorbehalte <strong>und</strong> Abgrenzungs-<br />

146


emühungen von magischen zu nichtmagischen Menschen als hier.<br />

Natürlich wissen sie nichts von uns, aber insgesamt kennen wir solchen<br />

Hass <strong>auf</strong> Muggel nicht, wie er hier in Britannien von einigen praktiziert<br />

wird.“<br />

„Dann gibt es in Amerika auch keine Todesser?“, fragte <strong>Harry</strong><br />

neugierig. Ihm war nie der Gedanke gekommen, <strong>das</strong>s es anderswo <strong>auf</strong><br />

der Welt Zauberergemeinschaften gab, die nie die Schrecken der<br />

Todesser hatten ertragen müssen.<br />

„Nein, überhaupt nicht. Einige reinblütige Zaubererfamilien sehen<br />

sich den Muggeln gegenüber zwar überlegen, aber eine<br />

Extremistengruppe wie Voldemorts Gefolgschaft existiert nicht. Das<br />

Klassendenken ist hier einfach viel stärker ausgeprägt.“<br />

Anscheinend hatte er auch keine Probleme damit, den Namen<br />

auszusprechen, den so viele britische Zauberer <strong>und</strong> Hexen fürchteten.<br />

„Sie haben also nie einen Todesser getroffen?“<br />

„Doch, du vergisst, <strong>das</strong>s ich hier sieben Jahre studiert habe. Zu der<br />

damaligen Zeit war Voldemort ja schon lange an der Macht. Einige<br />

seiner späteren Schergen waren mit mir in der Schule. Üble Typen. Ich<br />

war froh, als ich <strong>zur</strong>ück nach Amerika gehen konnte.“<br />

„Was Ihre Schulzeit angeht –“<br />

McGonagall stellte seine Tasse beiseite <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> an.<br />

„Nun, du fragst dich sicher, wieso ich dich heute sehen wollte.“<br />

<strong>Harry</strong> trank einen Schluck Tee, um noch ein paar Sek<strong>und</strong>en Zeit<br />

zum Überlegen zu haben. Wollte McGonagall wirklich über James <strong>Potter</strong><br />

reden? Oder ging es am Ende nur um die DA? Hatte er <strong>doc</strong>h etwas<br />

gegen die Verteidigungsgruppe? Oder hatte Ron – nein, Ron war derzeit<br />

nur wegen Hermine sehr gereizt <strong>und</strong> teilte <strong>das</strong> seiner Umwelt gerne mit –<br />

„Ich weiß es nicht“, antwortete <strong>Harry</strong> wahrheitsgemäß.<br />

„Du kannst es ruhig sagen“, lächelte McGonagall <strong>und</strong> schaute kurz<br />

an die Wand neben sich. <strong>Harry</strong> folgte seinem Blick unwillkürlich. Dort<br />

hing ein kleiner Spiegel, in dem sich die beiden gerade ansahen – <strong>Harry</strong><br />

zuckte ein wenig zusammen. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war schon<br />

fast beklemmend, wenn man von McGonagalls Alter absah. Sie trugen<br />

beinahe dieselbe Brille, nur <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong>s momentan etwas schief <strong>auf</strong><br />

seiner Nase saß, sie hatten beide dieselben Gesichtszüge, nur <strong>das</strong>s <strong>auf</strong><br />

<strong>Harry</strong>s Stirn die berühmte Blitznarbe zu sehen war, sie hatten beide<br />

tiefschwarze Haare, nur <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong>s wie üblich wild in alle Richtungen<br />

abstanden <strong>und</strong> McGonagalls in langen Strähnen um sein Gesicht fielen.<br />

Es war so abschreckend, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> schnell seine Brille abnahm. Das<br />

Einzige, was sie unterschied, war die Augenfarbe: <strong>Harry</strong> hatte die grünen<br />

Augen von seiner Mutter geerbt, McGonagalls waren dunkelblau.<br />

„Das kann nicht sein. Ich weiß, was Sie jetzt denken, nur ist <strong>das</strong><br />

völlig unmöglich. Ich habe keine lebenden Verwandten außer den<br />

Dursleys …“, stammelte <strong>Harry</strong>.<br />

147


Unbehaglich hantierte McGonagall an der Teetasse herum.<br />

„Dumbledore hat dir <strong>das</strong> gesagt, als ihr euch zum ersten Mal<br />

gesehen habt, oder?“<br />

„Ja, <strong>das</strong> war während meines ersten Schuljahres.“<br />

„Du musst wissen, <strong>das</strong>s meine Familie schon vor meiner Geburt<br />

aus Großbritannien ausgewandert ist. Meine Mutter – Minerva<br />

McGonagalls Schwester – wurde aus dem Clan verstoßen.“<br />

„Wieso <strong>das</strong>?“, fragte <strong>Harry</strong> verblüfft.<br />

„Weil sie einen Squib geheiratet hat – was gleichbedeutend<br />

gesehen wird mit einem Muggel.“<br />

Für ein paar Sek<strong>und</strong>en war es <strong>Harry</strong> nicht möglich zu sprechen.<br />

McGonagalls Clan <strong>und</strong> muggelfeindlich? Aber die Verwandlungslehrerin<br />

hatte nie irgendwelche Ansätze dazu gezeigt …<br />

„In Zauberer-Clans ist es Tradition, ja, Pflicht, den Angehörigen<br />

eines anderen Clans zu heiraten, um <strong>das</strong> Erbe der alten schottischen<br />

Familien nicht zu verlieren. Wenn du mich fragst, totaler Blödsinn.<br />

Nichtsdestotrotz wurde meine Mutter, als sie sich in meinen Vater<br />

verliebte, gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert. Sie beschlossen, einen<br />

Schnitt zu ziehen <strong>und</strong> gingen nach Amerika.“<br />

„Aber Professor McGonagall …“, widersprach <strong>Harry</strong> in einem<br />

Versuch, seine Lehrerin zu verteidigen.<br />

„Sie ist ein Mitglied eines der ältesten schottischen Clans, der<br />

schon <strong>auf</strong> <strong>das</strong> zweite Jahrtausend vor Christus <strong>zur</strong>ückgeht <strong>und</strong> somit<br />

gewissen … Prinzipien verpflichtet.“<br />

„Aber sie ist keine Muggelhasserin!“, rief <strong>Harry</strong> erregt.<br />

„Das behaupte ich auch nicht. Im Gegenteil, ich schätze meine<br />

Tante sehr. Ihre Widerstandsarbeit gegen die Todesser ist<br />

bew<strong>und</strong>ernswert. Aber Clans hassen Muggel nicht direkt, sie wollen nur<br />

einfach nichts mit ihnen zu tun haben. Wobei nicht alle Clanmitglieder<br />

eine so kompromisslose Einstellung haben.“<br />

„Aber Professor McGonagall kann Sie nicht leiden …“, rutschte es<br />

<strong>Harry</strong> aus Versehen heraus. Am liebsten hätte er sich <strong>auf</strong> die Zunge<br />

gebissen.<br />

„Nein, in der Tat“, meinte McGonagall betrübt. „Was ich sehr<br />

schade finde. Aber es sind Dinge in der Vergangenheit vorgefallen, die<br />

unser Verhältnis noch heute belasten. Dinge, die mich auch mit<br />

veranlasst haben, nach meiner Schulzeit <strong>zur</strong>ück in die USA zu gehen.“<br />

<strong>Harry</strong> fragte nicht nach, der bekümmerte Ausdruck seines Lehrers<br />

hielt ihn davon ab, jetzt weiter <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Thema einzudringen.<br />

„Warum sind Sie denn <strong>auf</strong> Hogwarts gegangen? Es gibt <strong>doc</strong>h<br />

sicher in den USA auch Zaubererschulen.“<br />

„Klar, eine Menge. Aber Hogwarts ist eine der besten Institute der<br />

Welt, vielleicht sogar <strong>das</strong> beste. Außerdem wollte ich ein wenig <strong>das</strong> Land<br />

kennen lernen, aus dem ich eigentlich stamme.“<br />

148


Was tue ich hier, rügte <strong>Harry</strong> sich selbst. Eigentlich wollte er <strong>doc</strong>h<br />

was ganz anderes wissen. Er nahm all seinen Mut zusammen.<br />

„Wollen Sie mit all dem ausdrücken, <strong>das</strong>s Sie mit mir verwandt<br />

sind?“ Endlich war raus.<br />

„Ja.“ Die Antwort war so verblüffend direkt, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> kraftlos in<br />

seinen Stuhl sank.<br />

Es konnte nicht sein.<br />

Das wüsste er.<br />

Oder?<br />

„Mein Vater war der Onkel deines Vaters. Sie hatten nur nicht viel<br />

Kontakt, weil – nun ja, weil mein Vater ein Squib war.“<br />

„War?“, krächzte <strong>Harry</strong>.<br />

„Er ist vor vielen Jahren gestorben“, meinte McGonagall leise.<br />

„Genauso wie meine Mutter. Tut mit Leid.“<br />

„Aber wieso hat mir <strong>das</strong> niemand gesagt? Wieso habe ich nie<br />

erfahren, <strong>das</strong>s ich noch einen Großcousin habe?“ <strong>Harry</strong> stand <strong>auf</strong> <strong>und</strong><br />

lief wütend durch <strong>das</strong> Zimmer. Was hatte ihm Dumbledore noch alles<br />

verheimlicht? In seiner Unachtsamkeit stieß er gegen einen Schrank<br />

direkt neben Jerry. Der Adler ließ einen erschrockenen Schrei hören.<br />

„Das liegt daran, <strong>das</strong>s niemand wusste, <strong>das</strong>s ich noch lebe.“<br />

McGonagall machte nicht den Eindruck, <strong>das</strong>, was er nun zu sagen hatte,<br />

gern zu erzählen.<br />

„Nachdem ich von Hogwarts weggegangen bin, ist <strong>das</strong> Flugzeug,<br />

mit dem ich in die Staaten <strong>zur</strong>ückwollte, abgestürzt. Jeder dachte, ich<br />

wäre tot. Tatsächlich aber hatte ich bereits Apparieren gelernt – damals<br />

war es noch kein Teil der regulären Schulausbildung, sondern wurde nur<br />

in weiterführender Schulung angeboten. Ich konnte es mir allerdings<br />

selbst beibringen <strong>und</strong> bin einfach aus dem Flugzeug disappariert, als es<br />

sich im Sturzflug befand. Ist gar nicht so leicht, wie es klingt.“<br />

<strong>Harry</strong> fand nicht, <strong>das</strong>s es nach einer leichten Angelegenheit klang,<br />

in Todesangst den schweren Apparitionszauber auszuführen, schwieg<br />

aber dazu.<br />

„Wieso sind Sie dann nicht gleich in die Staaten appariert?“<br />

„Eine Apparition über eine so weite Strecke habe ich mir nicht<br />

zugetraut“, gab McGonagall zu.<br />

„Meine Eltern <strong>und</strong> ich beschlossen jedenfalls, <strong>das</strong>s es <strong>das</strong> Beste<br />

wäre, sich für immer von der Vergangenheit zu trennen. Wir widerriefen<br />

meine Todesnachricht nicht – in England glaubten alle, ich sei<br />

gestorben. Wie gesagt, wir sahen darin den einfachsten Weg, nicht mehr<br />

mit unseren Verwandten reden zu müssen. Meine Eltern waren ohnehin<br />

sehr lange nicht mehr hier gewesen, ich war der Einzige, mit dem noch<br />

jemand der Familie Kontakt gehabt hatte. Das war dann natürlich<br />

vorbei.“<br />

„Dumbledore wusste gar nicht, <strong>das</strong>s Sie lebten?“, murmelte <strong>Harry</strong>.<br />

149


„Nein, <strong>und</strong> da meine Eltern zum Zeitpunkt deiner Geburt bereits tot<br />

war, waren ihm wirklich nur die Dursleys als deine lebenden Verwandte<br />

bekannt. Deswegen schickte er dich zu ihnen.“<br />

<strong>Harry</strong> wollte losbrüllen, <strong>das</strong>s McGonagall mit seiner Feigheit<br />

verhindert hatte, <strong>das</strong>s er in einem ganz anderen Zuhause hätte<br />

auswachsen können, mit Zauberern <strong>und</strong> Hexen, nicht mit einem Cousin,<br />

der ihn ständig drangsalierte <strong>und</strong> einer Tante <strong>und</strong> einem Onkel, die ihn<br />

hassten … andererseits, hätte Dumbledore ihn so weit weg gehen<br />

lassen? Hätte er ihn außerhalb seines Einflussbereiches leben lassen?<br />

Vermutlich nicht. Zudem war McGonagall, als James <strong>und</strong> Lily starben,<br />

selbst erst 24 oder 25 gewesen … nein, Dumbledore hätte ihn nie nach<br />

Amerika geschickt.<br />

„Ich bin nicht stolz <strong>auf</strong> <strong>das</strong>, was ich getan habe. Aber damals<br />

schien es die beste Möglichkeit, ungestört zu leben. Wir wollten mit all<br />

den Menschen hier nichts mehr zu tun haben. Meine Familie war<br />

gesellschaftlich geächtet“, erklärte McGonagall mit einem müden<br />

Ausdruck in seinen Augen.<br />

Und warum sind Sie dann wieder hier?“, fragte <strong>Harry</strong>. Er hatte<br />

keine Lust, McGonagall Vorhaltungen zu machen. Er hatte kein Recht<br />

dazu, außerdem tat ihm sein Verteidigungslehrer in seiner<br />

offensichtlichen Reue Leid.<br />

„Weil ich endlich begriffen habe, <strong>das</strong>s auch ich meine<br />

Verantwortung zu übernehmen habe. Dumbledore hat sich damals dafür<br />

eingesetzt, <strong>das</strong>s ich in Hogwarts studieren konnte, <strong>und</strong> nun braucht er<br />

Hilfe. Ich habe in meiner Heimat <strong>das</strong> Geschehen in Britannien stets<br />

genau verfolgt. Deswegen habe ich mich bei ihm gemeldet. Er war ganz<br />

schön erschrocken, als ich vor die <strong>Tor</strong>e Hogwarts appariert bin <strong>und</strong><br />

glaubte erst, ich sei ein Poltergeist … Aber Dumbledore ist ein<br />

bemerkenswerter Mann; ich bin froh, ihm unter den jetzigen Umständen<br />

als Lehrer helfen zu dürfen.“ Müde lehnte sich McGonagall in seinem<br />

Stuhl <strong>zur</strong>ück.<br />

<strong>Harry</strong> musste sich zusammenreißen, um nicht allzu neugierig <strong>auf</strong><br />

seinen neu entdeckten Verwandten zu schauen.<br />

„Prof- äh, Jamie?“<br />

„Ja, <strong>Harry</strong>?“, fragte dieser lächelnd.<br />

<strong>Harry</strong> holte tief Luft. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll dazu, <strong>das</strong>s<br />

wir, nun ja, verwandt sind.“ In der Tat fühlte er sich seltsam dabei zu<br />

wissen, nicht mehr der Einzige aus der <strong>Potter</strong>-Familie zu sein, den er<br />

kannte. In seinem ganzen Leben hatte er nie erfahren, was eine Familie<br />

wirklich bedeutete, er hatte nie <strong>das</strong> Glück gehabt, mit einem Verwandten<br />

sprechen zu können, der ihn nicht gerade als zu groß gewordenes<br />

Unkraut betrachtete.<br />

„Natürlich ist <strong>das</strong> eine ungewohnte Situation für dich. Und auch für<br />

mich, selbst wenn ich stets wusste, wer du bist <strong>und</strong> was du machst. Aber<br />

150


deswegen muss sich nichts für dich ändern. Du brauchst dich mir<br />

gegenüber nicht verpflichtet fühlen – wir kennen uns kaum.“<br />

<strong>Harry</strong> nickte, irgendwie war <strong>das</strong> nun alles zuviel für ihn. Er wollte<br />

nur noch ins Bett.<br />

„Aber ich würde mich freuen, wenn wir Fre<strong>und</strong>e werden könnten –<br />

du wirst sehen, ich unterscheide mich ein wenig von den Lehrern, die du<br />

sonst noch kennst.“ Er grinste, wohl in Erwartung unausgesprochener<br />

Abenteuer. Schon wieder musste <strong>Harry</strong> Ron Recht geben; McGonagall<br />

wäre durchaus in der Lage dazu, anderen Leuten Streiche zu spielen,<br />

auch mit fast 40. Nein, ein Durchschnittslehrer war er definitiv nicht.<br />

„Gut, ich nehme an, <strong>das</strong>s wir beide kurz davor stehen,<br />

schnarchend <strong>auf</strong> diesen Tisch zu kippen, deswegen schlage ich vor, wir<br />

beenden den heutigen Abend.“ McGonagall ging zu Jerry hinüber, der in<br />

den letzten Minuten unruhig geworden war <strong>und</strong> fütterte ihn mit etwas,<br />

<strong>das</strong> aussah wie lebende Mäuse.<br />

„Wir können uns gerne an einem anderen Abend wieder treffen,<br />

wenn du ein wenig erzählen möchtest.“<br />

<strong>Harry</strong> erhob sich <strong>und</strong> stellte fest, <strong>das</strong>s seine Beine noch immer<br />

leicht zitterten. Er verabschiedete sich von seinem Lehrer <strong>und</strong> betrat die<br />

dunklen Gänge des Schlosses, die nun spätabends ausgestorben waren<br />

<strong>und</strong> ungewöhnlich friedlich <strong>und</strong> selbstvergessen wirkten.<br />

Obwohl er vor Erschöpfung tatsächlich beinahe stolperte, ging er<br />

nicht <strong>auf</strong> direktem Weg <strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum, sondern lief<br />

ohne <strong>auf</strong> den Weg zu achten noch einige Zeit in dunkle Ecken, über in<br />

alle Richtungen führende Treppen <strong>und</strong> durch etliche Geheimgänge, nur<br />

sich <strong>und</strong> seinen Gedanken überlassend. Als er endlich den Schlafsaal<br />

mit einem glücklicherweise schnarchenden Ron betrat, sich sofort <strong>auf</strong><br />

sein Bett legte <strong>und</strong> <strong>auf</strong> der Stelle einschlief, war es bereits weit nach<br />

Mitternacht.<br />

151


KAPITEL NEUN<br />

Besen <strong>und</strong> Armeen<br />

<strong>Harry</strong> versuchte sich am nächsten Tag nach besten Kräften zu<br />

drücken, um Hermine <strong>und</strong> besonders Ron nicht von dem Gespräch mit<br />

McGonagall erzählen zu müssen. Aber zwischen Verwandlung <strong>und</strong> der<br />

folgenden Doppelst<strong>und</strong>e Zauberkunst erwischten sie ihn in einer<br />

verlassenen Ecke des zweiten Stocks.<br />

„Los, sag schon, was ist gestern passiert?“, fragte Ron begierig<br />

<strong>und</strong> stellte sich <strong>Harry</strong> herausfordernd in den Weg, viel zu neugierig, um<br />

ihm Vorwürfe wegen seines ausweichenden Verhaltens zu machen.<br />

Hermine stand neben den beiden <strong>und</strong> schaute zwar nicht wirklich<br />

angetan von Rons Vorgehen, aber auch nicht missbilligend zu.<br />

„Wir haben nur ein wenig geredet“, brummte <strong>Harry</strong>. Rons<br />

unweigerliche Rechthaberei am Ende dieses Gespräches stimmte ihn<br />

jetzt schon missgelaunt.<br />

„Und über was?“ Ron rückte näher.<br />

„Über dies <strong>und</strong> jenes …“ <strong>Harry</strong> trat einen Schritt <strong>zur</strong>ück.<br />

„Zum Beispiel?“ Ron war nur noch eine Handbreit von seinem<br />

Gesicht entfernt.<br />

„Ron!“, rief Hermine nun tadelnd, aber da hatte <strong>Harry</strong> auch schon<br />

entnervt gerufen: „Dass er mein Großcousin ist!“<br />

Sofort fiel Stille über die drei. Rons Augen leuchteten, Hermine sah<br />

wenig überrascht, dafür umso besorgter aus.<br />

„Also stimmt es? Ich habe es ja gesagt, ihr seid euch zu ähnlich,<br />

als <strong>das</strong>s es Zufall sein könnte!“, rief Ron triumphierend.<br />

„Ja toll, du hattest Recht, bist du nun zufrieden?“, blaffte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

drückte sich an den beiden vorbei in Richtung Treppe.<br />

„He, soll <strong>das</strong> heißen, <strong>das</strong>s du nicht willst, <strong>das</strong>s er dein Verwandter<br />

ist?“, entfuhr es Ron in einem derart verblüfften Ton, <strong>das</strong>s sich <strong>Harry</strong><br />

unwillkürlich umdrehte. Da stand sein Fre<strong>und</strong>, ein Bein noch in der Luft<br />

<strong>und</strong> blickte ihn aus großen braunen Augen vollkommen überrumpelt an.<br />

152


In dem Moment wurde <strong>Harry</strong> plötzlich bewusst, <strong>das</strong>s Ron sich die ganze<br />

Zeit gewünscht hatte, McGonagall wäre mit ihm verwandt, damit <strong>Harry</strong><br />

endlich eine Vertrauensperson hatte … Jemanden, der mit ihm<br />

verb<strong>und</strong>en war, einen Erwachsenen, mit dem er reden konnte,<br />

besonders jetzt, da Sirius tot war. Ron, der sein ganzes Leben mit<br />

sieben Geschwistern <strong>und</strong> zwei vorbildlichen Eltern hatte verbringen<br />

dürfen, wollte nichts anderes als <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> zumindest zum Teil fand,<br />

was er sein Leben lang vermisst hatte: Eine Familie. Es ging ihm<br />

überhaupt nicht um sensationslüsterne Gerüchte.<br />

<strong>Harry</strong> wurde <strong>auf</strong> der Stelle rot <strong>und</strong> stammelte: „Nein, <strong>das</strong> wollte ich<br />

nicht sagen … es ist nur so, ich kenne McGonagall kaum.“ Ich nenne ihn<br />

ja nicht einmal bei seinem Vornamen, dachte er. „Alles kam so plötzlich.“<br />

„Ich weiß schon, was du meinst, Mann“, nickte Ron verstehend <strong>und</strong><br />

kniff die Augen zusammen. „Das wäre wie wenn Snape sich plötzlich als<br />

mein vergessener Onkel herausstellen würde. Ja, ich denke, <strong>das</strong> wäre<br />

eher ein Schock als eine freudige Überraschung.“<br />

Die Spannung zwischen ihnen fiel in sich zusammen, als erst<br />

Hermine loslachte <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron gleich dar<strong>auf</strong> einfielen.<br />

Die zwei St<strong>und</strong>en Pflege magischer Geschöpfe im Anschluss<br />

stellten sich als großer Spaß heraus, Hagrid hatte eingesehen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

Graphorn <strong>doc</strong>h kein geeignetes Unterrichtsexemplar darstellte <strong>und</strong> ließ<br />

die Schüler stattdessen ein Quiz lösen, deren Sieger von den<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben der nächsten St<strong>und</strong>e (ein Wiederholungskapitel zum<br />

ZAG-Stoff zu lesen) befreit waren. Niemanden überraschte es, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

Team mit <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine gewann – <strong>und</strong> zwar, weil es alle<br />

Fragen richtig beantwortete, was Hagrid für den Rest des Tages zum<br />

Strahlen brachte.<br />

Ähnlich einfach <strong>und</strong> reibungslos verlief der Rest der Woche. In<br />

Verwandlung quälte sie Professor McGonagall zwar weiterhin durch sehr<br />

schweren Stoff, <strong>und</strong> Snape triezte <strong>Harry</strong> am Freitag mehr denn je, aber<br />

Verteidigung einen Tag zuvor machte ihm ungemein Spaß – besonders,<br />

da Jamie McGonagall ihn oft um seine Meinung zu Unterrichtsfragen bat.<br />

Schneller als er es erwartet hatte stand <strong>das</strong> Wochenende vor der Tür<br />

<strong>und</strong> damit die Auswahlspiele im Quidditch.<br />

So kam er am Samstag in Begleitung von Ron, mit dem er sich seit<br />

der Ausräumung des Missverständnisses um seinen Verteidigungslehrer<br />

bestens verstand, <strong>und</strong> Hermine in die große Halle <strong>und</strong> ward sofort von<br />

einer Traube aus Gryffindors umringt.<br />

"Du wirst mich <strong>doc</strong>h sicher in die Mannschaft wählen, oder,<br />

<strong>Harry</strong>?!"<br />

"Sieh dir den an, er ist ein Nichtskönner!"<br />

153


"Es gibt gar keine Zweifel, ich gehöre ins Team."<br />

Überall um sich herum hörte <strong>Harry</strong> die Rufe <strong>auf</strong>geregter<br />

Hausgenossen, die unbedingt in <strong>das</strong> Quidditch-Team der Gryffindors<br />

wollten. Seit er in seinem Hogwartsbrief vollkommen überrascht erfahren<br />

hatte, <strong>das</strong>s ausgerechnet er Kapitän werden würde, hatte er sich oft<br />

genug den Kopf über die Auswahl zerbrochen. Wen würde er ins Team<br />

wählen? Sicher erwartete Ron, <strong>das</strong>s er den <strong>Tor</strong>wart spielte, aber was,<br />

wen es einen gab, der besser war?<br />

Alle Mitschüler abwehrend ließ er sich schnell <strong>auf</strong> der Bank nieder<br />

<strong>und</strong> sch<strong>auf</strong>elte sich seinen Teller voller Rührei.<br />

„Mach dir keine Sorgen, du wirst ein guter Trainer sein“, versuchte<br />

ihn Hermine zu beruhigen, bevor sie hinter „Verwandlung für<br />

Perfektionisten“ verschwand. <strong>Harry</strong> brummte etwas vor sich hin.<br />

„Keine Angst, ich kann dir bei der Auswahl helfen“, meinte Ron<br />

begeistert <strong>und</strong> löffelte derweil einen Berg von Müsli. „Ginny zum Beispiel<br />

kannst du als Jägerin einsetzen, sie ist zwar als Sucher besser, aber da<br />

spielst du ja. Und da Fred <strong>und</strong> George weg sind, benötigen wir neue<br />

Treiber. Was hälst du von Michael Fadden aus der dritten Klasse, Lee<br />

hat ihn in den Ferien trainieren sehen <strong>und</strong> meint, er sei wirklich gut. Oder<br />

–“<br />

„Ron“, seufzte Hermine hinter ihrem Buch hervor.<br />

„Wie wäre es mit Dean als Jäger, er hat auch einige Erfahrung –“<br />

„Ron Weasley!“<br />

„Allerdings wäre es auch möglich, <strong>das</strong>s Katie –“<br />

Hermine knallte ihr Buch zu <strong>und</strong> sah warnend zu Ron hinüber.<br />

„Was ist denn, Hermine, überlass uns die Auswahl, ausgerechnet<br />

du mit deinen fachmännischen Rat wirst kaum eine Hilfe sein.“<br />

„Oh <strong>doc</strong>h“, meinte Hermine spitz <strong>und</strong> lächelte unheilvoll. „Du hast<br />

nämlich vergessen, <strong>das</strong>s dieses Jahr nicht mehr in Hausmannschaften<br />

gespielt wird.“<br />

„Ja stimmt“, rief <strong>Harry</strong> vollkommen überrumpelt. Was hatte sich<br />

Dumbledore nur dabei gedacht? Wie sollte ein Quidditch-Team<br />

aussehen, <strong>das</strong> nicht nur aus Gryffindors bestand? Musste er mit Malfoy<br />

zusammen fliegen? Sein Magen drehte sich um.<br />

Ron machte eine zutiefst schockierte Miene. „Das hatte ich<br />

vergessen!“, stöhnte er <strong>und</strong> schaute Unheil ahnend zum Lehrertisch<br />

hoch. „Sicher steckt dahinter wieder so ein unsinniger Versuch, wie war<br />

<strong>das</strong> noch mal, die Einheit der Schule zu stärken oder so …“<br />

„Und, was wäre dabei?“, blaffte Hermine. „Es wird Zeit, <strong>das</strong>s<br />

diesem Häuserquatsch ein Ende gesetzt wird.“<br />

Bevor Ron wütend <strong>zur</strong>ück schreien konnte, erhob sich <strong>zur</strong><br />

Erleichterung <strong>Harry</strong>s Dumbledore von seinem Platz. In der großen Halle<br />

kehrte Stille ein.<br />

154


„Wie ihr wisst, finden heute die Auswahlspiele zu dem Quidditch-<br />

Turnier statt, <strong>und</strong> zwar werden sich alle vier Häuser im L<strong>auf</strong>e des Tages<br />

<strong>auf</strong> dem Feld einfinden. Allerdings – “ Er machte eine kurze Pause,<br />

während derer alle Schüler gespannt zu ihm hoch sahen, sogar Malfoy<br />

schien beim Thema Quidditch nichts verpassen zu wollen – „Nicht, um<br />

sich wie üblich um einen Platz in eurem Hausteam zu bewerben. Dieses<br />

Jahr haben wir eine Neuerung im Regelwerk vorgenommen: Die<br />

traditionellen Häusermannschaften werden abgeschafft, <strong>und</strong> stattdessen<br />

werdet ihr vier Teams bilden, die die besten Spieler Hogwarts vereinen<br />

sollen – wobei in jedem Team jedes Haus vertreten sein muss.“<br />

Empörte Blicke <strong>und</strong> entrüstetes Schn<strong>auf</strong>en waren die Antwort.<br />

Malfoy sah aus, als hätte man Slytherin selbst verboten, so entsetzt<br />

starrte er hin<strong>auf</strong> zum Lehrertisch <strong>und</strong> schien inständig zu hoffen,<br />

Dumbledore mache nur einen Scherz.<br />

„Ich weiß, <strong>das</strong>s euch eure Häuser am Herzen liegen <strong>und</strong> ihr<br />

vermutlich lieber in reinen Häuserteams spielen würdet. Aber die<br />

Lehrerschaft, <strong>und</strong> ich stimme mit ihr überein, bezweckt mit dieser<br />

Maßnahme eine Stärkung der innergemeinschaftlichen Beziehungen<br />

zwischen den Schülern Hogwarts’, unabhängig von der<br />

Häuserzugehörigkeit.<br />

Um die Auswahl einfacher zu machen, werden die Häuserkapitäne<br />

auch die Kapitäne der vier Hogwartsteams werden – also <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong><br />

von Gryffindor, Zarachias Smith von den Hufflepuffs, Cho Chang von<br />

Ravenclaw <strong>und</strong> Draco Malfoy von Slytherin. Jede Mannschaft wird zwei<br />

Spieler jeden Hauses beinhalten, mit jeweils einem Ersatzspieler. Jeder<br />

von euch, der an den Auswahlspielen teilnehmen möchte, sucht sich ein<br />

Team oder mehrere, unter dessen Kapitän er sich bewerben will <strong>und</strong><br />

erscheint zu dem jeweiligen Auswahltermin, der am Schwarzen Brett<br />

aushängt."<br />

„Zwei aus jedem Haus!“, stieß Katie hervor, die <strong>Harry</strong> gegenüber<br />

saß. Sie sah traurig aus. „Ich dachte, ich könnte in meinem letzten Jahr<br />

noch einmal die Hausmeisterschaft mit Gryffindor gewinnen“, meinte sie<br />

betrübt. „Aber so muss ich ein anderes Team suchen. Dir macht es <strong>doc</strong>h<br />

nichts aus, wenn ich mich bei dir bewerbe, <strong>Harry</strong>?“<br />

Es machte ihm durchaus etwas aus, da Ron ihn die ganze Zeit<br />

schon mit Vorschlägen zubrabbelte, wen sie aus den anderen Häusern<br />

in ihre Mannschaft holen könnten.<br />

„Mm, nein, aber ich weiß noch nicht, wie <strong>das</strong> Team aussehen soll“,<br />

relativierte er.<br />

„Vermutlich muss ich es bei allen anderen Kapitänen auch<br />

versuchen, dann ist die Chance größer, <strong>das</strong>s ich genommen werde –<br />

außer bei diesem Malfoy, lieber gebe ich Quidditch <strong>auf</strong> als <strong>das</strong>s ich unter<br />

einem Slytherin spiele.“<br />

Ron grinste diebisch.<br />

155


„Was?“, fragte ihn <strong>Harry</strong>.<br />

„Überleg <strong>doc</strong>h mal, wenn jeder so denkt wie Katie, wird Malfoy gar<br />

kein Team zusammenbekommen!“<br />

Hermine schüttelte den Kopf. „Irgendjemand ist immer so scharf<br />

dar<strong>auf</strong>, um den Pokal zu spielen, <strong>das</strong>s ihn auch Malfoy nicht<br />

abschrecken kann“, mutmaßte sie.<br />

Sie sollte Recht behalten.<br />

Als sie am Nachmittag hinunter zum Stadion liefen, die stechende<br />

Sonne <strong>auf</strong> ihren Gesichtern <strong>und</strong> zumindest <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron mit ihren<br />

beiden Besen über der Schulter, sahen sie schon von weitem eine große<br />

Schülermenge, die sich dem Spielfeld näherte <strong>und</strong> zum Großteil in<br />

Richtung Tribüne steuerte. Zuerst standen die Auswahlspiele für <strong>das</strong><br />

Slytherin-Team an, anschließend war <strong>Harry</strong> an der Reihe. Zusammen<br />

mit Luna, Neville <strong>und</strong> Ernie suchten sie sich gute Plätze, um Malfoy bei<br />

der Auswahl seiner Spieler zuzusehen. Der Slytherin stand in seinem<br />

grün-silbern funkelnden Quidditch-Umhang in der Sonne <strong>und</strong> musterte<br />

griesgrämig die Schüler, die sich um ihn versammelten. Zu Recht,<br />

dachte <strong>Harry</strong>, die meisten davon waren Anfänger oder für ihre sonstigen<br />

Hausteams nicht berücksichtigte Ersatzspieler, die anscheinend so<br />

verzweifelt endlich in ein Team kommen wollten, <strong>das</strong>s sie sich selbst bei<br />

einem der allseits ungeliebten Slyterhins bewarben. Wirklich gute waren<br />

jedenfalls nicht dabei. Neben Malfoy lungerte Crabbe herum, der wie<br />

üblich wie ein aus dem Zoo ausgebrochener Gorilla wirkte. Anscheinend<br />

war er schon zum zweiten Slytherin-Spieler ernannt worden.<br />

"So werden die keine Chance haben", meinte Ron fachmännisch.<br />

"Wen soll er denn als Jäger einsetzen? Die einzigen, die überhaupt<br />

schon mal diese Position gespielt haben, sind dieser Viertklässler aus<br />

Ravenclaw“ – er zeigte <strong>auf</strong> einen großen, blonden Jungen, der die<br />

anderen Bewerber mit überheblichem Blick begutachtete – "<strong>und</strong><br />

Demelza." <strong>Harry</strong> schaute zu dem stämmigen, leicht mürrisch drein<br />

blickenden Mädchen, <strong>das</strong> ein Jahr unter ihnen in Gryffindor war. "Und<br />

selbst <strong>das</strong> nur im Training ..."<br />

Auch Malfoy musste <strong>das</strong> <strong>auf</strong>gefallen sein, denn er holte die beiden<br />

mit einem Gesicht, als hätte man ihm Bobutubler-Eiter unter die Nase<br />

gehalten, zu sich. Dann wies er drei Schüler, darunter zwei ungemein<br />

unmotiviert aussehende Hufflepuffs <strong>und</strong> einen Ravenclaw-Zeitklässer an,<br />

sich nacheinander vor drei der Ringe zu begeben, die in weiter Höhe<br />

über dem Spielfeld angebracht waren. Dort wollte er sie anscheinend <strong>auf</strong><br />

ihre <strong>Tor</strong>hüter-Qualitäten hin testen. Der erste brauchte fast zehn<br />

Sek<strong>und</strong>en, bis er dort angelangt war, weil sein Besen ein sehr altes<br />

Modell zu sein schien, welches beim Fliegen gefährlich hin- <strong>und</strong><br />

herschwankte. Der zweite kicherte die ganze Zeit mit einem seiner<br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> stieß sich erst nach der dritten Aufforderung Malfoys vom<br />

156


Boden ab, während der Zweitklässler bereits nach zwei Meter Flug vor<br />

lauter Aufregung von seinem Besen fiel.<br />

Ron schüttelte sich vor unterdrücktem Gelächter, <strong>und</strong> als die<br />

beiden <strong>Tor</strong>hüter-Anwärter, die es tatsächlich bis vor die Ringe geschafft<br />

hatten, gerade einmal je einen von fünf Probeschüssen hielten (<strong>und</strong><br />

einer schaffte es auch nur, weil Malfoy aus Versehen weit am <strong>Tor</strong><br />

vorbeigeschossen hatte), liefen ihm Lachtränen übers Gesicht. Mit einer<br />

mordlüsternen Miene bestimmte Malfoy einen dieser Hufflepuffs<br />

willkürlich zu seinem Hüter. Nicht viel mehr Glück hatte er mit seinen<br />

Treibern: Nachdem es nur zwei der sechs Kandidaten für diese Position<br />

geschafft hatten, länger als eine Minute verletzungsfrei den beiden<br />

Klatschern auszuweichen (nur einem gelang es in der Tat, erfolgreich mit<br />

seinem Schläger zu arbeiten), wies Malfoy mit nur noch hängendem<br />

Kopf wortlos hinter sich, <strong>und</strong> die beiden, ein bulliger Siebtklässler aus<br />

Hufflepuff <strong>und</strong> ein wendiger, kleiner Kerl aus dem dritten Gryffindor-<br />

Jahrgang, den <strong>Harry</strong> im Gemeinschaftsraum manchmal mit Dean<br />

Zauberschach spielen sah, gesellten sich zu den anderen. Zum<br />

Abschluss fragte Malfoy den Rest der Anwesenden, wer denn noch<br />

Ravenclaw sei, <strong>und</strong> als sich mit zittriger Hand der vom Besen gefallene<br />

Möchtegern-Hüter aus der zweiten Klasse als Einziger meldete, sank<br />

Malfoy entnervt in sich zusammen. Mit strahlendem Blick hüpfte der<br />

Kleine zum Rest des Teams, um dort seinen Platz als Ersatzspieler<br />

einzunehmen. Crabbe sollte somit die Position des dritten Jägers spielen<br />

– auch wenn <strong>Harry</strong> ihn dafür völlig ungeeignet hielt.<br />

„Ha, <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Team will ich zuerst treffen!“, jubelte Ron neben ihm<br />

<strong>und</strong> pfiff Malfoy laut <strong>auf</strong>, der ihnen einen vor Hass dunklen Blick zuwarf.<br />

„Hör <strong>auf</strong> damit, du kennst Malfoy. Wer weiß, was für fiese Sachen<br />

er sich einfallen lässt – es gibt eine Menge Zaubertränke, die er euch<br />

irgendwie unterjubeln könnte“, warnte Hermine, die den Slytherin mit<br />

einem argwöhnischen Blick verfolgte, wie er alleine <strong>zur</strong>ück zum Schloss<br />

trottete.<br />

„Dann müssen wir eben <strong>auf</strong>passen“, meinte <strong>Harry</strong> beim Aufstehen<br />

<strong>und</strong> begab sich nun <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Spielfeld, wo sich diejenigen Schüler<br />

einfanden, welche in seinem Team spielen wollten. Es waren viele. Er<br />

sah Katie, Dean, Seamus, Andrew Kirk, McLaggen, Peakes, die<br />

Creevey-Brüder <strong>und</strong> natürlich Ginny aus Gryffindor, aber auch die<br />

Hufflepuffs Ernie <strong>und</strong> Justin, dazu Michael Corner <strong>und</strong> Anthony<br />

Goldstein aus Ravenclaw, sogar zwei Slytherins waren gekommen,<br />

einmal Blaise Zabini <strong>und</strong> dann ein Fünftklässler namens Vaisey, mit dem<br />

<strong>Harry</strong> dann <strong>und</strong> wann trotz seiner Hauszugehörigkeit ein Wort<br />

gewechselt hatte. Zudem waren drei Spieler anwesend, die er nur vom<br />

Sehen kannte.<br />

157


„In Ordnung“, nuschelte er ein wenig nervös. Was sagte ein<br />

Kapitän zu seinen Spielern?<br />

„Ich freue mich, <strong>das</strong>s so viele von euch in meiner Mannschaft<br />

spielen wollen. Allerdings wisst ihr, <strong>das</strong>s ich nur sieben von euch<br />

tatsächlich nehmen kann.“ Erwartungsvolle Gesichter schauten ihn nach<br />

wie vor neugierig an.<br />

„Äh, dann beginnen wir mal.“ Er sah prüfend in die R<strong>und</strong>e. „Wer<br />

von euch möchte als Hüter spielen?“<br />

Nur zwei Hände hoben sich, die von Ron <strong>und</strong> McLaggen, was<br />

<strong>Harry</strong> unsäglich erleichterte. Damit musste er seinen Hüter aus<br />

Gryffindor nehmen <strong>und</strong> brauchte Ginny <strong>und</strong> Katie keine langen<br />

Erklärungen für ihre Nichtberücksichtigung geben – genauso wie seinen<br />

anderen Hausgenossen. Diese machten dann auch ein betretenes<br />

Gesicht, begaben sich aber anstandslos zu den Tribünen, um der<br />

Auswahl weiter zuzusehen.<br />

„Ihr findet ganz sicher einen Platz bei Cho oder Smith“, tröstete<br />

<strong>Harry</strong> Ginny <strong>und</strong> Katie, als sie an ihm vorbeigingen.<br />

Ginny lächelte. „Klar, ich habe sie schon gefragt – sie würden uns<br />

beide sofort nehmen.“<br />

Sie kam näher an ihn heran <strong>und</strong> begann zu flüstern, während <strong>Harry</strong><br />

plötzlich nichts weiter wahrnahm als <strong>das</strong> Rot ihrer Haare <strong>und</strong> ihren<br />

Geruch. Beinahe wäre ihm, völlig verwirrt, entgangen, was sie ihm sagte.<br />

„Halte dich bloß von McLaggen fern, er ist ein Idiot.“<br />

Sie schwang herum, ihr Umhang glänzte in der Sommersonne, <strong>und</strong><br />

<strong>Harry</strong> schaute ihr stumm nach.<br />

Was hatte sie ihm sagen wollen?<br />

Alles, was er noch wusste, war, <strong>das</strong>s sie Gedanken in ihm<br />

wachrief, die ihm äußerst deplaziert vorkamen. Immerhin war sie Rons<br />

Schwester …<br />

Ron.<br />

"Hey, sollen wir jetzt gegeneinander antreten?", hörte er ihn<br />

lautstark neben sich <strong>und</strong> drehte sich verdattert um.<br />

"Ron .. äh, ja, vermutlich", stotterte er <strong>und</strong> sah seltsamerweise<br />

immer noch Ginnys Lächeln vor sich.<br />

Sein Fre<strong>und</strong> schüttelte den Kopf <strong>und</strong> nuschelte etwas wie "Nicht<br />

ganz bei sich", bevor er sich zu Hermine umdrehte. "Sag mal, könntest<br />

du diesen McLaggen mit einem Verwechslungszauber belegen?", fragte<br />

er sie unsicher.<br />

Hermine sprang empört einige fußbreit in die Höhe.<br />

"Ronald, du spinnst!", hörte <strong>Harry</strong> sie am Rande seines<br />

Bewusstseins zischen. "So etwas würde ich nie tun!"<br />

Ginnys Art zu L<strong>auf</strong>en war irgendwie außergewöhnlich. Wieso war<br />

ihm <strong>das</strong> nie <strong>auf</strong>gefallen?<br />

158


Und wie sie sprach ... so anders als jeder, den er kannte, es schien<br />

ihm, als würde sie die Worte zum Klingen bringen. Sicher empfand nicht<br />

nur er so ... Diese Vorstellung wiederum erweckte unerklärlichen Neid in<br />

ihm.<br />

"Geht es endlich los?", was <strong>das</strong> nächste, was in sein Bewusstsein<br />

drang.<br />

McLaggen stand vor ihm <strong>und</strong> schaute ihn mit argwöhnischem Blick<br />

prüfend an.<br />

"Ja", stammelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> riss sich zusammen.<br />

Er folgte den beiden Hüteranwärtern, wie sie zu den Ringen flogen.<br />

Begeistert spürte er die Luft, die ihm ins Gesicht peitschte. Tief unter<br />

sich sah er die wartenden Bewerber <strong>und</strong> rief ihnen zu: "Wer als Jäger<br />

spielen möchte, kommt bitte zu mir!"<br />

Einige Schüler samt Besen erhoben sich tief unter ihm ebenfalls in<br />

die Luft.<br />

"Ihr werft jeweils zwei Mal gegen Ron <strong>und</strong> Cormack", ordnete er an<br />

<strong>und</strong> schaute den fünf Anwärtern, darunter den beiden Slytherin Vasey<br />

<strong>und</strong> Zabini sowie den beiden Creevey-Brüder zu, wie sie Ron gegenüber<br />

Aufstellung nahmen, der sich zuerst zwischen den Ringen postierte.<br />

Sie schossen alle nicht schlecht, besonders Collin Creevey<br />

überzeugte <strong>Harry</strong> mit einer ungeahnten Flugsicherheit <strong>und</strong> einem Treffer,<br />

während Ron acht der zehn Schuss hielt. Einen Quaffel drosch er von<br />

den Ringen weg, indem er sich <strong>auf</strong> seinem Besen abstützte <strong>und</strong> ihn mit<br />

beiden Beinen wegstieß. McLaggen gelang es, nur sechs Schüsse zu<br />

parieren, wor<strong>auf</strong>hin <strong>Harry</strong> ihn mit insgeheimer Freude aus dem Team<br />

sortierte. Mit mürrischer Miene stapfte dieser fluchend vom Feld. Als<br />

Jäger wählte er den Slytherin Vaisy <strong>und</strong> einen ihm dem Namen nach<br />

unbekannten Ravenclaw.<br />

"Wer bist du?", fragte er den etwas jüngeren Jäger.<br />

"Terry Freeman", plapperte dieser, vollkommen <strong>auf</strong>geregt, im<br />

Team von <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> angenommen zu sein.<br />

"Klasse, du wirst in Zukunft bei uns spielen!", erklärte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

überlegte, wer der dritte Jäger sein sollte. Eigentlich konnte er nur Zabini<br />

nehmen, denn die Creevey-Brüder schieden aus, auch wenn sie aus<br />

Spaß mitgemacht hatten.<br />

Unmutig schaute er den Slytherin an.<br />

"Gut, du bist auch dabei", murrte <strong>Harry</strong>, während Zabini mit einem<br />

unangenehm hochmütigen Grinsen von dannen ging.<br />

Seine Treiber wurden Ernie <strong>und</strong> Justin, die sich als überraschend<br />

fähig im Umgang mit den Klatschern erwiesen. Paul Goldstein von den<br />

Ravenclaws, welcher im Gr<strong>und</strong>e <strong>auf</strong> drei Positionen gleichzeitig recht<br />

passabel spielen konnte, wurde zum Ersatzspieler ernannt.<br />

Nach der Auswahl legten sich die drei unter die Bäume am See<br />

<strong>und</strong> schauten träge einigen Zweitklässlern zu, die den Riesenkraken<br />

159


ärgerten, bis einer von ihnen gepackt <strong>und</strong> ins Wasser geschleift wurde.<br />

Ron schwatzte die ganze Zeit von seinen gehaltenen Schüssen,<br />

während Hermine ein seliges Grinsen vor sich hertrug <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> mit<br />

Genugtuung an seine wirklich gute Mannschaft dachte. Der<br />

Riesenkraken hob den patschnassen Schüler wieder an Land. Hermine<br />

lief los <strong>und</strong> trocknete ihn mit einem Schwung ihres Zauberstabes.<br />

"Dieses Jahr werden wir Sieger, <strong>das</strong> spüre ich!", rief Ron<br />

übermütig, als sie <strong>auf</strong> dem Weg <strong>zur</strong>ück ins Schloss die Eichentür<br />

durchschritten. Im Schatten der großen Türflügel erwartete sie Draco<br />

Malfoy.<br />

"Na, zufrieden mit deinen Spielern?", fauchte er <strong>und</strong> fixierte <strong>Harry</strong>,<br />

als sei der ein besonders hässlicher Klatscher.<br />

"Merke dir eins, <strong>Potter</strong>: Im Quidditch magst du mich vielleicht<br />

schlagen, aber mit deinem dummen Orden kommst du zu spät!" Er<br />

lachte höhnisch <strong>auf</strong>. "Der dunkle Lord wird sich nicht <strong>auf</strong>halten lassen.<br />

Früher oder später werde ich sein verdiensteter Gefolgsmann sein <strong>und</strong><br />

du – tot."<br />

Er warf ihm ein fieses Grinsen zu <strong>und</strong> stolzierte in Richtung des<br />

Slytherin-Gemeinschaftsraumes von dannen.<br />

Ron stierte ihm nach.<br />

"Was war <strong>das</strong> denn?", brachte er hervor.<br />

"Ich habe euch <strong>doc</strong>h gesagt, <strong>das</strong>s Malfoy ein Todesser ist!", meinte<br />

<strong>Harry</strong>, genervt, weil die beiden seine Vermutung bisher immer<br />

abgestritten hatten.<br />

"Ich weiß nicht", meinte Hermine stirnrunzelnd. "Für mich klingt es<br />

eher so, als wolle er sich wichtig machen."<br />

<strong>Harry</strong> konnte es nicht fassen.<br />

"Sein ergebenster Diener? Wie sollte man <strong>das</strong> interpretieren außer<br />

mit: "Sein ergebenster Diener?!"<br />

Hermine schüttelte nachdenklich den Kopf, während die drei<br />

<strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum gingen.<br />

"Malfoy kommt einfach nicht damit <strong>zur</strong>echt, <strong>das</strong>s sein Vater nicht<br />

mehr da ist, um im Hintergr<strong>und</strong> die Fäden zu ziehen. Selbst die<br />

Slytherins wenden sich von ihm ab, <strong>und</strong> dieser Machverlust lässt ihn<br />

verzweifeln. Wäre er nicht zum Quidditch-Kapitän ernannt worden, hätte<br />

ihn sein Haus bestimmt nicht mehr mitspielen lassen – jetzt, wo ihn<br />

niemand mehr mit neuen Besen eink<strong>auf</strong>t, versteht ihr?"<br />

"Aber deswegen behaupten, er wäre Todesser? Warum sollte <strong>das</strong><br />

nicht stimmen?", fragte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>gebracht. Wieso hielten <strong>das</strong> alle für so<br />

unmöglich? Sie kannten Malfoy <strong>doc</strong>h nun seit vielen Jahren.<br />

"Weil Du-Weißt-Schon-Wer <strong>doc</strong>h kein – nun ja, Kind unter seinen<br />

Gefolgsleuten haben will", meinte Ron zögernd. "Ich jedenfalls kann es<br />

mir nicht vorstellen."<br />

160


"Na schön", schnaubte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> trat genervt durch <strong>das</strong> Portrait,<br />

nachdem Hermine "Expelliamus" gerufen hatte. "Aber w<strong>und</strong>ert euch<br />

nicht, falls wir <strong>das</strong> nächste Mal <strong>auf</strong> Voldemort treffen <strong>und</strong> Malfoy an<br />

seiner Seite ist."<br />

"Wer ist an wessen Seite?", hörte er Ginny neugierig fragen, als sie<br />

sich in ihre drei Lieblingssessel am Kamin gesetzt hatten.<br />

"Niemand", log <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> versuchte, nicht allzu angestrengt in ihre<br />

Richtung zu sehen.<br />

Zu sehr verwirrte ihn noch <strong>das</strong> Gefühl, <strong>das</strong>s er heute bei ihrem<br />

Anblick <strong>auf</strong> dem Quidditchfeld gehabt hatte. Um <strong>das</strong> Thema zu wechseln<br />

fragte er:<br />

"Wie ist es bei eurer Auswahl gel<strong>auf</strong>en?"<br />

"Ganz gut", antwortete Ginny <strong>und</strong> schaute zu Katie hinüber. "Smith<br />

hat uns beide als Jäger für sein Team genommen. Du weißt ja, <strong>das</strong>s er<br />

ein Kotzbrocken ist, aber als Kapitän scheint er zumindest etwas von<br />

Quidditch zu verstehen. Auf jeden Fall bin ich froh, <strong>das</strong>s Ron euer Hüter<br />

ist."<br />

"Ich auch", meinte er leise, so <strong>das</strong>s Ron nichts mitbekam. <strong>Harry</strong><br />

wollte sich gar nicht erst ausmalen, wie sein Fre<strong>und</strong> reagiert hätte, wenn<br />

er statt ihm McLaggen genommen hätte.<br />

Den Rest des Abends verbrachten sie damit, einige ihrer<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben zu erledigen, die sich mittlerweile zu einem recht<br />

beeindruckenden Berg <strong>auf</strong>geschichtet hatten. Besonders Verwandlung<br />

<strong>und</strong> Zaubertränke stellten sie vor einige Rätsel, die sie vor allem dank<br />

Hermines Erbarmen aber letztendlich <strong>doc</strong>h lösten. Bis er in den<br />

Schlafsaal ging, bemühte sich <strong>Harry</strong> so wenig wie möglich zu Ginny zu<br />

schauen, konnte aber ein ums andere Mal nicht anders, als ihr verträumt<br />

dabei zuzusehen, wie sie mit Neville Schach spielte oder in einem Buch<br />

las. Rons fragender Blick riss ihn aber jedes Mal wieder aus den<br />

Gedanken.<br />

Am nächsten Tag nach dem Abendessen trafen sich einige DA-<br />

Mitglieder bereits in der großen Halle, was <strong>Harry</strong> aber missfiel.<br />

"Wollt ihr, <strong>das</strong>s sämtliche Slytherins gleich mitbekommen, <strong>das</strong>s wir<br />

uns wieder treffen? Wir sehen uns in zehn Minuten im Raum der<br />

Wünsche, aber geht nicht alle <strong>auf</strong> einmal dorthin!"<br />

In Abständen von ein oder zwei Minuten verließen dar<strong>auf</strong>hin die<br />

Schüler zu zweit oder dritt die Halle. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine begaben<br />

sich stattdessen zum Lehrertisch, um McGonagall zu holen.<br />

Auf dem Weg zum Lehrertisch sahen sie Snape <strong>und</strong> Malfoy am<br />

Slytherin-Tisch sitzen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt <strong>und</strong><br />

schienen zu flüstern.<br />

161


"Hecken vermutlich neue Pläne für Voldemort aus", knurrte <strong>Harry</strong>,<br />

wurde aber von Hermine in die Seite gestoßen.<br />

"Das kannst du nicht wissen! Vermutlich diskutieren sie Malfoys<br />

Zaubertrankarbeit – er hat <strong>auf</strong> seinen Trank der lebenden Toten nur ein<br />

"S" bekommen."<br />

Wenig überzeugt näherte er sich jetzt ihrem Verteidigungslehrer,<br />

der bereits fertig gegessen hatte <strong>und</strong> nun seinen Teller beiseite schob.<br />

"Na dann zeigt mir mal euren geheimen Raum, ich bin schon<br />

gespannt." Er grinste in Erwartung <strong>auf</strong> eine Ecke Hogwarts, die er noch<br />

nicht kannte <strong>und</strong> sprang beschwingt von seinem Stuhl <strong>auf</strong>. Dann je<strong>doc</strong>h<br />

fiel sein Blick <strong>auf</strong> Franbery, der sich ebenfalls erhoben hatte, <strong>und</strong> sein<br />

Ausdruck verdüsterte sich unmerklich.<br />

"Ach ja, Rick möchte auch mitkommen. Ist <strong>das</strong> ein Problem?" Er<br />

sah die drei entschuldigend an, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> brauchte nicht zu raten, <strong>das</strong>s<br />

er seinen seltsamen Assistenten am liebsten hier gelassen hätte. Er<br />

übrigens auch, dennoch versicherte er schnell: "Nein, ist schon in<br />

Ordnung."<br />

„Fantastisch, <strong>das</strong> ist eine gute Gelegenheit, um die Arbeitsweise<br />

durchschnittlicher Hogwarts-Schüler einmal kennen zu lernen!“, steuerte<br />

Franbery begeistert bei <strong>und</strong> begann, mit seinem Zauberstab zu wedeln.<br />

„Wenn ich mich nicht täusche, besitzen Zauberer <strong>und</strong> Hexen in diesem<br />

Land eine Menge Nachholbedarf, was die Eleganz des Zauberns<br />

anbelangt. Ich für meinen Teil werde mich dafür stark machen, eure<br />

Übungsgruppe in eine Arbeitsgemeinschaft <strong>zur</strong> Ausbildung eurer<br />

ästhetischen Fähigkeiten umzustrukturieren." Strahlend tänzelte er vor<br />

dem Lehrertisch herum, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> musste wieder an Loonas Worte<br />

denken.<br />

"Die DA ist keine Übungsgruppe, sondern dient der Verteidigung<br />

gegen die dunklen Künste – was übrigens auch Ihr Unterrichtsfach ist",<br />

ließ er sich nicht nehmen zu sagen. Ron machte hinter Franberys<br />

Rücken eine kaum zu missverstehende Bewegung, die Hermine ein<br />

Stirnrunzeln ins Gesicht trieb.<br />

Franbery hielt inne <strong>und</strong> sah ihn leicht erstaunt an. "Aber darum<br />

geht es ja – eine Weiterbildung der Schönheit der Magie selbst hilft, die<br />

Verteidigungskünste zu perfektionieren!"<br />

Ron konnte ein Schnauben nicht <strong>zur</strong>ückhalten, <strong>und</strong> wohl jeder,<br />

McGonagall eingeschlossen, hatte Franberys Rückwärtssalto aus dem<br />

Unterricht vor Augen.<br />

"Genug der Pläne, Rick, lass uns endlich gehen", beschwichtigte<br />

McGonagall <strong>und</strong> trat den anderen voran nun aus der Halle, nicht,<br />

nachdem er wieder einmal einen vor Abscheu blitzenden Blick seiner<br />

Tante eingefangen hatte.<br />

Auf der Marmortreppe trafen sie Snape.<br />

162


"Ah, McGonagall, wohin denn so eilig? Oder wird <strong>Potter</strong> wieder von<br />

seinen Alpträumen geplagt?", fragte er mit gehässigem Blick <strong>auf</strong> die drei<br />

Gryffindors.<br />

"Was für Träume? Nein, wir wollen uns nur ein wenig über mein<br />

Unterrichtsfach unterhalten, Severus."<br />

Snape hob eine Augenbraue. "Ach, seit wann benötigen Lehrer<br />

Hogwarts die Ratschläge von Schülern? Oder wollen Sie andeuten, <strong>das</strong>s<br />

Sie Ihrem Stoff nicht gewachsen sind?"<br />

Jeder andere wäre wohl ungehalten geworden, auch <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

Ron starrten Snape mit unverkennbarem Hass an. Aber McGonagall<br />

blieb die Ruhe selbst.<br />

"Nein, <strong>das</strong> bedeutet nur, <strong>das</strong>s wir einige Themen meines Fachs<br />

diskutieren möchten, so wie es wohl bei jedem Lehrer der Fall ist,<br />

welcher verantwortungsbewusste <strong>und</strong> begabte Schüler in seinem<br />

Unterricht sitzen hat."<br />

Snapes Augen verengten sich zu Schlitzen, <strong>und</strong> er rückte<br />

bedrohlich nahe an seinen Kollegen heran.<br />

"Wenn Sie <strong>Potter</strong> auch nur halb so gut kennen würden wie ich,<br />

dann wüssten Sie über seine maßlose Arroganz, seine Überheblichkeit<br />

<strong>und</strong> sein äußerst unterentwickeltes Maß an Selbstkritik Bescheid."<br />

Ehrlich erstaunt schaute McGonagall <strong>Harry</strong> an, der vor Wut<br />

mittlerweile <strong>das</strong> Treppengeländer fest umklammerte, während Hermine<br />

vorsichtshalber Ron festhielt.<br />

"Also davon habe ich nichts bemerkt <strong>und</strong> würde mich w<strong>und</strong>ern,<br />

wenn <strong>das</strong> noch geschehen würde", antwortete er in gezwungen<br />

umgänglichem Ton.<br />

Snape sah ihn höhnisch <strong>und</strong> hasserfüllt an.<br />

"Das w<strong>und</strong>ert mich nicht, wo Sie <strong>doc</strong>h aus demselben Loch<br />

gekrochen sind wie er!"<br />

Mit wehendem Umhang verschwand er in Richtung Keller.<br />

<strong>Harry</strong> schaute ihm schwer atmend nach. "Dieser verlogene,<br />

schleimige ..." Er verstummte, als ihm bewusst wurde, <strong>das</strong>s sich ein<br />

Lehrer in seiner Gegenwart befand.<br />

"Sprich ruhig weiter, <strong>Harry</strong>, ich werde dich nicht davon abhalten –“<br />

" ... kriecherische Widerling!" Er hörte Ron leise lachen.<br />

"Was soll <strong>das</strong> bedeuten "aus demselben Loch gekrochen?", fragte<br />

Franbery verwirrt. Er ließ seinen Blick zwischen <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> seinem Chef<br />

hin- <strong>und</strong> herschweifen <strong>und</strong> erinnerte dabei verdächtig an Neville, wenn<br />

der eine schwere Verwandlungs<strong>auf</strong>gabe nicht lösen konnte.<br />

Anscheinend fiel ihm erst jetzt deren beider Ähnlichkeit <strong>auf</strong>.<br />

McGonagall verdrehte die Augen. "Nach dieser wieder einmal<br />

erstaunlichen Demonstration deiner Schnellmerkigkeit lasst uns endlich<br />

weitergehen, die anderen Schüler warten bestimmt schon!"<br />

163


Verblüfft vernahm <strong>Harry</strong> die gereizte Stimme seines Lehrers <strong>und</strong><br />

seine ungewohnt sarkastischen Worte. Aber kein W<strong>und</strong>er, mit Snape<br />

hatte sich noch niemand verstanden ... oder steckte noch mehr dahinter?<br />

Zwischen dem zweiten <strong>und</strong> dritten Stock holte er McGonagall ein,<br />

der alleine ein paar Schritte vor ihnen lief.<br />

"Kannten Sie Snape während Ihrer Schulzeit?"<br />

"Sicher, wie auch nicht? Er war in der zweiten Klasse, genauso wie<br />

dein Vater, als ich meine UTZ machte. Übrigens kannst du mich ruhig<br />

duzen – wo wir <strong>doc</strong>h verwandt sind."<br />

„Äh, sicher“, meinte <strong>Harry</strong> unsicher. Immer noch fühlte er eine<br />

Distanz gegenüber McGonagall, was auch nicht verw<strong>und</strong>erlich war –<br />

immerhin kannte er ihn seit kaum einer Woche.<br />

„Snape war schon immer ein unangenehmer Zeitgenosse. Ich habe<br />

damals versucht, mich so weit wie möglich von ihm fernzuhalten.<br />

Außerdem war er auch der einzige Schüler, der von meiner<br />

Verwandtschaft mit James <strong>Potter</strong> wusste. Er hat schon immer ein Talent<br />

dafür gehabt, Dinge wahrzunehmen, die anderen nicht <strong>auf</strong>fielen. Ich<br />

hatte ständig Angst, <strong>das</strong>s er mich verraten könnte, aber er hat es nicht<br />

getan, vermutlich, um nicht zwei verbündete <strong>Potter</strong> an der Schule zu<br />

haben.“<br />

<strong>Harry</strong> kam <strong>das</strong> außerordentlich unwahrscheinlich vor.<br />

„Völlig unmöglich, Sie – äh, du siehst mir so ähnlich, <strong>das</strong>s mein<br />

Vater von der ersten Sek<strong>und</strong>e an gewusst haben muss, wer du bist.“<br />

"Nein, er hat nie erfahren, <strong>das</strong>s ich sein Cousin bin. Ich wollte<br />

nicht, <strong>das</strong>s jemand von meiner Herkunft weiß, da meine Eltern beide aus<br />

ihren Familien verstoßen worden sind, was besonders in der damaligen<br />

Zauberergemeinschaft ein großes Stigma gewesen ist." Er lachte<br />

humorlos <strong>auf</strong>. "Vielleicht kann man sagen, <strong>das</strong>s ich ein Feigling war,<br />

aber ich wollte nicht wie einige andere "Schlammblut" geschimpft<br />

werden."<br />

"Aber irgendwer MUSS es gemerkt haben!"<br />

"Nein, denn ich habe alles mir Mögliche getan, um James so<br />

unähnlich zu sehen, wie es nur ging. Ich rannte den ganzen Tag ohne<br />

Brille herum – was mir eine Menge blaue Flecken eintrug, glaube mir! Oft<br />

genug musste ich im Unterricht meine Fre<strong>und</strong>e fragen, was an der Tafel<br />

stand, <strong>und</strong> Quidditch habe ich ab der sechsten Klasse deswegen auch<br />

nicht mehr gespielt. Außerdem trug ich meine Haare sehr kurz, <strong>und</strong> du<br />

darfst nicht vergessen, <strong>das</strong>s ich fünf Jahre älter war als James."<br />

Sie gelangten nun in den siebten Stock. <strong>Harry</strong> lief zielstrebig zu<br />

dem Wandteppich, der Barnabas den Bekloppten zeigte, wie er nach wie<br />

vor erfolglos versuchte, einigen sehr grimmig aussenden Trollen Ballett<br />

beizubringen.<br />

"Du willst also sagen, <strong>das</strong>s mein Vater nie wusste, <strong>das</strong>s ihr<br />

verwandt wart?"<br />

164


"Nein, vielleicht hätte ich es ihm später gesagt – als wir beide<br />

erwachsen waren, meine ich. Aber dazu hatte ich nie die Gelegenheit."<br />

Weil Voldemort ihn umgebracht hat, dachte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> ein sehr<br />

hässlicher Gedanke schlich sich in seinen Kopf: Womöglich wäre es<br />

anders gekommen, wenn James <strong>Potter</strong> noch jemanden um sich gewusst<br />

hätte, der ihm nahe stand, der ihm geholfen hätte...<br />

Aber nein, so etwas durfte er nicht denken. McGonagall hatte sich<br />

unter Umständen seiner Verantwortung entzogen, aber diesen Fehler<br />

hatten in der damaligen Zeit fast alle gemacht. Bis <strong>auf</strong> die wenigen, die<br />

sich getraut hatten, gegen Voldemort zu kämpfen.<br />

Ron, Hermine <strong>und</strong> Franbery schlossen nun zu ihnen <strong>auf</strong>, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong><br />

lief konzentriert drei Mal an der sich dem Wandteppich gegenüber<br />

befindlichen nackten Wand vorbei, wor<strong>auf</strong>hin dort eine Tür wie aus dem<br />

Nichts erschien. Ohne zu zögern öffnete er sie <strong>und</strong> wurde sogleich von<br />

tosendem Beifall empfangen. Verblüfft registrierte er knapp zwei dutzend<br />

Schüler, die ihm applaudierten. Anscheinend hatte sich an ihrem<br />

geheimen Übungsort nicht viel geändert, nach wie vor lagen eine Menge<br />

weicher Kissen zwischen Regalen voller Bücher über Verteidigung<br />

herum, <strong>auf</strong> denen sich noch allerhand andere nützliche Dinge stapelten,<br />

darunter einige Pfeifen <strong>und</strong> Tücher. Aber solche Beifallsbek<strong>und</strong>ungen<br />

war er von hier eindeutig nicht gewohnt. Errötend schaute er in die<br />

R<strong>und</strong>e <strong>und</strong> erblickte größtenteils bekannte Gesichter, alle, die von der<br />

alten DA noch an der Schule waren, hatten sich neben einigen<br />

Neulingen wie die Ravenclaw Mandy Brocklehurst, Hannah von den<br />

Hufflepuffs <strong>und</strong> Romilda Vane aus Gryffindor eingef<strong>und</strong>en.<br />

"Ist gut, was habt ihr denn heute?", fragte er leicht beschämt <strong>und</strong><br />

sah McGonagall zusammen mit Franbery durch die Tür treten, übers<br />

ganze Gesicht strahlend.<br />

"Was für ein außergewöhnlicher Raum! Gr<strong>und</strong>gütiger, wenn ich<br />

den während meiner Schulzeit gekannt hätte ..." Neugierig musterte er<br />

die Schüler, deren Klatschen langsam verebbte.<br />

"Was sollen wir haben, wir wollen unseren Anführer feiern!", rief<br />

Neville enthusiastisch <strong>und</strong> wurde <strong>auf</strong> der Stelle rot, als sich alle<br />

Augenpaare des Raumes <strong>auf</strong> ihn richteten.<br />

"Richtig", half ihm Luna <strong>und</strong> fügte in ihrer wie üblich verträumten<br />

Stimme hinzu: "Zusammen haben wir Umbridge aus der Schule gejagt,<br />

gegen Todesser gekämpft <strong>und</strong> alle gute Noten in unseren Verteidigungsabschlussarbeiten<br />

bekommen. Und ich habe mich <strong>das</strong> erste Mal in<br />

Hogwarts willkommen gefühlt."<br />

Luna hatte stets <strong>das</strong> Talent, völlig unbekümmert unangenehme<br />

Wahrheiten zum Besten zu geben, dennoch spürte <strong>Harry</strong> in diesen<br />

Sek<strong>und</strong>en ein überwältigendes Glücksgefühl über sich kommen. Das<br />

hier war sein Werk, <strong>und</strong> er war stolz <strong>auf</strong> jeden Einzelnen seiner Schüler.<br />

165


„Genug“, stotterte er etwas unbeholfen. „Nun lasst uns an die<br />

Arbeit gehen.“ Sich umdrehend stellte er vor: „Das sind unser neuer<br />

Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste, Jamie McGonagall,<br />

<strong>und</strong> sein Assistent Rick Franbery – nur für den Fall, <strong>das</strong>s jemand sie<br />

noch nicht kennen sollte. Sie werden uns in der heutigen St<strong>und</strong>e<br />

begleiten <strong>und</strong> einige Ratschläge geben, was wir über <strong>das</strong> Schuljahr üben<br />

könnten.“<br />

Plötzlich beschlich ihn ein erschreckender Gedanke.<br />

„Ihr wollt <strong>doc</strong>h alle mit der DA weitermachen?“, fragte er schnell.<br />

„Ich meine, jetzt wo Umbridge weg ist, ist unser ursprüngliches Ziel<br />

verloren gegangen.“ Bange blickte er umher.<br />

Vereinzeltes Tuscheln war zu hören, einige Schüler sahen ihn auch<br />

seltsam an. Was, wenn sie alle nur gekommen waren, um ihm zu sagen,<br />

<strong>das</strong>s die DA keinen Sinn mehr machte?<br />

„Unfug!“, ertönte es da aus der letzten Reihe. Die Creevey-Brüder<br />

versuchten, <strong>auf</strong> den Zehenspitzen stehend, zu ihm vorzuschauen.<br />

„Niemand will die DA verlassen!“<br />

Zustimmendes Nicken aus allen Ecken.<br />

"Wieso sollten wir? Umbridge ist nun egal, jetzt geht es eben<br />

gegen die Todesser!"<br />

"Lasst uns gegen Du-Weißt-Schon-Wen kämpfen!“<br />

"Bei uns in der Nachbarschaft sind zwei Zauberer entführt worden, die<br />

sich offen gegen ihn gestellt haben – <strong>das</strong> soll nicht mehr geschehen!"<br />

Solche <strong>und</strong> ähnliche Sätze flogen <strong>Harry</strong> um die Ohren, während er<br />

ein seliges Grinsen mit Ron <strong>und</strong> Hermine tauschte.<br />

"Prima, genau diese Antwort hatte ich erhofft!", rief er energisch,<br />

als habe er seine Mitschüler nur <strong>auf</strong> die Probe stellen wollen. In<br />

Wirklichkeit war er unglaublich froh <strong>und</strong> erleichtert, <strong>das</strong>s es noch Leute<br />

gab, die bei seiner Gruppe mitmachen wollten.<br />

"Gut, ich schlage vor, wir diskutieren am Anfang darüber, was wir<br />

dieses Schuljahr durchnehmen wollen, zumindest im Groben, <strong>und</strong><br />

anschließend kommen wir zu einer Wiederholung der letzten paar<br />

St<strong>und</strong>en, da sich erfahrungsgemäß die Ferien eher nachteilig <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />

Erinnerungsvermögen auswirken." Innerlich grinsend dachte er, <strong>das</strong>s er<br />

langsam anfing, wie Dumbledore zu klingen. Die nach diesem benannte<br />

Verteidigungsgruppe schien <strong>das</strong> je<strong>doc</strong>h nicht zu stören.<br />

<strong>Harry</strong> drehte sich nun zu McGonagall um, welcher in den letzten<br />

Minuten fasziniert durch den ganzen Raum gegangen <strong>und</strong> sämtliches<br />

Inventar begutachtet hatte. "Habt ihr die Bücher <strong>und</strong><br />

Unterrichtsmaterialien alle selbst zusammengetragen?", fragte er.<br />

"Nein", meinte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> fügte <strong>auf</strong> den verwirrten Blick seines<br />

Lehrers hinzu: "Die Magie des Raums der Wünsche – nun ja, erfüllt eben<br />

die Wünsche, die man hat." So genau wollte er die Wirkungsweise des<br />

Raumes nicht erläutern; dieser Ort sollte auch in Zukunft seine <strong>und</strong> die<br />

166


Zuflucht der DA bleiben. Weder McGonagall noch Franbery wussten, wie<br />

sie hier hineingelangten, <strong>und</strong> <strong>das</strong> wollte er nicht ändern. Nach allem, was<br />

er sagen konnte, war sich sein Lehrer dessen auch bewusst <strong>und</strong><br />

akzeptierte es.<br />

„Nun gut!“, trat McGonagall vor die Schüler. „Ich weiß, <strong>das</strong>s ihr es<br />

kaum erwarten könnt, bis ich wieder weg bin – keine Angst, <strong>das</strong> ist mir<br />

bewusst. Wäre ich in so einer Gruppe gewesen, hätte ich alles<br />

unternommen, um Lehrer möglichst weit entfernt zu halten – inklusive<br />

der ernsthaften Erwähnung, den Verbotenen Wald als Versammlungsort<br />

zu wählen.“ Mit leicht verklärtem Ausdruck schweifte er ab. „In der Tat<br />

haben wir in meinem sechsten Jahr ein ums andere Mal geheime Treffen<br />

im Wald abgehalten – aber eher, um Zauber zu praktizieren, die wir den<br />

Schulregeln nach gar nicht anwenden durften als uns gegen einen<br />

Lehrer <strong>auf</strong>zulehnen …“<br />

Die plötzlich sehr interessierten Schüler warteten <strong>auf</strong> weitere<br />

Erläuterungen, aber McGonagall lachte nur.<br />

„Nein, mehr erzähle ich euch nicht, sonst verpetzt mich zwanzig<br />

Jahre nach meiner Schulzeit noch jemand bei Dumbledore. Lasst uns<br />

lieber überlegen, was ihr in diesem Schuljahr lernen wollt. Hat jemand<br />

eine Idee?“<br />

Erwartungsvoll schaute er in die R<strong>und</strong>e, in der auch schon einige<br />

Hände erhoben worden waren.<br />

„Ja?“, nickte er Neville zu, welcher ein wenig vor Aufregung<br />

stammelnd vorschlug, man könne <strong>doc</strong>h einige Heilzauber lernen. Von<br />

denen hätte er von seiner Großmutter gehört.<br />

„Heilzauber?“, fragte McGonagall nachdenklich. „Die sind<br />

wahnsinnig schwer, aber natürlich auch in Verteidigung gegen die<br />

dunklen Künste äußerst nützlich. Ich denke, <strong>das</strong>s zwei oder drei Zauber<br />

davon durchaus eurem Können angemessen sind. Ich werde sie<br />

nachschlagen <strong>und</strong> euch nächste Unterrichtsst<strong>und</strong>e Genaueres<br />

berichten.“<br />

Als nächstes kam Luna dran.<br />

„Was ist mit Okklumentik?“, wollte sie wissen. „Bekanntermaßen<br />

schützt sie sehr gut gegen Hjuduhs.“ Ernst schaute sie ihren Lehrer an,<br />

der verdutzt blinzelte.<br />

„Was sind Hjuduhs?“, erk<strong>und</strong>igte er sich, ohne scheinbar deren<br />

Existenz gr<strong>und</strong>sätzlich anzuzweifeln. <strong>Harry</strong> versuchte ihn derweil, per<br />

Blickkontakt von der Unsinnigkeit Loonas Frage zu überzeugen.<br />

McGonagall richtete seine blauen Augen <strong>auf</strong> ihn, wor<strong>auf</strong>hin <strong>Harry</strong><br />

blitzartig zusammenzuckte, als ein bekanntes Gefühl von ihm Besitz<br />

ergriff: Etwas wollte in seinen Kopf eindringen. Bevor er auch nur hatte<br />

erahnen können, <strong>das</strong>s sein Lehrer gerade Legilimentik gegen ihn<br />

einsetzte, meinte McGonagall fröhlich zu Luna: „Na, ich glaube kaum,<br />

167


<strong>das</strong>s deine, äh, Hjuduhs, uns gefährlich werden können!“ Luna wirkte ein<br />

wenig enttäuscht, <strong>Harry</strong> aber trat energisch einen Schritt nach vorne.<br />

„Meiner Meinung nach sollten wir Okklumentik lernen“, entgegnete<br />

er <strong>und</strong> blickte McGonagall fest an, unfähig, seine Wut gänzlich zu<br />

verbergen. Was dachte sein Lehrer sich dabei, in seine Gedanken<br />

einzudringen?<br />

Der sah <strong>Harry</strong> erstaunt an <strong>und</strong> wurde leicht rot.<br />

„Gut, wenn es euer Wunsch ist, dann schlage ich vor, ihr erhaltet<br />

Okklumentik-Unterricht …“<br />

Wiederum trat <strong>Harry</strong> vor.<br />

„Aber nicht von mir, denn ich beherrsche sie nicht.“<br />

Gemurmel entstand unter den DA-Mitgliedern.<br />

„Mmm, vielleicht kann ich euch weiterhelfen. Zwar kann man mich<br />

kaum als Okklumentik-Experten bezeichnen, aber die Gr<strong>und</strong>lagen<br />

könnte ich euch beibringen“, half McGonagall, dem <strong>das</strong> Treffen von<br />

Minute zu Minute peinlicher zu werden schien.<br />

„In Ordnung, dann schlage ich vor, wir wiederholen jetzt unsere<br />

Übungen aus dem letzten Jahr, <strong>und</strong> Jamie erzählt uns am Montag, was<br />

er über Heilzauber herausgef<strong>und</strong>en hat“, platzte <strong>Harry</strong> heraus. Der<br />

ganze Raum war still.<br />

„Gut“, meinte McGonagall zerstreut, „wir sehen uns Montag!“ Er<br />

winkte Franbery zu sich, der Anstalten gemacht hatte, zu sprechen, ohne<br />

Zweifel, um die DA davon zu überzeugen, es sei sinnvoller, statt<br />

Heilzauber lieber einen mit einer dreifachen Drehung eingeleiteten<br />

Expelliamus zu lernen.<br />

Die Tür schlug hinter den beiden zu.<br />

„<strong>Harry</strong>?“, fragte Hermine vorsichtig.<br />

„Nichts“, entgegnete er patzig <strong>und</strong> wies mit seinem Zauberstab<br />

heftig <strong>auf</strong> die Kissen, die in den Regalen gestapelt waren.<br />

„Einigen von euch geling noch kein überzeugender Lähmzauber,<br />

also üben wir den zuerst. Zum Abschluss möchte ich von jedem einen<br />

Patronus sehen.“<br />

Für den Rest der St<strong>und</strong>e war er damit beschäftigt,<br />

Zauberstabbewegungen zu korrigieren <strong>und</strong> Neville davon zu<br />

überzeugen, <strong>das</strong>s es irgendwo in seinem Leben eine glückliche<br />

Erinnerung geben musste, die stark genug für einen Patronus war.<br />

Nachdem sich sämtliche DA-Mitglieder in alle Himmelsrichtungen<br />

zerstreut hatten, gingen <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine schweigend <strong>zur</strong>ück<br />

zum Gemeinschaftsraum.<br />

In der Nähe der Bibliothek wandte Hermine <strong>das</strong> Wort an ihn.<br />

„Was ist vorhin zwischen euch vorgefallen?“<br />

<strong>Harry</strong> grunzte nur.<br />

„Er hat deine Gedanken lesen wollen, oder? Ist <strong>das</strong> so schlimm?“<br />

168


„Glaubst du, es ist angenehm, wenn jemand in deinem Kopf<br />

herumsucht?“, fauchte <strong>Harry</strong> sie an. Natürlich war er sich bewusst, <strong>das</strong>s<br />

McGonagall nur versucht hatte, die Situation zu meistern, indem er<br />

<strong>Harry</strong>s Blickkontakt <strong>auf</strong> eine Art genutzt hatte, die er selbst nicht<br />

vorhergesehen hatte … Möglicherweise war er es gewohnt, Legilimentik<br />

<strong>auf</strong> eine so harmlose Art einzusetzen … Aber <strong>Harry</strong> hatte damit zu<br />

schlechte Erfahrungen gemacht, um sie derart locker zu nehmen. Würde<br />

er seinen Geist ordentlich verschließen können, wäre Sirius nicht tot.<br />

Solange jemand in seine Gedanken eindringen konnte, sei es, um eine<br />

schlichte Antwort <strong>auf</strong> eine seltsame Frage zu bekommen oder ihn in eine<br />

tödliche Falle zu locken, musste er etwas dagegen unternehmen.<br />

„Er wollte <strong>doc</strong>h nichts Böses“, beschwichtigte Hermine ihn.<br />

„Wieso verteidigst du ihn?“, empörte sich nun Ron, der Hermines<br />

vielleicht zu häufige Blicke in Richtung McGonagall in der vergangenen<br />

St<strong>und</strong>e genau beobachtet hatte. „Ist es <strong>auf</strong> einmal in Ordnung, <strong>das</strong>s<br />

jemand <strong>Harry</strong>s Gedanken manipuliert, nur weil es sich um einen Lehrer<br />

handelt?“<br />

„Er hat seine Gedanken nicht manipuliert!“, rief Hermine <strong>und</strong> fuhr<br />

die Fette Dame mit „Expelliamus!“ an. Indigniert schwang <strong>das</strong> Portrait<br />

<strong>zur</strong> Seite.<br />

„Seid still, ihr alle beide!“, schnappte <strong>Harry</strong>. „Ihr wisst <strong>doc</strong>h gar<br />

nicht, worum es geht. Von mir aus kann McGonagall in meinen<br />

Gedanken nach Loonas Einstellung gegenüber seltsamen Tieren<br />

suchen, aber Fakt ist, <strong>das</strong>s solange ich keine Okklumentik schaffe,<br />

niemand in meiner Umgebung sicher vor Voldemort ist! Er hat es<br />

bewerkstelligt, jemanden umzubringen, der mir nahe steht, nur indem er<br />

in meinen Geist eingedrungen ist!“<br />

Zwar war ihm klar, <strong>das</strong>s diese Behauptung zu einfach war. Aber<br />

dennoch stimmte es letztendlich: Wenn er seinen Geist gegen Angriffe<br />

von außen schließen könnte, wäre Sirius noch am Leben … Die Trauer<br />

ergriff ihn mit Schwindel erregender Heftigkeit.<br />

„<strong>Harry</strong> …“, rief Hermine mit brüchiger Stimme, aber er hörte sie<br />

kaum, während er die Treppe zu seinem Schlafsaal hoch lief. Er sollte<br />

den ganzen Abend nicht mehr herunterkommen, stattdessen verbrachte<br />

er grauenvolle St<strong>und</strong>en damit zu, Sirius vor sich zu sehen, immer wieder.<br />

Und er konnte nichts dagegen tun.<br />

Den nächsten Tag über erledigte er mit Ron seine Haus<strong>auf</strong>gaben<br />

für die kommende Woche. Hermine verschwand den Großteil der Zeit in<br />

der Bibliothek, ohne zu sagen, warum, sie musste ihre Arbeit eigentlich<br />

bereits fertig haben. Aber <strong>Harry</strong> war es recht. Wie sollte auch jemand,<br />

der den Tod als etwas Nützliches ansah, ihn verstehen können? Mit Ron<br />

konnte er wenigstens Witze reißen <strong>und</strong> Snape <strong>auf</strong>s Gemeinste<br />

verfluchen, was den beiden einen unterhaltsamen Nachmittag bescherte.<br />

169


KAPITEL ZEHN<br />

Im See<br />

Montags schlurfte <strong>Harry</strong> hinter den beiden in ihren Klassenraum für<br />

Verteidigung, geschafft von der Doppelst<strong>und</strong>e Verwandlung am<br />

Vormittag, in der Professor McGonagall sie mit Materialisierungszaubern<br />

hatte verzweifeln lassen. Mit trübsinnigen Gedanken an die Maus, von<br />

der trotz seiner Bemühungen noch nicht einmal eine Schwanzspitze<br />

<strong>auf</strong>getaucht war, setzte er sich <strong>auf</strong> seinen Stuhl. Kurz dar<strong>auf</strong> erschien<br />

McGonagall, der ungewohnt müde aussah. Schweigend sortierte er<br />

einige Notizen <strong>auf</strong> seinem Tisch.<br />

„Bevor wir heute mit dem immens schwierigen Thema der<br />

ungesagten Zauber beginnen, habe ich einige Informationen für eure<br />

DA. Ein praktischer Heilzauber, den ich gef<strong>und</strong>en habe, ist der Episkey,<br />

über den ihr in Magische Heilung für Anfänger nachlesen könnt.<br />

Sicherlich wisst ihr etwas damit anzufangen.“ Verunsichert schaute er in<br />

die Klasse.<br />

„Danke“, ließ <strong>Harry</strong> selbst ein bisschen verw<strong>und</strong>ert vernehmen.<br />

McGonagall nickte, <strong>und</strong> damit war <strong>das</strong> Thema abgeschlossen. Er<br />

äußerste sich später nicht mehr <strong>zur</strong> DA.<br />

Stattdessen sprang Rick Franbery <strong>auf</strong> <strong>und</strong> drängte sich vor<br />

McGonagall, der viel zu verblüfft war, um etwas zu erwidern.<br />

„Heilzauber, ach kommt! Wer braucht die denn schon?“, fragte er<br />

mit einem Unterton, als müsse <strong>das</strong>, was er nun sagte, jeder wissen.<br />

„Jemand, der denkt sein Bein wäre gebrochen, wenn es nur<br />

verstaut ist, sicher nicht“, flüsterte Ron halblaut zu <strong>Harry</strong>, der losprustete<br />

<strong>und</strong> skeptisch zu Franbery sah. Vage registrierte er, wie Hermine neben<br />

ihm ihren Zauberstab unter dem Tisch <strong>auf</strong> den Assistenten richtete.<br />

„Stattdessen solltet ihr eure Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> die elegantere<br />

Seite der Magie richten“ – er strahlte die Schüler mit seinem verzerrten<br />

Grinsen an <strong>und</strong> führte eine so komplizierte Schlängelbewegung mit dem<br />

170


Zauberstab vor, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> vermutete, er müsse sich vorher sämtliche<br />

Knochen aus dem Leib gehext haben. An der Spitze des Stabes<br />

erschienen dar<strong>auf</strong>hin Schneeflocken, die Franbery einigermaßen<br />

verwirrt, aber nicht unentzückt betrachtete, wie sie durch den ganzen<br />

Raum wirbelten. Er deutete <strong>auf</strong> sein Werk <strong>und</strong> wollte etwas sagen, riss<br />

aber vor Entsetzen die Augen <strong>auf</strong>, als ihm <strong>das</strong> nicht gelang. In der<br />

entstehenden allgemeinen Unruhe drehte sich <strong>Harry</strong> zu Hermine um, die<br />

zufrieden ihren Zauberstab wieder weglegte.<br />

„Danke“, meinte er leise.<br />

McGonagall löste sich endlich aus seiner der Ungläubigkeit<br />

geschuldeten Starre <strong>und</strong> schob Franbery vor sich her aus dem Raum, im<br />

schon einige Zentimeter hohen Schnee Fußabdrücke hinterlassend.<br />

„Halt endlich die Klappe Rick!“, rief er schn<strong>auf</strong>end. „Wobei mir<br />

diese Arbeit jemand abgenommen zu haben scheint. Komm erst einmal<br />

wieder <strong>zur</strong> Vernunft, dann kannst du weiter am Unterricht teilnehmen!“<br />

Rigoros knallte er die Tür in die Angeln, nachdem er seinen Assistenten<br />

<strong>auf</strong> den Flur verfrachtet hatte – nicht ohne ihn vorher ordentlich<br />

durchzuschütteln.<br />

In der Klasse sah es mittlerweile aus wie <strong>auf</strong> den Hogwarts-<br />

Länderein im Winter: Überall bildeten sich bereits kleine Schneeh<strong>auf</strong>en,<br />

Parvati <strong>und</strong> Padma hatten sich unter ihren Tisch gerettet, um der nicht<br />

enden wollenden Schneeflut zu entkommen, <strong>und</strong> Hermine sch<strong>auf</strong>elte die<br />

nassen Flocken hektisch von ihren Büchern, bevor sie sich dann ihren<br />

Zauberstab schnappte <strong>und</strong> rief: „Impervius!“, wor<strong>auf</strong>hin ihre Sachen den<br />

Schnee einfach abstießen.<br />

<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron beratschlagten derweil heftig über eine Lösung des<br />

Problems <strong>und</strong> schrieen im Einklang „Lumos Solem!“, die Spitze ihrer<br />

Zauberstäbe <strong>auf</strong> den Schnee über sich richtend. Damit erreichten sie<br />

allerdings nur, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> plötzlich hell <strong>und</strong> heiß erstrahlende Sonnenlicht<br />

sämtlichen Schnee schmolz <strong>und</strong> ein heftiger Platzregen im Raum<br />

niederging. Die Schüler sprangen nun endgültig kreischend <strong>auf</strong> <strong>und</strong><br />

stürmten aus dem Raum, wobei Tische <strong>und</strong> Stühle umgeworfen wurden<br />

<strong>und</strong> <strong>Harry</strong> im Gewühl angerempelt wurde <strong>und</strong> zu Boden ging. Neville,<br />

der als einziger bei ihnen geblieben war, half ihm wieder hoch.<br />

„Ist ’nen bisschen wie bei Lockhart, weißt du noch?“, brüllte er<br />

gegen <strong>das</strong> prasselnde Plätschern an. <strong>Harry</strong> erinnerte sich düster, wie<br />

Neville damals am Kronleuchter gehangen hatte <strong>und</strong> schaute sich<br />

verdattert in dem voll Wasser l<strong>auf</strong>enden Raum um. Hermine, völlig<br />

durchnässt, fuchtelte mit ihrem Zauberstab herum, ohne aber einen<br />

passenden Spruch finden zu können.<br />

Auf einmal hörte <strong>Harry</strong> ein lautes, an ihm vorbeischießendes<br />

Zirren, <strong>und</strong> innerhalb weniger Zehntelsek<strong>und</strong>en waren einige<br />

Quadratmeter um sie herum gänzlich trocken, bevor neues Wasser<br />

darüber schwappte.<br />

171


"Seca locum!", schrie McGonagall noch einmal, <strong>und</strong> wieder<br />

verschwand <strong>das</strong> Wasser um sie herum kurzzeitig.<br />

"Wir müssen alle zusammen rufen!", schlug er vor, <strong>und</strong> wenige<br />

Sek<strong>und</strong>en später erbebte der Klassenraum von einem gewaltigen "Seca<br />

Locum!", wor<strong>auf</strong>hin sich alles Wasser in Luft <strong>auf</strong>löste, <strong>und</strong> auch der<br />

Regen größtenteils <strong>auf</strong>hörte. Nach einem weiteren Versuch war der<br />

gesamte Raum völlig trocken.<br />

"Danke", keuchte McGonagall <strong>und</strong> zog seinen nassen Umhang<br />

aus.<br />

Neville begutachtete immer noch fasziniert seinen Zauberstab, als<br />

könne er nicht fassen, <strong>das</strong>s er gerade den Verteidigungsraum vorm<br />

Abs<strong>auf</strong>en bewahrt hatte.<br />

Hermine derweil packte ihre nach wie vor trockenen Bücher ein,<br />

während sie selbst eine große Wasserlache <strong>auf</strong> dem Boden hinterließ,<br />

nicht weniger als <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron.<br />

"Wartet kurz", bat sie McGonagall <strong>und</strong> richtete lässig seinen<br />

Zauberstab <strong>auf</strong> Hermine. Nach einem kurzen Wedeln war jeder Tropfen<br />

Wasser von ihr verschw<strong>und</strong>en. Auch <strong>Harry</strong> spürte ein eigenartiges,<br />

warmes Ziehen in seinem Körper <strong>und</strong> schaute erstaunt <strong>auf</strong> seine<br />

getrocknete Kleidung.<br />

"Wie haben Sie – ich meine, wie hast du <strong>das</strong> geschafft?", fragte er<br />

seinen Lehrer.<br />

"Ach, nur ein nützlicher kleiner Zauber", lächelte McGonagall <strong>und</strong><br />

erhob sich nun von der Tischkante, <strong>auf</strong> der er gesessen hatte. "Schade,<br />

<strong>das</strong>s Rick ausgerechnet heute einen neuerlichen Anfall von Wichtigtuerei<br />

hatte, gerade, wo wir ungesagte Zauber durchnehmen wollten ..." Er<br />

runzelte die Stirn. "Ich muss ihn wohl noch ein wenig erziehen."<br />

"Wieso dulden Sie ihn überhaupt?", fragte Hermine. Neugierig hob<br />

<strong>Harry</strong> den Kopf, schließlich kam es nicht alle Tage vor, <strong>das</strong>s<br />

ausgerechnet Hermine gegen einen Lehrerassistenten aussprach.<br />

"Das ist eine lange Geschichte, meine Familie schuldet seiner<br />

einen Gefallen, wisst ihr ... nach meiner Schulzeit habe ich<br />

Schwierigkeiten gehabt, in Amerika einen Job zu bekommen, <strong>und</strong> Ricks<br />

Eltern haben mich an ihrer Schule <strong>auf</strong>genommen, wo sein Vater<br />

Schuldirektor ist. So lernte ich meinen Beruf <strong>und</strong> nun, wo ihr Sohn<br />

langsam mal so weit sein sollte, den Ernst des Lebens zu begreifen,<br />

haben sie ihn mir untergeschoben. Ihr habt sicher bemerkt, <strong>das</strong>s er ein<br />

hoffnungsloser Fall ist." Er lachte freudlos <strong>auf</strong>. "Hat den Kopf nur voll<br />

unnützer Gedanken über seine kreative Zauberei oder wie er <strong>das</strong> nennt.<br />

Mir ist es mittlerweile egal geworden, was er macht, aber meinen<br />

Klassenraum in ein sechstes Weltmeer zu verwandeln geht nun wirklich<br />

zu weit."<br />

172


Neville <strong>und</strong> Ron grinsten sich an <strong>und</strong> machten sich <strong>auf</strong>, <strong>zur</strong> Tür zu<br />

gehen. <strong>Harry</strong>, der sich ihnen automatisch anschloss, wurde von<br />

McGonagall <strong>zur</strong>ückgehalten.<br />

"Wäre es zuviel verlangt, wenn du <strong>auf</strong> ein paar Minuten mit in mein<br />

Zimmer kommst?"<br />

<strong>Harry</strong> schaute zögernd zu Ron <strong>und</strong> Hermine, die sich einen kurzen<br />

Blick zuwarfen <strong>und</strong> ohne ein weiteres Wort verschwanden. Na klar, bei<br />

so was waren sie sich einig, aber seine Abende versauen, indem sie an<br />

dem jeweils anderen herumnörgelten, bereitete ihnen keine<br />

Hemmungen.<br />

<strong>Harry</strong> wollte gerade hinter McGonagall in einen kleinen, vom<br />

Klassenzimmer abgetrennten Vorbereitungsraum treten, als die Tür<br />

abermals <strong>auf</strong>schwang <strong>und</strong> einer großen Fledermaus gleich Snape mit<br />

unheilvollem Grinsen eintrat.<br />

"McGonagall, ich habe schon <strong>das</strong> Schlimmste gefürchtet, als Ihre<br />

Schüler, äh, flüchtend aus Ihrem Klassenzimmer gestürmt waren",<br />

höhnte er <strong>und</strong> sah sich <strong>auf</strong>merksam im Raum um, in dem Unterricht zu<br />

geben einer seiner größten Begehren war.<br />

"Wie Sie sehen, ist nichts vorgefallen, wir haben nur etwas eher<br />

Schluss gemacht", behauptete der Verteidigungslehrer <strong>und</strong> machte eine<br />

überzeugende Miene. Tatsächlich ließ der Raum kein Zeichen mehr von<br />

Verwüstung erkennen. Snape hob eine Augenbraue <strong>und</strong> schaute viel<br />

sagend zu McGonagall, von dem jeder Quadratzentimeter vollkommen<br />

durchnässt war.<br />

"Na, wenn Sie meinen, <strong>das</strong>s Ihre Schüler so ihren UTZ schaffen,<br />

dann wird dies der erste Hogwarts-Jahrgang, in dem keiner Verteidigung<br />

besteht. Aber <strong>das</strong> wäre auch eine Art Rekord, <strong>und</strong> so lange sie<br />

hervorstechen, sind Sie zufrieden, nehme ich an."<br />

McGonagall zitterte, auch wenn <strong>Harry</strong> nicht sagen konnte, ob vor<br />

Wut oder Kälte. Entschlossen trat er selbst in <strong>das</strong> Vorbereitungszimmer,<br />

wor<strong>auf</strong>hin sein Lehrer ihm schweigend folgte <strong>und</strong> die Tür ins Schloss<br />

schmiss.<br />

"Er ist ein Ekel!", fauchte er, jedwede Zurückhaltung, die er in<br />

seiner ersten Woche noch gezeigt haben mochte, fallen lassend.<br />

<strong>Harry</strong> grinste breit. "Geht mir genauso. Er hasst mich, seit wir uns<br />

<strong>das</strong> erste Mal gesehen haben ... ich nehme an, weil ich ihn an meinen<br />

Vater erinnere, den er noch viel mehr verabscheut hat. Vermutlich mag<br />

er dich deshalb nicht leiden."<br />

"Nun, darum, <strong>und</strong> weil in meiner Schulzeit keine Woche vergangen<br />

ist, in der ich ihm keine Streiche gespielt hätte. Nicht, <strong>das</strong>s ich mich für<br />

einige nicht schämen würde ... Froschlaich in seiner Suppe mag noch in<br />

Ordnung gewesen sein, aber ein Irrwicht unter seinem Bett ..." Bei der<br />

Erinnerung musste McGonagall <strong>doc</strong>h wieder lachen. "Ich wüsste nur zu<br />

173


gerne, in was es sich verwandelt hat. Vermutlich in die Rumtreiber, die<br />

ihm <strong>auf</strong> den Fersen sind."<br />

„Wie hast du –“, wollte <strong>Harry</strong> fragen, aber dann überlegte er sich,<br />

<strong>das</strong>s er lieber nicht wissen wollte, wie McGonagall in den<br />

Gemeinschaftsraum der Slytherins gekommen war.<br />

„<strong>Harry</strong>, ich fürchte, <strong>das</strong>s ich im Raum der Wünsche einen Fehler<br />

begangen habe“, blickte ihn sein Großcousin reuig an. „Ich wusste nicht,<br />

<strong>das</strong>s du so – äh, verschnupft <strong>auf</strong> Legilimentik reagieren würdest.“<br />

„Na ja, ist nicht besonders toll, wenn jemand in deinem Kopf<br />

herumsucht“, entgegnete <strong>Harry</strong> heftiger, als er eigentlich wollte.<br />

McGonagall senke den Kopf.<br />

„Klar, nur habe ich daran nicht gedacht. Früher haben wir uns<br />

einen Spaß daraus gemacht, Dinge, die wir aus Schicklichkeit gerade<br />

nicht sagen konnten, mittels Legilimentik auszutauschen. Und erst in den<br />

Prüfungen! Ich glaube, ich wäre damals in Geschichte der Zauberei<br />

ständig durchgefallen, wenn nicht eine meiner Klassenkameradinnen so<br />

gerne Blickkontakt mit mir während der Prüfungen gehalten hätte – auch<br />

wenn ich bis heute nicht weiß, wieso …“<br />

Da unterschied er sich wohl von seinem Vater, denn James wäre<br />

die Aufmerksamkeit einer Mitschülerin sicher nicht entgangen, dachte<br />

<strong>Harry</strong>.<br />

„Du hast ohne ihr Wissen ihre Gedanken gelesen?“, fragte er<br />

ungläubig. War die ganze Welt so unverschämt, oder hatte McGonagall<br />

<strong>das</strong> von den Rumtreibern gelernt?<br />

„Ich konnte schon früh recht gut Legilimentik, deshalb hat sie<br />

überhaupt nichts bemerkt, da ich sehr vorsichtig vorgegangen bin. Und<br />

es hat meinen Geschichts-ZAG gerettet, <strong>das</strong> war wichtig, weil ich ihn für<br />

den Lehrerberuf brauchte“, meinte McGonagall, nun, da er wieder von<br />

seinen Schulzeiten erzählen konnte, beschwingt <strong>und</strong> offensichtlich ohne<br />

schlechtes Gewissen.<br />

<strong>Harry</strong> wollte ihn schon anfahren wegen seiner offensichtlichen<br />

Dreistigkeit, die er auch heute noch zu haben schien, erinnerte sich dann<br />

je<strong>doc</strong>h an seine eigenen dürftigen Leistungen in Geschichte. Aber<br />

immerhin musste er nicht ungefragt in Hermines Gedanken eindringen,<br />

mal ganz abgesehen davon, <strong>das</strong>s sie ihm in dem Fall den Hals<br />

umdrehen würde.<br />

„Nun, was ich sagen wollte, ist, <strong>das</strong>s es mir Leid tut. Als Schüler<br />

haben wir Legilimentik eben als Kommunikationsmittel genutzt, <strong>und</strong> ich<br />

stand in diesem erstaunlichen Raum, war wieder in Hogwarts – es kam<br />

mir vor, als wäre alles wie damals. Entschuldige, es wird nicht wieder<br />

passieren, abgesehen davon lernt ihr ja jetzt Okklumentik.“<br />

Er klingt wie Sirius, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> schwieg. Ob er in mir auch<br />

einen wieder <strong>auf</strong>erstandenen Rumtreiber sieht? Er hörte Sirius’, wie er<br />

ihn mit dem Namen seinen Vaters rief, wie es im letzten Jahr einige Male<br />

174


geschehen war. Wieso sahen alle Leute jemandem in ihm, der er nicht<br />

war?<br />

„<strong>Harry</strong>?“, meinte McGonagall vorsichtig. „Wenn ich dich beleidigt<br />

haben sollte, so war <strong>das</strong> nicht meine Absicht –“<br />

„Nein, ist schon gut“, wiegelte <strong>Harry</strong> ab. „Du hattest ja keine bösen<br />

Absichten.“<br />

Irgendetwas an diesem Satz schien seinen Lehrer stutzig zu<br />

machen.<br />

„Hatte <strong>das</strong> schon einmal jemand?“, hakte er nach <strong>und</strong> entfachte mit<br />

einem Schwung seines Zauberstabes ein Feuer im Kamin, da er,<br />

durchnässt wie er war, merklich zu zittern angefangen hatte.<br />

<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf weniger als Verneinung <strong>auf</strong> diese Frage<br />

als vielmehr aus Unwillen, darüber reden zu wollen.<br />

„Natürlich gibt es Menschen, die Legilimentik einsetzen, um<br />

anderen zu schaden.“ Es war nicht so sehr eine Feststellung als eine<br />

Aufforderung an ihn, weiter<strong>zur</strong>eden.<br />

<strong>Harry</strong> schwieg immer noch, allerdings ging ihm McGonagalls<br />

forschender Blick <strong>auf</strong> die Nerven. Langsam meinte er: „Jemand hat<br />

einmal meine Gedanken manipuliert, mir falsche Bilder vorgegaukelt,<br />

wor<strong>auf</strong>hin ich Dinge getan habe, in deren Zuge eine mir nahe stehende<br />

Person gestorben ist.“<br />

„Du meinst Sirius Black?“<br />

Überrascht sah <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>. „Woher weißt du davon?“<br />

„Nun, er war dein Pate <strong>und</strong> ist letzten Juni getötet worden, in einem<br />

Kampf gegen Todesser, in den du augenscheinlich ebenfalls verwickelt<br />

warst. Was soll ich denn sonst schlussfolgern?“<br />

<strong>Harry</strong> nickte nur.<br />

„Das tut mir Leid“, meinte McGonagall traurig. „Ich kannte ihn aus<br />

meiner Schulzeit, <strong>und</strong> er war immer nett zu mir gewesen. Etwas<br />

eingebildet vielleicht, aber stets für jeden Spaß zu haben. Ich wusste<br />

nicht, <strong>das</strong>s ihr euch so nahe standet.“<br />

„Doch.“ <strong>Harry</strong> hatte überhaupt keine Lust, über Sirius zu sprechen,<br />

vor allem nicht mit einem vor fünf Tagen neu entdeckten Verwandten,<br />

welcher ihm selbst vorkam wie die Auferstehung eines Herumtreibers.<br />

McGonagall verstand den Wink <strong>und</strong> nickte. „In Ordnung, wenn du<br />

nicht darüber reden willst, vergessen wir <strong>das</strong> Thema.“<br />

Oh ja, dann musst du nicht so tun, als würdest du mich verstehen,<br />

dachte <strong>Harry</strong> wütend. Unwillkürlich kam ihm in den Sinn, <strong>das</strong>s er vor<br />

einigen Monaten genauso gegenüber Dumbledore empf<strong>und</strong>en hatte.<br />

Benahm er sich gegenüber McGonagall ungerecht? Trübe stellte er fest,<br />

<strong>das</strong>s ihn diese Frage überhaupt nicht interessierte. Er mochte sein<br />

Verwandter sein, aber er bedeutete ihm nichts, jedenfalls noch nicht.<br />

Was wusste er schon über Sirius oder seinen Vater? Ja, was?<br />

175


„Hast du die Rumtreiber gut gekannt?“, wollte er wissen. „Und<br />

meinen Vater?“<br />

Sein Lehrer verfiel in einen bisher nicht gezeigten Ernst.<br />

„Sicher, wie gesagt, obwohl wir einige Jahre auseinander waren,<br />

verbrachte ich ab <strong>und</strong> zu einige Zeit mit ihnen. Ihre große Ära kam wohl<br />

erst nach meiner Schulzeit, aber bereits währenddessen waren sie die<br />

größten Störenfriede der ganzen Schule – <strong>und</strong> ich, muss ich gestehen,<br />

habe mich ihnen manchmal angeschlossen <strong>auf</strong> der Suche nach neuen<br />

Möglichkeiten, Lehrer <strong>und</strong> Mitschüler zu ärgern <strong>und</strong> Regeln zu brechen.<br />

Aber <strong>das</strong> ist lange her, <strong>und</strong> da wir abgesehen von einigen Abenteuern<br />

nicht viel gemeinsam hatten, kannte ich die vier auch nicht so gut. Aber<br />

<strong>das</strong>s dein Vater genauso aussieht wie du, wirst du ja wissen. Na, ich<br />

sehe ihm selbst so ähnlich wie sein Zwillingsbruder, also stecken wir alle<br />

irgendwie in derselben Lage.“<br />

„Aber wieso haben Sirius <strong>und</strong> Lupin nie etwas von dir gesagt?“<br />

„Warum hätten sie sollen? Sie wussten nichts von unserer<br />

Verwandtschaft, außerdem haben wir nur ein, zwei Jahre hin <strong>und</strong> wieder<br />

etwas zusammen unternommen. Und jeder glaubte zudem, ich wäre tot,<br />

vergiss <strong>das</strong> nicht.“<br />

„Glaubst du an die Rückkehr der Toten?“, fragte <strong>Harry</strong> derart<br />

unwillkürlich, <strong>das</strong>s er sich nach diesem Satz am liebsten die Zunge<br />

abgebissen hätte.<br />

„Was?“, starrte ihn McGonagall entgeistert an.<br />

„Ach, nichts“, log <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> erweckte so erst recht <strong>das</strong> Misstrauen<br />

seines Lehrers.<br />

„<strong>Harry</strong>, vergiss nicht, <strong>das</strong>s ich mit sämtlichem Verhalten, <strong>das</strong><br />

gewisse mysteriöse, lieber ungesagte Dinge verdecken soll, vertraut bin.<br />

Wäre ich <strong>das</strong> nicht, hätte ich meinen Abschluss hier nie machen<br />

können.“<br />

<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf <strong>und</strong> spürte den drängenden Blick seines<br />

Groscousins <strong>auf</strong> sich.<br />

Enttäuschung lag in McGonagalls Stimme, als er meinte: „Na gut,<br />

du musst mir nichts sagen. Ich respektiere Geheimnisse, auch wenn ich<br />

gerne wüsste, was dir zu schaffen macht. Denn es ist nicht zu<br />

übersehen, <strong>das</strong>s dir etwas im Kopf herumspukt.“<br />

„Es ist alles in Ordnung, ich muss nur über einige Geschehnisse<br />

des letzten Junis hinwegkommen“, antwortete <strong>Harry</strong> fest.<br />

McGonagall ahnte sichtlich, <strong>das</strong>s nichts in Ordnung war, schien<br />

aber auch zu wissen, <strong>das</strong>s es noch zu früh war, <strong>Harry</strong> deswegen<br />

auszufragen.<br />

Er erhob sich <strong>und</strong> stellte sich nun dicht vor <strong>das</strong> Kaminfeuer, damit<br />

seine Sachen trocknen konnten.<br />

176


„Ich muss noch ein paar Notizen für meine nächste St<strong>und</strong>e<br />

vorbereiten“, meinte er in einem mehr oder minder direkten Versuch,<br />

<strong>Harry</strong> zu bitten zu gehen.<br />

Dieser stand <strong>auf</strong>, nahm seine Tasche <strong>und</strong> drehte sich noch einmal<br />

um.<br />

„Tut mir Leid, <strong>das</strong>s ich dir nicht alles sagen kann – irgendwann<br />

vielleicht einmal, wenn ich mir sicherer bin.“ Wenn ich zum Beispiel weiß,<br />

was es mit dem Rosier-Buch <strong>auf</strong> sich hat, dachte <strong>Harry</strong>.<br />

McGonagall nickte nur. Dann fing er wieder an, fröhlich <strong>und</strong><br />

unbeschwert zu lächeln. „Ihr könnt euch schon einmal <strong>auf</strong> eure nächste<br />

St<strong>und</strong>e freuen – wir verschieben ungesagte Zauber, stattdessen habe<br />

ich etwas Besonderes vor“, grinste er unternehmungslustig.<br />

„Ach, <strong>und</strong> nimm am besten die Tür hinter dem Bücherschrank, sie<br />

führt dich weiter <strong>zur</strong> Haupttreppe, nur für den Fall, <strong>das</strong>s unser Fre<strong>und</strong><br />

Snape draußen heumtigert <strong>und</strong> dar<strong>auf</strong> wartet, dich zu fragen wieso ich<br />

aussehe, als wäre ich in den großen See gefallen.“<br />

Erstaunt schaute <strong>Harry</strong> <strong>zur</strong>ück, aber sein Lehrer hatte bereits<br />

begonnen, in seinen Unterlagen zu wühlen <strong>und</strong> beachtete ihn nicht<br />

mehr. Leise schloss er die Tür.<br />

Nachdem er fasziniert festgestellt hatte, <strong>das</strong>s sich hinter dem alten<br />

Regal im hinteren Teil des Klassenraumes tatsächlich ein Geheimgang<br />

befand, der ihm den Korridor vor dem Klassenzimmer ersparte <strong>und</strong> ihn<br />

<strong>auf</strong> direktem Weg <strong>zur</strong> Treppe in die oberen Stockwerke führte, begab er<br />

sich zu Ron <strong>und</strong> Hermine in den Gemeinschaftsraum, wo er ihnen von<br />

seinem Gespräch mit McGonagall erzählte – auch wenn es wenig<br />

interessant gewesen war. Ron starrte nur verträumt in die Gegend <strong>und</strong><br />

malte sich aus, wie es wäre, in Prüfungen ebenfalls in Hermines<br />

Gedanken eindringen zu können, <strong>und</strong> Hermine grübelte fieberhaft nach,<br />

was sich McGonagall für die nächste St<strong>und</strong>e einfallen ließ – ihre fixe<br />

Idee, er würde eine Art Zauberwettbewerb zwischen den Schülern<br />

starten, stieß aber <strong>auf</strong> wenig Gegenliebe.<br />

Die nächsten Tage häufte sich die Arbeit für die Sechstklässler<br />

enorm. Gerade hatte <strong>Harry</strong> den Aufsatz über Vielsafttrank für Snape<br />

fertig geschrieben, da mussten sie einen weiteren Bericht über dessen<br />

genaue Zubereitung <strong>und</strong> mögliche Nebenwirkungen schreiben, <strong>auf</strong><br />

Gr<strong>und</strong>lage dessen sie ihn in der folgenden Woche brauen sollten. Snape<br />

hatte angekündigt, jedem von ihnen den eigenen Trank kosten zu<br />

lassen, weshalb sich die Schüler mit großem Ernst an die Arbeit<br />

machten – Ernie sah man mehrere Nachmittage lang in der Bibliothek<br />

hocken, wo er hinter großen Zaubertrank-Wälzern verborgen kaum zu<br />

sehen war. <strong>Harry</strong> bekam es leicht mit der Angst zu tun, allerdings schien<br />

Hermine ihren Anflug von Großmut fortsetzen zu wollen <strong>und</strong> half ihm<br />

weiterhin bei seinen Haus<strong>auf</strong>gaben.<br />

177


Aber auch in Verwandlung, Zauberkunst <strong>und</strong> Kräuterk<strong>und</strong>e<br />

mussten sie eine Unmenge an Aufgaben erledigen – Aufsätze, für erste<br />

Arbeiten lernen, Zeichnungen anfertigen <strong>und</strong> sogar Referate üben.<br />

Selbst Hagrid verschonte sie nicht, denn er verlangte eine drei Fuß lange<br />

Abfassung über die Lebensweise von Graphörnern – wobei ihm egal zu<br />

sein schien, <strong>das</strong>s bisher kaum etwas darüber bekannt war. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

Ron dachten sich unumw<strong>und</strong>en die nötigen Informationen aus,<br />

wohingegen Hermine versuchte, aus den spärlichen Hinweisen der<br />

Bibliotheksbücher einen Aufsatz zusammenzustoppeln.<br />

Zu seiner unsäglichen Erleichterung hatte sich die Tatsache, <strong>das</strong>s<br />

er mit McGonagall verwandt war, nicht herumgesprochen. Von Zeit zu<br />

Zeit sprachen ihn zwar noch einige neugierige Schüler <strong>auf</strong> die<br />

Ähnlichkeit mit seinem Lehrer an, was er aber stets als Zufall<br />

<strong>zur</strong>ückwies. Er hatte keine Lust, erneutes Aufsehen zu erregen, indem er<br />

einen neu entdeckten Verwandten präsentierte – außerdem dachte er,<br />

<strong>das</strong>s es besser wäre, wenn sich in der Zaubererwelt <strong>und</strong> besonders<br />

unter den Todessern nicht herumspräche, <strong>das</strong>s es eine weitere Person<br />

gab, die ihm etwas bedeutete.<br />

Schnell wurde es Donnerstagmorgen, an dem sich die drei wieder<br />

<strong>auf</strong> den Weg in den Klassenraum für Verteidigung begaben <strong>und</strong><br />

McGonagall zu ihrer Überraschung schon vor den Tischreihen stehen<br />

sahen – normalerweise kam er immer ein wenig zu spät –, vor sich eine<br />

große Kiste voll grünem, schleimigen Zeug, <strong>das</strong> bei <strong>Harry</strong> wohl einen<br />

Würgreiz ausgelöst hätte, wenn er nicht gewusst hätte, <strong>das</strong>s es sich<br />

dabei um Dianthuskraut handelte. Wozu sie <strong>das</strong> allerdings brauchen<br />

sollten, war ihm schleierhaft.<br />

„Setzt euch bitte kurz hin!“, rief ihr Lehrer, als alle Schüler in den<br />

Rau getreten waren.<br />

Freudestrahlend <strong>und</strong> ungeduldig schaute er sie an.<br />

„Heute habe ich etwas Neues vor – einen Ausflug <strong>auf</strong> die<br />

Länderein. Dabei werdet ihr Tierwesen begegnen, die ihr bisher nur<br />

theoretisch im Unterricht behandelt habt.“<br />

„Tierwesen <strong>auf</strong> den Länderein? Was sollen <strong>das</strong> für welche sein –<br />

Eulen?“, maulte Ron leise, der wie üblich seine Zeit in Verteidigung<br />

damit zubrachte, Hermine argwöhnisch zu betrachten, die wie genauso<br />

üblich den Blick nicht von McGonagall lassen konnte.<br />

„Sei still, Ronald“, entgegnete sie mechanisch.<br />

„Und zwar werden wir einen Ausflug in den See machen!“, rief ihr<br />

Lehrer voller Vorfreude <strong>auf</strong> die Aussicht, in einem ungeheuer tiefen,<br />

dunklen <strong>und</strong> gefährlichen See voller Wassermenschen <strong>und</strong> einem<br />

Riesenkraken einen Tauchausflug zu unternehmen.<br />

178


Die gesamte Klasse war sofort mucksmäuschenstill. Neville starrte<br />

erschrocken nach vorne, als hoffe er, McGonagall würde sogleich in<br />

Lachen ausbrechen <strong>und</strong> alles für einen Scherz erklären. Aber der dachte<br />

gar nicht daran.<br />

„Natürlich müsst ihr unter Wasser atmen können – deswegen habe<br />

ich <strong>das</strong> hier mitgebracht.“ Er hielt eine Handvoll Dianthuskraut hoch, <strong>das</strong><br />

in schleimigen, übelgrünen Fäden von seinen Fingern hing. <strong>Harry</strong> hörte<br />

neben sich etwas, was verdächtig nach Seamus klang, der gerade<br />

würgte.<br />

„Weiß jemand, was <strong>das</strong> ist?“ <strong>Harry</strong> wusste es natürlich <strong>und</strong> erklärte<br />

die Wirkung der magischen Pflanze, die einem Kiemen <strong>und</strong><br />

Schwimmhäute wachsen ließ.<br />

„Sehr gut!“, ließ McGonagall <strong>das</strong> matschige Zeug wieder in die<br />

Kiste fallen. „Dann schlage ich vor, wir gehen runter an den See, wo ich<br />

euch eure Aufgaben erkläre.“<br />

Aufgeregt vor sich hertuschelnd liefen die Schüler zum<br />

Eingangsportal des Schlosses <strong>und</strong> über in goldenes Sonnenlicht<br />

getauchte Wiesen, hinter denen die im Morgendunst unschuldig<br />

wirkenden Baumwipfel des Verbotenen Waldes rauschten. Die riesige<br />

Fläche des Sees spiegelte sich blau unter dem wolkenlosen Himmel.<br />

Obwohl es noch am Vormittag war, hatte sich die Luft bereits erhitzt <strong>und</strong><br />

flirrte leicht über den trägen, vollkommen ruhigen Wassermassen.<br />

<strong>Harry</strong> ging langsam <strong>und</strong> enorm unwillig <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Ufer zu, die<br />

einprägsamen Bilder seiner letzten Begegnung mit den Untiefen des<br />

Sees lasteten noch zu sehr <strong>auf</strong> ihm.<br />

„Müssen wir darunter?“, fragte er <strong>und</strong> schaute misstrauisch zu<br />

McGonagall, der die Kiste mit Dianthuskraut neben sich herschweben<br />

ließ <strong>und</strong> hibbelig vor Aufregung über Maulwurfshügel sprang.<br />

„Glaubst du, ich bin scharf dar<strong>auf</strong>, noch einmal gegen die<br />

Wassermenschen zu kämpfen?“, empörte sich Ron.<br />

„Du warst <strong>das</strong> letzte Mal <strong>doc</strong>h bewusstlos, bis du wieder an Land<br />

warst!“, fauchte Hermine <strong>zur</strong>ück. <strong>Harry</strong> lief einige Schritte vor, um ihrem<br />

Gekabbel zu entkommen. Plötzlich blieb er ruckartig stehen.<br />

„Die schon wieder!“<br />

Auch die anderen Gryffindors blickten mehr oder minder entsetzt<br />

<strong>auf</strong> die Slytherins, die sich bereits am Seeufer scharrten, zwischen ihnen<br />

standen einige verlorene Hufflepuffs <strong>und</strong> Ravenclaws.<br />

„Wie ihr seht, werden wir heute Klassen übergreifenden Unterricht<br />

haben", erklärte McGonagall <strong>und</strong> nickte den beiden anderen Klassen zu.<br />

„Ach ja, <strong>und</strong> Rick ist heute nicht dabei – er, äh, muss Schreibarbeit<br />

erledigen.“<br />

Wohl eher Strafarbeit, dachte <strong>Harry</strong> mit Genugtuung.<br />

Malfoy drehte sich nun mit einem eindeutig angewiderten Ausdruck<br />

um <strong>und</strong> schaute höhnisch zu <strong>Harry</strong>.<br />

179


"Na <strong>Potter</strong>, schon Angst vor dem Riesenkraken?", fragte er fies<br />

grinsend.<br />

"Im Gegensatz zu dir mache ich mir nicht in die Hose", knurrte<br />

<strong>Harry</strong>. "Denn ich bin schon einmal in dem See gewesen. Weißt du, <strong>das</strong>s<br />

die Wassermenschen Speere tragen, mit denen sie <strong>auf</strong> Eindringlinge<br />

losgehen?"<br />

Das hatte Malfoy sichtbar nicht gewusst, denn er wandte sich<br />

schnell ab, damit niemand sein erschrockenes Gesicht sehen konnte.<br />

"Ganz ruhig, keiner wird von Wassermenschen gejagt", versuchte<br />

McGonagall zu beschwichtigen <strong>und</strong> reichte Malfoy eine Hand voll<br />

Dianthuskraut. Dieser sah ihn hochmütig an. "Doch, hoffentlich Sie,<br />

Muggelliebhaber", fauchte er <strong>und</strong> lachte zusammen mit seinen<br />

Hauskameraden kalt <strong>auf</strong>.<br />

McGonagall schüttelte den Kopf <strong>und</strong> ging zu den Gryffindors.<br />

"Jeder ein Büschel, schön kauen <strong>und</strong> runterschlucken", wies er an.<br />

"Sonst wirkt es nicht. Aber wartet noch eine Minute."<br />

Er, selbst eine Portion des Krauts essbereit in der Hand haltend,<br />

stellte sich nun in ihre Mitte.<br />

"In diesem See werdet ihr einigen der Wasserwesen begegnen, die<br />

in euren Büchern stehen. Und damit meine ich nicht nur den<br />

Riesenkraken oder Wassermenschen. Mit Dumbledores Einverständnis<br />

habe ich in den letzten Wochen einige Wasserbewohner einführen<br />

lassen, die es <strong>auf</strong> dem Hogwarts-Gelände noch nicht gab."<br />

"Er kling wie Hagrid", meinte Ron ehrfürchtig <strong>und</strong> schaute Böses<br />

ahnend in die himmelblauen Fluten.<br />

"Ach was, er würde uns nie in Gefahr bringen – er möchte <strong>doc</strong>h<br />

nur, <strong>das</strong>s wir den Umgang mit dunklen Kreaturen lernen", verteidigte<br />

Hermine ihren Lehrer.<br />

"Ja, du kannst dir wieder mal nicht vorstellen, <strong>das</strong>s ein Hogwarts-<br />

Lehrer etwas Schlimmes im Schilde führt!", entgegnete Ron, der mit<br />

jeder verstreichenden Minute nervöser zu werden schien.<br />

"McGonagall ist nicht böse!", schrie Hermine leise.<br />

"Nein, <strong>und</strong> <strong>das</strong> ist Hagrid auch nicht, dennoch hat er uns unlängst<br />

fast von einem Graphorn ertrampeln lassen ..."<br />

<strong>Harry</strong> wandte sich ab <strong>und</strong> hörte lieber seinem Großcousin zu.<br />

"Ich möchte, <strong>das</strong>s ihr eine St<strong>und</strong>e im See taucht <strong>und</strong> bis nächste<br />

Woche einen Bericht über eure Erfahrungen schreibt. Was euch dort<br />

unten erwartet, sind neben dem Kraken <strong>und</strong> den Wassermenschen<br />

Grindelohs, Hippocampi, Seeschlangen <strong>und</strong> auch ein Kelpie."<br />

<strong>Harry</strong> hörte Hermine <strong>auf</strong>keuchen. Ihm schwante Übles.<br />

"Was ist ein Kelpie?", fragte er sofort.<br />

"Gute Frage, <strong>Harry</strong>", lächelte McGonagall. "Wer kann sie<br />

beantworten?"<br />

Hermines Hand erhob sich wie üblich über alle anderen.<br />

180


"Ja?"<br />

"Ein Kelpie", meinte sie erfreut, ihr Wissen loszuwerden, "ist ein<br />

Wasserdämon, der verschiedene Formen annehmen kann. Am<br />

häufigsten erscheint er je<strong>doc</strong>h in Gestalt eines Pferdes, <strong>das</strong> seinen<br />

ahnungslosen Reiter in die Tiefen seines Gewässers zieht <strong>und</strong> ihn dort<br />

bis <strong>auf</strong> dessen Eingeweide verschlingt."<br />

Alles war totenstill, nur die Vögel sangen noch in den Bäumen.<br />

Auch Hermine ging langsam <strong>auf</strong>, was sie gerade gesagt hatte. Entsetzt<br />

starrte sie McGonagall an.<br />

Dieser entgegnete je<strong>doc</strong>h in <strong>auf</strong>munterndem Ton: "Beunruhigt<br />

euch nicht unnötig –", wurde allerdings von Ron unterbrochen, der sauer<br />

<strong>auf</strong>lachte. "Nein, wieso auch, einem Fleisch fressenden Pferd wollte ich<br />

schon immer einmal begegnen!"<br />

"Unser Kelpie wird euch nicht fressen", stellte McGonagall klar. "Es<br />

ist dressiert. Wie auch alle anderen Wasserbewohner – na ja, bis <strong>auf</strong> die<br />

Wassermenschen selbst. Aber nichts dort unten wird euer Leben<br />

bedrohen. Natürlich werdet ihr euch gegen die Wesen <strong>zur</strong> Wehr setzen<br />

müssen, um ihnen problemlos zu entkommen, aber dafür hattet ihr auch<br />

die letzten fünf Jahre Verteidigungsunterricht. Einem Kelpie hext ihr<br />

übrigens mittels eines Platzierungszaubers Zaumzeug an, dann wird es<br />

fügsam." Zwei Dutzend Schüler sahen ihn schweigend an. Hermine<br />

schien ganz erpicht, aber auch entsprechend nervös zu sein, ihre<br />

Erkenntnisse anzuwenden.<br />

"Esst jetzt bitte euer Kraut, <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ert euch nicht wegen des<br />

Geschmacks."<br />

<strong>Harry</strong> hatte sein Dianthuskraut schnell heruntergewürgt, aber Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine, die es nicht gewöhnt waren, kauten angeekelt <strong>auf</strong> den<br />

schleimigen Strunken herum.<br />

"Solltet ihr <strong>doc</strong>h in Panik geraten, so schickt rote Blitze in den<br />

Himmel – der Zauberspruch lautet "Periculum". Ich werde am Ufer<br />

stehen <strong>und</strong> <strong>auf</strong>passen. Und nun los, die Wirkung des Dianthuskrauts hält<br />

nicht ewig an. Auf geht’s!" Er klatschte in die Hände, während die<br />

Schüler ihre Umhänge auszogen, damit sie ihnen unter Wasser nicht <strong>zur</strong><br />

Last fielen. Danach gingen sie zögernd ins Wasser. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong><br />

Hermine liefen dicht nebeneinander Schritt für Schritt in die unendlichen<br />

Wasserfluten hinein.<br />

"Wir versuchen, zusammenzubleiben", schärfte <strong>Harry</strong> den beiden<br />

noch einmal ein, bevor er ein Ziehen am Hals spürte <strong>und</strong> wusste, <strong>das</strong>s<br />

ihm nun Kiemen wuchsen. Ron neben ihm stürzte sich schon ins<br />

Wasser, verzweifelt nach Luft schnappend. Auch <strong>Harry</strong> gab dem<br />

sehnsüchtigen Verlangen nach Luft nach <strong>und</strong> warf sich nach vorne in die<br />

Leben spendenden Wellen.<br />

Sofort wurde alles dunkel um ihn herum, mit jedem Schwimmzug,<br />

den er tiefer schwamm, entfernte er sich mehr von dem schummrigen<br />

181


Licht, <strong>das</strong> die oberen Schichten des Wassers blau-grün durchdrang, vor<br />

sich nichts als unendliche Dunkelheit, von Schatten unterbrochen, hinter<br />

denen er vor sich schwimmende Schüler vermutete. Neben sich erblickte<br />

er Ron <strong>und</strong> Hermine, die ungeachtet ihrer besorgten Blicke weiter in die<br />

Tiefe vordrangen. Noch erkannte er nichts, was ihn beunruhigen konnte,<br />

links unter sich machte er ein dichtes Tangdickicht aus, rechts befanden<br />

sich kleine Felsen, die mit jedem Meter gewaltiger <strong>und</strong> unübersichtlicher<br />

wurden. Er bedeutete seinen Fre<strong>und</strong>en, um die Felsen herum zu<br />

schwimmen <strong>und</strong> sich vom Tang fernzuhalten, als daraus plötzlich etwas<br />

Blassgrünes hervor schoss <strong>und</strong> sich um Rons Knöchel schloss. Mit<br />

seinen langen, ungeheuer griffstarken Händen zerrte der kleine<br />

Grindeloh Ron ins Algendickicht, während Hermine <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> ihn an den<br />

Armen haltend versuchten, <strong>zur</strong>ückzuziehen. Gerade als sie Erfolg zu<br />

haben schienen, brachen zwei weitere Wasserdämonen aus den grünen<br />

Algenschlieren hervor <strong>und</strong> schnappten sich Hermine. Mit einem<br />

gewaltigen Ruck gelang es dem ersten Grindeloh, Ron <strong>Harry</strong> zu<br />

entreißen <strong>und</strong> in den Teppich aus Tang zu ziehen, direkt hinter Hermine<br />

her.<br />

<strong>Harry</strong> stieß einen geräuschlosen Schrei aus <strong>und</strong> feuerte einen<br />

Stupor in <strong>das</strong> blau-grüne Gewirbel vor ihm, bevor ihm einfiel, <strong>das</strong>s er<br />

höchstens Ron <strong>und</strong> Hermine treffen würde. So klemmte er seinen<br />

Zauberstab wieder an seinen Gürtel <strong>und</strong> folgte den Wasserdämonen.<br />

Hektisch schwamm er durch <strong>das</strong> Tangdickicht, einen Meter in die,<br />

einen Meter in die andere Richtung, ohne etwas zu sehen außer Algen<br />

<strong>und</strong> einmal den Fuß eines Grindelohs, der allerdings alleine war. Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine waren längst verschw<strong>und</strong>en.<br />

<strong>Harry</strong> hielt inne <strong>und</strong> keuchte mit stechenden Seiten, spürte <strong>das</strong><br />

kühle Wasser durch seine Kiemen strömen. Kurz überlegte er,<br />

McGonagall zu rufen, aber andererseits waren Grindelohs nicht wirklich<br />

gefährlich, mit einem einfachen Lähmzauber hatte man sie schnell<br />

unschädlich gemacht, außerdem konnte man ihren Griff leicht brechen.<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine waren zu zweit, sie würden sich schon befreien<br />

können. Wahrscheinlich wären sie sauer, wenn er ihnen McGonagall <strong>auf</strong><br />

den Hals hetzte.<br />

Dennoch schwamm er äußerst unschlüssig weiter. Nach einigen<br />

Minuten, in denen er niemanden gesehen hatte, war er <strong>doc</strong>h so weit<br />

beunruhigt, <strong>das</strong>s er schon seinen Zauberstab hob, um Hilfe zu holen. Da<br />

hörte er einen durchdringenden Schrei irgendwo vor sich.<br />

Fieberhaft trat er nach hinten aus <strong>und</strong> paddelte so schnell es ihm<br />

möglich war durch den Tang, zwar konnte er sich unter Wasser <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong><br />

seiner Flossen ungeheuer flink bewegen, <strong>und</strong> er sah auch weit klarer<br />

<strong>und</strong> besser, als er es ohne <strong>das</strong> Dianthuskraut gekonnt hätte. Dennoch<br />

dauerte es noch einige Minuten, bis er endlich in freieres Gewässer<br />

gelangte. Da er sich <strong>auf</strong> der Suche nach der Ursache des Schreis einmal<br />

182


um sich drehte, übersah er einen dunklen Felsen <strong>und</strong> krachte mit dem<br />

Knie dagegen.<br />

Ein stummes Stöhnen kam über seine Lippen, während ein dünner<br />

Blutfaden im trüben Wasser nach oben stieg. Irritiert wandte er sich dem<br />

Stein zu <strong>und</strong> stellte fest, <strong>das</strong>s er ihn kannte. Auf ihm waren gemalte<br />

Wassermenschen zu erkennen, die mit Speeren einen Riesen – nein, ein<br />

Seepferd jagten. Anscheinend hatten die Meeresbewohner mit dem<br />

Kelpie einen neuen Feind gewonnen.<br />

Einige Meter weiter erkannte er auch schon die kleinen, mit Algen<br />

bewachsenen Steingebäude, vor denen hin <strong>und</strong> wieder ein<br />

Hausgrindeloh angeb<strong>und</strong>en war <strong>und</strong> aus denen nun einige<br />

Wassermenschen heraus schwammen, mit ihrer grauen Haut <strong>und</strong> ihren<br />

wilden, grünen Haaren genauso bedrohlich wie eh <strong>und</strong> je.<br />

Ohne sie groß zu beachten schwamm <strong>Harry</strong> weiter zum Dorfplatz,<br />

wo zwei dieser Gestalten mit außerordentlich großen Speeren hinter<br />

einem dritten Wassermenschen herjagten. Hatte dieser den Schrei<br />

ausgestoßen?<br />

Er wollte schon abdrehen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Wassermenschendorf lieber<br />

verlassen, als der Verfolgte <strong>auf</strong> ihn zu schwamm <strong>und</strong> keineswegs einem<br />

Wassermenschen ähnelte, im Gegenteil, mit jedem Zug, den er näher<br />

kam, nahm er mehr Ähnlichkeit mit Neville an. Scheinbar hatte er es<br />

irgendwie geschafft, sich mit den wenig gastfre<strong>und</strong>lichen Seebewohnern<br />

anzulegen.<br />

„<strong>Harry</strong>!“, rief Neville, jedenfalls glaubte <strong>Harry</strong> <strong>das</strong>, weil er nichts<br />

weiter sehen konnte als einige Blasen, die aus Nevilles M<strong>und</strong><br />

hochstiegen.<br />

Ohne nachzudenken feuerte <strong>Harry</strong> einen Lähmzauber <strong>auf</strong> Nevilles<br />

Verfolger, der allerdings wie die meisten Flüche unter Wasser als heißer<br />

Strahl Wasser entwich. Zumindest brachte er die Wassermenschen<br />

dazu, einige Meter zu abzuschwenken, so<strong>das</strong>s Neville unbeschadet bei<br />

<strong>Harry</strong> ankommen konnte.<br />

Seit wann waren Wassermenschen so aggressiv? Beunruhigt<br />

beobachtete er sie, wie sie einen Halbkreis um sie schlossen. Einer von<br />

ihnen, ein besonders großer <strong>und</strong> wild aussehender mit einer Kette aus<br />

Haifischzähnen, wies mit der Hand in die Ferne.<br />

„Verlasst unsere Siedlung, ihr bringt Unheil über uns!“, dröhnte er<br />

<strong>und</strong> stieß warnend mit seinem Speer in ihre Richtung.<br />

Unheil? Wie sollte <strong>das</strong> gehen?, fragte <strong>Harry</strong> sich, wurde aber von<br />

Neville abgelenkt, der <strong>auf</strong>geregt <strong>auf</strong> den Boden um sich zeigte <strong>und</strong> dann<br />

<strong>auf</strong> seine Hände. Da verstand <strong>Harry</strong>, Neville hatte seinen Zauberstab im<br />

Schlamm verloren...<br />

Als er ihm helfen wollte zu suchen, stürmten gleich drei<br />

Wassermenschen <strong>auf</strong> sie zu <strong>und</strong> drängten sie weiter von der Siedlung<br />

weg.<br />

183


„Verschwindet, ihr lockt <strong>das</strong> Wasserpferd an!“, knirschte einer mit<br />

seiner krächzenden Stimme.<br />

Das Wasserpferd! Die Siedlungsbewohner befürchteten, sie<br />

würden <strong>das</strong> Kelpie anlocken ... Menschenfleisch. Neville starrte ihn<br />

angsterfüllt an, <strong>und</strong> in dem Moment verstand <strong>Harry</strong>, warum Legilimentik<br />

manchmal <strong>doc</strong>h von Vorteil sein konnte. Gerne hätte er ihn beruhigt <strong>und</strong><br />

die Worte McGonagalls wiederholt, <strong>das</strong> Kelpie wäre dressiert.<br />

Aber ein fürchterlicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf:<br />

Hätten die Wassermenschen solche Panik vor einem dressierten<br />

Wasserdämonen?<br />

Neville zog immer noch an seinem Hemd <strong>und</strong> wollte wieder <strong>zur</strong>ück<br />

<strong>zur</strong> Siedlung, um seinen Zauberstab zu suchen, aber <strong>Harry</strong> sah keinen<br />

Weg, wie sie <strong>das</strong> schaffen sollten. Doch ohne Zauberstab würde Neville<br />

hier unten nicht weit kommen. Deshalb hob <strong>Harry</strong> seinen eigenen (die<br />

Wassermenschen kreischten böse <strong>auf</strong>), zeigte ihn Neville <strong>und</strong> wies nach<br />

oben. Dieser verstand <strong>und</strong> nickte. Kurz dar<strong>auf</strong> durchbrachen rote Blitze<br />

<strong>und</strong> Funken die Wasseroberfläche des Sees <strong>und</strong> verloren sich im<br />

Sommerhimmel.<br />

<strong>Harry</strong> versuchte Neville <strong>auf</strong> die Schulter zu klopfen, was ihm wegen<br />

des Wasserdrucks nur un<strong>zur</strong>eichend gelang <strong>und</strong> wies in die dunklen<br />

Tiefen jenseits des Wassermenschendorfes.<br />

„Ich muss Hermine <strong>und</strong> Ron suchen!“, rief er, ohne <strong>das</strong>s er<br />

erwartete, <strong>das</strong>s Neville ihn verstand. Der schien auch keine Lust zu<br />

haben, trotz einigen Abstandes in der Nähe der schaurigen<br />

Seebewohner zu bleiben, die sie nach wie vor genau beobachteten, sah<br />

aber ein, <strong>das</strong>s er <strong>Harry</strong> kaum helfen konnte. Nach einem letzten Blick<br />

<strong>zur</strong>ück verschwand dieser zwischen den hohen Felsen, die <strong>das</strong> Dorf <strong>auf</strong><br />

der anderen Seite umstanden.<br />

Konzentriert <strong>und</strong> <strong>auf</strong> jede etwaige Bewegung achtend schwamm er<br />

langsam vorwärts. So tief war er noch nie in den See vorgedrungen.<br />

Unbekannte Felsformationen, unergründliche Gräben <strong>und</strong> seltsame<br />

Pflanzen tauchten in seinem Blickfeld <strong>auf</strong>, an <strong>und</strong> wann war auch eine<br />

Seeschlange dabei. Wie lange konnte er überhaupt noch unter Wasser<br />

bleiben? Wann würde ihm die Luft ausgehen? Vielleicht wäre es besser<br />

gewesen, bei Neville <strong>auf</strong> McGonagall zu warten. Wenn Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

noch im See waren, dann sicher nicht hier.<br />

Nach einiger Zeit sah er merkwürdige Pflanzen vor sich<br />

<strong>auf</strong>tauchen, gelblich-grün mit schleimigen, fadenartigen Blättern, die den<br />

gesamten Boden bedeckten. Dahinter erstreckte sich ein weiterer<br />

Tangdschungel. Eigentlich war er nicht allzu scharf dar<strong>auf</strong>, sich erneut<br />

mit den bösartigen Grindelohs anzulegen <strong>und</strong> überlegte, abzudrehen<br />

<strong>und</strong> endlich an die Wasseroberfläche <strong>zur</strong>ückzukehren. Er musste<br />

erfahren, wo Ron <strong>und</strong> Hermine waren. Erleichtert wandte er sich nach<br />

oben <strong>und</strong> wollte losschwimmen, als etwas sein Bein umklammerte. Er<br />

184


trat heftig nach hinten aus, um den Grindeloh loszuwerden, schaffte es<br />

aber nicht, den eisenharten Griff um sein Fußgelenk zu brechen. Und<br />

irgendwie hatte dieser Wasserdämon ungewöhnlich dicke Finger.<br />

<strong>Harry</strong> drehte sich um <strong>und</strong> schaute erschrocken in <strong>das</strong> bleiche<br />

Gesicht von Malfoy, der seinen Zauberstab <strong>auf</strong> ihn richtete.<br />

Instinktiv duckte er sich weg, sah aber einen dunklen Wasserstrahl<br />

dicht an sich vorbeischießen <strong>und</strong> versuchte, freizukommen. Aber wieder<br />

sah er Malfoys Zauberstabspitze dicht vor seinem Gesicht.<br />

Egal, was er für einen Zauber benutzt, ich wette, er ist nicht dazu<br />

gedacht, mir einen Blumenstrauß her<strong>auf</strong>zubeschwören, dachte <strong>Harry</strong><br />

leicht panisch. Erneut murmelte Malfoy einige Worte vor sich her,<br />

wor<strong>auf</strong>hin ein bedrohlich dunkler Blitz aus der Spitze seines<br />

Zauberstabes brach <strong>und</strong> un<strong>auf</strong>haltsam <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> zuschoss, <strong>das</strong> Wasser<br />

um sich herum zum Brodeln bringend. <strong>Harry</strong> zuckte nur weiterhin hilflos<br />

mit seinem Bein <strong>und</strong> schloss die Augen vor dem Unvermeidlichen, als er<br />

von etwas ungeheuer Großem <strong>und</strong> Schwerem herumgerissen wurde.<br />

Der Fluch verlor sich in den Weiten des Sees.<br />

Zu Tode erschrocken sah <strong>Harry</strong> vor seinen Augen eine Wolke von<br />

Haaren herumwirbeln, dann einen schlanken Widerriss <strong>und</strong> ein langes<br />

Bein von der fahlen Farbe von Mondlicht, <strong>das</strong> <strong>auf</strong> Schnee scheint. Was<br />

immer ihn <strong>und</strong> Malfoy gerammt hatte war eine Sek<strong>und</strong>e später<br />

verschw<strong>und</strong>en, auch wenn <strong>Harry</strong> argwöhnte, <strong>das</strong>s es nicht für lange Zeit<br />

sein würde.<br />

Malfoy schien ganz vergessen zu haben, ihn verfluchen zu wollen.<br />

Hilflos starrte er ihn mit fragendem Blick an, <strong>das</strong> Gesicht vor Angst<br />

verzerrt.<br />

<strong>Harry</strong> zuckte als Antwort mit den Schultern, zog aber <strong>zur</strong> Vorsicht<br />

seinen eigenen Zauberstab. Ob gegen <strong>das</strong> Wesen oder Malfoy, wusste<br />

er nicht zu sagen.<br />

Eine unnatürliche Stille hatte sich ausgebreitet, als plötzlich neben<br />

ihnen <strong>das</strong> Tangdickicht erbebte <strong>und</strong> eine Kreatur hervorbrach, die<br />

gleichzeitig Schönheit <strong>und</strong> Anmut ausstrahlte, aber auch tödliche Gefahr.<br />

Sie hatte die Gestalt eines Pferdes, eines sehr ungewöhnlichen<br />

Pferdes. Das lange schmale Maul wurde beherrscht von feuerroten,<br />

blitzenden Augen von unheimlicher Intelligenz. Die leicht grünliche<br />

Mähne bestand scheinbar aus Algen, während vom restlichen Körper ein<br />

seltsames, unwirkliches Leuchten ausging.<br />

Das Kelpie, dachte <strong>Harry</strong>. Er versuchte, nicht an Hermines Worte<br />

zu denken, vor allem nicht an die, in denen der Begriff "Eingeweide"<br />

vorgekommen war.<br />

Malfoy richtete hektisch seinen Zauberstab <strong>auf</strong> den Dämon <strong>und</strong><br />

schickte ihm scheinbar einen Lähmzauber <strong>auf</strong> den Hals, der je<strong>doc</strong>h nur<br />

aus kochendem Wasser bestand. Das Kelpie gab nur ein röchelndes,<br />

185


irgendwie unges<strong>und</strong> klingendes Wiehern von sich <strong>und</strong> wich ungemein<br />

geschickt aus.<br />

Dann griff es an.<br />

Es schoss in einer einzigen Bewegung los, galoppierte die<br />

fehlenden Meter <strong>auf</strong> sie zu – galoppierte?, fragte sich <strong>Harry</strong>, da es ihm<br />

absurd schien, <strong>auf</strong> einem Seegr<strong>und</strong> rennen zu können – aber <strong>das</strong> Kelpie<br />

tat es, <strong>und</strong> es stürzte sich <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>.<br />

Völlig überrumpelt wehrte er den schweren Körper ab <strong>und</strong> stieß ihn<br />

von sich. Einem empörten Schrei des Wasserdämons, der ihn aus fast<br />

vorwurfsvollen Augen ansah, folgte ein dunkler Strahl scheinbar<br />

kochenden Wassers, dem <strong>Harry</strong> nur durch Zufall entkam. Malfoy wollte<br />

ihn immer noch verhexen <strong>und</strong> schrie lautlos <strong>auf</strong>, als es ihm wieder nicht<br />

gelang.<br />

<strong>Harry</strong> wollte schnell weg von ihm <strong>und</strong> dem Wasserpferd, als ihn<br />

etwas in die Wade zwickte.<br />

Was war <strong>das</strong> schon wieder?<br />

Mit tränenden Augen schaute er hinter sich <strong>und</strong> gewahrte den Kopf<br />

des Kelpie, <strong>das</strong> ihn offensichtlich in die Wade gebissen hatte. Innerhalb<br />

weniger Sek<strong>und</strong>en wurde ihm schwummrig, schwindelig <strong>und</strong> er fing an,<br />

seine Umgebung nur noch schemenhaft wahrzunehmen. Malfoy<br />

geisterte als Fratze mit einem bösartigen Lachen durch sein<br />

Gesichtsfeld. Das Kelpie umschwamm sie beide mit spielerisch<br />

anmutenden Sprüngen <strong>und</strong> Drehungen. In dem Wirrwarr, <strong>das</strong> seine<br />

Gedanken bildeten, erkannte <strong>Harry</strong> fast angeheitert, <strong>das</strong>s der<br />

Wasserdämon tatsächlich nur spielen wollte. Dabei hatte er aber wohl<br />

vergessen, <strong>das</strong>s sein Biss giftig war.<br />

Das war’s, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> nahm vereinzelte Schatten um sich<br />

wahr. Es ist vorbei. Hier wird es enden, <strong>auf</strong> dem Gr<strong>und</strong> eines Sees,<br />

währenddessen ein Möchtegern-Todesser genüsslich meinen Tod<br />

verfolgt.<br />

Seine Kräfte verließen ihn, der Zauberstab fiel ihm aus der Hand<br />

<strong>und</strong> er sank langsam zu Boden. Eine eisige Kälte breitete sich in ihm<br />

aus. In einem letzten Versuch, klar zu sehen kniff er die Augen<br />

zusammen <strong>und</strong> sah starr geradeaus, direkt <strong>auf</strong> Malfoys Zauberstab.<br />

Diesmal würde er dem dunklen Strahl nicht entkommen.<br />

Hilflos sah er ihn <strong>auf</strong> sich <strong>zur</strong>asen, bedrohlich <strong>und</strong> vermutlich Tod<br />

bringend. Er schloss die Augen <strong>und</strong> erwartete den Schmerz, als sich ein<br />

Schatten vor ihn warf. Düster gruben sich Bilder eines Körpers in sein<br />

Bewusstsein, der getroffen zusammenzuckte, Malfoy, wie er mit vor<br />

Schreck verzerrtem Gesicht davonschwamm <strong>und</strong> eine dunkle Wolke, die<br />

sich um ihn herum ausbreitete.<br />

Irgendwann drehte sich der Schatten zu ihm um <strong>und</strong> er erkannte<br />

mit einer seltsam losgelösten, torkelnden Plötzlichkeit McGonagall, wie<br />

er unübersehbar mühsam versuchte, zu ihm zu schwimmen.<br />

186


Grinsend sah ihm <strong>Harry</strong> dabei zu. War <strong>das</strong> nicht lustig? Sogar <strong>das</strong><br />

Kelpie umhüpfte sie galant <strong>und</strong> fröhlich, sein mondscheinfarbenes Fell<br />

erleuchtete die Umgebung. Er fühlte sich so frei, so glücklich. Wieso<br />

nicht immer hier unten bleiben? Es war so erfrischend kühl, so<br />

beruhigend dunkel ... <strong>und</strong> McGonagall gefiel es sicher auch. Selbst wenn<br />

er momentan alles andere als erfreut aussah.<br />

Eine leichte Irritation schlich sich erst in <strong>Harry</strong>s Gedanken ein, als<br />

McGonagall die Hand <strong>auf</strong> seine Brust legte. Die dunkle Wolke schien<br />

dort ihren Ursprung zu haben. Das letzte, was <strong>Harry</strong> halbwegs bewusst<br />

wahrnahm, war sein Lehrer, wie er mit ungelenken, gezwungenen<br />

Bewegungen <strong>auf</strong> ihn zukam, den Zauberstab in scheinbar<br />

unmenschlicher Anstrengung <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Kelpie richtete, ihm blitzschnell ein<br />

Halfter anhexte <strong>und</strong> es herbeirief.<br />

Von den nächsten Minuten wusste <strong>Harry</strong> später nur zu sagen, <strong>das</strong>s<br />

er, die Wange an mondscheinfahles <strong>und</strong> unerwartet warmes Fell<br />

gedrückt, dann <strong>und</strong> wann einen Wassermenschen mit warnend<br />

gezücktem Sperr oder einen flüchtenden Grindeloh wahrgenommen<br />

hatte, während Tang, Algen, Felsen <strong>und</strong> Steine an ihm vorbeirasten.<br />

Irgendwann sah er Himmel <strong>und</strong> schmeckte Luft, erblickte<br />

gleißenden Sonnenschein <strong>und</strong> hörte <strong>das</strong> <strong>auf</strong>geregte Geschnatter vieler<br />

Personen. Obwohl ihm immer noch schwindelig war, vermochte er sich<br />

bereits <strong>auf</strong><strong>zur</strong>ichten. Verwirrt schlug er die Augen <strong>auf</strong> <strong>und</strong> sah Ron <strong>und</strong><br />

Hermine über sich stehen, beide triefend nass. Ron hielt sich <strong>das</strong><br />

Handgelenk, an dem hässliche rote Flecken zu erkennen waren,<br />

während Hermines Arme <strong>und</strong> ihr Gesicht zerkratzt waren.<br />

"Wo wart ihr gewesen?", krächzte er <strong>und</strong> hustete. Grüner Schleim<br />

kam aus seinem Hals.<br />

"Du hast einen Kelpie-Biss abbekommen, nicht?", fragte Hermine<br />

besorgt.<br />

"Ja, ich schätze mal." <strong>Harry</strong> drehte seinen Knöchel um <strong>und</strong> fuhr<br />

sich über die gerötete Haut, die einige Risse <strong>auf</strong>wies. "Ich dachte, ich<br />

sterbe."<br />

Hermine schüttelte hektisch den Kopf, während <strong>Harry</strong> Neville <strong>und</strong><br />

Luna neugierig näher kommen sah.<br />

„Hi, <strong>Harry</strong>“, grüßte sie fröhlich. „Ich hatte frei <strong>und</strong> dachte, ich<br />

schaue mir euren Ausflug mal an. War <strong>das</strong> eine Feuer speiende<br />

Riesenwasserschnecke? Angeblich sind einige in Irland gesichtet<br />

worden.“<br />

Hermine verdrehte die Augen <strong>und</strong> fuhr unbeirrt fort. "Kelpie-Bisse<br />

sind nicht giftig, sondern haben eine ähnliche Wirkung wie Stimulanzen.<br />

Sie erheitern <strong>und</strong> nehmen einem sämtliches Gefühl für Gefahr."<br />

187


Als niemand etwas dazu sagte, schrie sie leicht schrill: "Ehrlich<br />

<strong>Harry</strong>, die Wirkung deines Dianthuskrauts war fast verbraucht, du hättest<br />

ohnmächtig werden können <strong>und</strong> –“<br />

Sie sprach nicht weiter, offensichtlich nicht fähig dazu.<br />

"McGonagall", fiel es <strong>Harry</strong> ein <strong>und</strong> er drehte sich ruckartig um,<br />

seinen Lehrer suchend. Kurz verwirbelten die Farben vor seinen Augen,<br />

aber einige Sek<strong>und</strong>en später konnte er wieder klar sehen. Die Wirkung<br />

des Bisses ließ spürbar nach.<br />

"Wo ist er?"<br />

Ron machte einen leicht besorgten Eindruck.<br />

"Na ja, <strong>das</strong> Kelpie hat dich hier abgeladen <strong>und</strong> er ist mit ihm <strong>zur</strong>ück<br />

in den See, weiß selbst nicht, warum ..."<br />

<strong>Harry</strong> sprang alarmiert <strong>auf</strong> seine Füße.<br />

"Keine Sorge, ihm wird es gut gehen", beruhigte ihn Hermine. "Das<br />

Kelpie ist tatsächlich dressiert."<br />

„Aber die Wassermenschen hatten eine Todesangst vor ihm“,<br />

wandte <strong>Harry</strong> ein.<br />

Zu seiner Überraschung verdrehte Hermine die Augen.<br />

„Klar, weil Kelpies die natürlichen Todfeinde von Wassermenschen<br />

sind. Das wüsstest du auch, wenn du im Unterricht <strong>auf</strong>gepasst hättest.“<br />

Aber es war ohnehin nicht <strong>das</strong> Kelpie, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> Sorgen machte,<br />

sondern die seltsame dunkle Wolke, die McGonagall umgeben hatte.<br />

Er lief einige Meter ins Wasser <strong>und</strong> sah sich am Ufer fieberhaft<br />

nach Dianthuskraut um, ohne aber welches entdecken zu können.<br />

In dem Moment nahm er aus den Augenwinkeln eine dunkle<br />

Gestalt wahr, die sich an <strong>das</strong> Ufer schleppte, halb torkelnd, halb<br />

kriechend. Dem noch immer wackeligen Gefühl in seinen Beinen<br />

trotzend rannte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> sie zu <strong>und</strong> blieb einige Meter vor ihr stehen.<br />

Nur vage registrierte er, wie seine Knie vor Entsetzen nachgaben.<br />

McGonagall brach vor seinen Augen zusammen, hinter sich eine<br />

breite Spur aus dunklem Blut herziehend. Auch sein Hemd war<br />

blutgetränkt, während sich eine rote Pfütze un<strong>auf</strong>haltsam um ihn herum<br />

ausbreitete.<br />

Vor Schock beinahe erstarrt bückte sich <strong>Harry</strong> zu ihm hinunter. Er<br />

konnte nicht sagen, ob McGonagall bei Bewusstsein war, aber als er ihm<br />

<strong>das</strong> mit Algen verklebte Haar aus den Augen strich, bestätigte sich seine<br />

Befürchtung: In dem totenblassen Gesicht war kein Lebenszeichen zu<br />

entdecken. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins registrierte er<br />

allerdings <strong>das</strong> sehr schwache Heben <strong>und</strong> Senken von McGonagalls<br />

Brustkorb. Er hörte Ron, Hermine, Neville <strong>und</strong> Luna als erste angerannt<br />

kommen, alle starrten sie wie gelähmt <strong>auf</strong> ihren Lehrer. Hermine sank<br />

mit gebrochenem Blick in den Sand.<br />

"Wir müssen ihn sofort in den Krankenflügel schaffen!", hörte <strong>Harry</strong><br />

sich mit unnatürlich hoher Stimme kreischen, ohne zu wissen, wie <strong>das</strong><br />

188


gelingen sollte. Niemand hier hatte eine Ahnung, wie man Tragbahren<br />

her<strong>auf</strong>beschwor.<br />

Hermine erhob sich mit zittrigen Beinen <strong>und</strong> schloss in einem fast<br />

aussichtslosen Versuch der Konzentration die Augen. Zu <strong>Harry</strong>s<br />

Bew<strong>und</strong>erung brach ihr Otter aus der Spitze ihres Zauberstabes hervor<br />

<strong>und</strong> sprang mit flinken Schritten in Richtung Schloss davon.<br />

"Ron, schicke deinen H<strong>und</strong> zu Dumbledore!", rief sie verzweifelt.<br />

Ron wedelte dar<strong>auf</strong>hin mit seinem Zauberstab hilflos in der Luft,<br />

offensichtlich nicht in der Lage, einen glücklichen Gedanken zu fassen.<br />

Wie auch, fragte sich <strong>Harry</strong>, wenn einen Meter neben dir jemand<br />

verblutet.<br />

"Expecto Patronum!", durchdrang <strong>auf</strong> einmal Loonas nun gar nicht<br />

mehr verträumte Stimme die unheilvolle Stille, <strong>und</strong> ein knuffiges<br />

Kaninchen hoppelte rasend schnell dem Otter hinterher.<br />

"<strong>Harry</strong>, du musst Snape holen! Deinen Patronus erkennt er!", wies<br />

Hermine ihn an, nun offenbar etwas ruhiger, da sie endlich etwas<br />

unternahmen, um McGonagall zu helfen.<br />

Wie sollte er <strong>das</strong> schaffen? Aber sie hatte Recht, sie brauchten<br />

Snape. Was immer McGonagall getroffen hatte, war ein böser Fluch<br />

gewesen, einer der furchtbarsten Sorte. Und mit so was kannte sich<br />

Snape nun einmal am besten aus.<br />

Mit unsäglicher Mühe hob <strong>Harry</strong> seinen Zauberstab, dachte daran,<br />

bald mit McGonagall über die Rumtreiber zu plaudern, hörte beinahe<br />

Jerrys Kreischen – <strong>und</strong> zu seinem eigenen Erstaunen erschien sein<br />

Hirsch <strong>und</strong> sah ihn erwartungsvoll an. Erfüllt von dem w<strong>und</strong>erbar<br />

beschützenden Gefühl, <strong>das</strong> einem ein Patronus gab, wies er ihn in<br />

Gedanken an: Hol Snape, <strong>und</strong> zwar schnell. Sonst stirbt er...<br />

Der Hirsch galoppierte mit mächtigen Sprüngen davon.<br />

Zurück blieben nur bange Blicke, die die Anwesenden <strong>auf</strong><br />

McGonagall warfen, dem Neville nun seinen eigenen Umhang <strong>auf</strong> die<br />

offene Brustw<strong>und</strong>e drückte. Die restlichen Schüler standen schweigend<br />

einige Meter entfernt <strong>und</strong> schauten reglos zu ihnen hinüber.<br />

Hermine schien ihrer Beine kaum Herr zu werden <strong>und</strong> lehnte sich<br />

leise schluchzend an Rons Schulter, der hin- <strong>und</strong> hergerissen zwischen<br />

der Tragödie um ihren Lehrer <strong>und</strong> Hermines Nähe nicht wusste, was er<br />

tun sollte.<br />

„Wo seid ihr gewesen?“, fragte <strong>Harry</strong> erschöpft in einem<br />

unsinnigen Versuch, sich abzulenken bis endlich Hilfe kam.<br />

„Nachdem die Grindelohs uns gepackt haben, konnten wir sie<br />

einige Minuten später verscheuchen“, erzählte Ron <strong>und</strong> legte den Arm<br />

um Hermine. „Danach haben wir noch den Riesenkraken getroffen, der<br />

uns gleich an Land gesetzt hat. Fast alle Schüler waren schon da, nur du<br />

<strong>und</strong> Malfoy habt gefehlt. McGonagall kam mit Neville aus dem See<br />

<strong>zur</strong>ück, <strong>und</strong> als er sah, <strong>das</strong>s ihr gefehlt habt, ist er wieder los – Neville<br />

189


hat irgendwas von einem Wasserpferd <strong>und</strong> Wassermenschen<br />

genuschelt.“<br />

„Ich habe ihm erzählt, wo du hin bist“, ließ Neville vernehmen. „Ich<br />

wusste <strong>doc</strong>h nicht, <strong>das</strong>s so etwas passieren würde. Er ist mit den<br />

Wassermenschen sehr gut <strong>zur</strong>echtgekommen <strong>und</strong> hat sie sogar<br />

überreden können, meinen Zauberstab zu suchen. Hätte ich geahnt,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Kelpie ihm so zusetzt ...“ Traurig schüttelte er den Kopf, den<br />

bluttriefenden Umhang umklammernd, mit dem er die Blutung stoppen<br />

wollte.<br />

„Das war nicht <strong>das</strong> Kelpie“, meinte <strong>Harry</strong> hohl. „Das war Malfoy.“<br />

Vollkommen erstaunt sahen ihn alle an, aber bevor unangenehme<br />

Fragen kamen, hörten sie vom Schloss her eilige Schritte.<br />

Madame Pomfrey kam <strong>auf</strong>geregt hinter dem kleinen silbernen Otter<br />

hergel<strong>auf</strong>en, ihren Zauberstab wild schlenkernd in der Hand. Als sie die<br />

Schüler erreicht hatte, blickte sie sich erst fragend um, bis sie den am<br />

Boden liegenden McGonagall sah. Keuchend ließ sie sich neben ihn<br />

fallen <strong>und</strong> untersuchte schnell, aber <strong>auf</strong>merksam seine Verletzungen.<br />

Nach kurzer Zeit schüttelte sie resignierend den Kopf.<br />

"Diese W<strong>und</strong>en stammen von schwarzer Magie. Das liegt<br />

außerhalb meines Könnens", meinte sie kreidebleich. "Wer würde so<br />

einen Fluch anwenden? Immer müsst ihr euch mit solchen Sachen<br />

anlegen, ich sage es dem Schulleiter nur zu oft, die<br />

Sicherheitsvorkehrungen sind zu schlecht, <strong>und</strong> dann enden die Leute mit<br />

<strong>auf</strong>geschlitztem Bauch an den Ufern des Sees –" Verzweifelt fuhr sie<br />

herum. "Hat jemand von euch Professor Dumbledore oder Professor<br />

Snape gesehen?"<br />

"Wir haben sie bereits gerufen", schluchzte Hermine <strong>und</strong> starrte<br />

weiter ängstlich zu McGonagall hinunter.<br />

"Was ist hier passiert?", ertönte <strong>auf</strong> einmal eine tiefe, <strong>Harry</strong><br />

ungeheuer beruhigende Stimme.<br />

Dumbledore ... er war hier. Nun würde alles gut werden.<br />

Der Schulleiter kam angel<strong>auf</strong>en, gefolgt von Loonas Kaninchen,<br />

<strong>das</strong> mit ausgelassenen Sprüngen über die Wiesen tollte. Seine<br />

halbmondförmigen Brillengläser waren vom L<strong>auf</strong>en leicht verrutscht, als<br />

er wortlos neben McGonagall in die Knie sank. Neville stand neben ihm,<br />

den blutigen Umhang immer noch in der Hand <strong>und</strong> beobachtete verstört<br />

<strong>das</strong> Geschehen.<br />

Dumbledore beugte seine Hakennase fast bis zum Gesicht des<br />

Amerikaners, dann schaute er zu <strong>Harry</strong>.<br />

"Wir brauchen Professor Snape", erklärte er knapp. Eine Sek<strong>und</strong>e<br />

später erschien dieser zeitgleich mit <strong>Harry</strong>s Hirsch, der seltsamerweise<br />

von Snapes Hirschkuh begleitet wurde. Fröhlich sprangen die beiden im<br />

sonnenerwärmten Gras umher <strong>und</strong> neckten sich.<br />

190


"Severus", riss Dumbledore seinen Zaubertranklehrer aus dessen<br />

missbilligenden Blick <strong>auf</strong> die beiden Patroni, nachdem er <strong>Harry</strong> dankend<br />

zugenickt hatte.<br />

Snape wandte seine Aufmerksamkeit sofort McGonagall zu.<br />

Genauso wie Madame Pomfrey <strong>und</strong> Dumbledore zuvor tastete er<br />

McGonagalls W<strong>und</strong>en ab – anders als bei den beiden vor ihm konnte<br />

<strong>Harry</strong> aber eine erkennende Verw<strong>und</strong>erung <strong>auf</strong> seinen mürrischen<br />

Gesichtszügen ausmachen. Er weiß, was McGonagall abbekommen hat,<br />

dachte er <strong>und</strong> <strong>das</strong> erste Mal seit etlichen Minuten erfasste ihn wieder<br />

eine winzige Spur Hoffnung.<br />

"Das war ein sehr starker, dunkler Fluch", erklärte Snape, während<br />

er schon seinen Zauberstab gezückt hatte <strong>und</strong> begann, rasend schnell<br />

eigentümliche Worte vor sich herzumurmeln, als er über die<br />

Verletzungen fuhr. Wenige Sek<strong>und</strong>en später schien die Blutung<br />

schwächer zu werden, <strong>und</strong> als Snape seinen Gegenzauber wiederholte,<br />

schlossen sich die W<strong>und</strong>en vollends. Entgeistert, aber mit vor<br />

Erleichterung schwachen Knien verfolgte <strong>Harry</strong> genauso gebannt wie<br />

alle jede Bewegung Snapes. Schließlich stand dieser <strong>auf</strong>, beschwor mit<br />

einem Schnipsen seines Zauberstabes eine schwebende Trage her<strong>auf</strong><br />

<strong>und</strong> legte McGonagall zusammen mit Dumbledore vorsichtig dar<strong>auf</strong>.<br />

Sein Gesicht war unergründlich, als er sich an seinen Schulleiter<br />

wandte.<br />

"Es steht ernst mit ihm. Normalerweise schadet so ein Fluch, wird<br />

er sofort behandelt, nicht. Aber er scheint schon vor mindestens zehn<br />

oder fünfzehn Minuten getroffen worden zu sein – der Blutverlust ist<br />

immens. Er braucht sofort einen Blut bildenden Trank", wies er Madame<br />

Pomfrey an, die empört nickte, als traue Snape ihren Heilkünsten nicht.<br />

Der Zaubertranklehrer zuckte nicht mit der Wimper. "Wenn er die<br />

Nacht überlebt, schafft er es."<br />

"Was soll <strong>das</strong> heißen?", hörte sich <strong>Harry</strong> plötzlich rufen. Snape<br />

drehte sich zu ihm um <strong>und</strong> hob eine Augenbraue. "Was hat ihn<br />

getroffen? Sie wissen es! Haben Sie Malfoy den Fluch beigebracht?" Er<br />

wollte sich fast schon <strong>auf</strong> Snape stürzen, ihn in sein gleichgültiges<br />

Gesicht schlagen, aber Hermine <strong>und</strong> Ron hielten ihn <strong>zur</strong>ück. "<strong>Harry</strong>,<br />

nicht", flüsterte sie ihm ins Ohr.<br />

Madame Pomfrey hatte sich mittlerweile mit der Trage <strong>auf</strong> den<br />

Weg zum Schloss gemacht, begleitet von Neville <strong>und</strong> Luna, die ihr helfen<br />

wollten.<br />

"Ach, <strong>Potter</strong>, natürlich waren <strong>das</strong> Sie, die mir diesen <strong>auf</strong>dringlichen<br />

Patronus geschickt haben, <strong>das</strong> war nicht anders zu erwarten gewesen.<br />

Wer sonst hätte die Frechheit besessen, mich mitten in einem Gespräch<br />

mit dem Bildungsminister zu stören –"<br />

"Severus, genug jetzt", wies ihn Dumbledore an. Er schaute <strong>Harry</strong><br />

ernst in die Augen. "Warum hast du gerade Draco Malfoy erwähnt?"<br />

191


"Weil er es gewesen ist, der Jamie so verletzt hat!", stieß <strong>Harry</strong><br />

wütend hervor. Seine Beine zitterten wieder vor Schwäche, anscheinend<br />

hatte er den Kelpie-Biss <strong>doc</strong>h nicht ganz überw<strong>und</strong>en.<br />

Dumbledore schien vor Schock einige Sek<strong>und</strong>en nicht sprechen zu<br />

können. Selbst Snape machte einen überaus erstaunten Eindruck, auch<br />

wenn <strong>Harry</strong> freilich nicht sagen konnte, worüber er verblüfft war:<br />

Darüber, <strong>das</strong>s Malfoy jemanden tatsächlich töten könnte oder <strong>das</strong>s er<br />

den Fluch so einwandfrei hatte ausführen können.<br />

"Woher weißt du <strong>das</strong>?", fragte er <strong>Harry</strong> mit angespannter Stimme.<br />

"Wir waren am Gr<strong>und</strong>e des Sees. Ich war betäubt von dem Kelpie-<br />

Biss, konnte aber sehen, wie Malfoy einen Fluch sprach, der Jamie<br />

zufällig getroffen hat."<br />

"Kelpie-Biss?"<br />

<strong>Harry</strong> nickte, wieder wurde ihm leicht schummrig.<br />

"Dann gehst du besser auch in den Krankenflügel", schlug sein<br />

Schulleiter vor. "Die Wirkung solcher Bisse kann durchaus ein oder zwei<br />

Tage anhalten, <strong>und</strong> ich will nicht Madame Pomfrey begegnen, wenn ich<br />

dich in diesem Zustand in dein Haus <strong>zur</strong>ückschicke – sie hat mich<br />

letztens schon getadelt, weil ich mir eine Schnittw<strong>und</strong>e nicht verb<strong>und</strong>en<br />

hatte."<br />

Snape, der mit stets finstererem Ausdruck die immer noch<br />

spielenden Patroni betrachtete, wies er an: "Severus, ich würde<br />

vorschlagen, wir gehen <strong>zur</strong>ück zum Schloss <strong>und</strong> suchen Malfoy. Ich<br />

kann es immer noch nicht fassen, <strong>das</strong>s er so etwas tun sollte. Was hätte<br />

er davon, wenn Professor McGonagall stirbt?"<br />

<strong>Harry</strong> lachte leise <strong>auf</strong> <strong>und</strong> unterbrach Dumbledore.<br />

"Der Fluch war nicht für ihn bestimmt, sondern für mich."<br />

Nun sahen ihn die beiden schon wieder überrumpelt an.<br />

"Natürlich", murmelte Dumbledore. "Das macht eher Sinn. Severus,<br />

Sie sind sich ganz sicher, <strong>das</strong>s Malfoy nicht in Voldemorts Gefolgschaft<br />

<strong>auf</strong>genommen worden ist?"<br />

<strong>Harry</strong> blieb <strong>auf</strong> dem Weg zum Schlosstor fast stehen, so<br />

konzentriert lauschte er dem Gespräch. Konnte es stimmen? War Malfoy<br />

ein echter Todesser geworden?<br />

"Nein", meinte Snape kühl. "Der dunkle Lord möchte keine<br />

übereilten Entscheidungen treffen. Erst einmal muss sich ein Aspirant<br />

beweisen, bevor er ihm dienen darf."<br />

Zum Beispiel, indem er mich tötet, dachte <strong>Harry</strong> wütend.<br />

In der Eingangshalle trennten sie sich. <strong>Harry</strong> wandte sich<br />

automatisch der Treppe zu, die ihn am schnellsten zum Krankenflügel<br />

führen würde, Dumbledore wollte in den Türmen nachschauen <strong>und</strong><br />

Snape die Keller durchsuchen.<br />

192


"Nicht, <strong>das</strong>s ich allzu viel Hoffnung hätte", seufzte Dumbledore <strong>und</strong><br />

schaute traurig zu den großen St<strong>und</strong>engläsern <strong>auf</strong> der anderen Seite der<br />

Eingangshalle. "Er wird längst geflohen sein."<br />

Wäre <strong>Harry</strong> nicht auch davon überzeugt gewesen, hätte er<br />

Dumbledore die Karte der Rumtreiber angeboten – aber es machte<br />

sowieso keinen Sinn mehr.<br />

"<strong>Harry</strong>, du lässt dich behandeln, <strong>und</strong> morgen Abend möchte ich<br />

dich in meinem Büro sehen", meinte Dumbledore <strong>und</strong> fuhr sich mit der<br />

Hand über die müden Augen. "Du brauchst jetzt Ruhe. Und vielleicht ein<br />

Stück Eierkremtorte, ich habe gehört, die Hauselfen habe heute eine<br />

besonders schöne zum Abendessen zubereitet, die würde ich mir nicht<br />

entgehen lassen."<br />

<strong>Harry</strong> war verblüfft, nickte aber nur mechanisch. Mit ein paar<br />

Schritten war er außer Sichtweite <strong>und</strong> ging gedankenverloren in den<br />

dunklen, trotz des schönen Sommerwetters recht kühlen Gängen umher.<br />

Sein Hemd <strong>und</strong> seine Hosen waren immer noch feucht, seine Brille mit<br />

Algenschlamm verschmiert, <strong>und</strong> er fühlte sich so erschöpft, als wäre er<br />

mit einem Hippogreif um die Wette gel<strong>auf</strong>en. Dennoch wäre ihm nie in<br />

den Sinn gekommen, nur wegen der bereits nachlassenden Wirkung<br />

eines Kelpie-Bisses freiwillig in den Krankenflügel zu gehen, wenn er<br />

nicht nach McGonagall sehen wollte. Die Sorge um seinen Großcousin<br />

gab seinem sowieso angegriffenen Zustand den Rest. Er beschloss, sich<br />

nach seinem Lehrer zu erk<strong>und</strong>igen <strong>und</strong> dann Ron <strong>und</strong> Hermine zu<br />

suchen, die während seines Gespräches mit Snape <strong>und</strong> Dumbledore<br />

zusammen mit den anderen Schülern McGonagalls<br />

Unterrichtsmaterialien <strong>und</strong> seine Tasche wieder ins Schloss gebracht<br />

hatten.<br />

Ein paar Schritte vor dem Krankenflügel fiel ihm entsetzt ein, <strong>das</strong>s<br />

sein Zauberstab nach wie vor <strong>auf</strong> dem Gr<strong>und</strong> des Sees lag.<br />

Wie soll ich ihn je wiederbekommen?<br />

Überrascht zuckte er <strong>zur</strong>ück, als jemand ihm beinahe die Tür zum<br />

Krankenzimmer ins Gesicht schlug.<br />

"<strong>Potter</strong>, was machen Sie hier?", stieß Professor McGonagall<br />

erschrocken hervor. Scheinbar wollte sie gerade gehen.<br />

"Na, Jamie besuchen natürlich", antwortete er idiotischerweise.<br />

"Das geht nicht", meinte sie entschlossen. "Er muss so wenig<br />

Aufregung wie möglich haben."<br />

"Ich hatte auch nicht vor, dort drinnen ein Quidditch-Spiel zu<br />

veranstalten", hielt <strong>Harry</strong> ein wenig genervt entgegen. Professor<br />

McGonagall kniff ihre Augen gefährlich scharf zusammen, so<strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />

schon fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Dann entspannte sie sich.<br />

"Natürlich, er ist hier ihr einziger Verwandter... Dann reden Sie mit<br />

Madame Pomfrey, vielleicht lässt sie Sie rein."<br />

193


"Das muss sie, ich bin nämlich von einem Kelpie gebissen<br />

worden", fiel ihm ein.<br />

"Wieso sagen Sie <strong>das</strong> nicht gleich?" Sie schüttelte den Kopf.<br />

"Irgendwann, wenn ich den Schock verdaut habe, möchte ich gerne<br />

wissen, was Sie beide eigentlich im See gemacht haben. Aber für heute<br />

wäre <strong>das</strong> wohl zu viel." Sie ging langsam davon, scheinbar in Gedanken<br />

versunken.<br />

<strong>Harry</strong> trat ins Krankenzimmer. Sofort wuselte Madame Pomfrey <strong>auf</strong><br />

ihn zu. "Wie wagen Sie sich, hier einfach reinzuplatzen!", rief sie empört.<br />

"Ich habe einen schwer kranken Patienten, <strong>und</strong> der braucht Ruhe!" Sie<br />

versuchte, <strong>Harry</strong> aus der Tür zu schieben.<br />

"Warten Sie, ich bin auch krank", erwiderte <strong>Harry</strong>, auch wenn er<br />

von dem Biss mittlerweile kaum mehr spürte als eine leichte Schwäche.<br />

"Ach, <strong>und</strong> was wollen wir haben?"<br />

"Einen Kelpie-Biss!" <strong>Harry</strong> zeigte <strong>auf</strong> die gerötete <strong>und</strong> leicht lädierte<br />

Haut an seinem Knöchel.<br />

"Ach so, na dann kommen Sie. Mit so was sollte man nicht spaßen.<br />

Sie müssen ein Gegenmittel trinken <strong>und</strong> am besten die Nacht über hier<br />

bleiben – manchmal kommt am Tag nach dem Biss der eine oder andere<br />

Schwindelanfall <strong>zur</strong>ück. Aber morgen können Sie wieder am Schulalltag<br />

teilnehmen."<br />

Fügsam legte sich <strong>Harry</strong> in <strong>das</strong> zugewiesene Bett <strong>und</strong> trank <strong>das</strong><br />

scheußlich süß schmeckende Medikament. McGonagall befand sich<br />

offensichtlich in einem Bett am anderen Ende des Zimmers, auch wenn<br />

<strong>Harry</strong> nicht viel sehen konnte, da die Vorhänge um es herum zugezogen<br />

waren. Nur ab <strong>und</strong> zu wurden sie geöffnet, wenn Madame Pomfrey ihm<br />

einen Blut bildenden Trank verabreichte.<br />

Den Rest des Tages langweilte <strong>Harry</strong> sich fürchterlich. Zwar sorgte<br />

er sich nach wie vor um seinen Großcousin, aber da er <strong>das</strong> Geschehen<br />

im Krankenzimmer beobachten konnte, wusste er zumindest, <strong>das</strong>s<br />

dessen Zustand sich nicht verschlechtert hatte.<br />

Nach dem Abendessen wurden Ron <strong>und</strong> Hermine zu ihm gelassen,<br />

wenn auch unter der strengen Auflage, sich ausschließlich flüsternd zu<br />

unterhalten.<br />

"Wie geht es ihm?", wisperte Hermine mit einem Nicken in<br />

McGonagalls Richtung.<br />

"Nicht viel besser als vorhin", fürchtete <strong>Harry</strong>. "Aber Madame<br />

Pomfrey weiß schon, was sie tut."<br />

"Ihn hat ein ganz übler Fluch getroffen, ich habe in der<br />

Mittagspause in der Bibliothek nachgeschaut – ein Sectumsempra.<br />

Obwohl er nicht zu den unverzeihlichen Flüchen gehört kann er einen<br />

Menschen töten. Ist irgendwann vor 20 Jahren hier an Hogwarts<br />

erf<strong>und</strong>en worden, scheinbar von einem Schüler ... hat dann seine R<strong>und</strong>e<br />

194


ei den Todessern gemacht, du kannst dir vorstellen, <strong>das</strong>s so ein Fluch<br />

bei denen groß in Mode kommt. Angeblich ..."<br />

"Hermine, ich brauche jetzt keine Analyse des Fluchs, mit dem ich<br />

getötet werden sollte", stöhnte <strong>Harry</strong>. Seine beiden Fre<strong>und</strong>e zuckten<br />

zusammen <strong>und</strong> ihm fiel ein, <strong>das</strong>s sie noch gar nicht wussten, was sich im<br />

See abgespielt hatte. Er erzählte es ihnen.<br />

Ron wurde blass vor Wut <strong>und</strong> schimpfte unentwegt über Malfoy,<br />

sogar Hermine machte sich nicht die Mühe, seine nicht salonreifen<br />

Ausdrücke zu unterbrechen, sondern schüttelte ein ums andere Mal<br />

ungläubig den Kopf.<br />

"Ich kann kaum begreifen, <strong>das</strong>s er so etwas tatsächlich getan<br />

haben soll!", rief sie <strong>und</strong> klang in <strong>Harry</strong>s Ohren wie Dumbledore.<br />

"Da siehst du mal, <strong>Harry</strong> hatte die ganze Zeit Recht mit seiner<br />

Vermutung, Malfoy sei ein Todesser", sagte Ron. <strong>Harry</strong> warf ihm einen<br />

dankbaren Blick zu.<br />

"Ich weiß nicht", zweifelte Hermine. "Vielleicht wollte er sich nur<br />

wichtig machen. Es ist so unwahrscheinlich, <strong>das</strong>s er <strong>auf</strong> Befehl<br />

Voldemorts hin gearbeitet haben soll. Er ist ein Kind!"<br />

"Hermine, er hat den Fluch nicht gesprochen, um mir einen<br />

Schreck einzujagen, sondern, um mich zu töten! Ich wette, er ist mir die<br />

ganze Zeit unter Wasser gefolgt <strong>und</strong> hat gewartet, bis wir ganz alleine<br />

waren. Der perfekte Mord: Mich hätte man wenn überhaupt nur mit<br />

<strong>auf</strong>geschlitzter Brust Tage später gef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> dann hätten sie<br />

vermutlich <strong>das</strong> Kelpie dafür verantwortlich gemacht."<br />

Hermine schien zwar immer noch nicht überzeugt, schwieg aber.<br />

"Wo er wohl hin ist?", grübelte Ron.<br />

"Vermutlich zu Hause oder bei seinen Todesserkumpels. Eins<br />

schwöre ich: Wenn Jamie an dem Fluch stirbt, suche ich Malfoy <strong>und</strong><br />

verfüttere ihn an Aragog!"<br />

"Das klingt interessant, auch wenn ich diesen Aragog nicht kenne.<br />

Aber vorher schickst du ihn bei mir vorbei, ich weiß ein paar gute<br />

Folterflüche", hörten sie plötzlich eine schwache Stimme. <strong>Harry</strong> sprang<br />

aus dem Bett <strong>und</strong> torkelte leicht unter einem neuen Schwindelanfall.<br />

"Jamie!"<br />

Die drei waren mit ein paar Schritten an seinem Bett. McGonagall<br />

schien gerade wieder <strong>auf</strong>gewacht zu sein. Freilich ging es ihm nicht gut,<br />

zwar war seine Brust wieder w<strong>und</strong>enfrei, aber der Blutverlust schien ihm<br />

arg zugesetzt zu haben: Immer noch war er sehr blass, <strong>und</strong> er schien<br />

kaum Kraft zu haben, selbst wenn er gerade versuchte, sich<br />

<strong>auf</strong><strong>zur</strong>ichten.<br />

"Himmel, nun weiß ich, was in der Literatur von der Wirkung eines<br />

Sectumsempra geschrieben steht. Ist wirklich ein hässlicher Fluch."<br />

"Wir dachten, er hätte dich erledigt!", meinte <strong>Harry</strong>, der vor<br />

Erleichterung ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.<br />

195


"Das hatte ich auch fast gedacht", antwortete McGonagall <strong>und</strong><br />

schien sich nur schemenhaft an <strong>das</strong> Geschehen unter Wasser erinnern<br />

zu können.<br />

„Und unter uns: Ich bin froh, <strong>das</strong>s Malfoy mich getroffen hat <strong>und</strong><br />

nicht dich. Die Wahrscheinlichkeit, solch einen Fluch nach 15 Minuten<br />

noch zu überleben, ist bei jemandem in deinem Alter gleich Null.“<br />

Alle schwiegen bedrückt.<br />

„Nun seid nicht so schwermütig“, lächelte McGonagall. „Zum Glück<br />

ist Poseidon da gewesen, sonst würden <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> ich wohl nicht hier<br />

stehen."<br />

"Poseidon?", fragten die drei einstimmig.<br />

McGonagall grinste. "Irgendeinen Namen braucht <strong>das</strong> Kelpie <strong>doc</strong>h,<br />

oder?"<br />

Ron schüttelte den Kopf. "Er ist wirklich wie Hagrid."<br />

„Ach, <strong>Harry</strong>“, sprach ihn sein Großcousin an. „Ich habe im See<br />

noch etwas gef<strong>und</strong>en, was dir vielleicht nützlich sein könnte.“ Er griff <strong>auf</strong><br />

den Nachtschrank neben dem Bett, <strong>auf</strong> den <strong>Harry</strong> noch gar nicht geblickt<br />

hatte, <strong>und</strong> reichte ihm seinen Zauberstab.<br />

<strong>Harry</strong> spürte sein Herz vor Freude fast hüpfen, als er sein verloren<br />

geglaubtes Arbeitsgerät endlich wieder in den Händen hielt.<br />

„Danke“, sagte er strahlend.<br />

196


KAPITEL ELF<br />

Das gestohlene Pergament<br />

Am nächsten Tag hatte <strong>Harry</strong> nur eine St<strong>und</strong>e Zauberkunst, <strong>und</strong><br />

auch die Doppelst<strong>und</strong>e Zaubertränke am Nachmittag überstand er, ohne<br />

<strong>das</strong>s Snape sich eine weitere Gemeinheit einfallen ließ. Vor dem<br />

Abendessen besuchten er, Ron <strong>und</strong> Hermine noch einmal McGonagall<br />

im Krankenflügel. Ihm ging es mit jeder St<strong>und</strong>e besser, selbst Madame<br />

Pomfrey war erstaunt, wie gut der Heilungsprozess verlief. Da er bereits<br />

anfing, sich zu langweilen, spielten er <strong>und</strong> Ron einige Partien<br />

Zauberschach, wobei sich herausstellte, <strong>das</strong>s McGonagall als einziger,<br />

den <strong>Harry</strong> kannte, Ron besiegen konnte. Dessen Laune wurde dadurch<br />

aber nicht schlechter, im Gegenteil, er schien sich zu freuen, endlich<br />

einen Herausforderer gef<strong>und</strong>en zu haben. Die beiden verabredeten, sich<br />

regelmäßig zum Schachspielen zu treffen.<br />

„Mann, dieser McGonagall ist nicht übel, hätte nicht gedacht, <strong>das</strong>s<br />

ich einmal mit einem Lehrer die Abende verbringen würde!", plapperte<br />

Ron vor sich hin, als sie sich wieder <strong>auf</strong> den Weg in den<br />

Gemeinschaftsraum machten.<br />

"Du kannst wirklich froh sein, ihn als Verwandten zu haben."<br />

"Mmm", machte <strong>Harry</strong>. Er hatte sich eigentlich noch gar nicht viel<br />

dabei gedacht, einen neuen Verwandten gef<strong>und</strong>en zu haben. Sicher,<br />

McGonagall war nett, <strong>und</strong> ein wenig erinnerte er in seiner<br />

unbeschwerten <strong>und</strong> zeitweilig frechen Art an Sirius, aber sie kannten<br />

sich <strong>doc</strong>h erst einige Tage. <strong>Harry</strong> vermochte nicht zu sagen, was daraus<br />

werden konnte. Vielleicht hatte er auch Angst, wieder jemand Vertrautes<br />

zu finden, einfach, weil er fürchtete, ihn wieder zu verlieren?<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine liefen vor ihm <strong>und</strong> waren in ein Gespräch vertieft.<br />

Seit dem Vorfall am See hatten sie sämtliche Streits beigelegt <strong>und</strong><br />

gingen wieder völlig normal miteinander um – oder besser, noch<br />

vertrauter als sonst. <strong>Harry</strong> seufzte. Es war wohl nur eine Frage der Zeit,<br />

197


is sie sich wieder in den Haaren lagen. Waren er <strong>und</strong> Cho auch so<br />

unausstehlich gewesen? Er konnte es sich nicht vorstellen.<br />

Plötzlich blieb er irgendwo im dritten Stock schlagartig stehen.<br />

"Das habe ich ganz vergessen!", rief er <strong>und</strong> drehte sich um.<br />

"Dumbledore hat mich für heute Abend in sein Büro gebeten", erklärte er<br />

der überraschten Hermine <strong>und</strong> Ron.<br />

"Was will er denn von dir?", fragte er neugierig.<br />

<strong>Harry</strong> zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, vermutlich<br />

erfahren, was im See passiert ist. Ich komme nach, sobald es geht."<br />

Sie trennten sich <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> lief zu dem hässlichen Wasserspeier<br />

im zweiten Stock, hinter dem sich eine verdeckte Wendeltreppe befand,<br />

die ihn zum Schulleiterbüro bringen würde. Ratlos fiel ihm ein, <strong>das</strong>s er<br />

<strong>das</strong> Passwort nicht wusste, <strong>und</strong> <strong>das</strong>selbe wie im letzten Jahr würde es<br />

kaum mehr sein. Er überlegte ein paar Sek<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sagte dann:<br />

"Eierkremtorte!"<br />

Sofort schwang der abstoßende Wasserspeier <strong>zur</strong> Seite <strong>und</strong><br />

offenbarte die Treppe, die <strong>Harry</strong> in Windungen bis vor die Eichentür von<br />

Dumbledores Büro brachte. Er wollte schon klopfen, als er Stimmen<br />

hörte.<br />

"Sind Sie sich sicher?", ertönte die dunkle, wie üblich leicht<br />

überhebliche Stimme Snapes.<br />

"Ja, die Untersuchungen eines Unsäglichen, der für uns arbeitet,<br />

haben den Verdacht bestätigt. Dieses Buch enthält die Geheimnisse der<br />

Mysteriumsabteilung." Ein paar Sek<strong>und</strong>en herrschte Stille, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong><br />

fürchtete, sein vor Aufregung klopfendes Herz würde ihn verraten. Das<br />

Buch! Mysterien des Lebens. Es war tatsächlich <strong>das</strong> legendäre, <strong>das</strong> von<br />

Rosier geschriebene.<br />

Snape klang verändert, irgendwie ehrfürchtig, als er weitersprach.<br />

"Das eröffnet uns ungeahnte Möglichkeiten", meinte er heiser <strong>und</strong><br />

lief dem Geräusch von Schritten nach zu urteilen nervös in dem Büro<br />

hin- <strong>und</strong> her.<br />

"Ich wüsste nicht, was aus diesem Buch uns helfen sollte",<br />

antwortete Dumbledore ruhig. "Dinge wie Zeitumkehrer oder Patroni, die<br />

<strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> der Mysterienforschung entwickelt wurden, sind der<br />

Zaubererwelt längst bekannt. Was hier drinsteht, sind eher die dahinter<br />

steckenden Theorien – <strong>und</strong> unter uns gesagt, die sind furchtbar<br />

langweilig <strong>und</strong> recht sinnlos."<br />

"Sinnlos?", fragte Snape nun leicht hysterisch. "Sie sprechen von<br />

den größten Entdeckungen der Zauberergemeinschaft, von Dingen, von<br />

denen außerhalb des Ministeriums noch keiner gehört hat. Geben Sie<br />

mir <strong>das</strong> Buch, ich kann sicher einige der Ansätze weiterentwickeln <strong>und</strong><br />

neue Zauber oder Gegenstände kreieren."<br />

Ja, aber für wen, fragte sich <strong>Harry</strong> stumm. Ihn quälte nach wie vor<br />

der Verdacht, <strong>das</strong>s Snape in Wirklichkeit ein Todesser war.<br />

198


"Haben Sie allein <strong>das</strong> Kapitel über den Tod gelesen?"<br />

<strong>Harry</strong> stand starr wie eine Salzsäule.<br />

"Über diesen Hexer von Hexham?", hörte er Dumbledore leise<br />

kichern.<br />

"Das ist nicht lustig", schnaubte Snape <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> ertappte sich<br />

dabei, wie er ihm Recht gab.<br />

"Severus, Sie <strong>und</strong> ich wissen, <strong>das</strong>s der Tod endgültig ist. Machen<br />

Sie sich nichts vor."<br />

"Ja, wir wissen es, aber was, wenn es noch mehr zu wissen gibt?<br />

Wenn die Zauberergemeinschaft in ihrer Vorstellungskraft beschränkt<br />

ist? Vor zweih<strong>und</strong>ert Jahren konnte sich auch noch niemand vorstellen,<br />

in der Zeit <strong>zur</strong>ück<strong>zur</strong>eisen!"<br />

Diesen stichhaltigen Argumenten konnte <strong>Harry</strong> nur zustimmen <strong>und</strong><br />

hasste sich fast dafür. Seit wann unterstützte er Snape? Und warum war<br />

dieser besonders am Kapitel über den Tod interessiert? Wollte er<br />

verstorbene Todesser wiedererwecken? Oder gar Slytherin selbst?<br />

"In Ordnung", vernahm er Dumbledores <strong>auf</strong> einmal müde Stimme.<br />

"Ich werde Ihnen <strong>das</strong> Buch geben, wenn <strong>das</strong> Sie ruhiger werden lässt.<br />

Ende Oktober muss es aber wieder im Ministerium sein, bis dahin hat die<br />

Abteilung einen sicheren Aufbewahrungsort entwickelt, den auch Feinde<br />

nicht durchdringen können. Bringen Sie es bis dahin wieder bei mir<br />

vorbei."<br />

"Selbstverständlich." Einige Sek<strong>und</strong>en war es still, <strong>Harry</strong><br />

vermutete, <strong>das</strong>s Snape <strong>das</strong> Buch einpackte. Dann hörte er verblüfft, wie<br />

der Zaubertranklehrer leise <strong>und</strong> <strong>auf</strong> eigentümlich ehrliche <strong>und</strong><br />

hoffnungsvolle Art <strong>und</strong> Weise sagte: "Danke." Fast hätte <strong>Harry</strong> in seinem<br />

Erstaunen vergessen, zu klopfen, als er schon die Schritte in Richtung<br />

der Tür vernahm.<br />

Sie wurde <strong>auf</strong>gerissen, <strong>und</strong> Snape stand drohend vor <strong>Harry</strong>.<br />

"Ich wollte zu Professor Dumbledore", meinte er in festem Ton.<br />

Snape setzte ein höhnisches Lächeln <strong>auf</strong>. "Offensichtlich."<br />

Ohne ein weiteres Wort zu sagen ließ er sich von der<br />

Wendeltreppe wieder herunter bringen, während <strong>Harry</strong> in <strong>das</strong><br />

Schulleiterbüro eintrat, einem r<strong>und</strong>en Zimmer mit etlichen kleinen,<br />

zerbrechlich aussehenden Tischen, <strong>auf</strong> denen noch fragilere, silberne<br />

<strong>und</strong> surrende Instrumente standen. Die ehemaligen Schulleiter dösten<br />

wie üblich in ihren Bildrahmen, einer von ihnen stierte gedankenverloren<br />

in dem Raum hinunter <strong>und</strong> kratzte sich an der Nase.<br />

"Hallo <strong>Harry</strong>", begrüßte ihn Dumbledore, der an seinem<br />

Schreibtisch saß. Auf einer Stange nicht weit von ihm entfernt schlief<br />

sein Phönix Fawkes, dessen Federn rot <strong>und</strong> golden leuchteten.<br />

Anscheinend befand er sich nicht in der Nähe eines Brandtages.<br />

"Guten Abend, Professor." <strong>Harry</strong> setzte sich <strong>auf</strong> den von<br />

Dumbledore zugewiesenen Stuhl.<br />

199


"Nun, du weißt sicher, wieso ich dich sprechen wollte. Die<br />

Geschehnisse <strong>auf</strong> dem Gr<strong>und</strong> des Sees sind mir immer noch nicht ganz<br />

klar, auch wenn Jamie mir natürlich seine Version erzählt hat." Er<br />

schaute <strong>Harry</strong> durch seine blauen Augen an <strong>und</strong> verschränkte die<br />

Finger.<br />

<strong>Harry</strong> berichtete von Ron <strong>und</strong> Hermine, wie sie von Grindelohs<br />

entführt worden sind – nicht, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> etwas mit Malfoy zu tun hatte,<br />

aber wie er Dumbledore kannte, würde er alles genau wissen wollen.<br />

Dann kam er zu der Stelle mit den Wassermenschen <strong>und</strong> schließlich zu<br />

Malfoys Fluch, dem Kelpie <strong>und</strong> McGonagall, wobei seine Stimme von<br />

Sek<strong>und</strong>e zu Sek<strong>und</strong>e wütender wurde.<br />

„Wieso ist es Malfoy eigentlich gelungen, Jamie zu verletzen?“,<br />

fragte er. „Ich dachte, unter Wasser funktionieren keine Zauber?“<br />

„Nur die normalen nicht“, antwortete Dumbledore. „Es gibt je<strong>doc</strong>h<br />

nur wenige Sachen, die in der Lage sind, schwarze Magie <strong>auf</strong>zuhalten,<br />

<strong>und</strong> Wasser gehört nicht dazu.“<br />

<strong>Harry</strong> fuhr mit seiner Erzählung fort, <strong>und</strong> als er fertig war, lehnte<br />

sich der Schulleiter in seinem Sessel <strong>zur</strong>ück. "So ähnlich habe ich es mir<br />

gedacht. Ich hoffe nur, du hegst jetzt keine Rachegefühle gegen den<br />

jungen Malfoy."<br />

"Nein", konnte <strong>Harry</strong> einen sarkastischen Ton nicht verhindern.<br />

"Warum sollte ich jemandem gegenüber Rachegefühle empfinden, der in<br />

dem Versuch, mich umzubringen, beinahe meinen einzigen Verwandten,<br />

der mich nicht für schleimiges Unkraut hält, getötet hätte?"<br />

Dumbledore sah ihn fast heiter an. "Ich kann deine Wut verstehen,<br />

aber du musst bedenken, in welcher Situation sich Draco Malfoy<br />

befindet. Sein Vater sitzt in Askaban, vom Phönixorden gefangen. Dass<br />

er sich nun der Partei zuwendet, die gegen ihn kämpft <strong>und</strong> sich<br />

Voldemort anschließen möchte, ist allein aus diesem Gr<strong>und</strong> logisch.<br />

Außerdem darfst du nicht vergessen, in welcher Umgebung er<br />

<strong>auf</strong>gewachsen ist: Sein Vater hat ihn gelehrt, die dunklen Künste zu<br />

lieben, er hat ihn im Sinne Voldemorts erzogen ... wer denkst du, würde<br />

sich durch so ein Leben nicht in die falsche Richtung entwickeln?"<br />

"Wenn Sie Malfoys Tat entschuldigen wollen", setzte <strong>Harry</strong> an,<br />

wurde aber von einem Kopfschütteln seines Schulleiters unterbrochen.<br />

"Nicht entschuldigen. Man kann niemandem die Verantwortung für<br />

seine Taten nehmen."<br />

"Aber –“<br />

"Was wir allerdings können ist versuchen zu verstehen, wie Malfoy<br />

zu dem geworden ist, der er ist, <strong>und</strong> wie wir ihm helfen können."<br />

"Helfen?", schrie <strong>Harry</strong> ein wenig lauter als beabsichtigt.<br />

"Sicher liegt dir momentan nichts ferner –“<br />

"Nicht nur momentan –“<br />

200


"Aber genau <strong>das</strong> ist es, was uns von den Todessern unterscheidet:<br />

Fehler vergeben <strong>und</strong> an <strong>das</strong> Gute in einem Menschen glauben."<br />

<strong>Harry</strong> schüttelte resignierend den Kopf. Dumbledore mit seinem<br />

ewigen Glauben an <strong>das</strong> Gute. Was sollte jemand wie Malfoy Gutes in<br />

sich haben? Dumbledore verstand nicht, <strong>das</strong>s einige Menschen von<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>auf</strong> böse waren.<br />

"Du musst überlegen, <strong>das</strong>s Draco Malfoy noch zu jung ist, um alles<br />

richtig bewerten zu können, was um ihn geschieht."<br />

<strong>Harry</strong> sprang vom Stuhl <strong>auf</strong>.<br />

"Ich bin genauso alt wie er, <strong>und</strong> ich weiß zwischen Gut <strong>und</strong> Böse<br />

zu unterscheiden!", rief er zornig. Wieso sollte man ihn <strong>und</strong> Malfoy mit<br />

zwei verschiedenen Maßstäben messen, wenn sie <strong>doc</strong>h gleich alt<br />

waren?<br />

"Ja?", fragte Dumbledore höflich. "Hast du <strong>das</strong> immer <strong>und</strong> von<br />

Anfang an gekonnt?"<br />

<strong>Harry</strong> ließ sich wieder sinken. Er dachte an Quirrell, hinter dem er<br />

nie einen Diener Voldemorts erwartet hätte ... oder Sirius, dem er wohl<br />

nie geglaubt hätte, er wäre <strong>auf</strong> seiner Seite, wenn nicht Pettigrew<br />

<strong>auf</strong>getaucht wäre...<br />

"Bei Sirius habe ich mich geirrt", gab er zu. "Aber ich habe meine<br />

Meinung geändert, als die Fakten feststanden."<br />

"Genau!", rief Dumbledore munter. "Du hast dich überzeugen<br />

lassen, auch wenn deine Intuition erst falsch war. Genauso müssen wir<br />

Draco Malfoy davon überzeugen, <strong>das</strong>s er <strong>auf</strong> der falschen Seite ist."<br />

<strong>Harry</strong> schnaubte. "Er hat Freude daran, andere zu quälen, er ist<br />

<strong>doc</strong>h liebend gern ein Todesser."<br />

"Er hat nicht unbedingt einen angenehmen Charakter, <strong>das</strong> ist<br />

richtig. Aber <strong>das</strong> ist keine Gleichsetzung mit einem bösen Menschen. Es<br />

gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen unsympathisch <strong>und</strong><br />

böse."<br />

"Klar, aber Malfoy ist böse! Er hat versucht, mich umzubringen ..."<br />

"Weil er glaubte, dadurch in Voldemorts Anhängerschaft<br />

<strong>auf</strong>zusteigen <strong>und</strong> Achtung zu erhalten. <strong>Harry</strong>, wieso warst du sofort<br />

gegen Voldemort, sobald du von ihm erfahren hast?"<br />

"Weil er damals meine Eltern ermordet hat natürlich!"<br />

"Eben. Und nicht ursprünglich, weil er böse ist."<br />

"Also <strong>das</strong> ist ja wohl <strong>das</strong>selbe!", empörte sich <strong>Harry</strong>.<br />

"Draco Malfoys Vater ist vom Orden nach Askaban gebracht<br />

worden. Wäre er im Kampf getötet wurden – was durchaus hätte<br />

passieren können – dann hätte der Orden auch seinen Vater ermordet.<br />

Und lebenslang in Askaban zu sitzen ist offen gestanden nicht weit<br />

davon entfernt. Wie würdest du reagieren, wenn <strong>das</strong> deinem Vater<br />

passiert wäre? Selbst wenn dieser sich mit Todessern abgegeben hat, in<br />

deren Gesellschaft du dann auch <strong>auf</strong>gewachsen wärst?"<br />

201


<strong>Harry</strong> schwieg. Ich hätte ihn rächen wollen, dachte er. Genau <strong>das</strong>,<br />

was ich für meine Eltern ja auch tun will.<br />

"Urteile also nicht zu schnell", lächelte Dumbledore. "Nun, wir<br />

werden weiterhin versuchen, Draco Malfoy zu finden, aber ich fürchte, er<br />

ist längst bei Voldemort untergekommen. Wobei sich die Frage stellt, ob<br />

der mit einem misslungenen <strong>und</strong> entdeckten Mordanschlag zufrieden<br />

sein wird."<br />

Unwillkürlich bekam <strong>Harry</strong> ein wenig Mitleid mit Malfoy <strong>und</strong> hasste<br />

sich dafür.<br />

"In Ordnung", erhob sich Dumbledore nun. "Ich muss noch mit<br />

Professor Sprout reden, ich habe eine seltene Art von Lachpflanzen von<br />

einem Fre<strong>und</strong> aus Indonesien zugeschickt bekommen ... Wenn du mich<br />

entschuldigen würdest."<br />

<strong>Harry</strong> erhob sich <strong>und</strong> ging <strong>zur</strong> Tür.<br />

„Professor?“<br />

„Ja, <strong>Harry</strong>?“<br />

„Auch wenn ich anfangs nicht wusste, <strong>auf</strong> welcher Seite Sirius<br />

stand, so wusste ich <strong>doc</strong>h, welches die richtige ist. Das ist ein<br />

Unterschied dazu, Menschen gleich richtig einschätzen zu können.“<br />

„Sicher, <strong>und</strong> genau da liegt deine Stärke: Du hast nichts mit dem<br />

Bösen zu tun, weil es dein Wille ist. Aber Draco Malfoy hat keinen so<br />

starken Willen, sondern ist sein ganzes Leben von den falschen Leuten<br />

beeinflusst worden. Du solltest dein Privileg nutzen, andere <strong>auf</strong><br />

denselben Weg zu führen.“<br />

<strong>Harry</strong> nickte bloß geistesabwesend <strong>und</strong> schloss die Tür.<br />

Auf dem Weg <strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum dachte er über<br />

Dumbledores Worte nach: War Malfoy tatsächlich eher ein Opfer als ein<br />

Täter? Würde er ihm vergeben können, wenn er ihn wieder traf? Er<br />

wusste es nicht zu sagen. Einerseits kam ihm der Gedanke absurd vor,<br />

einem seiner schlimmsten Feinde zu vergeben, <strong>und</strong> er sah am Beispiel<br />

von Dumbledore <strong>und</strong> Snape, wie gefährlich <strong>das</strong> war: Würde man dem<br />

anderen je trauen können?<br />

Er erzählte Ron <strong>und</strong> Hermine von dem Gespräch mit Dumbledore.<br />

Ron zeigte sich wie erwartet empört über Dumbledores Forderung,<br />

Malfoy zu vergeben, Hermine war <strong>zur</strong>ückhaltender, schien aber ihre<br />

momentan unkomplizierte Beziehung zu Ron nicht durch neuen Streit<br />

<strong>auf</strong>s Spiel setzen zu wollen, weswegen sie ihre Meinung lieber für sich<br />

behielt.<br />

Worüber sie allerdings wild diskutierten, war Snapes Bitte, <strong>das</strong><br />

Rosier-Buch auszuleihen.<br />

„Ich frage mich, was er im Schilde führt?“, grübelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

blätterte lustlos durch sein Verwandlungsbuch, um brauchbare Kapitel<br />

über einen Aufsatz zu Materialisierungszaubern zu finden. Ron hatte<br />

202


schon <strong>auf</strong>gegeben <strong>und</strong> schaute lieber Hermine dabei zu, wie sie<br />

umgeben von drei verschiedenen Runen-Wörterbüchern versuchte, eine<br />

Originalinschrift aus dem ersten Jahrtausend zu übersetzen.<br />

„Vielleicht ist er einfach nur neugierig. Wir wissen ja, <strong>das</strong>s er sich<br />

sehr für dunkle Magie interessiert.“<br />

„Aber die Mysterien habe <strong>doc</strong>h nichts mit dunkler Magie zu tun.“<br />

Ron gähnte. „Woher willst du <strong>das</strong> wissen, wir haben <strong>doc</strong>h keine<br />

Ahnung, was in dem Buch steht.“<br />

„Womöglich will er einen Weg finden, jemanden von den Toten<br />

<strong>auf</strong>zuwecken“, äußerte <strong>Harry</strong> vorsichtig die Idee, die ihm seit einer<br />

St<strong>und</strong>e im Kopf herumschwirrte.<br />

Hermine fuhr von ihrem Pergament <strong>auf</strong> <strong>und</strong> verschrieb sich dabei.<br />

„Jetzt habe ich statt „Gkuwatz“ „Gkuwalk“ stehen!“, rief sie in dem<br />

typischen ungeduldigen Ton, den sie für Unzufriedenheit mit ihren <strong>und</strong><br />

der anderen Leistungen reserviert zu haben schien. „Dabei heißt <strong>das</strong><br />

eine Süden <strong>und</strong> <strong>das</strong> andere Osten, <strong>das</strong> verfälscht die Aussage des<br />

ganzen Satzes ...“<br />

„Dann verbesserst du es eben“, stöhnte Ron.<br />

"Und gebe dann so ein Geschmiere ab wie du", meinte sie<br />

gehässig <strong>und</strong> schielte <strong>auf</strong> seinen Aufsatz über Fanghörnige Farne, der<br />

nur so von durchgestrichenen <strong>und</strong> übermalten Wörtern strotzte.<br />

"Dennoch hat Professor Sprout mir <strong>auf</strong> die Arbeit über<br />

Dianthuskraut ein "O" gegeben", prahlte Ron zufrieden lehnte sich<br />

genüsslich <strong>zur</strong>ück.<br />

"Ja, aber auch nur, weil ich über deinen Aufsatz vorher einen<br />

Correctio-Zauber gesprochen habe – dadurch verschwinden Rechtschreibfehler<br />

genauso wie durchgestrichene Worte <strong>und</strong> Ähnliches",<br />

meinte Hermine ein wenig schüchtern.<br />

"Wieso hast du <strong>das</strong> gemacht?", fragte Ron völlig überrascht.<br />

"Na weil ich wollte, <strong>das</strong>s du eine gute Note kriegst." Hermine wurde<br />

jetzt sogar ein bisschen rot. "Inhaltlich war er in Ordnung, nur der äußere<br />

Schliff hat gefehlt."<br />

Jetzt wurde es <strong>Harry</strong> genug.<br />

"Langsam klingst du wie dieser Franbery – der äußere Schliff, <strong>das</strong><br />

hätte auch von ihm sein können –"<br />

"Ehrlich gesagt ist es von ihm, ich habe zum Spaß mal so eine<br />

Arbeit der Bewegung für ästhetische Zauberei gelesen, <strong>und</strong> da stand der<br />

Zauberspruch drin."<br />

<strong>Harry</strong> vergrub <strong>das</strong> Gesicht in den Händen <strong>und</strong> Ron lachte laut <strong>auf</strong>.<br />

"Wenn wir dich nicht hätten, würden wir ehrlich etwas verpassen",<br />

grinste er <strong>und</strong> boxte Hermine in die Seite, wor<strong>auf</strong>hin die beiden<br />

begannen, sich gegenseitig mit aus Pergamentseiten gebastelten <strong>und</strong><br />

verhexten fliegenden Papierflugzeugen zu jagen. <strong>Harry</strong> beschloss, <strong>das</strong><br />

Thema Snape sein zu lassen <strong>und</strong> lieber in die Bibliothek zu gehen.<br />

203


In den nächsten Tagen geschah nichts Ungewöhnliches. Die<br />

Sechstklässler bekamen so viele Haus<strong>auf</strong>gaben <strong>auf</strong> wie noch nie, an fast<br />

jedem Tag schrieben sie eine Arbeit oder mussten ein oder zwei<br />

Aufsätze abgeben. Ron <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> stöhnten unter dieser Last, während<br />

Hermine fast Gefallen daran zu finden schien: Unermüdlich saß sie an<br />

den Abenden in der Bibliothek oder im Gemeinschaftsraum <strong>und</strong> arbeitete<br />

akribisch an ihren Sätzen – mit dem Ergebnis, <strong>das</strong>s sie fast nur "O" <strong>und</strong><br />

"E" als Noten erhielt. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron dagegen mussten sich oft genug mit<br />

einem "A" begnügen, auch ein "M" oder "S" tauchte dann <strong>und</strong> wann <strong>auf</strong> –<br />

die Bewertungen aller Lehrer wurden härter. Wenn die Klasse wieder<br />

einmal gegen die Unmenge an Haus<strong>auf</strong>gaben protestierte, hielten ihnen<br />

die Lehrer eine Predigt über die Bedeutung einer ordentlichen UTZ-<br />

Vorbereitung. Allein Professor McGonagall hatte dies in Verwandlung<br />

schon drei Mal getan. Auf Rons Bemerkung, die UTZ-Prüfungen seien<br />

<strong>doc</strong>h noch zwei Jahre hin, sagte sie noch nicht einmal etwas.<br />

Nur in Verteidigung hatten sie noch ihren Spaß. Zwar hatten sie in<br />

letzter Zeit <strong>das</strong> immens schwierige Thema der ungesagten Zauber<br />

begonnen, aber McGonagall (der nun wieder völlig genesen war) stellte<br />

sich als guter Lehrer heraus, der von zuviel Theorie nichts hielt <strong>und</strong><br />

lieber praktisch mit ihnen übte – mit dem Ergebnis, <strong>das</strong>s fast alle Schüler<br />

der Klasse nach nur einer Woche bereits einfache Zauber schweigend<br />

ausführen konnten.<br />

Auch mit der DA ging es voran, sie hatten Heilzauber mit Erfolg<br />

geübt. Dar<strong>auf</strong>hin hatte Hermine dar<strong>auf</strong> bestanden, ihnen allen einen<br />

Proteus-Zauber beizubringen.<br />

"Damit jeder von euch in der Lage ist, die anderen DA-Mitglieder<br />

mit Hilfe der Münzen zu erreichen. Eine bestimmte Kombination der<br />

Zahlen <strong>auf</strong> der Münze bedeutet Gefahr – was gleichbedeutend mit einem<br />

Aufruf an die DA ist, zusammenzukommen. So ist jeder von euch in der<br />

Lage, um Hilfe zu rufen."<br />

Alle waren davon begeistert, <strong>und</strong> als Hermine auch noch einen<br />

Zauber über sämtliche Münzen sprach, welcher es dem Träger<br />

ermöglichte, zum Ort des Hilferufes zu gelangen, erklang lauter Beifall im<br />

Raum der Wünsche.<br />

So verging die Zeit, <strong>und</strong> vor lauter Arbeit merkte <strong>Harry</strong> gar nicht,<br />

wie die Bäume langsam bunt wurden, die Tage kürzer <strong>und</strong> die Nächte<br />

deutlich kühler.<br />

Deshalb kam es, <strong>das</strong>s er eines Tages <strong>auf</strong>wachte <strong>und</strong> recht<br />

überrascht den ersten schwachen Raureif <strong>auf</strong> den Wiesen von Hogwarts<br />

sehen konnte.<br />

Beim Frühstück sprach er Ron <strong>und</strong> Hermine wieder einmal <strong>auf</strong><br />

Snapes Vorhaben an, <strong>das</strong> Rosier-Buch lesen zu wollen.<br />

204


"<strong>Harry</strong>, <strong>das</strong> ist Unsinn", erklärte Hermine ihm wie jedes der<br />

Dutzend Male während der letzten Wochen geduldig, als wollte sie<br />

einem kleinen Kind vorsichtig klarmachen, <strong>das</strong>s es heute keine<br />

Süßigkeiten mehr gab.<br />

"Natürlich will Snape niemanden von den Toten <strong>zur</strong>ückholen, denn<br />

er ist in der Lage, sein Gehirn zu benutzen <strong>und</strong> weiß, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

unmöglich ist –"<br />

"Hermine, du hast ihn nicht gehört, er hat sich ausdrücklich für den<br />

Hexer von Hexham interessiert, ich sage dir: Er versucht, darüber etwas<br />

herauszufinden."<br />

Hermine seufzte.<br />

"Und selbst wenn, er wird nichts finden."<br />

"Und warum? Nur weil es dir nicht gelungen ist?", fragte <strong>Harry</strong><br />

provozierend.<br />

"Wen sollte Snape überhaupt wieder ins Leben holen wollen?", gab<br />

es Hermine <strong>auf</strong>, <strong>Harry</strong> von der Sinnlosigkeit seiner Argumente<br />

überzeugen zu wollen.<br />

"Slytherin", schlug Ron vor.<br />

"Nun fang du nicht auch noch mit dem Quatsch an", fuhr Hermine<br />

ihn an, wor<strong>auf</strong>hin Ron vor Schreck seine Gabel fallen ließ.<br />

"Wieso nicht?", grübelte <strong>Harry</strong> wie so oft in letzter Zeit. "Vielleicht<br />

hat Voldemort ihm sogar den Auftrag gegeben."<br />

Hermine schlug ihren Tagespropheten nieder.<br />

"Snape ist kein Todesser!", sagte sie. "Wie oft soll ich dir <strong>das</strong> noch<br />

sagen –"<br />

"Bis du es einwandfrei beweisen kannst", entgegnete <strong>Harry</strong> ruhig.<br />

„Abgesehen davon hätte Voldemort kein Interesse daran, Slytherin<br />

zum Leben zu erwecken, dann hätte er einen Konkurrenten um die<br />

Macht über die Todesser.“<br />

"Also wenn ich die Möglichkeit hätte, jemanden von den Toten<br />

<strong>auf</strong>erstehen zu lassen, dann würde ich einen tragisch getöteten<br />

Geliebten wieder zu mir holen", ließ Ginny vernehmen, die zusammen<br />

mit Neville dem Gespräch gefolgt war.<br />

"Tja, wer weiß, vielleicht werden Snape <strong>und</strong> Slytherin DAS<br />

Traumpaar", stichelte Hermine in Richtung <strong>Harry</strong>. Der dagegen wirkte<br />

nachdenklich.<br />

"Womöglich liegst du gar nicht so falsch, Ginny", meinte er<br />

langsam. Allerdings wollte er nicht über <strong>das</strong> Thema nachdenken.<br />

Ein Stück Spiegelei fiel von Rons Gabel, während er <strong>Harry</strong><br />

entgeistert anstarrte. "Du denkst wirklich, Snape ist schwul?", fragte er<br />

mit solchem Ernst, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> in sein Kürbissaftglas prustete.<br />

"Quatsch, ich habe dabei nicht an Slytherin gedacht."<br />

205


Er schaute Hermine an, eine silberne Hirschkuh im Sinn, aber die<br />

schüttelte den Kopf. "Nein, man kann niemanden von den Toten<br />

<strong>zur</strong>ückholen, egal wen oder wie."<br />

"Ich will trotzdem Snapes Ergebnisse erfahren", meinte <strong>Harry</strong>.<br />

Wenn der Zaubertranklehrer schon in der Absicht, einen Weg zu den<br />

Toten zu finden, <strong>das</strong> Rosier-Buch las <strong>und</strong> untersuchte, dann schien ihm<br />

<strong>das</strong> die einzige Möglichkeit, an die Wahrheit zu kommen. Wenn Snape<br />

nichts fand, entschied er, würde er <strong>das</strong> Thema vergessen.<br />

"Und wie willst du <strong>das</strong> anstellen?", fragte Ron neugierig. "In sein<br />

Büro einbrechen?"<br />

<strong>Harry</strong> schaute ihn an.<br />

"Genau."<br />

Den ganzen Weg hinunter in die Kerker stritt er sich mit Hermine,<br />

die ganz <strong>und</strong> gar gegen ein Eindringen in den privaten Raum ihres<br />

Lehrers war.<br />

"Wieso sträubst du dich so?", fragte <strong>Harry</strong> verw<strong>und</strong>ert. "Du warst in<br />

unserem zweiten Jahr selbst unerlaubt dort drin!"<br />

"Ja, um herauszufinden, ob Malfoy der Erbe Slytherins ist, nicht,<br />

um nach Notizen Ausschau zu halten, die irgendwelchen Hirngespinsten<br />

entsprungen sind –"<br />

"Ach, dann habe ich also Hirngespinste?", blaffte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> trat<br />

wütend gegen eine Rüstung, die an einer Gabelung in den düsteren<br />

Kellergängen stand.<br />

"Ich möchte <strong>doc</strong>h bitten, Sir!", schnarrte ihm die Rüstung in einem<br />

Ton rostigen Quietschens hinterher.<br />

"Wie willst du denn diesmal Snape ablenken?", fragte Ron schnell,<br />

bevor Hermine eine noch bissigere Antwort geben konnte.<br />

"Wieder Feuerwerkskörper in einen Kessel werfen geht wohl nicht,<br />

erstens haben wir keine, <strong>und</strong> zweitens ist die Klasse viel zu klein, um<br />

unentdeckt einen Aufruhr verursachen zu können."<br />

<strong>Harry</strong> wusste, <strong>das</strong>s Ron Recht hatte. Er musste sich etwas<br />

anderes einfallen lassen, um Snapes Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> andere Dinge<br />

zu lenken als <strong>auf</strong> die Tatsache, <strong>das</strong>s er in sein Büro ging, um<br />

persönliche Notizen zu lesen.<br />

Gerade wollten sie in den Unterrichtsraum treten (Ron hatte es sich<br />

in letzter Zeit angewöhnt, immer mit bis <strong>zur</strong> Tür zu kommen <strong>und</strong> die<br />

beiden dann beim Anblick Snapes zu verabschieden, er sagte, es liefe<br />

ihm jedes Mal ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn er dann<br />

einfach wieder gehen konnte), als sie Snapes Stimme aus einem Gang<br />

vor ihnen hörten, der in Gewölbe führte, in denen <strong>Harry</strong> noch nie<br />

gewesen war.<br />

„Ich habe meine Untersuchungen gestern abgeschlossen,<br />

Professor“, sprach er.<br />

206


„Sehr schön, <strong>und</strong> ich schließe aus ihrem Verhalten, <strong>das</strong>s Sie etwas<br />

gef<strong>und</strong>en haben?", erklang Dumbledores höfliche, aber leicht<br />

ungeduldige Stimme.<br />

"Oh ja, ich habe Gr<strong>und</strong> zu der Annahme, <strong>das</strong>s die Gerüchte über<br />

den Hexer von Hexham keineswegs so albern sind, wie gerne behauptet<br />

wird. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, den Beweis gef<strong>und</strong>en zu haben,<br />

der ihm Recht gibt. Es handelt sich, wenn ich <strong>das</strong> sagen darf, um eine<br />

sensationelle Entdeckung."<br />

"In dem Falle, Severus", wies Dumbledore ihn an, nun merklich<br />

beunruhigt, "bringen Sie mir Ihre Ergebnisse in mein Büro – sagen wir<br />

Freitag, vorher habe ich einige wichtige Erledigungen zu machen. Bis<br />

dahin zeigen Sie niemandem, was Sie aus dem Buch herausgelesen<br />

haben."<br />

"Natürlich nicht. Die Notizen sind in meinem Büro, welches ich<br />

immer mit einem Einbruchssicherungszauber versehe, solange ich nicht<br />

dort bin."<br />

"Ausgezeichnet, man kann nie sicher genug sein. Nun<br />

entschuldigen Sie mich bitte."<br />

Schritte kamen näher. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine liefen schnell in den<br />

Klassenraum, Ron versteckte sich hinter einem Mauervorsprung, zum<br />

Glück schien Snape aber nichts <strong>auf</strong>gefallen zu sein.<br />

Als sie an ihren Plätzen saßen, beugte sich <strong>Harry</strong> zu Hermine <strong>und</strong><br />

flüsterte: "Ich brauche diese Notizen, ich muss sie einfach haben. Wer<br />

weiß, was dieser Schleimbeutel herausgef<strong>und</strong>en hat."<br />

Hermine schüttelte resignierend den Kopf.<br />

"Aber wie willst du <strong>das</strong> anstellen?", fragte sie. <strong>Harry</strong> grinste, froh,<br />

<strong>das</strong>s sie ihn wenigstens nicht mehr davon abhalten wollte, jetzt, wo es<br />

Anzeichen gab, <strong>das</strong>s die ganze Hexer-Geschichte nicht nur Unsinn war.<br />

Snape stellte sich vor die Klasse, hämisch grinsend wie immer,<br />

aber als er zu sprechen begann, bemerkte <strong>Harry</strong> leichte<br />

Konzentrationsschwächen, er schien manchmal einige Sek<strong>und</strong>en in<br />

Gedanken nicht bei dem Unterrichtsstoff zu sein. Außerdem machte er<br />

den Eindruck einer Aufgeräumtheit, die <strong>Harry</strong> an Snape so seltsam <strong>und</strong><br />

ungewöhnlich vorkam, <strong>das</strong>s er eine Weile brauchte, bis er die Antwort<br />

hatte: Snape war über irgendetwas glücklich.<br />

„Für die heutige Unterrichtsst<strong>und</strong>e habe ich in den letzten Wochen<br />

einen Vielsafttrank gebraut.“ Er wies <strong>auf</strong> einen Kessel, der vor ihm stand.<br />

„Sie werden gleich alle eine Probe davon nehmen <strong>und</strong> ihn zusammen<br />

mit einem Partner ausprobieren. Die Wirkung des Tranks hält in etwa<br />

eine St<strong>und</strong>e an, in dieser Zeit beschäftigen Sie sich mit der Theorie –<br />

<strong>und</strong> in den nächsten Wochen sollten Sie dann in der Lage sein, selbst<br />

einen Vielsafttrank herzustellen. Es wäre zu empfehlen, <strong>das</strong>s Ihnen <strong>das</strong><br />

tadellos gelingt, denn Sie werden ihren Trank selbst zu sich nehmen<br />

207


müssen.“ Er grinste voller Vorfreude <strong>auf</strong> etwaige Unfälle <strong>und</strong> wandte sich<br />

unheilvoll <strong>Harry</strong> zu.<br />

„<strong>Potter</strong> kann uns sicher erklären, wie ein Vielsafttrank im Detail<br />

wirkt.“<br />

Und ob er <strong>das</strong> konnte! Immerhin hatte er <strong>das</strong> widerliche Gebräu<br />

schon einmal trinken müssen. <strong>Harry</strong> gab eine ausführliche<br />

Beschreibung, <strong>und</strong> Snapes höhnisches Grinsen verschwand. Er sagte<br />

aber nichts, sondern ließ die Schüler stattdessen ihre Proben abholen.<br />

Als <strong>Harry</strong> an der Reihe war, sah er wie Snape gedankenverloren in eine<br />

andere Richtung schaute, augenscheinlich wieder mit dem Rosier-Buch<br />

beschäftigt. Flink nahm er sich zwei statt einen Becher <strong>und</strong> füllte den<br />

einen randvoll. Als er wieder saß, kippte er die Hälfte in den leeren<br />

Becher um, versiegelte ihn magisch <strong>und</strong> ließ ihn in seiner Tasche<br />

verschwinden. Nicht einmal Hermine hatte etwas gemerkt.<br />

Den Rest der St<strong>und</strong>e hatten sie alle eine Menge Spaß – was für<br />

Zaubertränke gänzlich ungewohnt war. Obwohl Snape es sich nicht<br />

nehmen ließ, <strong>Harry</strong>, der nun Hermines Aussehen hatte, eine St<strong>und</strong>e lang<br />

zu triezen, konnte <strong>Harry</strong> nur staunen, wie es sich anhörte, wenn er in<br />

Zaubertränke alles wusste – denn Hermine erklärte die genaue<br />

Zubereitung des Trankes in seiner Gestalt <strong>und</strong> in seiner Stimme, aber<br />

mit der gewohnten Selbstsicherheit.<br />

Lachend verließen sie nach der St<strong>und</strong>e die Kellergewölbe.<br />

"War echt eine – äh, ungewöhnliche Erfahrung, mal du zu sein",<br />

grinste <strong>Harry</strong>, als Ron sich zu ihnen gesellte. Auch er hörte sich vergnügt<br />

die Geschehnisse der St<strong>und</strong>e an.<br />

"Schade, <strong>das</strong>s Snape wusste, in wen ihr euch verwandelt habt,<br />

sonst hätte ich als Hermine so getan, als wüsste ich nichts." Er setzte<br />

einen ahnungslosen Gesichtsausdruck <strong>auf</strong> <strong>und</strong> stammelte: "Nein,<br />

Professor, ich kenne die Antwort nicht! Weißt du was, Hermine, <strong>das</strong><br />

hätte deinem Image wahrscheinlich ganz gut getan."<br />

Hermine schüttelte nur den Kopf über Ron, während die drei in den<br />

Gemeinschaftsraum gingen, um an der gewaltigen Menge an<br />

Haus<strong>auf</strong>gaben zu arbeiten, die sich vor ihnen <strong>auf</strong>türmte wie ein<br />

unüberwindbares Hindernis. Da Astronomie diesmal ausfiel, kam auch<br />

Hermine mit.<br />

Mitten in der Arbeit, als er an einer besonders verzwickten Aufgabe<br />

für Verwandlung saß, warf <strong>Harry</strong> entnervt seinen Stift beiseite. Die drei<br />

waren im Gemeinschaftsraum fast alleine, nur in einer hinteren Ecke<br />

saßen ein paar Drittklässler <strong>und</strong> spielten mit zwei kleinen Katzen.<br />

"Ich habe darüber nachgedacht, wie wir Snape ablenken können",<br />

begann <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> schaute zu seinen Fre<strong>und</strong>en. Ron hob den Kopf von<br />

dem voll gekritzelten Pergament, <strong>auf</strong> <strong>das</strong> er etwas über Abraxas-Pferde<br />

208


für Pflege magischer Geschöpfe geschrieben hatte <strong>und</strong> sah ihn neugierig<br />

an, Hermine schloss mit einem Seufzen ihr Runenwörterbuch.<br />

"Und zwar mit Hilfe von dem hier."<br />

Er holte <strong>das</strong> kleine Fläschchen mit dem Vielsafttrank aus seiner<br />

Tasche <strong>und</strong> stellte es vor ihnen <strong>auf</strong> den Tisch.<br />

"Du hast es aus Zaubertränke mitgenommen!", rief Hermine <strong>und</strong><br />

atmete scharf ein.<br />

"Klar. Einer von uns wird sich einfach in jemanden verwandeln,<br />

dem Snape bereitwillig für ein paar Minuten vor die Tür folgt, <strong>und</strong> derweil<br />

werde ich in sein Büro gehen <strong>und</strong> die Notizen nehmen."<br />

Ron schaute ihn für einige Sek<strong>und</strong>en prüfend an.<br />

"Das klappt nicht", stellte er fest.<br />

"Wieso nicht?"<br />

"Erstens, weil sämtliche Schüler sehen werden, wie du in Snapes<br />

Büro einbrichst, <strong>und</strong> zumindest die Slytherins werden petzen. Zweitens,<br />

weil Snape <strong>das</strong> Fehlen der Notizen natürlich bemerken wird, <strong>und</strong> da er<br />

sowieso immer dich verdächtigt, hast du kaum eine Chance,<br />

davonzukommen. Und drittens weil <strong>das</strong> bedeuten würde, <strong>das</strong>s du<br />

Hermine überreden musst mitzumachen, <strong>und</strong> <strong>das</strong> kannst du vergessen."<br />

Er grinste Hermine an.<br />

Die hob herausfordernd ihren Kopf. "Ich werde <strong>Harry</strong> helfen, wenn<br />

ihm diese Notizen so wichtig sind, auch wenn ich nach wie vor der<br />

Meinung bin, <strong>das</strong>s sie nicht erklären, wie man Tote <strong>zur</strong>ückholen kann."<br />

Sie blickte <strong>Harry</strong> ernst an. "Aber ich habe mich schon öfter geirrt, <strong>und</strong><br />

wenn es nach wie vor dein Wunsch ist, mehr darüber herauszufinden,<br />

werden wir dir beistehen."<br />

"Danke", sagte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> spürte unbändige Freude darüber, <strong>das</strong>s<br />

seine beiden besten Fre<strong>und</strong>e auch gegen ihre eigene Vernunft mit ihm<br />

jeden Weg gehen würden.<br />

"He, was soll <strong>das</strong> heißen, wir?", wollte Ron wissen.<br />

"Genau <strong>das</strong>, Ron Weasley", meinte Hermine vergnügt. "Weder ich<br />

noch <strong>Harry</strong> dürfen die Klasse verlassen, sonst fällt es den Slytherins <strong>auf</strong>.<br />

Nein, du musst in Snapes Büro <strong>und</strong> die Notizen kopieren – ich kenne<br />

einen einfachen Kopierzauber, man legt ein leeres Pergamentblatt <strong>auf</strong><br />

<strong>das</strong> Original, spricht den Zauber <strong>und</strong> sofort erscheinen die Worte <strong>auf</strong><br />

dem Kopierpergament."<br />

"Aber Hermine", wandte <strong>Harry</strong> ein, "Ron ist nicht im<br />

Klassenzimmer. Wie soll er da in Snapes Büro?"<br />

"Mit deinem Tarnumhang natürlich", meinte sie lässig <strong>und</strong> lehnte<br />

sich <strong>zur</strong>ück. "Er kommt mit uns rein <strong>und</strong> schleicht sich später in Snapes<br />

Zimmer. Jetzt müssen wir nur noch jemanden finden, der Snape<br />

anlenkt."<br />

"Jemanden von der DA?", schlug <strong>Harry</strong> vor.<br />

209


Hermine überlegte. "Wir sollten Ginny fragen. Sie verliert auch in<br />

schwierigen Situationen nicht die Nerven."<br />

Seltsamerweise empfand <strong>Harry</strong> einen gewissen Stolz bei dieser<br />

Bemerkung, <strong>und</strong> er war erleichtert, ihn <strong>auf</strong> die Tatsache <strong>zur</strong>ückführen zu<br />

können, <strong>das</strong>s Ginny in der von ihm trainierten DA war.<br />

Warum auch sonst?<br />

Als Ginny eine St<strong>und</strong>e später im Gemeinschaftsraum <strong>auf</strong>tauchte,<br />

willigte sie sofort ein.<br />

"Das hat mir wirklich gefehlt", juchzte sie voller Vorfreude.<br />

"Was?", fragte Ron.<br />

"Na, solche Fred- <strong>und</strong> George-Vorhaben. Seit sie nicht mehr <strong>auf</strong><br />

der Schule sind, ist es enorm langweilig geworden. Ich wünschte mir<br />

fast, eine neue Umbridge würde kommen – ich habe den ganzen Tag<br />

über nichts zu tun als zu lernen, <strong>das</strong> deprimiert irgendwie."<br />

"Fred <strong>und</strong> George sind manchmal übers Ziel hinausgeschossen",<br />

meinte Hermine, die sich oft genug mit den Zwillingen wegen<br />

Regelverstoßes angelegt hatte.<br />

"Ginny hat Recht, es wird Zeit, <strong>das</strong>s wir uns wieder in ein<br />

Abenteuer stürzen", hörte <strong>Harry</strong> sich sagen <strong>und</strong> bekam dafür ein<br />

strahlendes Lächeln von ihr, <strong>das</strong> ihm plötzlich weiche Knie machte.<br />

Hermine sah ihn prüfend an, sagte aber nichts.<br />

"Gut, in wen soll ich mich verwandeln?", fragte Ginny beschwingt.<br />

"Wissen wir noch nicht. In irgendeinen Lehrer sicherlich."<br />

"Vielleicht Dumbledore?", schlug Ron vor.<br />

"Nein, er <strong>und</strong> Snape sind zu vertraut, er könnte Fragen stellen, die<br />

Ginny nicht beantworten kann. Mit welchem Lehrer hat Snape überhaupt<br />

nichts zu tun? Je weniger er jemanden kennt, desto geringer ist die<br />

Gefahr, sich zu verraten."<br />

"McGonagall", fiel <strong>Harry</strong> ein.<br />

"Klar, <strong>das</strong> ist es! Snape hasst ihn, er würde nie freiwillig mit ihm<br />

sprechen, also weiß er nicht viel über ihn", meinte Hermine zufrieden.<br />

"Jetzt brauchen wir nur noch ein paar Haare von ihm."<br />

"Und holst du sie <strong>und</strong> schleppst dann wieder Katzenhaare an?",<br />

stichelte Ron. Hermine warf ihm einen nicht sehr angetanen Blick zu.<br />

"Nein, du wirst", parierte sie. "Nämlich morgen Abend." Ron hatte<br />

sich da mit ihrem Verteidigungslehrer zum Schachspielen verabredet.<br />

Ron schnaubte nur.<br />

Den folgenden Tag hatte <strong>Harry</strong> nichts anderes im Sinn als diese<br />

Notizen. Er wollte lesen, was Snape herausgef<strong>und</strong>en hatte – denn wenn<br />

er den Zaubertranklehrer auch aus tiefstem Herzen hasste, so konnte er<br />

nicht umhin anzuerkennen, <strong>das</strong>s er ein mächtiger Zauberer mit<br />

ungeheurem Wissen war. Wenn er etwas entdeckt hatte, <strong>das</strong> ihn so<br />

210


durcheinander brachte wie die letzte Zaubertrankst<strong>und</strong>e, dann war <strong>das</strong><br />

nicht nur ein Hirngespinst, so wie Hermine behauptete. Nein, da steckte<br />

mehr dahinter. <strong>Harry</strong> versuchte, nicht zu oft an Sirius zu denken,<br />

während er eine weitere sehr schwere Verwandlungsst<strong>und</strong>e überstand<br />

<strong>und</strong> am Nachmittag in Pflege magischer Geschöpfe zusammen mit den<br />

anderen ein Abraxas-Pferd, <strong>und</strong> zwar ein besonders seltenes Exemplar<br />

der Himalaya-Unterart, bestaunte, <strong>das</strong> Hagrid irgendwie hatte besorgen<br />

können. Es war etwas größer als ein normales Pferd, hatte eine<br />

schneeweiße Färbung <strong>und</strong> zwei riesige Flügel, mit denen es nervös<br />

schlug, während die Schüler <strong>das</strong> zwar scheue, aber sanfte Pferd<br />

streichelten.<br />

Abends saßen er <strong>und</strong> Hermine im Gemeinschaftsraum. <strong>Harry</strong><br />

spielte gedankenverloren mit dem kleinen Glas voll Vielsafttrank,<br />

Hermine las in einem fast einen Meter dicken Schinken über<br />

Materialisierungszauber. Immer wieder schaute er <strong>auf</strong> die Uhr, der Raum<br />

hatte sich schon geleert <strong>und</strong> nichts war zu hören als <strong>das</strong> knisternde<br />

Kaminfeuer, <strong>das</strong> in diesen kalten Oktobertagen wohlige Wärme<br />

verbreitete. Erst kurz nach Mitternacht öffnete sich <strong>das</strong> Portrait <strong>und</strong> Ron<br />

kam herein.<br />

"Und wie ist es gel<strong>auf</strong>en?", sprang <strong>Harry</strong> von seinem Stuhl hoch.<br />

"Klasse, wir haben fünf Spiele gemacht, <strong>und</strong> ich habe drei davon<br />

gewonnen, auch wenn <strong>das</strong> letzte äußerst knapp war. Aber da ich meinen<br />

Bauern geschickt gesetzt habe –"<br />

"Ron, hast du seine Haare?", fiel Hermine ungeduldig ein.<br />

Beleidigt ob des offensichtlichen Desinteresses an seiner<br />

grandiosen Leistung murrte Ron vor sich hin <strong>und</strong> holte ein Stück Stoff<br />

aus seiner Hosentasche, <strong>das</strong> er <strong>auf</strong> dem Tisch auseinander schlug, <strong>und</strong><br />

hielt eine dünne, pechschwarze Haarsträhne in die Höhe.<br />

Hermine runzelte die Stirn. "Die wirst du kaum zufällig gef<strong>und</strong>en<br />

haben", zweifelte sie.<br />

"Nein", antwortete Ron fröhlich, ließ sich in einen Sessel fallen <strong>und</strong><br />

nahm sich einen Schokofrosch aus einer großen Schachtel, die <strong>auf</strong> dem<br />

Kaminsims stand.<br />

"Er war zwar einmal aus dem Zimmer gegangen, weil Flitwick ihn<br />

sprechen wollte, aber hast du schon mal versucht, ein schwarzes Haar<br />

<strong>auf</strong> einem schwarzen Mantel zu finden? Jedenfalls war er <strong>zur</strong>ück, bevor<br />

ich Erfolg hatte, <strong>und</strong> da habe ich ihn einfach gefragt –"<br />

"Du hast was? Hermine sah ihn entsetzt an.<br />

"Ron, du Rindvieh, nun wird er sicher Dumbledore informieren!",<br />

stöhnte <strong>Harry</strong>.<br />

"Quatsch", mampfte Ron seinen Schokofrosch. "Er war gleich<br />

Feuer <strong>und</strong> Flamme <strong>und</strong> meinte, er selbst würde Snape ablenken, wenn<br />

er nicht zeitgleich Unterricht hätte. Dafür hat er sich selbst ein paar<br />

Haare abgeschnitten <strong>und</strong> mir gegeben. Zusammen mit dem hier." Er<br />

211


legte eine Brille, die genauso aussah wie die McGonagalls, vor <strong>Harry</strong><br />

hin.<br />

Seufzend stellte <strong>Harry</strong> den Vielsafttrank <strong>auf</strong> den Tisch. Er schöpfte<br />

etwa die Hälfte davon in ein neues Glas <strong>und</strong> gab ein paar der langen<br />

Haare hinein. Den Rest legte er beiseite.<br />

"Was machst du da?", frage Ron.<br />

"Wer weiß, wann wir diesen Trank noch einmal brauchen", erklärte<br />

er <strong>und</strong> schaute zu, wie die Flüssigkeit sich vor ihm tiefblau färbte.<br />

„Fertig“, strahlte er <strong>und</strong> ließ <strong>das</strong> Fläschchen in seiner Tasche<br />

verschwinden.<br />

Am nächsten Tag ging er mit einem noch flaueren Gefühl als sonst<br />

in den Zaubertrank-Klassenraum. Hermine neben ihm war ähnlich<br />

nervös. Vor der St<strong>und</strong>e hatten sie Ginny den Vielsafttrank gegeben. Sie<br />

hatte zwar Unterricht, meinte aber, fünf Minuten vor Ende der St<strong>und</strong>e<br />

verschwinden zu wollen. "Ist eh nur Geschichte der Zauberei – Binns<br />

merkt vermutlich nicht einmal, <strong>das</strong>s ich fehle. Wir sehen uns nachher!",<br />

hatte sie in Vorfreude <strong>auf</strong> ihren Plan gerufen <strong>und</strong> war in die oberen<br />

Stockwerke gel<strong>auf</strong>en, während sie mitsamt dem unter dem Tarnumhang<br />

verborgenen Ron in den Keller gingen.<br />

Obwohl sie ausgemacht hatten, <strong>das</strong>s Ron die St<strong>und</strong>e über neben<br />

der Wand stehen sollte, spürte <strong>Harry</strong> ihn immer wieder direkt neben sich<br />

heruml<strong>auf</strong>en.<br />

"Was machst du da?", flüsterte er einmal, als Ron sich neugierig<br />

über seinen Kessel gebeugt hatte <strong>und</strong> durch die <strong>auf</strong>steigenden Dämpfe<br />

hatte niesen müssen.<br />

"Sorry, aber mir ist langweilig!", murrte er leise.<br />

Plötzlich tauchte Snape neben <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>.<br />

"Führen wir jetzt schon Selbstgespräche?", höhnte er <strong>und</strong> schaute<br />

in <strong>Harry</strong>s Kessel. Ron zuckte erschrocken <strong>zur</strong>ück. Alarmiert blickte<br />

Snape mit seinen kalten schwarzen Augen genau dorthin, wo Ron sein<br />

musste. Da aber die Slytherins in Erwartung einer neuen Demütigung die<br />

Aufmerksamkeit ganz <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> gerichtet hatten, unterließ es Snape,<br />

nach einem möglicherweise nicht existenten Wesen zu tasten, sondern<br />

rümpfte über <strong>Harry</strong>s ersten Versuch eines Vielsafttrankes die Nase.<br />

"Noch einmal neu anfangen, <strong>Potter</strong>", meinte er genüsslich <strong>und</strong><br />

wischte mit seinem Zauberstab die zähe Flüssigkeit aus <strong>Harry</strong>s Kessel.<br />

Dieser wollte fast wütend <strong>auf</strong>springen, riss sich aber zusammen<br />

<strong>und</strong> dachte an nachher <strong>und</strong> an die Genugtuung, Snapes persönliche<br />

Notizen zu stehlen.<br />

Langsam vergingen die Minuten, <strong>und</strong> als <strong>Harry</strong> fast schon<br />

fürchtete, es würde bald klingeln <strong>und</strong> die Schüler gehen, womit sie ihr<br />

Vorhaben abbrechen müssten, klopfte jemand an die Tür. Snape sah<br />

stirnrunzelnd von Malfoys Kessel <strong>auf</strong> (dessen Inhalt er gerade als<br />

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vorbildlichen Vielsafttrank präsentiert hatte, auch wenn dieser ganz<br />

anders aussah als der, den <strong>Harry</strong> aus seinem zweiten Jahr in Erinnerung<br />

hatte).<br />

"Herein", rief er mit deutlichem Missfallen in der Stimme.<br />

Die Tür öffnete sich <strong>und</strong> McGonagall trat ein. Oder besser Ginny,<br />

korrigierte sich <strong>Harry</strong> – aber es war kein Unterschied zum echten<br />

McGonagall zu bemerken. Der Vielsafttrank von Snape war zum Glück<br />

professionell gebraut gewesen. Mit dem für seinen Verteidigungslehrer<br />

so typischen Lächeln ging Ginny beschwingt <strong>auf</strong> Snape zu.<br />

"Severus", meinte sie so locker es ihr wohl möglich war, "ich muss<br />

Sie bitten, mir wegen einer dringenden Angelegenheit kurz vor die Tür zu<br />

folgen." Sie nickte zu den interessiert zu ihnen hinüberblickenden<br />

Schülern, um anzudeuten, <strong>das</strong>s sie dabei kein Publikum haben wollte.<br />

"Wenn Sie die Fre<strong>und</strong>lichkeit besitzen, bis nach dem Unterricht zu<br />

warten, McGonagall", knurrte Snape, sarkastisch jedes Wort betonend.<br />

Ginny lachte überzeugend unbeschwert <strong>auf</strong>.<br />

"Nein, es ist nötig, <strong>das</strong>s wir jetzt sofort gehen. Es gab einen kleinen<br />

– äh, Unfall." Sie schafft es sogar, einen einigermaßen gelungenen<br />

amerikanischen Akzent zu imitieren. Jedenfalls wäre <strong>Harry</strong> nicht dar<strong>auf</strong><br />

zu kommen, <strong>das</strong>s nicht der echte McGonagall vor ihnen stand, wenn er<br />

es nicht wüsste. Snape scheinbar auch nicht, denn zu <strong>Harry</strong>s<br />

unsäglicher Erleichterung ging er <strong>zur</strong> Tür <strong>und</strong> rief in die Klasse:<br />

"Räumen Sie <strong>auf</strong> <strong>und</strong> lesen Sie bis <strong>zur</strong> nächsten St<strong>und</strong>e Kapitel<br />

fünf. Und keine Ausflüchte, wer die Theorie nächste St<strong>und</strong>e nicht<br />

beherrscht, wird nachsitzen." Er ging zu Ginny, welche, nicht ohne <strong>Harry</strong><br />

vorher zuzuzwinkern, hinter den beiden die Tür schloss.<br />

"Los jetzt", flüsterte er in Richtung Ron, der aber schon nicht mehr<br />

da zu sein schien. Im allgemeinen Aufbruch, Kesselputzen <strong>und</strong><br />

Bücherräumen sah er aus den Augenwinkeln, wie die Tür zu Snapes<br />

Büro ein Stück <strong>auf</strong>gestoßen wurde. Niemand anders achtete dar<strong>auf</strong>.<br />

Er <strong>und</strong> Hermine packten bewusst langsam ihre Sachen, beständig<br />

<strong>auf</strong> <strong>das</strong> abermalige Schließen der Tür wartend, <strong>das</strong> ihnen von der<br />

Beendigung Rons Aufgabe kündigen würde. Stattdessen ging aber die<br />

Klassenraumtür wieder <strong>auf</strong> <strong>und</strong> Snape kam herein, wutschnaubend.<br />

Erschrocken sah <strong>Harry</strong> Hermine an, die Hände ringend <strong>und</strong> nicht gerade<br />

un<strong>auf</strong>fällig Snapes Büro beobachtete.<br />

"Ihr Großcousin schafft es sogar, Sie an Arroganz zu übertreffen,<br />

<strong>Potter</strong>", fauchte Snape mit so viel Hass, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> nicht umhin kam,<br />

Ginny in Gedanken für ihren Auftritt zu loben.<br />

Snape ging <strong>auf</strong> sein Büro zu. Schnell ließ <strong>Harry</strong> die Bücher fallen,<br />

die er noch in der Hand hielt – Snape fuhr herum, <strong>und</strong> in dieser Sek<strong>und</strong>e<br />

schloss sich hinter seinem Rücken leise die Bürotür.<br />

213


"Sorry", grinste <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> merkte, wie Ron wieder neben ihm<br />

stand. Snape bebte vor Wut, beherrschte sich aber <strong>und</strong> verschwand in<br />

seinem Arbeitszimmer.<br />

"Ich habe sie", zischte Ron leise in <strong>Harry</strong>s Ohr, <strong>und</strong> sie sahen zu,<br />

<strong>das</strong>s sie aus Snapes Sichtweite <strong>und</strong> <strong>auf</strong> die Gänge kamen. Dort riss Ron<br />

<strong>auf</strong>atmend den Tarnumhang herunter.<br />

„Das Ding kann einen nerven, ich muss ein Dutzend Mal darüber<br />

gestolpert sein. Furchtbar!“ Stolz überreichte er <strong>Harry</strong> eine<br />

Pergamentseite.<br />

„Mehr gab es nicht?“ Irgendwie hatte er erwartet, einen dicken<br />

Stapel Informationen zu bekommen – <strong>und</strong> nun stellte sich Snapes große<br />

Entdeckung als nicht einmal zehnzeiliges, offenbar in Hast<br />

geschriebenes Gekritzel heraus.<br />

„Du hast sicher <strong>das</strong> falsche Blatt!“, rief er tief enttäuscht, während<br />

er vergeblich versuchte, die für Snape untypisch unsaubere Schrift im<br />

L<strong>auf</strong>en zu entziffern.<br />

"Habe ich nicht, da steht nämlich "Mysterien des Lebens" drüber",<br />

verteidigte sich Ron. "Da habe ich es nicht für nötig gehalten, Snapes<br />

Büro <strong>auf</strong> weitere Seiten hin zu durchsuchen, die er in der Ahnung<br />

versteckt hatte, <strong>das</strong>s ich einmal in deinem Tarnumhang in sein Zimmer<br />

eindringen würde, während meine Schwester in der Gestalt unseres<br />

Verteidigungslehrers ihn festnagelt!"<br />

"Schon gut, <strong>das</strong> hast du toll gemacht", meinte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> auch<br />

Hermine nickte angesichts des Pergaments beifällig. "Der Kopierzauber<br />

ist sehr gut gelungen", lobte sie Ron, der gleich rot anlief, wie er es in<br />

letzter Zeit oft tat, wenn Hermine <strong>das</strong> Wort an ihn richtete.<br />

"Wo ist Ginny eigentlich?"<br />

"Im Raum der Wünsche", antwortete Hermine <strong>auf</strong> den ratlosen<br />

Blick der beiden. "Sie versteckt sich dort die nächste St<strong>und</strong>e, sie kann ja<br />

schlecht als McGonagall in der Schule heruml<strong>auf</strong>en. Jemand muss ihr<br />

noch ihre Sachen bringen, die hat sie im Geschichts-Klassenraum<br />

gelassen."<br />

"Das übernehme ich, kein Problem", bot <strong>Harry</strong> ein wenig zu schnell<br />

an, als <strong>das</strong>s Hermine ihm keinen ahnenden Blick zuwarf.<br />

"Gut, wir gehen derweil in den Gemeinschaftsraum", zog sie Ron<br />

mit sich, der sich schon angeschickt hatte, <strong>Harry</strong> zu folgen.<br />

"Aber –"<br />

"Du wolltest <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s ich deinen Kräuterk<strong>und</strong>e-Aufsatz<br />

durchlese", lockte sie.<br />

Ron zögerte, dann hellte sich seine Miene <strong>auf</strong>. "Ja, da gibt es<br />

einen ganz fiesen Absatz über Regenpflanzen, ich habe <strong>das</strong> nie ganz<br />

verstanden – regnet es nur, wenn man sie in einer Vollmondnacht<br />

ausgräbt oder nie, wenn man sie im Morgengrauen einpflanzt –"<br />

214


Hermine zwinkerte <strong>Harry</strong> zu, als sie mit dem schnatternden Ron hinter<br />

einer Biegung verschwand.<br />

Etliche Abkürzungen nutzend lief <strong>Harry</strong> zum Klassenrum von<br />

Binns, schnappte sich Ginnys Tasche <strong>und</strong> rannte hoch zum Raum der<br />

Wünsche.<br />

Die Aussicht, mit Ginny einmal alleine sein zu können, ließ seine<br />

Beine merkwürdigerweise zu Blei werden, während sich sein Bauch so<br />

anfühlte, als landeten dort mehrere Flugzeuge <strong>auf</strong> einmal. Hastig lief er<br />

drei Mal an der betreffenden Wand vorbei <strong>und</strong> trat durch die Tür in den<br />

DA-Raum. Er hatte richtig geraten: Dorthin hatte sich Ginny<br />

<strong>zur</strong>ückgezogen. Sie saß in einem Sessel, lässig <strong>zur</strong>ückgelehnt, <strong>und</strong><br />

blätterte in einem Buch über Verteidigungszauber.<br />

"Hi."<br />

Wie dämlich. Konnte er nicht etwas Intelligenteres sagen?<br />

Ginny legte <strong>das</strong> Buch beiseite. "Hallo!", rief sie erfreut. Es fiel <strong>Harry</strong><br />

schwer, sich ein<strong>zur</strong>eden, <strong>das</strong>s Rons kleine Schwester vor ihm stand, wo<br />

sie <strong>doc</strong>h immer noch <strong>das</strong> Aussehen McGonagalls hatte.<br />

"Danke, du hast meine Sachen mitgebracht! Ich dachte schon, ich<br />

müsste nachher noch einmal runter. Wie ist es gel<strong>auf</strong>en? Hat alles<br />

geklappt?"<br />

„Äh, geklappt, ja –“ stammelte <strong>Harry</strong>. Er konnte kaum einen klaren<br />

Gedanken fassen. Einerseits war er mit Ginny alleine in diesem Raum,<br />

konnte ihre Präsenz spüren, aber ihr Aussehen irritierte ihn.<br />

„Ich dachte, Snape bringt mich um! Natürlich, zugegebenermaßen<br />

war die Idee, ihn wegen eines verunglückten Munterkeitszauber um Hilfe<br />

zu bitten auch nicht gerade originell, ich habe so getan, als würde ich<br />

ständig die Richtungen verwechseln, da hat er irgendeinen Gegenzauber<br />

gesprochen, nicht ohne eine Tirade über meine Unfähigkeit abzuhalten<br />

natürlich!“ Ginny lachte <strong>und</strong> stellte sich wohl jedes Detail der<br />

Unterhaltung noch einmal genießerisch vor.<br />

„Davon wird McGonagall nicht begeistert sein, wenn er <strong>das</strong> hört“,<br />

fürchtete <strong>Harry</strong>.<br />

„Ach wo, die beiden sind sich ohnehin nicht grün. Snape hält<br />

McGonagall statt wie bisher für einen arroganten Taugenichts für einen<br />

unfähigen, arroganten Taugenichts – was soll’s.“<br />

Sie wollte noch etwas sagen, hielt je<strong>doc</strong>h mit halb geöffnetem<br />

M<strong>und</strong> inne.<br />

„Was ist?“, fragte <strong>Harry</strong> argwöhnisch, aber dann sah er es auch:<br />

Die Wirkung des Vielsafttrankes ließ nach. Ginny wurde rasch kleiner, ihr<br />

Umhang rutschte ihr über die Füße, ihr Gesicht nahm wieder die<br />

gewohnten Züge an, die Brille fiel <strong>auf</strong> den Boden, <strong>und</strong> ihre Haarfarbe<br />

wechselte von pechschwarz zu flammend rot.<br />

215


„Na Gott sei Dank“, seufzte sie. „Diese Brille hat mich irre<br />

gemacht.“ Sie errötete leicht, als <strong>Harry</strong> die Augenbrauen hob. „So meine<br />

ich <strong>das</strong> nicht, es ist einfach nur ungewohnt –“<br />

Ginny leicht verlegen zu sehen ließ sie irgendwie noch hübscher<br />

aussehen als sonst, <strong>und</strong> auch wenn sie in dem übergroßen Umhang<br />

etwas lächerlich wirkte, so schien es <strong>Harry</strong>, als habe er nie etwas<br />

Schöneres gesehen. Wieso denke ich so?, fragte er sich verwirrt. Das<br />

kann nicht sein, sie ist Rons Schwester, er würde mich umbringen.<br />

Auch Ginny schien sich über irgendwas Gedanken zu machen,<br />

dann aber zog die den zu großen Umhang aus <strong>und</strong> ihren eigenen an <strong>und</strong><br />

trat einen Schritt <strong>auf</strong> ihn zu.<br />

Obwohl ein kleiner, je<strong>doc</strong>h schnell ignorierter Teil von ihm<br />

behauptete, es sei unschicklich, die Schwester seines besten Fre<strong>und</strong>es<br />

so anzusehen, wie er es momentan tat, konnte <strong>Harry</strong> die Augen nicht<br />

von Ginnys eindringlichem Blick lösen. Unfähig, sich einen Millimeter zu<br />

bewegen stand er stocksteif da, während sie sich ihm weiter näherte, bis<br />

sie nur noch eine Handbreit trennte.<br />

Er spürte ihre Nähe nun fast wie Feuer, einerseits wärmend,<br />

andererseits versengend, <strong>und</strong> ohne seinen Willen noch durch Vernunft<br />

oder Verstand beeinflussen zu können, machte er den letzten Schritt <strong>auf</strong><br />

sie zu.<br />

Als er eine Viertelst<strong>und</strong>e später in den Gemeinschaftsraum trat (er<br />

hatte der Fetten Dame einige Worte vorgenuschelt, die in seinen Ohren<br />

entfernt nach Passwörtern klangen, bis sie sich erbarmt hatte <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

Portrait hatte <strong>auf</strong>schwingen lassen), stellte er fest, <strong>das</strong>s die gewohnte<br />

Umgebung <strong>auf</strong> einmal ganz anders aussah als sonst. Die Schüler<br />

schienen viel fröhlicher zu sein, die Haus<strong>auf</strong>gaben, die vor ihm lagen,<br />

stellten nur eine herausfordernde, Spaß beinhaltende Arbeit dar, <strong>und</strong><br />

selbst die nächste Zaubertrankst<strong>und</strong>e sah er vor sich wie eine viel<br />

versprechende Verheißung. Was konnte noch schlecht oder belastend<br />

sein, wenn er nur an Ginny zu denken brauchte, um vom vollkommenen<br />

Glück erfüllt zu sein?<br />

Gedankenverloren setzte er sich in einen Sessel neben Ron <strong>und</strong><br />

Hermine, ohne zu merken, <strong>das</strong>s er keinen der beiden angesehen oder<br />

begrüßt hatte. Er schaute in <strong>das</strong> Funken schlagende Feuer <strong>und</strong> verglich<br />

es mit der Farbe von Ginnys Haar –<br />

„Hey, du musst <strong>das</strong> hier unbedingt lesen!“, knallte Ron ihm einen<br />

Fetzen Pergament <strong>auf</strong> den Schoß.<br />

Unendlich langsam senkte <strong>Harry</strong> den Kopf <strong>und</strong> betrachtete <strong>das</strong><br />

beigefarbene Blatt. Was immer <strong>das</strong> auch war, wie konnte es je wichtig<br />

sein?<br />

„Was ist <strong>das</strong>?“, fragte er <strong>und</strong> hielt <strong>das</strong> Pergament falsch herum<br />

hoch, ahnungslos, wie Ron ihn jetzt mit so was beschäftigen konnte.<br />

216


Der starrte ihn perplex an.<br />

In diesen Sek<strong>und</strong>en fiel <strong>Harry</strong> irgendwo in den hinteren Regionen<br />

seines Gedächtnisses ein, <strong>das</strong>s es ja noch die Notizen von Snape gab,<br />

die er lesen wollte.<br />

„Ach so, <strong>das</strong> meint ihr“, seufzte er. Er warf einen beiläufigen Blick<br />

<strong>auf</strong> <strong>das</strong> Gekritzel (<strong>das</strong> immer noch <strong>auf</strong> dem Kopf stand) <strong>und</strong> schaute<br />

wieder in die Flammen.<br />

"Mmmhh", meinte er <strong>und</strong> ließ <strong>das</strong> Pergament einen halben Meter<br />

neben den Tisch fallen.<br />

"<strong>Harry</strong>?", hörte er Hermines vorsichtige Stimme.<br />

Auf einmal schwang <strong>das</strong> Portrait wieder <strong>auf</strong> <strong>und</strong> Ginny trat in den<br />

Raum. <strong>Harry</strong> schien es, als ginge die Sonne <strong>auf</strong>.<br />

"Hi", grüßte sie in die R<strong>und</strong>e <strong>und</strong> lächelte ein wenig befangen,<br />

<strong>zur</strong>ückhaltender als sonst. Nur <strong>Harry</strong> sah sie ohne eine Spur von<br />

Schüchternheit an. Einige Sek<strong>und</strong>en begegneten sich die Blicke der<br />

beiden, <strong>und</strong> es schien <strong>Harry</strong>, als wäre eine ganze Ewigkeit vergangen,<br />

bis Ginny sich <strong>zur</strong> Wendeltreppe wandte <strong>und</strong> mit flatterndem Umhang<br />

verschwand.<br />

"Also so läuft <strong>das</strong>!"<br />

Ron klang so wütend, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> erschrocken zusammenzuckte.<br />

"Ich setze alles <strong>auf</strong>s Spiel, um dir diese blödsinnigen Notizen zu<br />

beschaffen, <strong>und</strong> zu verführst in der Zwischenzeit meine Schwester!" Sein<br />

bester Fre<strong>und</strong> schlug ihm <strong>das</strong> schon arg mitgenommene Pergament <strong>auf</strong><br />

die Brust, trat gegen <strong>Harry</strong>s Sessel <strong>und</strong> hastete schnurstracks ohne ein<br />

weiteres Wort zu sagen in den Schlafsaal.<br />

"Aber –", stammelte <strong>Harry</strong> hilflos. Was hatte er falsch gemacht?<br />

Gut, er hatte nicht gewollt, <strong>das</strong>s gleich die ganze Schule wusste, <strong>das</strong>s er<br />

<strong>und</strong> Ginny ein Paar waren, was sich angesichts der vielen Gryffindors,<br />

die während Rons Ausbruch fasziniert die Luft angehalten hatten, um<br />

sich auch ja kein Wort entgehen zu lassen, jetzt kaum würde vermeiden<br />

lassen – aber irgendwann wäre es ohnehin herausgekommen, denn er<br />

hatte nicht vor, aus ihrer Beziehung ein großes Geheimnis zu machen.<br />

Irgendwie fand er, <strong>das</strong>s er mit 16 Jahren <strong>das</strong> Recht dazu hatte, mit<br />

Mädchen auszugehen.<br />

"Das war sicher nicht sehr klug", stellte Hermine fest.<br />

"Ja, aber muss ich denn Ron um Erlaubnis fragen, ob ich mit<br />

seiner Schwester gehen darf?", fauchte <strong>Harry</strong> sie an.<br />

Hermine seufzte <strong>und</strong> klappte <strong>das</strong> Buch zu, <strong>das</strong> vor ihr lag.<br />

"Ron ist in solchen Sachen leicht steinzeitmäßig. Glaube mir, ich<br />

muss es wissen." <strong>Harry</strong> sah sie prüfend an, <strong>und</strong> sein Verdacht, <strong>das</strong>s Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine schon eine Weile mehr Interesse aneinander zeigten, als<br />

es für normale Fre<strong>und</strong>e der Fall war, bestätigte sich.<br />

"Du weißt von mir <strong>und</strong> Ginny schon länger, oder?", fragte er ruhig.<br />

217


"Vermutlich schon bevor ihr es richtig wusstet", meinte Hermine<br />

unbescheiden. "Aber im Gegensatz zu Ron sehe ich daran nichts<br />

Ungehöriges. Lass ihn einfach, er wird es sicher verkraften."<br />

"Könntest du nicht –"<br />

"Nein", antwortete sie fest. "Ich werde Ron sicher nicht dazu<br />

bringen, seinen Verstand einzuschalten. Erwachsen werden darf er<br />

alleine."<br />

<strong>Harry</strong> ließ sich trübe in seinen Sessel sinken.<br />

Den restlichen Tag verbrachte er wie Hermine im<br />

Gemeinschaftsraum, während von draußen heftiger Regen gegen die<br />

Fenster klatschte <strong>und</strong> die Dunkelheit über sie früh hereinbrach. Deshalb<br />

erleuchteten abends Dutzende von Kerzen <strong>das</strong> gemütlich wirkende<br />

Zimmer, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Kaminfeuer verströmte die wohlige Wärme, die <strong>Harry</strong><br />

so sehr mit Winterabenden <strong>auf</strong> Hogwarts assoziierte – auch wenn es<br />

noch nicht einmal November war. Das Pergament hatte er bisher keinen<br />

Blickes gewürdigt, sondern hatte seine Aufmerksamkeit lieber <strong>auf</strong><br />

wirklich dringliche Haus<strong>auf</strong>gaben gerichtet. Als Hermine spätabends<br />

endlich mit müden Augen ihre Bücher schloss, legte sie die Hand <strong>auf</strong><br />

<strong>das</strong> Papier.<br />

"Ehrlich gesagt, du solltest <strong>das</strong> hier wirklich lesen", meinte sie,<br />

bevor sie sich verabschiedete <strong>und</strong> zu Bett ging.<br />

Nachdenklich nahm <strong>Harry</strong> den Fetzen an sich. Er war mittlerweile<br />

alleine im Gemeinschaftsraum, alle anderen schliefen schon längst selig<br />

in ihren Betten. Mit dem Knacken der letzten Glut des Kaminfeuers in<br />

den Ohren versuchte er, von dem langen Tag erschöpft, die ungewohnt<br />

krakeligen Buchstaben Snapes zu entziffern.<br />

Der Fall des Hexers von Hexham ist wahr. Nach allem, was in dem<br />

Kapitel über den Tod steht, gab es wenigstens eine Person, die durch<br />

<strong>das</strong> <strong>Tor</strong> wieder in die Welt der Lebenden <strong>zur</strong>ückgekehrt ist. Die<br />

Verbindung <strong>zur</strong> Totenwelt besteht zu jedem Zeitpunkt, <strong>und</strong> Lebende<br />

können unbeschadet durch <strong>das</strong> <strong>Tor</strong> treten.<br />

Es war enttäuschend wenig. Nur einige Sätze, die in wilder Hast<br />

niedergeschrieben worden waren <strong>und</strong> an <strong>und</strong> für sich nicht allzu viel Sinn<br />

ergaben. Aber <strong>Harry</strong> wusste in diesem Moment ganz genau, was er<br />

würde tun müssen.<br />

218


KAPITEL ZWÖLF<br />

Durch den Schleier<br />

Nachdem <strong>Harry</strong> am nächsten Tag früh <strong>auf</strong>gestanden war <strong>und</strong> von<br />

Ron kurzer Hand vollkommen ignoriert worden war, zog er Hermine noch<br />

vor dem Frühstück beiseite.<br />

"Du hast gelesen, was <strong>auf</strong> Snapes Zettel stand", beharrte er, mit<br />

einem unzweifelhaften Ausdruck in der Stimme.<br />

"Ja habe ich, aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll",<br />

meinte sie <strong>und</strong> musterte ihn prüfend.<br />

"Zumindest wirst du wissen, <strong>das</strong>s ich keine andere Wahl habe."<br />

Hermine riss die Augen <strong>auf</strong> <strong>und</strong> stellte sich gegen die Wand,<br />

vielleicht, um vor Schreck nicht umzufallen. "Das kannst du nicht denken<br />

– nicht im Ansatz kannst du an so etwas denken!", rief sie, eine Furcht<br />

im Blick, die <strong>Harry</strong> an ihr nicht kannte.<br />

"Es geht nicht anders", beharrte er. "Ich werde beim morgigen DA-<br />

Treffen nachfragen, wer mitkommen will. Wenn es sein muss, gehe ich<br />

alleine. Es ist meine Aufgabe."<br />

Hermine richtete sich nun <strong>auf</strong> <strong>und</strong> sah ihn mit mühsam <strong>auf</strong>recht<br />

erhaltener Direktheit an. "Wenn du <strong>das</strong> wirklich vorhast, werde ich<br />

Dumbledore informieren", sagte sie ruhig.<br />

<strong>Harry</strong> spürte seine Wut <strong>auf</strong>steigen wie Lava in einem kurz vor dem<br />

Ausbruch stehenden Vulkan.<br />

"Dazu hast du kein Recht!", schrie er. Einige vorbeikommende<br />

Schüler sahen neugierig zu ihm, so<strong>das</strong>s er leiser weiter sprach.<br />

"Hermine, ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber in diesem Fall<br />

hast du dich einfach nicht einzumischen. Ich kann nicht so tun, als hätte<br />

ich nie etwas von dem Rosier-Buch gehört. Er hätte <strong>das</strong>selbe für mich<br />

getan."<br />

219


Seine Fre<strong>und</strong>in schüttelte nun verzweifelt den Kopf. "Ich kann nicht<br />

zulassen, <strong>das</strong>s du dorthin gehst!", beharrte sie mit Tränen in den Augen.<br />

"Du könntest sterben!"<br />

"Nun", meinte <strong>Harry</strong> betont lässig, auch wenn sich in ihm bei<br />

diesem Gedanken alles verkrampfte, "<strong>das</strong> ist der ganze Sinn."<br />

Er hatte die halbe Nacht wach gelegen <strong>und</strong> darüber gegrübelt. Die<br />

letzten Wochen waren mit Arbeit so zugeschüttet gewesen, <strong>das</strong>s er so<br />

gut wie nicht mehr an Sirius gedacht hatte. Es war so viel leichter<br />

gewesen, die Erinnerungen an ihn zu meiden <strong>und</strong> sich stattdessen ganz<br />

dem Alltag zu widmen. Je<strong>doc</strong>h hatte er die ganze Zeit über gewusst,<br />

<strong>das</strong>s er nur vor der Vergangenheit floh. Und <strong>das</strong>s sie ihn irgendwann<br />

einholen würde. Außerdem drückte ihn schlimmer als je zuvor die Schuld<br />

an Sirius' Tod. Natürlich, jeder, mit dem er darüber gesprochen hatte –<br />

was nur sehr wenige Personen gewesen waren, Dumbledore <strong>und</strong> Ron<br />

sowie Hermine – hatte ihn davon überzeugen wollen, <strong>das</strong>s er selbst mit<br />

Sirius' Schicksal nichts zu tun hatte. Dass es Bellatrix gewesen war, die<br />

ihn ins Stolpern gebracht hatte, so<strong>das</strong>s er durch diesen Bogen gefallen<br />

war, diesen Bogen, den <strong>Harry</strong> von Sek<strong>und</strong>e zu Sek<strong>und</strong>e mehr hasste<br />

<strong>und</strong> fürchtete. Besonders, seitdem ihm klar geworden war, was er tun<br />

wollte. Doch der Weg <strong>zur</strong>ück war ihm versperrt. Vielleicht hatte er keine<br />

klassische Schuld an Sirius' Tod – dennoch ließ sich nicht leugnen, <strong>das</strong>s<br />

sein Pate nur deshalb ins Ministerium geeilt war, um ihm zu helfen. Und<br />

selbst wenn er keine persönliche Schuld gespürt hätte, hätte <strong>Harry</strong> sich<br />

so entschieden, wie er es jetzt getan hatte. Niemand sonst <strong>auf</strong> der Welt<br />

würde diesen Weg <strong>auf</strong> sich nehmen. Außer ihm, <strong>und</strong> wenn er alleine<br />

gehen musste, so würde er es tun. Eigentlich wollte er auch nicht, <strong>das</strong>s<br />

ihn jemand begleitete, denn Hermine hatte absolut Recht: Er würde<br />

sterben.<br />

Die nächsten St<strong>und</strong>en betrübte <strong>und</strong> erschreckte ihn diese Aussicht<br />

so sehr, <strong>das</strong>s ihm sein Vorhaben stets aberwitziger vorkam. Dennoch<br />

hielt er trotzig daran fest.<br />

Ohne seine Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> ganz seinen düsteren Überlegungen<br />

überlassen trat er in den Raum der Wünsche ein, weil <strong>das</strong> wöchentliche<br />

Treffen wegen des morgigen Quidditch-Spiels vorverlegt worden war.<br />

Völlig in sich versunken bemerkte er gar nicht, <strong>das</strong>s Ginny sich neben<br />

ihn stellte <strong>und</strong> sprach, als sich alle um ihn versammelt hatten, die DA-<br />

Mitglieder ausdruckslos <strong>und</strong> beinahe automatisch an.<br />

"Heute habe ich eine besondere Aufgabe. Sicher werden nicht alle<br />

von euch überzeugt sein davon, was ich vorhabe, aber <strong>das</strong> will ich auch<br />

gar nicht. Jedem von euch bleibt überlassen, ob er meinen Vorschlag<br />

vernünftig findet <strong>und</strong> ob er sich ihm anschließen möchte.“<br />

220


Er hielt inne <strong>und</strong> beobachtete gespannt die Gesichter, die ihn<br />

umringten. Hermine hatte die Arme abweisend vor der Brust verschränkt<br />

<strong>und</strong> schaute sehr böse drein, Ron wirkte mit ganz anderen Dingen<br />

beschäftigt als mit <strong>Harry</strong>s Ansprache, Luna machte wie üblich einen sehr<br />

verträumten Eindruck. Aber die meisten der übrigen DA-Angehörigen<br />

hörten ihm atemlos zu.<br />

"Bisher haben wir noch nichts unternommen, als uns gegen<br />

Umbridge zu wehren. Doch jetzt halte ich den Zeitpunkt für gekommen,<br />

an dem wir unseren ersten richtigen Auftrag übernehmen."<br />

Ein Raunen begleitete seine Worte.<br />

"Wie viele von euch wissen, wurde im Juni ein Mitglied des<br />

Phönixordens, welcher bekanntermaßen gegen Voldemort kämpft" – er<br />

versuchte, <strong>das</strong> plötzliche Aufstöhnen zu überhören – "getötet. In<br />

neuester Zeit wurden mir allerdings Informationen zugänglich, die<br />

beweisen, <strong>das</strong>s Sirius Black nicht tot ist, sondern vermutlich nur in der<br />

Welt der Toten gefangen ist. Und mein Ziel ist es, ihn von dort zu<br />

befreien. Wer von euch dabei helfen möchte, ist gerne dazu angehalten."<br />

Innerhalb weniger Sek<strong>und</strong>en war der ganze Raum von<br />

erschrockenen Rufen, angstvollen Gesichtern <strong>und</strong> ungläubigem Staunen<br />

erfüllt. <strong>Harry</strong> hob die Hand, um wieder Ruhe zu bekommen. Nur<br />

widerwillig ebbte <strong>das</strong> Geschnatter ab.<br />

"Dabei geht es für die DA nicht darum, zusammen mit mir Sirius zu<br />

suchen. So eine Bitte könnte ich an niemanden richten. Wobei ihr mich<br />

allerdings unterstützen könnt, ist, ins Ministerium einzubrechen."<br />

Wieder schwoll der Geräuschpegel an.<br />

"Wie soll <strong>das</strong> aussehen?", fragte ihn Dean.<br />

"Ähnlich wie am Ende des letzten Schuljahres", antwortete <strong>Harry</strong>,<br />

der bereits eine Art Plan entwickelt hatte. "Wir fliegen mit den Thestralen<br />

hin <strong>und</strong> müssen es schaffen, bis in die Mysteriumsabteilung<br />

vorzustoßen. Den restlichen Weg gehe ich dann ohne euch weiter."<br />

Eine fiese kleine Stimme in seinem Inneren hoffte, <strong>das</strong>s jemand<br />

widersprechen würde <strong>und</strong> ihm zusicherte, mitzugehen ... aber wer würde<br />

<strong>das</strong> wollen? Es war reiner Wahnsinn, <strong>und</strong> <strong>das</strong> wusste er auch.<br />

"Nur, damit <strong>das</strong> klar ist", hörte er die piepsige Stimme von Colin<br />

Creevey. "Du hast vor, in – äh, in –" Er vermochte die Worte nicht zu<br />

Ende zu sprechen.<br />

"In <strong>das</strong> Reich der Toten zu gehen", vollendete <strong>Harry</strong> düster.<br />

Die nächsten zwei St<strong>und</strong>en diskutierten sie wild über <strong>Harry</strong>s Plan.<br />

Die meisten DA-Mitglieder versuchten, ihm <strong>das</strong> Vorhaben aus<strong>zur</strong>eden,<br />

einige drohten wie Hermine damit, zu Dumbledore zu gehen. Ginny, die<br />

sonst Feuer <strong>und</strong> Flamme für verrückte Sachen war <strong>und</strong> gewiss keine<br />

falsche Zurückhaltung kannte, saß nur bleich neben ihm <strong>und</strong> sagte kaum<br />

221


ein Wort. Ihr Kummer nagte an <strong>Harry</strong>s Nerven <strong>und</strong> ließ seine Zuversicht<br />

wanken. Tat er <strong>das</strong> Richtige?<br />

Schließlich einigten sie sich dar<strong>auf</strong>, <strong>das</strong>s drei Personen <strong>Harry</strong><br />

begleiten <strong>und</strong> einen Zugang zum Ministerium schaffen sollten. Fast alle<br />

meldeten sich freiwillig, <strong>und</strong> diese große Teilnahmebereitschaft<br />

verscheuchte für eine Weile die dunklen Gedanken, die <strong>Harry</strong> quälten.<br />

Trotz der Gefahr, geschnappt zu werden <strong>und</strong> ungeachtet aller<br />

Regelbrüche wollten so viele Schüler ein großes Risiko <strong>auf</strong> sich nehmen,<br />

um im Namen der DA zu helfen, einen Menschen zu befreien, den keiner<br />

von ihnen persönlich kannte, von Ron <strong>und</strong> Hermine einmal abgesehen.<br />

Es war keine Überraschung, <strong>das</strong>s auch Luna, Neville <strong>und</strong> Ginny<br />

mitkommen wollten, <strong>und</strong> da sie im Juni schon einmal im Ministerium<br />

gewesen waren, entschieden die DA-Mitglieder, <strong>das</strong>s die drei die<br />

Begleiter von <strong>Harry</strong> sein sollten.<br />

Am Ende des Treffens herrschte betretenes Schweigen.<br />

"<strong>Harry</strong>", begann Hannah. Er sah sie an, wissend, was jetzt<br />

kommen würde.<br />

"Was ist, wenn du –", flüsterte sie. Auch Ernie <strong>und</strong> etliche der<br />

anderen schauten ihn stumm an, mit Mienen, als wohnten sie einer<br />

Beerdigung bei. Aber war es nicht auch so ähnlich?, musste sich <strong>Harry</strong><br />

mit einem humorlosen Lachen fragen.<br />

"Du redest von der <strong>Unterwelt</strong>, verdammt!", rief Neville. "Da spaziert<br />

man nicht einfach rein <strong>und</strong> dann wieder raus! Weißt du, was wir<br />

eigentlich tun sollten? Dich hier im Raum an irgendetwas sehr Großem<br />

festbinden <strong>und</strong> Dumbledore holen."<br />

Er hatte Recht, <strong>und</strong> <strong>das</strong> bedrückte <strong>Harry</strong> am meisten. Er zwang<br />

seine Fre<strong>und</strong>e indirekt, ihn in den Tod gehen zu lassen.<br />

Er holte tief Luft.<br />

"Es stimmt, was ihr sagt. Wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich<br />

ebenfalls darüber nachdenken, alles einem Lehrer zu erzählen. Aber all<br />

<strong>das</strong>, was mir in meinem Leben widerfahren ist, hat mir deutlich gemacht,<br />

<strong>das</strong>s niemand anders die Verantwortung für mich <strong>und</strong> meine Taten hat<br />

als ich selbst. Wenn ich also Sirius retten will, dann habe ich die<br />

Berechtigung dazu. Glaubt mir, ich habe mir die Sache gut überlegt.<br />

Genauso wenig wie irgendjemand in diesem Raum möchte ich sterben.<br />

Aber wenn ein Weg in die Welt der Toten führt, den man ohne zu<br />

sterben betreten kann – <strong>und</strong> nichts anderes ist Sirius passiert – dann<br />

führt auch wieder ein Weg heraus."<br />

"Woher weißt du, <strong>das</strong>s Black nicht gestorben ist?", fragte ihn<br />

Seamus zweifelnd. "Für mich klingt diese Bogensache eher so, als<br />

verließen durch ihn die Toten unsere Welt." Erregtes Gemurmel<br />

unterstützte ihn.<br />

"Wir haben gesehen, wie Sirius fiel, <strong>und</strong> in diesem Moment war er<br />

noch am Leben", erklang <strong>auf</strong> einmal Hermines Stimme. "Ihn hat zwar<br />

222


vorher ein Zauberspruch von Bellatrix Lestrange getroffen, aber kein<br />

Avada Kedavra <strong>und</strong> somit kein tödlicher. Er ist nur ins Stolpern<br />

gekommen <strong>und</strong> aus Versehen durch den Bogen gefallen." Sie war<br />

genauso blass wie Ginny, wirkte aber gleichzeitig entschlossen. "Ich<br />

glaube <strong>Harry</strong>. Dieser Bogen führt in die <strong>Unterwelt</strong>, <strong>und</strong> es gibt Hinweise,<br />

<strong>das</strong>s es einige Leute wieder <strong>zur</strong>ückgeschafft haben."<br />

"So einen Unsinn habe ich noch nie gehört!", ließ Smith<br />

vernehmen. Er fläzte selbstzufrieden <strong>auf</strong> einem großen Kissen, <strong>das</strong> sie<br />

sonst für Lähmzauber verwendeten <strong>und</strong> schien als einziger im Raum<br />

nicht entsetzt von <strong>Harry</strong>s Vorhaben zu sein. "Niemand kommt von den<br />

Toten <strong>zur</strong>ück, aber bitte schön, <strong>Potter</strong>, wenn du denkst dir gelingt es,<br />

darfst du es gerne versuchen." Er grinste höhnisch.<br />

"<strong>Harry</strong> wird <strong>zur</strong>ückkommen", widersprach ihm Luna ohne die<br />

Absicht, einen Streit anzufangen – sie sagte es vielmehr, als wäre es<br />

<strong>das</strong> Normalste der Welt, aus der <strong>Unterwelt</strong> wieder in die der Lebenden<br />

zu treten. "Wenn jemand einen Weg findet, dann er." Ihr Optimismus<br />

konnte <strong>Harry</strong> zwar nicht ganz überzeugen, aber er fühlte sich gestärkt.<br />

"Und wenn <strong>doc</strong>h nicht?", bohrte Smith weiter. "Dann brauch die DA<br />

einen neuen Anführer."<br />

"Wenn alles, woran du denken kannst, deine Chance ist, <strong>Harry</strong><br />

seinen Posten wegzuschnappen, dann verschwindest du besser gleich!",<br />

fauchte Ginny mit vor Abscheu funkelndem Blick.<br />

„Sollte ich wirklich nicht wieder kommen, dann bin ich sicher, <strong>das</strong>s<br />

ihr gemeinschaftlich einen neuen Anführer finden werdet“, schlichtete<br />

<strong>Harry</strong>, womit <strong>das</strong> Thema vom Tisch war.<br />

„Und wann soll es losgehen?“, fragte Ginny.<br />

Auch darüber hatte er nachgedacht.<br />

„Am nächsten Donnerstag", erklärte er, "an Halloween. Das ganze<br />

Schloss wird mit der Feier beschäftigt sein, <strong>und</strong> da arbeitsfrei ist, werden<br />

im Ministerium nur die Sicherheitsleute anwesend sein. Wenn wir eine<br />

Chance haben, dort hineinzukommen, dann an einem Feiertag."<br />

Die folgenden Minuten, in denen die DA-Mitglieder den Raum der<br />

Wünsche verließen (<strong>Harry</strong> kontrollierte mit Hilfe der Karte der<br />

Rumtreiber, wann sie gefahrlos gehen konnten, zwar war die<br />

Organisation nicht mehr illegal, rachsüchtige Slytherins wollten sie aber<br />

auch nicht <strong>auf</strong> sich <strong>auf</strong>merksam machen) verliefen ungewohnt bedrückt.<br />

Irgendwie hatten die Schüler begonnen, in <strong>Harry</strong>s Nähe nur noch zu<br />

flüstern, als befände er sich bereits in der Welt der Toten. Schließlich<br />

ging er mit Hermine <strong>und</strong> Ron <strong>zur</strong>ück zum Gemeinschaftsraum. Wo er<br />

<strong>doc</strong>h schon kurz davor stand, von dieser Welt zu treten, beschloss <strong>Harry</strong><br />

reinen Tisch zu machen.<br />

"Ron –", begann er. Sein Fre<strong>und</strong> wandte sich trotzig von ihm ab.<br />

223


"Das mit Ginny <strong>und</strong> mir ist unsere Entscheidung. Es ist absolut<br />

nachvollziehbar, <strong>das</strong>s du deine Schwester schützen willst –"<br />

"Sie soll nicht mit jedem aus dieser Schule herumknutschen, wer<br />

weiß, an welche Typen sie gerät!", entfuhr es Ron.<br />

"Dann solltest du aber", meinte <strong>Harry</strong> ruhig, "froh sein, <strong>das</strong>s sie<br />

sich entschieden hat, mit mir zu gehen, denn ich bin nicht irgendein Typ.<br />

Und außerdem habe nicht ich sie verführt, sie hat die Initiative ergriffen."<br />

Ron nuschelte etwas vor sich hin.<br />

"Was?", fragte <strong>Harry</strong>.<br />

"Es ist einfach nur komisch, dich <strong>und</strong> meine Schwester zu sehen –<br />

<strong>auf</strong> diese Art eben. Sie weiß vielleicht gar nicht, was sie tut."<br />

<strong>Harry</strong> schnaubte, halb vor Entrüstung, halb vor Lachen.<br />

"Wenn ich je jemanden getroffen habe, der weiß, was er tut, dann<br />

Ginny. Ich glaube, sie hat einiges mehr von Fred <strong>und</strong> George als du."<br />

"Ja, ich bin eher nach dir missraten", grinste Ron, noch ein wenig<br />

unsicher, ob die Funkstille zwischen ihm <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> nun vorbei war.<br />

"Was wir beide natürlich nur Hermine zu verdanken haben, die uns<br />

nach ihrem verdorbenen Vorbild immer wieder in neue Regelbrüche<br />

getrieben hat", neckte <strong>Harry</strong> sie.<br />

Hermine antwortete nur mit einem schwachen Lächeln.<br />

"Was ist?", fragte Ron <strong>und</strong> stieß sie fre<strong>und</strong>schaftlich in die Seite.<br />

"Was ist?", entgegnete sie entgeistert. "<strong>Harry</strong> will in die Welt der<br />

Toten, <strong>und</strong> du tust, als wäre nichts passiert?"<br />

"Ach ja, <strong>das</strong> habe ich ganz vergessen", stöhnte Ron. "Auch gut,<br />

dann beeilen wir uns jetzt, damit ich meinen Aufsatz für Flitwick noch<br />

beginnen kann."<br />

<strong>Harry</strong> runzelte die Stirn. "Was hat dein Aufsatz denn mit Sirius zu<br />

tun?"<br />

"Na, ich kann ihn ja schlecht am Freitag abgeben. Ich schätze, ich<br />

werde ihn Neville überantworten. Das solltest du auch tun."<br />

"He, warte mal! Was soll <strong>das</strong> heißen? Wieso kannst du ihn Flitwick<br />

nicht selbst geben?"<br />

"Weil wir natürlich mit dir kommen", sagte Ron ernst <strong>und</strong> in einem<br />

Ton, als ginge es darum, der Eulerei einen Besuch abzustatten. "Du<br />

musst schon ein großer Trottel sein, wenn du denkst, wir lassen dich da<br />

unten alleine."<br />

"Halt, Sek<strong>und</strong>e. Ihr könnt nicht mitkommen", rief <strong>Harry</strong> hitzig <strong>und</strong><br />

spürte Wut in sich <strong>auf</strong>steigen. Er wollte seine Fre<strong>und</strong>e nicht mit in die<br />

Sache hineinziehen, er konnte nicht von ihnen erwarten, <strong>das</strong>s sie für ihn<br />

den Kopf hinhielten.<br />

"Doch, können wir", meinte Hermine schlicht. "Du hast es selbst<br />

gesagt: Niemand hat <strong>das</strong> Recht, dir vorzuschreiben, was du zu tun hast.<br />

Und uns auch nicht. Es ist unsere Entscheidung, dir zu helfen, <strong>und</strong> nach<br />

dem, was im Juni passiert ist, solltest du erstens wissen, <strong>das</strong>s du es<br />

224


alleine kaum schaffen kannst, <strong>und</strong> zweitens, <strong>das</strong>s du uns sowieso nicht<br />

<strong>auf</strong>halten kannst."<br />

<strong>Harry</strong> sagte ein paar Sek<strong>und</strong>en nichts, sondern merkte <strong>auf</strong> einmal,<br />

wie sehr er <strong>auf</strong> diese Worte gehofft hatte, nicht einmal bewusst, aber<br />

irgendwo tief in seinem Inneren war <strong>das</strong>, was ihn am meisten bei der<br />

Aussicht <strong>auf</strong> einen Abstieg in die Welt der Toten geängstigt hatte, die<br />

Tatsache gewesen, <strong>das</strong>s er es ganz allein tun musste, ohne seine<br />

Fre<strong>und</strong>e, ohne irgendjemanden, der ihm <strong>zur</strong> Seite stand. Vor<br />

Erleichterung spürte er seine Knie leicht zittrig werden.<br />

"Danke", war alles, was er vorbringen konnte, aber Ron <strong>und</strong><br />

Hermine verstanden ihn.<br />

Durch seine Entscheidung, Sirius zu suchen, hatte er vollkommen<br />

<strong>das</strong> Quidditch-Spiel am Sonntag gegen Slytherin vergessen. Da Malfoy<br />

geflohen war, hatte Grabbe die Kapitänsrolle übernommen <strong>und</strong> Pansy<br />

Parkinson als Sucherin ins Team geholt – die Hoffnung, <strong>das</strong>s diese<br />

irgendein Talent im Quidditch <strong>auf</strong>weisen würde, schienen die Slytherins<br />

aber nicht zu haben. Obwohl <strong>Harry</strong> in Gedanken schon halb im<br />

Ministerium war, schien seinem Team seine geistige Abwesenheit nicht<br />

<strong>auf</strong>zufallen. Nach den guten Trainingsleistungen der letzen Wochen<br />

setzten sie ihr Potential auch im Spiel um: Die beiden Slytherin-Jäger<br />

Vaisy <strong>und</strong> Zabini schossen zusammen 16 <strong>Tor</strong>e, Ron ließ nur einen<br />

Quaffel durch, <strong>und</strong> <strong>das</strong> auch nur, weil Grabbe vorher Ernie mit dem<br />

Klatscher umgenietet hatte. <strong>Harry</strong> fing den Schnatz, als er fand, <strong>das</strong>s<br />

sein Team nun genug Wettkampfpraxis gesammelt hatte, ohne<br />

Anstrengung <strong>und</strong> beinahe <strong>auf</strong> Augenhöhe mit Pansy, die den kleinen<br />

goldenen Ball wohl nicht einmal bemerkt hätte, wenn er vor ihr Tango<br />

getanzt hätte.<br />

Unter dem tosenden Beifall von allen Zuschauern – jedes Haus<br />

hatte ja ein oder zwei Spieler, die es anfeuern konnte – lagen sich die<br />

Gryffindors mit den Ravenclaws <strong>und</strong> den Hufflepuffs in den Armen, <strong>und</strong><br />

sogar Vaisy <strong>und</strong> Zabini schlugen <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die Schulter.<br />

Nur die Slytherins quittierten den Jubel mit Pfiffen, auch wenn zwei<br />

aus ihrem Haus mit in <strong>Harry</strong>s Team spielten – sie akzeptierten<br />

anscheinend nur ihre eigene, von einem Slytherin-Kapitän angeführte<br />

Mannschaft.<br />

<strong>Harry</strong> war <strong>das</strong> alles egal. So gleichgültig wie heute hatte er noch<br />

nie einem Quiddich-Sieg gegenüber gestanden, mittlerweile gab es in<br />

seinem Leben genügend andere <strong>und</strong> wichtigere Dinge, die ihn<br />

beschäftigen, als den goldenen Schnatz zu fangen. So beteiligte er sich<br />

an der abendlichen, ausgelassenen Feier im Gemeinschaftsraum auch<br />

nur mit halben Herzen, trank ein oder zwei Butterbier <strong>und</strong> musste etwa<br />

ein Dutzend Mal erläutern, wie genau er Pansy den Schnatz<br />

weggeschnappt hatte – aber er ging früh zu Bett, eine ausgelaugt<br />

225


wirkende Hermine über ihren Büchern <strong>zur</strong>ücklassend. Bevor er<br />

einschlief, probierte er in Gedanken viele Male verschiedene<br />

Möglichkeiten durch, in <strong>das</strong> Ministerium einzubrechen, aber <strong>das</strong><br />

Ergebnis war stets gleich: Es war beinahe unschaffbar.<br />

Der restliche Sonntag verging für <strong>Harry</strong> wie in einem Nebel. Er<br />

fühlte sich, als wäre er gar nicht mehr Teil des alltäglichen Abl<strong>auf</strong>s <strong>auf</strong><br />

Hogwarts; als würde er als Geist durch die dunklen, Kerzen<br />

beschienenen Gänge wandern, als würde er <strong>das</strong> Essen beim Abendbrot<br />

nicht mehr schmecken können, als würde jemand anders für ihn die<br />

Zauber für die Verwandlungshaus<strong>auf</strong>gaben sprechen. Beinahe glaubte<br />

er, bereits in der Welt der Toten zu sein, so sehr lastete sein Vorhaben<br />

<strong>auf</strong> ihm. Schließlich wusste er nicht, ob er all <strong>das</strong> hier wieder sehen<br />

würde. Was, wenn er in der <strong>Unterwelt</strong> feststecken würde? So wie Sirius?<br />

Dieser war nun seit Monaten hinter dem <strong>Tor</strong>bogen verschw<strong>und</strong>en, <strong>und</strong><br />

dennoch nicht <strong>zur</strong>ückgekommen ... Diese Erkenntnis erschreckte <strong>Harry</strong><br />

so sehr, <strong>das</strong>s er nur noch mit gesenktem Kopf <strong>und</strong> unbeschreibbarer, ihn<br />

von innen heraus <strong>auf</strong>zehrender Furcht seinen Aufgaben nachging.<br />

Am Abend ging er betrübt ins Klassenzimmer für Verteidigung, er,<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine hatten McGonagall versprochen, ihm bei einer<br />

Probeunterrichtsst<strong>und</strong>e von Franbery beizustehen, die der<br />

Verteidigungslehrer sich heute anhören musste <strong>und</strong> die morgen dann die<br />

Schüler Hogwarts entzücken sollte.<br />

In diesen St<strong>und</strong>en, nachdem sie <strong>auf</strong> den Stühlen des<br />

Klassenraums Platz genommen hatten, war es dann soweit: Er konnte<br />

sich gar nicht mehr <strong>auf</strong> den Probeunterricht konzentrieren. Auch Ron<br />

stierte nur dumpf in die Luft <strong>und</strong> vergaß sogar, Hermine wegen deren<br />

ständigen Blicke zu McGonagall böse anzusehen. Selbst Hermine<br />

schien nicht bei der Sache zu sein.<br />

Rick Franbery erläuterte unterdessen die Theorie der Anwendung<br />

von ungesagten Zaubern, sogar ohne irgendwelche abstrusen<br />

Bemerkungen über elegante Zauberei, schläferte sie dabei aber alle ein,<br />

so<strong>das</strong>s sie am Ende vor sich hinschnarchten <strong>und</strong> <strong>das</strong> Ende des Vortrags<br />

beinahe verpassten. Auch McGonagall hatte nicht viel mitbekommen, da<br />

er selbst den Kopf <strong>auf</strong> die Arme gelegt hatte <strong>und</strong> döste.<br />

Bevor <strong>Harry</strong> je<strong>doc</strong>h hinter seinen Fre<strong>und</strong>en aus der Tür gehen<br />

konnte, rief ihn sein Großcousin zu sich.<br />

"<strong>Harry</strong>, könnte ich dich noch einmal kurz sprechen?", fragte er in<br />

ungewohnt besorgtem Ton, <strong>und</strong> als <strong>Harry</strong> sich umdrehte <strong>und</strong> Hermines<br />

schuldbewussten Gesichtsausdruck erblickte, ahnte er den Gr<strong>und</strong> für<br />

McGonagalls Bitte.<br />

Ohnmächtiger Zorn erfasste ihn, <strong>und</strong> am liebsten hätte er Hermine<br />

"Verräter!“ hinterher geschrieen, aber da hatte McGonagall auch schon<br />

226


die Tür hinter ihnen geschlossen <strong>und</strong> wies <strong>Harry</strong> mit einer Geste an, sich<br />

zu setzen. Gähnend ließ er sich selbst am Tisch nieder<br />

"Entschuldigung", kommentierte er leicht beschämt, "aber Ricks so<br />

genannte Unterrichtsst<strong>und</strong>e hinterlässt eben <strong>doc</strong>h ihre Spuren. Ich hatte<br />

ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich euch seinen Vortrag zugemutet<br />

habe, aber in seinem Ausbildungsvertrag steht, <strong>das</strong>s ich ihn ein paar<br />

St<strong>und</strong>en halten lassen muss. Wer immer diese Bestimmung geschrieben<br />

hat, weiß nichts von Ricks nicht vorhandenem Talent fürs Unterrichten.<br />

Ich werde dafür sorgen, <strong>das</strong>s er an einer amerikanischen oder<br />

kanadischen Schule unterkommt, dann besteht keine Gefahr, <strong>das</strong>s er<br />

sich hier bewirbt", grinste sein Großcousin nun wieder in altbekannter<br />

Manier.<br />

"Jamie –", begann <strong>Harry</strong>, leicht ungeduldig, weil er noch eine<br />

Menge Haus<strong>auf</strong>gaben zu erledigen hatte <strong>und</strong> über Franbery zu reden<br />

nicht seiner Vorstellung von Unterhaltung entsprach.<br />

McGonagall wurde plötzlich ernst <strong>und</strong> sprach ein wenig widerwillig<br />

weiter.<br />

"<strong>Harry</strong>, es gibt etwas, worüber ich mit dir reden muss", setzte er mit<br />

prüfendem Blick <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> an. "Deine Fre<strong>und</strong>in Hermine hat mir<br />

gegenüber ein paar Andeutungen gemacht, die ich nicht ganz<br />

verstanden habe. Sie kam gestern in mein Büro <strong>und</strong> meinte, ich solle<br />

unbedingt etwas mit dir bereden – sie sagte allerdings nicht genau, was.<br />

Nur, <strong>das</strong>s es dich in große Gefahr bringen kann."<br />

Na super, dachte <strong>Harry</strong>. Was soll <strong>das</strong> werden, eine<br />

Gewissensfrage? Er wollte nur zu gern wissen, was Hermine damit<br />

bezweckt hatte, ihn bei McGonagall anzuschwärzen. Erst erklärten sie<br />

<strong>und</strong> Ron ihm Treue, <strong>und</strong> gleich dar<strong>auf</strong> rannte sie zum nächst besten<br />

Lehrer! Manchmal nervte ihn Hermines hochmütiges Verhalten enorm,<br />

<strong>und</strong> heute war so ein Tag.<br />

McGonagall, der ihn die ganze Zeit besorgt angesehen hatte,<br />

lehnte sich <strong>zur</strong>ück.<br />

"Ich sagte dir einmal, du müsstest nicht darüber sprechen, was du<br />

lieber geheim halten möchtest – aber wenn schon Hermine Hilfe bei mir<br />

sucht, <strong>und</strong> sie kommt mir wie jemand vor, der hervorragend alleine<br />

<strong>zur</strong>echtkommt, dann muss es ernst sein. Dumbledore hat mir von<br />

Ereignissen erzählt, die sich hier in Hogwarts abgespielt haben <strong>und</strong> in<br />

die ihr den unbezwingbaren Drang gehabt zu haben scheint, verwickelt<br />

zu werden. Wenn ihr vorhabt, euch in irgendeine Gefahr zu stürzen,<br />

dann möchte ich darüber Bescheid wissen."<br />

"Du bist nicht mein Vater", platzte <strong>Harry</strong> genervt heraus. "Du<br />

kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe."<br />

"Nein, kann ich nicht", meinte McGonagall <strong>und</strong> klang leicht<br />

bedauernd. "Aber ich will nicht, <strong>das</strong>s dir etwas passiert. <strong>Harry</strong>, was es<br />

227


auch ist, <strong>das</strong> Hermine meinte, ich bitte dich, es mir mitzuteilen, oder ich<br />

gehe noch heute zu Dumbledore."<br />

<strong>Harry</strong> sprang <strong>auf</strong>. "Das ist unfair!", schrie er <strong>und</strong> sah seinen Lehrer<br />

böse an. "Wieso müssen sich ständig alle Leute in mein Leben<br />

einmischen?"<br />

"Vielleicht, weil sie dich mögen", entgegnete McGonagall geduldig.<br />

"Wieso vertraust du mir nicht? Glaubst du, ich renne zum<br />

Tagespropheten <strong>und</strong> erzähle alles Rita Kimmkorn?"<br />

"Nein", brummte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> sprach seine größte Befürchtung aus.<br />

"Aber wenn ich es dir sage, gehst du erst recht zu Dumbledore."<br />

"Ich werde zu ihm gehen, wenn du es mir nicht sagst, <strong>und</strong> zwar<br />

nicht um dir zu drohen, sondern, weil ich sonst niemanden mehr weiß,<br />

der dir helfen könnte."<br />

"Und was, wenn ich keine Hilfe brauche?", knurrte <strong>Harry</strong>.<br />

McGonagall lächelte. "So, wie du heute im Unterricht da gesessen<br />

hast, bedrückt dich etwas gewaltig, <strong>und</strong> ich wäre einfach ruhiger, wenn<br />

ich darüber im Bild wäre."<br />

Als <strong>Harry</strong> weiterhin schwieg, rief er <strong>auf</strong>munternd: "Komm schon, so<br />

schlimm wird es <strong>doc</strong>h nicht sein! Wollt ihr in den Verbotenen Wald oder<br />

heimlich nach Hogsmeade? Oder Snape einen knallrümpfigen Kröter ins<br />

Bett legen? Für Fall hätte ich den ultimativen Vorschlag, wie ihr in sein<br />

Schlafzimmer könntet", scherzte sein Lehrer.<br />

Wenn ich nur dorthin wollte, dachte <strong>Harry</strong> müde. Dann entschloss<br />

er sich, McGonagall die Wahrheit zu sagen. Wenn dieser zu Dumbledore<br />

ging, war es aus mit seinem Plan.<br />

"Wir wollen in die <strong>Unterwelt</strong>", meinte er tonlos, ohne McGonagall in<br />

die Augen zu schauen. Er betrachtete stattdessen ein paar<br />

Schreibfedern <strong>auf</strong> dem Tisch.<br />

Als sein Lehrer nach ein paar Sek<strong>und</strong>en immer noch nichts gesagt<br />

hatte, blickte er <strong>auf</strong>. McGonagall war totenbleich geworden, als hätte er<br />

wieder ein paar Liter Blut verloren. Mit <strong>auf</strong>gerissenen Augen starrte er<br />

<strong>Harry</strong> an <strong>und</strong> schien sich nicht entscheiden zu können, ob der es ernst<br />

meinte oder ihn nur <strong>auf</strong> den Arm nahm.<br />

"Wir wollen versuchen, Sirius <strong>zur</strong>ückzuholen. Im Ministerium steht<br />

ein Bogen, durch den der Eingang <strong>zur</strong> <strong>Unterwelt</strong> führt, <strong>und</strong> dort wollen<br />

wir durch."<br />

"Ihr wollt also Selbstmord begehen?" McGonagall hatte seine<br />

Stimme nicht mehr vollständig unter Kontrolle.<br />

"Nein, natürlich nicht."<br />

"Aber wenn ihr diesen Bogen durchschreitet, seid ihr tot! Es gibt<br />

niemanden, der je wieder herausgetreten wäre!"<br />

"Doch, wir haben Hinweise, <strong>das</strong>s es einigen gelungen ist. Und<br />

deswegen glauben wir daran, <strong>das</strong>s es einen Weg <strong>zur</strong>ück gibt."<br />

228


"Selbst wenn es ihn gäbe – ihr werdet ihn nicht finden. Seid<br />

Jahrtausenden sterben Menschen, Muggel wie Zauberer, <strong>und</strong> wenn es<br />

nur ein oder zweien gelungen ist, wieder ins Leben zu finden, dann ist<br />

dieser Weg so gut versteckt, <strong>das</strong>s ihr ewig danach suchen werdet."<br />

Daran hatte er nicht gedacht. Verzweiflung drohte ihn zu<br />

überkommen, aber er unterdrückte sie. Er hatte keine Wahl. Er musste<br />

versuchen, Sirius retten, sonst würde er sein Leben lang keine Ruhe<br />

finden, weil er diese eine Möglichkeit nicht wahrgenommen hatte. Wie<br />

sollte er in einigen Jahren glücklich sein, leben, arbeiten, essen, wenn er<br />

dabei <strong>das</strong> ständige Gefühl hatte, Sirius im Stich gelassen zu haben?<br />

"Ich werde ins Ministerium gehen", meinte er deswegen bloß. "Ron<br />

<strong>und</strong> Hermine begleiten mich. Wir haben vor, nach ein paar Tagen wieder<br />

hier zu sein."<br />

"Ihr würdet nie <strong>zur</strong>ückkommen." McGonagall stand <strong>auf</strong>. "Ihr würdet<br />

für immer in der Welt der Toten gefangen sein. Tut mir Leid, <strong>Harry</strong>",<br />

meinte er mit einem so unglücklichen Ausdruck im Gesicht, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />

einen Stich bekam. "Aber ich muss zu Dumbledore."<br />

Er ging <strong>zur</strong> Tür.<br />

Wenn ich ihn jetzt einfach gehen lasse, ist alles vorbei. Aus seinem<br />

Gehirn war jeder andere Gedanke, jede Vernunft verschw<strong>und</strong>en, nur der<br />

drohende Verrat durch McGonagall geisterte durch sein Bewusstsein.<br />

Ohne nachzudenken erhob er sich ebenfalls <strong>und</strong> ergriff seinen Stuhl. Er<br />

unternahm gar nicht erst den Versuch, seinen Lehrer mit Zauberei zu<br />

überwältigen, sondern schlug ihm den Stuhl mit aller Kraft gegen den<br />

Kopf.<br />

Ohne einen Laut von sich zu geben, sank McGonagall zu Boden.<br />

Schwer atmend <strong>und</strong> fassungslos <strong>auf</strong> sein Opfer hinab sehend<br />

stellte <strong>Harry</strong> den Stuhl wieder hin <strong>und</strong> beugte sich hinunter.<br />

Ich habe einen Lehrer angegriffen. Jemanden, der mir den Rücken<br />

zugewandt hatte, dachte er <strong>und</strong> fühlte sich miserabel. Irgendwann werde<br />

ich es ihm erklären.<br />

Wenn ich die Gelegenheit dazu haben werde.<br />

Wenn ich dieses Schloss je wieder betreten sollte.<br />

Er zog McGonagall den Umhang aus <strong>und</strong> legte ihn unter dessen<br />

Kopf. Ihm lief zwar etwas Blut die Schläfe entlang, aber die Verletzung<br />

sah nicht ernst aus. Schnell lief <strong>Harry</strong> aus dem Büro <strong>und</strong> <strong>auf</strong> dem<br />

kürzesten ihm bekannten Weg zum Gemeinschaftsraum hoch. Sie<br />

konnten nicht länger warten.<br />

„Was?!“, kreischte Hermine entsetzt, als er erzählte, was er getan<br />

hatte.<br />

„Hermine, ich hatte keine Wahl, er wäre sonst zu Dumbledore<br />

gegangen. Wir müssen sofort zum Ministerium <strong>auf</strong>brechen, denn<br />

irgendwann wacht er <strong>auf</strong>. Überhaupt wäre <strong>das</strong> alles nicht passiert, wenn<br />

du nicht gepetzt hättest!“, setzte er wütend hinzu.<br />

229


"Ich fand, jemand musste davon erfahren, um mit dir – andere<br />

Standpunkte auszutauschen. Ich dachte <strong>doc</strong>h nicht, <strong>das</strong>s er zu<br />

Dumbledore geht! Ich wollte unser Vorhaben nicht gefährden! Aber –<br />

aber du hast einen Lehrer hinterrücks niedergeschlagen!“<br />

"Keine Zeit zum Predigten halten, beeil dich!"<br />

Hermine schnappte nach Luft <strong>und</strong> schien zu überlegen, mit<br />

welchen Worten sie ihrem Ärger Luft machen konnte. Dann je<strong>doc</strong>h ging<br />

sie schweigend in ihren Schlafsaal, um ihre Sachen zu holen. <strong>Harry</strong><br />

rannte in seinen eigenen, wo er auch Ron traf. Schnell setzte er ihn ins<br />

Bild.<br />

"Wow", staunte er. "Das hätte ich dir nicht zugetraut."<br />

"Ihr benehmt euch alle so, als wäre ich ein Verbrecher – es war<br />

nun einmal unumgänglich." Hastig packte <strong>Harry</strong> seine Schulbücher aus<br />

der Tasche, stopfte seinen Tarnumhang hinein, die Karte der Rumtreiber<br />

(falls sie wieder unbemerkt ins Schloss wollten) <strong>und</strong> ein paar saubere<br />

Klamotten – wer wusste, wann sie wieder kamen.<br />

Zwei Minuten später trafen sie sich mit Hermine, Neville <strong>und</strong> Ginny<br />

vor dem Portrait. Ginny schaute <strong>Harry</strong> bew<strong>und</strong>ernd an. "Das hätte ich<br />

mich nicht getraut", meinte sie in Anspielung <strong>auf</strong> McGonagall.<br />

"Mit Trauen hat <strong>das</strong> nichts zu tun, ich musste es", entgegnete<br />

<strong>Harry</strong> knapp. "Aber jetzt haben wir wichtigere Dinge zu tun als über<br />

McGonagall zu diskutieren. Es geht ihm gut, <strong>und</strong> wenn wir nicht bald hier<br />

wegkommen, wird er noch zu Dumbledore gehen, sobald er <strong>auf</strong>wacht."<br />

Sie rannten <strong>zur</strong> Eingangshalle, wo sie Luna trafen, die Hermine<br />

mittels ihres Patronus gerufen hatte.<br />

"Oh, es geht schon los, <strong>das</strong> ist gut", war alles, was sie sagte,<br />

schien sich im Übrigen aber über nichts zu w<strong>und</strong>ern.<br />

Unbeachtet von den anderen Schülern traten sie durch <strong>das</strong><br />

Schlosstor. Die Sonne verschwand gerade hinter den Wipfeln des<br />

Verbotenen Waldes, ein goldener Schein lag über den hoch <strong>auf</strong>ragenden<br />

Mauern des Schlosses. Ohne zu warten gingen sie schnell <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />

Unterholz zu, wobei sie sich kurz verstecken mussten, um nicht von<br />

Hagrid gesehen zu werden, der im Garten hinter seiner Hütte eine Reihe<br />

von Riesenkürbissen begoss.<br />

Bald je<strong>doc</strong>h waren sie von den dunklen Bäumen <strong>und</strong> Büschen<br />

verschluckt <strong>und</strong> kämpften sich ihren Weg durch dorniges Gehölz frei.<br />

Nach einigen Minuten zügigen Gehens blieb <strong>Harry</strong> stehen <strong>und</strong><br />

versuchte abzuschätzen, wo sie die Thestrale <strong>das</strong> letzte Mal gesehen<br />

hatten.<br />

"Noch ein paar Schritte in diese Richtung", meinte Luna <strong>und</strong> zeigte<br />

<strong>auf</strong> einen kleinen Trampelpfad, der schnurstracks in schon völlig dunkle<br />

Teile des Waldes führte.<br />

230


Ron, der ständig furchtsame Blicke <strong>auf</strong> die Waldpflanzen um sich<br />

herum warf, schien nicht begeistert. "Geht es dort nicht auch zu<br />

Aragog?", fragte er mit leicht zitternder Stimme.<br />

"Nein, <strong>das</strong> war weiter vorne", beruhigte ihn <strong>Harry</strong>, obwohl er sich<br />

selbst nicht erinnern konnte.<br />

Wenige Augenblicke später betraten sie eine kleine Lichtung, <strong>auf</strong><br />

der sich mehrere dunkle Gestalten herumtrieben. <strong>Harry</strong> zuckte<br />

erschreckt zusammen, erkannte dann aber die sehnigen Beine, ledrigen<br />

Flügel <strong>und</strong> unheimlichen Köpfe der Thestrale. Vorsichtig näherte er sich<br />

einem Tier <strong>und</strong> streichelte es. Ohne zu zögern sprang er ihm <strong>auf</strong> den<br />

Rücken. Der Thestral bewegte sich nicht, sondern blieb ganz ruhig<br />

stehen, bis <strong>Harry</strong> sicher saß. Auch die anderen hatten mittlerweile<br />

jeweils ein Tier bestiegen.<br />

Gedämpft durch <strong>das</strong> dichte Buschwerk um sie herum hörten sie<br />

plötzlich laute Rufe vom Schloss her. Jemand kam <strong>auf</strong> den Wald zu.<br />

"Los", rief <strong>Harry</strong> leise <strong>und</strong> beugte sich zu den knochigen Ohren des<br />

Gespensterpferdes vor. "Wir möchten zum Zaubereiministerium!",<br />

flüsterte er, <strong>und</strong> als ob die Thestrale spürten, <strong>das</strong>s sie sehr leise sein<br />

mussten, galoppierten sie ein paar Schritte, machten dann einen<br />

mächtigen Satz <strong>und</strong> spannten ansatzlos die Schwingen, um sich mit<br />

mächtigen Flügelschlägen ohne einen Ton von sich zu geben in den<br />

Himmel zu erheben.<br />

Kühl strich <strong>Harry</strong> der raue Herbstwind über <strong>das</strong> Gesicht, <strong>das</strong> er in<br />

die dichte Mähne seines Thestrals drückte. Sie ließen die Bäume des<br />

Verbotenen Waldes unter sich <strong>zur</strong>ück, hinter denen sich <strong>das</strong> nun in<br />

völliger Dunkelheit liegende Schloss mit seinen unendlich vielen,<br />

erleuchteten Fenster in die Höhe erhob wie ein steinernes Denkmal. Mit<br />

Wehmut dachte <strong>Harry</strong> an die schönen St<strong>und</strong>en, die er darin erlebt hatte,<br />

an all seine Abenteuer mit Ron <strong>und</strong> Hermine. Wenn ich es zum letzten<br />

Mal sehen sollte, sollte ich es in schöner Erinnerung behalten, dachte er.<br />

Trauer erfasste ihn bei dem Gedanken, nie wieder durch die<br />

verwinkelten Gänge l<strong>auf</strong>en zu können, stets eine geheime Abkürzung im<br />

Sinne habend, nie wieder dem unterhaltsamen Geschnattere der vielen<br />

Gemälde zuhören zu können, nie wieder ein Festessen in der großen<br />

Halle genießen zu können ...<br />

Er wurde aus seinen trübsinnigen Überlegungen gerissen, als ihm<br />

weit unter sich eine dunkle Gestalt <strong>auf</strong>fiel, die scheinbar ziellos über die<br />

Länderein rannte <strong>und</strong> im schwachen Schein des Lumos-Lichts nicht zu<br />

erkennen war. Aber <strong>Harry</strong> war sich sicher, <strong>das</strong>s McGonagall <strong>auf</strong>gewacht<br />

war <strong>und</strong> nun nach ihm suchte; er fragte sich, wie lange es dauern würde,<br />

bis es seinem Lehrer bewusst wurde, <strong>das</strong>s er schon längst zum<br />

Ministerium <strong>auf</strong>gebrochen war. Nicht mehr allzu lange, fürchtete er. Sein<br />

gesamtes Vorhaben hing am seidenen Faden. McGonagall würde nicht<br />

nur Dumbledore informieren, die beiden konnten auch innerhalb von<br />

231


Sek<strong>und</strong>en nach London apparieren. Er versuchte sich an die Hoffnung<br />

zu klammern, <strong>das</strong>s McGonagall noch eine Weile über die Länderein irren<br />

<strong>und</strong> dann Dumbledore nicht sofort finden konnte. War der Schulleiter<br />

nicht kurzfristig verreist? <strong>Harry</strong> wusste es nicht mehr. Würde McGonagall<br />

alleine zum Ministerium finden? Er hatte keine Ahnung. Das Einzige,<br />

was ihm zu tun übrig blieb, war, so schnell wie es nur ging nach London<br />

zu fliegen.<br />

Der Flug schien ewig zu dauern. Unentwegt hörte <strong>Harry</strong> die dumpf<br />

schlagenden Flügel seines Pferdes neben sich, sah die unter ihm dahin<br />

rasenden wilden Heidelandschaften <strong>und</strong> schroffen, kargen Berge im<br />

Licht einiger weniger Sterne gespenstisch leuchten. Vor ihm flogen die<br />

anderen ruhig <strong>und</strong> konzentriert. Mit der Zeit wurden seine Hände taub<br />

vor Kälte, <strong>und</strong> als er <strong>das</strong> Gefühl hatte, für immer <strong>auf</strong> seinem Thestral<br />

angefroren zu sein, näherte sich ihnen ein riesiges Lichtermeer, <strong>das</strong> den<br />

Himmel in ein eigentümliches Violett färbte.<br />

Aufatmend stand <strong>Harry</strong> noch den Anflug <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Ministerium durch<br />

<strong>und</strong> betete inständig, <strong>das</strong>s sie keinem Muggel <strong>auf</strong>fallen würden. Er war<br />

sich nicht sicher hinsichtlich der Reaktionen von Muggeln, die sechs<br />

knochige Gespensterpferde mit Reitern vom Himmel kommen sähen.<br />

Aber vielleicht konnten Muggel Thestrale gar nicht sehen, so wie<br />

Dementoren. Na toll, dann sehen sie eben nur sechs Kinder, die vom<br />

Himmel fallen, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> musste leicht grinsen, auch wenn er<br />

sich durchaus bewusst war, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> nur an seiner angespannten<br />

Psyche lag. Im Allgemeinen betrachtet fand er seine Lage überhaupt<br />

nicht lustig. Im Gegenteil, er fragte sich, ob er <strong>doc</strong>h langsam verrückt<br />

wurde. Ich will in die <strong>Unterwelt</strong>. Mehr <strong>und</strong> mehr kam ihm dieser Plan vor<br />

wie die geistige Ausgeburt eines Irren. Es gibt wahrscheinlich nicht<br />

einmal eine <strong>Unterwelt</strong>, dachte er, schüttelte den Gedanken aber sofort<br />

ab.<br />

Geschickt landeten die Pferde nun in der vertrauten Seitenstraße.<br />

In einer Ecke stand immer noch ein übervoller Mülleimer neben der<br />

kaputten Telefonzelle. Die heruntergekommenen Häuserwände links <strong>und</strong><br />

rechts leuchteten orange im Licht der Straßenlaternen. <strong>Harry</strong> blickte sich<br />

nervös um, er erwartete jeden Moment, McGonagall oder Dumbledore<br />

hinter einer Ecke hervorspringen zu sehen, die Zauberstäbe <strong>auf</strong> sie<br />

richtend.<br />

Doch noch geschah nichts. Sie kletterten schweigend von den<br />

Thestralen. Neville, Luna <strong>und</strong> Ginny wiesen ihre an, <strong>auf</strong> sie zu warten,<br />

was diese erstaunlicherweise auch taten: Sie stellten sich einfach<br />

gegenüber der Telefonzelle <strong>auf</strong> <strong>und</strong> verharrten ruhig. <strong>Harry</strong> streichelte<br />

seinen Thestral kurz, dann quetschte er sich mit den anderen zusammen<br />

in die Telefonzelle. Irgendwie mussten sie den Sommer über gewachsen<br />

sein, jedenfalls schien ihm der beengte Raum noch kleiner zu sein als<br />

<strong>das</strong> letzte Mal. Wie ein wiederkehrender Albtraum kamen ihm die<br />

232


Erinnerungen an seinen letzten Besuch um Ministerium in den Sinn, <strong>auf</strong><br />

erschreckende Art wiederholte sich alles exakt noch einmal. Nun, dachte<br />

er grimmig, nur rette ich Sirius diesmal wirklich.<br />

Ungelenk gab Ron die Ziffern sechs, zwei, vier, vier drei ein,<br />

wor<strong>auf</strong>hin sie die ihm nun gut bekannte Frauenstimme <strong>auf</strong>forderte, ihre<br />

Namen <strong>und</strong> Anliegen zu nennen.<br />

"Dumbledores Armee", sagte <strong>Harry</strong>, "mit dem Ziel, jemanden – äh,<br />

schon wieder zu retten, der dummerweise durch euren Bogen in die<br />

<strong>Unterwelt</strong> gegangen ist!" Ginny lachte leise neben ihm.<br />

Gleich dar<strong>auf</strong> fielen die Plaketten aus dem Metallschacht unter<br />

dem Telefonhörer, <strong>und</strong> alle befestigten sie entschlossen an ihren<br />

Umhängen. Dumbledores Armee, Rettungsmission in der <strong>Unterwelt</strong>.<br />

Sie ließen <strong>das</strong> bekannte Prozedere über sich ergehen, warteten<br />

<strong>auf</strong> <strong>das</strong> Absenken des Bodens <strong>und</strong> warfen sich einen letzten,<br />

<strong>auf</strong>geregten Blick zu, als sich endlich <strong>das</strong> sanfte goldene Licht in die<br />

enge Kabine ergoss. Die Zauberstäbe griffbereit spähten sie blinzelnd in<br />

<strong>das</strong> riesige Atrium des Ministeriums, konnten zu ihrer Erleichterung aber<br />

niemanden erblicken. Als die Tür <strong>auf</strong>ging, stolperten sie ungeschickt aus<br />

der Zelle <strong>und</strong> sahen sich um.<br />

<strong>Harry</strong> konnte nur staunen. Obwohl genau hier vor einigen Monaten<br />

noch ein furchtbarer Kampf zwischen Dumbledore <strong>und</strong> Voldemort<br />

stattgef<strong>und</strong>en hatte, in dessen Zuge <strong>das</strong> Atrium völlig demoliert worden<br />

war, sah es nun haargenau so aus wie vorher: Die Kamine, die<br />

momentan nicht von Feuern erleuchtet waren, die sich an der Decke<br />

windenden Symbole, sogar in dem goldenen Brunnen mit den beiden<br />

Zauberern, dem Zentauren, dem Kobolds <strong>und</strong> des Hauselfen plätscherte<br />

fröhlich <strong>das</strong> Wasser, als wäre nichts gewesen.<br />

"Faszinierend, wie penibel man versuchen kann zu vertuschen,<br />

was man am liebsten ignorieren möchte", flüsterte Hermine angewidert.<br />

Leise, aber zügig rannten sie <strong>auf</strong> die goldenen Aufzüge zu, <strong>und</strong><br />

<strong>Harry</strong> wollte schon seine Hand nach dem "Abwärts"- Knopf ausstrecken,<br />

als er jemanden reden hörte.<br />

"Nein, man weiß momentan nicht viel darüber. Allerdings hat<br />

Dumbledore Gerüchte gehört, <strong>das</strong>s er wieder in Großbritannien ist",<br />

dröhnte eine tiefe Stimme durch <strong>das</strong> verlassene Gebäude.<br />

<strong>Harry</strong> fuhr herum, den Zauberstab in der Hand. Er konnte<br />

niemanden sehen.<br />

"Dort drüben", flüsterte Luna <strong>und</strong> wies <strong>auf</strong> einen Gang, der in <strong>das</strong><br />

Atrium mündete <strong>und</strong> der <strong>Harry</strong> bisher nicht <strong>auf</strong>gefallen war.<br />

"Das müssen Sicherheitszauberer sein", meinte Hermine leise <strong>und</strong><br />

sah sich unsicher um. Aber vergeblich, wir können uns hier nirgends<br />

verstecken, dachte <strong>Harry</strong>.<br />

"Gibt es Informationen darüber, was er vorhat?" Die Stimme eines<br />

zweiten Zauberers antwortete der ersten.<br />

233


"Nun, Dumbledore vermutet stark, <strong>das</strong>s nach dem ersten<br />

verunglückten Anschlag <strong>auf</strong> den Jungen nun der Hauptangriff folgen<br />

wird."<br />

"Ach ja, damals wurde nur ein Lehrer erwischt."<br />

"Ein Unfall. Jedenfalls hat der Orden Anlass zu glauben, <strong>das</strong>s Du-<br />

Weißt-Schon-Wer einen neuen Versuch unternehmen wird, an <strong>Potter</strong><br />

heranzukommen. Momentan werden die Sicherheitsvorkehrungen um<br />

Hogwarts <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Genaueste überprüft ..."<br />

"Aber hat unser Spitzel nichts über die Art des Angriffs gesagt?"<br />

Zwar kamen die Stimmen beständig näher, aber sowohl <strong>Harry</strong> als<br />

auch die anderen lauschten gespannt.<br />

"Nein, diesmal scheint es wirklich ernst. Du-Weißt-Schon-Wer hat<br />

niemanden eingeweiht, nicht einmal unseren Spion, dem er sonst<br />

vorbehaltlos traut."<br />

"Es heißt sogar, Dumbledore plant <strong>Potter</strong> von der Schule zu<br />

nehmen ... <strong>und</strong> an einen sicheren Ort zu bringen."<br />

"Sicherer als Hogwarts? Schwer."<br />

"Sicher, aber an einen Ort, an dem Du-Weißt-Schon-Wer ihn nicht<br />

vermuten wird."<br />

Die beiden Sicherheitszauberer waren nun so nahe, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />

ihre langsam näher rückenden Schatten sehen konnte.<br />

Sie konnten nicht länger warten.<br />

Ginny drehte sich zu ihm um.<br />

"Luna, Neville <strong>und</strong> ich lenken sie ab", flüsterte sie. "Ihr l<strong>auf</strong>t <strong>zur</strong><br />

Mysteriumsabteilung." Hermine <strong>und</strong> Ron nickten, nur <strong>Harry</strong> sah sie ohne<br />

Antwort an.<br />

"Ginny", sagte er leise <strong>und</strong> sah in ihre Augen.<br />

"Ich weiß, was du sagen willst, aber <strong>das</strong> darfst du nicht. Wir<br />

werden uns wieder sehen. Das weiß ich."<br />

<strong>Harry</strong> konnte sie nur niedergeschlagen umarmen, ein vielleicht<br />

letztes Mal in seinem Leben. Auf einmal wusste er nicht mehr, wieso er<br />

überhaupt hier war. Was tat er?<br />

Er hatte keine Zeit, näher darüber nachzudenken, denn schon löste<br />

sich Ginny von ihm, warf ihm einen letzten, verzweifelten Blick zu <strong>und</strong><br />

rannte dann mit Luna <strong>und</strong> Neville, wild alle möglichen Zaubersprüche um<br />

sich werfend, in Richtung des Ausgangs davon.<br />

Die Sicherheitszauberer traten in diesem Moment in <strong>das</strong> Atrium<br />

<strong>und</strong> schauten erschrocken zu den Eindringlingen, ohne die drei<br />

Gestalten zu bemerken, die zusammengedrängt in einem der Fahrstühle<br />

abwärts fuhren.<br />

Das letzte, was <strong>Harry</strong> von Ginny sah, war ein gut ausgeführter<br />

Flederwichtfluch <strong>auf</strong> einen der Sicherheitszauberer, der ihn unwillkürlich<br />

zum Grinsen brachte.<br />

234


Oben aus dem Atrium erklang zum Glück noch so viel Getöse,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Scheppern des Fahrstuhls darin unterging. Vereinzelte<br />

Stimmen drangen an <strong>Harry</strong>s Ohr, die aber immer schwächer worden, bis<br />

alles, was sie hörten, <strong>das</strong> Geräusch des sich bewegenden Fahrstuhls<br />

war. Schließlich schwang <strong>das</strong> Gitter <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schloss sich, als sie<br />

ausgestiegen waren, wieder mit einem Knall.<br />

"Hoffentlich haben sie uns nicht gehört", sorgte sich <strong>Harry</strong>.<br />

"Unmöglich, bei dem Krach", versicherte Hermine, während sie mit<br />

raschen Schritten <strong>auf</strong> die schwarze Tür am Ende des Ganges zugingen,<br />

der lediglich von einigen Kerzen beleuchtet war. Anscheinend war außer<br />

den Sicherheitszauberern niemand im Ministerium.<br />

"Dennoch sollten wir zusehen, <strong>das</strong>s wir den Raum mit dem Bogen<br />

so schnell wie möglich finden, nur für den Fall, <strong>das</strong>s die beiden <strong>auf</strong> die<br />

Idee kommen, <strong>das</strong> ganze Gebäude dar<strong>auf</strong>hin abzusuchen, ob sich noch<br />

mehr Eindringlinge hier <strong>auf</strong>halten."<br />

"Das dauert <strong>doc</strong>h ewig", meinte Ron lässig.<br />

Hermine rümpfte die Nase. "Dir ist noch nicht in den Sinn<br />

gekommen, <strong>das</strong>s wir uns im Zaubereiministerium <strong>auf</strong>halten, wo es als<br />

selbstverständlich gilt, Zauberei einzusetzen, oder?"<br />

<strong>Harry</strong> wollte den <strong>auf</strong>kommenden Streit unterbrechen, als die drei in<br />

den völlig schwarzen, r<strong>und</strong>en Raum aus spiegelndem Marmor traten.<br />

Das blaue Kerzenlicht ließ ihre Gesichter bleich leuchten.<br />

"Gut." Hermine atmete tief durch. Ihre Nervosität steckte auch<br />

<strong>Harry</strong> an.<br />

"Keine Sorge", lächelte er mit aller Überzeugung, die er <strong>auf</strong>bringen<br />

konnte. "Diesmal sind keine Todesser hier, <strong>und</strong> niemand erwartet uns<br />

hinter diesen Türen."<br />

"Ich weiß, es ist nur so, <strong>das</strong>s es hier so viele seltsame <strong>und</strong><br />

gefährliche Dinge gibt", erschauderte Hermine. "Dinge, die wir nicht<br />

verstehen."<br />

"Müssen wir auch nicht", meinte Ron <strong>und</strong> ging schnurstracks <strong>auf</strong><br />

eine der schwarz glänzenden Türen zu. "Wir müssen nur den<br />

Bogenraum wieder finden."<br />

Den Todesraum, dachte <strong>Harry</strong>, aber niemand von uns will es<br />

aussprechen.<br />

Mit einem polternden Geräusch begannen die Türen zu rotieren,<br />

nur <strong>das</strong>s sie diesmal nicht davon erschreckten.<br />

„<strong>Harry</strong>, was sollte <strong>das</strong> heißen, <strong>das</strong>s Du-Weißt-Schon-Wer den<br />

finalen Angriff <strong>auf</strong> dich plant?“, fragte Ron vorsichtig.<br />

„Na ist <strong>doc</strong>h klar, er will mich endlich erledigen“, knurrte <strong>Harry</strong>. Er<br />

ärgerte sich darüber, <strong>das</strong>s Dumbledore Pläne mit ihm hatte, die ihm<br />

niemand mitgeteilt hatte. „Ich werde Hogwarts jedenfalls nicht<br />

verlassen.“<br />

235


„Meinst du, es ist klug, unter diesen Voraussetzungen, äh –“ Ron<br />

wies <strong>auf</strong> die sich immer noch bewegenden Türen – „jetzt Alleingänge zu<br />

unternehmen <strong>und</strong> uns außerhalb Hogwarts’ <strong>auf</strong>zuhalten?“<br />

„Ron“, stöhnte <strong>Harry</strong>, „wenn es einen Ort gibt, an dem Voldemort<br />

nicht nach mir suchen wird, dann ist es die <strong>Unterwelt</strong>. Dumbledore sollte<br />

sich freuen, dort sind wir vor den Todessern sicher.“<br />

Hermine neben ihm lächelte.<br />

Die blauen Lichtstriemen verschwanden nun langsam wieder aus<br />

<strong>Harry</strong>s Blick, als die Türen zum Stillstand kamen.<br />

"Nun gibt es kein Zurück mehr, jedenfalls nicht so einfach", sagte<br />

<strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> tatsächlich konnten sie die Tür, durch die sie<br />

hereingekommen waren, nicht mehr von den anderen unterscheiden.<br />

Entschlossen schritt er zu Ron <strong>und</strong> öffnete die Tür, die ihm am nächsten<br />

war. Sie ging problemlos <strong>auf</strong>.<br />

Die drei traten in einen Raum, den sie noch nie gesehen hatten.<br />

Eigentlich traf <strong>das</strong> Wort "Raum" gar nicht zu. <strong>Harry</strong> hatte eher <strong>das</strong><br />

Gefühl, in einer Menge Räume gleichzeitig zu sein – überall erblickte er<br />

Perspektiven, die es im Gr<strong>und</strong>e gar nicht geben durfte. Vor ihnen<br />

standen einige Tische mit seltsamen Apparaten <strong>und</strong> ein paar Stühle, die<br />

ihm vorkamen, als wären sie mehrere Kilometer entfernt. Je<strong>doc</strong>h konnte<br />

er sie leicht berühren, als er die Hand ausstreckte.<br />

"Unglaublich", murmelte Ron neben ihm. Er hielt ein Buch in der<br />

Hand, <strong>das</strong> aussah wie aus einem Zeichentrickfilm. Dann dämmerte es<br />

<strong>Harry</strong> auch, wieso: Es war zweidimensional.<br />

"Der Raum", hörte er Hermine ehrfürchtig hinter sich flüstern. "Hier<br />

werden die Eigenschaften des Raumes untersucht."<br />

Sie widerstand der Versuchung, sich genauer umzusehen, sondern<br />

ging <strong>auf</strong> eine Tür am anderen Ende des Zimmers zu. <strong>Harry</strong> kam diese<br />

Idee dumm vor, denn die Tür musste mindestens einen Kilometer weit<br />

weg sein. Dennoch kam Hermine schon nach wenigen Schritten an <strong>und</strong><br />

öffnete sie.<br />

"Kommt, <strong>das</strong> sind nur Sinnestäuschungen."<br />

Zögernd, als könnten sie jeden Moment umfallen, staksten <strong>Harry</strong><br />

<strong>und</strong> Ron hinter Hermine aus dem merkwürdigen Raum. Der nächste war<br />

taghell erleuchtet, aber auch hier waren sie alleine, wie <strong>Harry</strong> erleichtert<br />

registrierte.<br />

Langsam sah er sich um. Hier war er ganz sicher noch nie<br />

gewesen. Die gesamten Wände schienen aus Spiegeln zu bestehen.<br />

Große, kleine, schmale <strong>und</strong> dicke, klobige <strong>und</strong> filigrane, welche mit<br />

kunstvollem Rahmen <strong>und</strong> welche, die einfach nur aus einer Glasscheibe<br />

bestanden, säumten die mit weißen Fließen verputzten Wände. Das<br />

Licht musste aus den Spiegeln selbst kommen, jedenfalls sah <strong>Harry</strong><br />

nirgends Kerzen oder ein Feuer. Die Decke <strong>und</strong> der Fußboden, welcher<br />

236


mit dicken Teppichen ausgelegt war, wurden von den sonnenhellen<br />

Strahlen kaum erfasst.<br />

"Wo sind wir hier?", fragte Ron misstrauisch.<br />

"Keine Ahnung", meinte <strong>Harry</strong>. "Aber schau lieber nicht in die<br />

Spiegel. Vielleicht sind sie <strong>Tor</strong>e in andere Welten oder so was." Ihn<br />

würde in dieser Abteilung nichts überraschen, <strong>und</strong> bisher hatte er noch<br />

nichts Gutes hier drin erlebt.<br />

"Das glaube ich nicht", erwiderte Hermine nachdenklich. "Sie<br />

machen <strong>auf</strong> mich den Eindruck gewöhnlicher Spiegel."<br />

"Seit wann ist in der Zaubererwelt irgendetwas gewöhnlich?",<br />

fragte <strong>Harry</strong>. "Und ich weiß nicht, ob die Unsäglichen sich mit normalen<br />

Spiegeln beschäftigen –"<br />

Er hielt inne. Aus Versehen hatte sein Blick einen der hell<br />

erleuchteten Spiegel gestreift, <strong>und</strong> er sah die Widerspiegelung eines<br />

Stuhls darin. Aber irgendwie sah es nicht aus wie ein alltäglicher,<br />

langweiliger Stuhl, sondern wie eine Art Kunstwerk. Obwohl <strong>das</strong> Objekt<br />

als nichts anderes als Stuhl beschrieben werden konnte, so wirkte <strong>das</strong><br />

Holz fast unmöglich glatt <strong>und</strong> geschmeidig, die Farbe war von so einem<br />

satten Goldbraun, <strong>und</strong> die sanft geschwungene Lehne war so einladend,<br />

<strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> sich beherrschen musste, um nicht zu dem Stuhl zu gehen<br />

<strong>und</strong> sich zu setzen. Er fand ihn einfach w<strong>und</strong>ervoll.<br />

Erwartungsfroh drehte er sich um, um den richtigen Stuhl zu<br />

sehen, zuckte aber verwirrt <strong>zur</strong>ück.<br />

"Was ist?", fragte Ron.<br />

"Dieser Stuhl", meinte <strong>Harry</strong> irritiert <strong>und</strong> näherte sich einem alten,<br />

wurmzerfressenen Stuhl aus mattbraunem fleckigen Holz <strong>und</strong> einer<br />

angeknacksten Lehne.<br />

"Was ist an einem alten hässlichen Stuhl so interessant?"<br />

"Schaut mal in den Spiegel – darin wirkt er perfekt, <strong>und</strong> in<br />

Wirklichkeit ist er reif für den Müll."<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine staunten eine Weile über <strong>das</strong> seltsame<br />

Spiegelbild.<br />

"Vielleicht zeigen diese Spiegel <strong>das</strong>, was wir gern sehen würden",<br />

überlegte Hermine.<br />

"So wie der Spiegel Nerhegeb?"<br />

"Nicht ganz – wir sehen eher ein idealisiertes Abbild der Realität –<br />

seltsam." Sie klang beunruhigt. "Lasst uns lieber verschwinden, dort ist<br />

eine weitere Tür."<br />

Und richtig, wieder gab es einen zweiten Ausgang. Die Räume der<br />

Mysteriumsabteilung waren alle miteinander verb<strong>und</strong>en.<br />

"Komisch, <strong>das</strong>s man hier nicht spürt, wie sich die Räume<br />

bewegen", grübelte Ron. "Eigentlich müssten wir uns alle paar Minuten<br />

im Kreis bewegen."<br />

237


Hermine verdrehte die Augen. "Natürlich bewegen nicht wir uns,<br />

sondern nur die Türen in dem r<strong>und</strong>en Raum. Alles andere wäre auch<br />

unpraktisch."<br />

Ron murrte vor sich hin, während sie <strong>auf</strong> die Tür zugingen.<br />

Unterwegs schaute <strong>Harry</strong> immer wieder neugierig aus den Augenwinkeln<br />

<strong>auf</strong> die Spiegel <strong>und</strong> erblickte dort Dinge des täglichen Gebrauchs –<br />

Papiere, eine Standuhr, einen Tisch – die sich in ihnen spiegelten <strong>und</strong><br />

eine eigentümliche, anziehende Schönheit besaßen, obwohl ihm<br />

mittlerweile klar geworden war, <strong>das</strong>s in der Mitte des Raums nur<br />

Gerümpel herumstand. Einmal erwischte er sogar einen Blick <strong>auf</strong> sein<br />

eigenes Spiegelbild, was ihn zutiefst erschreckte – nicht, weil er<br />

irgendwie deformiert aussah, sondern im Gegenteil – nun ja, gut. Zu gut.<br />

In dem Spiegel schien er sich weder zu klein <strong>und</strong> dünn zu sein, noch<br />

störte seine Blitznarbe <strong>das</strong> Gesamtbild, nein, sie schien eher<br />

dazuzugehören wie ein Pinselstrich in einem meisterhaften Gemälde. Er<br />

wandte sich schnell ab. Das ist nicht normal. Und was nicht normal ist,<br />

verbirgt etwas.<br />

Als sie <strong>auf</strong> die Tür zutraten, fiel ihnen ein riesiger, alles<br />

überragender Spiegel <strong>auf</strong>, mit einem dicken Goldrahmen versehen <strong>und</strong><br />

von innen heraus leicht bläulich schimmernd. Die Lichtreflexe <strong>auf</strong> seiner<br />

Oberfläche erinnerten an goldenes Sonnenlicht, <strong>das</strong> über ein<br />

blassblaues Meer flutete.<br />

Er musste vor diesen Spiegel. Es ging nicht anders. Wie von einer<br />

unsichtbaren Kraft gezogen machte <strong>Harry</strong> ein paar Schritte vorwärts <strong>und</strong><br />

stellte sich vor <strong>das</strong> schimmernde Glas.<br />

Was er sah, verw<strong>und</strong>erte ihn zutiefst.<br />

Ginny stand vor ihm. Zumindest sah sie beinahe so aus wie Ginny,<br />

bis <strong>auf</strong> ein paar kleine Unterschiede: Ihre Nase war eine winzige Spur<br />

gerader als in Wirklichkeit, sie war ein paar Zentimeter größer <strong>und</strong> ...<br />

erwachsener, so<strong>das</strong>s ihre weiblichen Formen weiter entwickelt waren.<br />

Insgesamt waren diese Abweichungen aber so winzig, <strong>das</strong>s sie niemand<br />

bemerkt hätte, der Ginny nicht genau kannte.<br />

Leider taten <strong>das</strong> Ron <strong>und</strong> Hermine.<br />

"Was zum Teufel –"<br />

Ron trat staunend an <strong>das</strong> Spiegelglas heran. "Wieso sieht Ginny so<br />

komisch aus? So – perfekt?"<br />

"Sie ist auch in ihrer wirklichen Gestalt perfekt", meinte <strong>Harry</strong> hitzig,<br />

auch wenn ihm die Spiegel-Ginny durchaus gefiel.<br />

"Ja, klar, aber wieso zeigt der Spiegel sie so?" Ron starrte den<br />

goldenen Rahmen an, als würde der <strong>das</strong> Geheimnis preisgeben.<br />

"Ich glaube ich weiß, warum", antwortete Hermine mit einem<br />

seltsamen Ausdruck im Gesicht. "Der Spiegel zeigt uns <strong>das</strong>, was wir<br />

unter wahrer Schönheit verstehen."<br />

238


"Echt krass", hauchte Ron ehrfürchtig. <strong>Harry</strong> war es mittlerweile<br />

peinlich, <strong>das</strong>s Ron <strong>und</strong> Hermine die Spiegel-Ginny anstarrten <strong>und</strong> fühlte<br />

sich unwohl, als hätte ihm jemand etwas sehr Privates entrissen. Hastig<br />

trat er einen Schritt <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> stupste Ron vor den Spiegel.<br />

Bevor der reagieren konnte, erschien Hermines Abbild vor ihm.<br />

"Na dann lass mal sehen, was an mir verbesserungswürdig ist",<br />

scherzte Hermine, um den peinlichen Moment herunterzuspielen. Als sie<br />

näher trat, wurde sie genauso rot wie Ron.<br />

Die Hermine in dem Spiegel entsprach exakt ihrem realen Vorbild.<br />

Dasselbe buschige Haar, dieselbe leicht besserwisserische Miene ...<br />

Nicht ein Detail war schöner oder idealer dargestellt, als es von Natur<br />

aus beschaffen war.<br />

Einige Sek<strong>und</strong>en sprach keiner der drei. Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

versuchten angestrengt, in entgegen gesetzte Richtungen zu schauen<br />

<strong>und</strong> sich nicht zu nahe zu kommen. <strong>Harry</strong> brach schließlich den Bann.<br />

"Kommt, suchen wir die Todeskammer", rief er <strong>und</strong> ging <strong>zur</strong> Tür.<br />

"Ron", sagte Hermine leise. Der schüttelte den Kopf, offenbar<br />

unsicher, was er tun sollte.<br />

"Ich wusste nicht, <strong>das</strong>s – also, <strong>das</strong>s –"<br />

"He, kommt, ich glaube, ich habe den Bogenraum gef<strong>und</strong>en", rief<br />

<strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>geregt dazwischen, teils, weil er den beiden <strong>das</strong> verlegene<br />

Gespräch ersparen wollte, teils, weil er endlich in dem Raum stand, den<br />

sie hatten <strong>auf</strong>finden wollen.<br />

Er hatte zwar <strong>das</strong> störende Gefühl, <strong>das</strong>s irgendetwas an dem<br />

Raum ihn irritierte, aber es schien keinen Zweifel zu geben: Dieselben<br />

steinernen Treppen führten abwärts zu demselben Podest, <strong>auf</strong> dem<br />

derselbe schwarze Bogen –<br />

<strong>Harry</strong> blinzelte <strong>und</strong> schaute noch einmal hin.<br />

Der Bogen war nicht schwarz, sondern weiß.<br />

Verw<strong>und</strong>ert ging er die Stufen hinunter zu dem schwach<br />

beleuchteten Podium. Da war er, der uralte, rissige Steinbogen, nur war<br />

der zerrissene, in einer nicht spürbaren Brise wehende Schleier von<br />

einem fleckigen Weiß.<br />

"Pass <strong>auf</strong>", warnte ihn Hermine, die mit Ron näher kam.<br />

"Wieso ist er nicht mehr schwarz?", fragte Ron.<br />

Hermine betrachtete den Raum <strong>auf</strong>merksam. "Weil wir nicht im<br />

Bogenraum sind", erklärte sie. "Schaut dort rüber."<br />

Und dann sah auch <strong>Harry</strong> die in der Wand hinter dem weißen<br />

Bogen eingelassenen Türen, die es in dem anderen Raum ganz sicher<br />

nicht gegeben hatte.<br />

<strong>Harry</strong> näherte sich dem alten Steinbogen. Die eigentümliche<br />

Anziehungskraft, die der schwarze Bogen <strong>auf</strong> ihn gehabt hatte, fehlte<br />

vollkommen. Der leise hin- <strong>und</strong> her schwingende Schleier wirkte fast<br />

239


lächerlich normal, <strong>und</strong> als er angestrengt lauschte, hörte er auch keine<br />

Stimmen hinter dem zerschlissenen Stoff, so wie in dem anderen Raum.<br />

"Da drin flüstert niemand", meinte er fast enttäuscht. Was, wenn<br />

die Ministeriumsleute die Bögen ausgetauscht hatten? Wenn der<br />

schwarze Bogen gar nicht mehr existierte? Wie sollte er dann Sirius<br />

finden?<br />

Hermine machte ein komisches Gesicht, als sie <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Podium<br />

kam <strong>und</strong> bis <strong>auf</strong> einen Schritt an den Schleier herantrat.<br />

"Hermine, was tust du da?", rief <strong>Harry</strong>. "Komm sofort wieder her!"<br />

"Halt, gehe nicht dadurch!", schrie Ron in Angst.<br />

Aber es war zu spät. Hermine war durch den Schleier geschritten.<br />

<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> neben ihm Ron starrten eine Sek<strong>und</strong>e ungläubig <strong>auf</strong> den<br />

Schleier, der wieder leicht in der Luft flatterte. Panisch rannten sie um<br />

den Bogen herum, auch wenn <strong>Harry</strong> keine Hoffnung hatte, Hermine je<br />

wieder zu sehen, sie war verschw<strong>und</strong>en, so wie Sirius –<br />

"Hi", meinte sie lässig <strong>und</strong> ging ihnen entgegen. Scheinbar war sie<br />

wirklich nur durch den Bogen getreten <strong>und</strong> am anderen Ende wieder<br />

herausgekommen.<br />

"Was –"<br />

"Wie –"<br />

"Aber Sirius –"<br />

<strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron redeten vor Erleichterung <strong>und</strong> Aufregung wild<br />

durcheinander, bis sich alle drei ein wenig beruhigt hatten.<br />

"Wisst ihr, ich dachte, wenn der schwarze Bogen in die Welt der<br />

Toten führt, dann führt der weiße –"<br />

"In die Welt der Lebenden!", stieß <strong>Harry</strong> eifrig hervor.<br />

"Genau", meinte Hermine lächelnd. "Und da wir bereits in der Welt<br />

der Lebenden sind, können wir gefahrlos durchgehen. Für uns ist er<br />

nichts weiter als ein ganz gewöhnliches Stück Mauer mit einem<br />

Stofffetzen daran."<br />

<strong>Harry</strong>s Magen machte einen Salto rückwärts. "Aber <strong>das</strong> würde<br />

bedeuten, <strong>das</strong>s –"<br />

"Es auch einen Weg aus der Welt der Toten in diesen Raum gibt,<br />

richtig", vollendete Hermine grimmig. "Dann lasst uns den anderen<br />

Bogenraum suchen."<br />

Da es keinen weiteren Ausgang gab als die Tür, durch die sie<br />

hineingekommen waren <strong>und</strong> die vielen Türen hinter dem Bogen, nahmen<br />

sie eine von denen. Sie führte in ein kleines, voll gestopftes Büro, über<br />

dessen Innentür "Zeit" stand.<br />

"Das sind sicher die Büros, die mit dem Raum der Zeit verb<strong>und</strong>en<br />

sind!", sagte Ron. "Wir müssten bald da sein."<br />

Sie schauten <strong>zur</strong> Bestätigung kurz durch eine Quertür, die den<br />

Blick in ein anderes, fast gleich aussehendes Büro freigab, nur <strong>das</strong>s über<br />

dessen Türrahmen "Intelligenz" stand.<br />

240


"Die stehen für die einzelnen Abteilungen", murmelte Hermine.<br />

Sie kämpfte sichtbar gegen den Drang an, die Schreibtische <strong>und</strong><br />

Schränke einer genauen Analyse zu unterziehen. Verklärt strich sie über<br />

die leicht staubigen Regalflächen.<br />

"Hermine, wir müssen gehen", dränge <strong>Harry</strong> sie.<br />

"Stellt euch nur einmal vor, was wir hier alles finden könnten – die<br />

Ergebnisse Jahrh<strong>und</strong>erte langer Forschung über die elementarsten<br />

Dinge der Welt!" Sie glühte vor Begeisterung, als sie eine Bürotür nach<br />

der anderen öffnete. "Das Wissen, welches hier gespeichert wird,<br />

übertrifft die Vorstellungskraft dessen, was Zauberer sich jemals haben<br />

erträumen lassen –"<br />

"Hermine", seufzte <strong>Harry</strong> wieder. "Selbst wenn wir alle Zeit der<br />

Welt hätten <strong>und</strong> uns die Sicherheitszauberer nicht vielleicht <strong>auf</strong> der Spur<br />

wären, würdest du deine Zeit bloß verschwenden. Du weißt <strong>doc</strong>h, was<br />

Lupin über Schriften in der Ministeriumsabteilung gesagt hat – es gibt<br />

keine!"<br />

Zögernd blieb Hermine stehen <strong>und</strong> drehte sich um, offensichtlich<br />

getroffen.<br />

"Das habe ich ganz vergessen", meinte sie enttäuscht. Dann<br />

strahlte ihr Gesicht <strong>auf</strong>. "Wartet mal, stand in dem Rosier-Buch nicht<br />

etwas über die Aufbewahrung eines Schriftzeugnisses über den Hexer<br />

von Hexham?"<br />

<strong>Harry</strong> erinnerte sich verschwommen an die Seiten aus dem Kapitel<br />

über den Tod. Ein Zeuge, der den Hexer gesehen hatte, wie er aus dem<br />

Bogen trat ... der später von einem Verwirrungszauber getroffen wurde<br />

... Sperrschrank ...<br />

"Zweite Schublade Sperrschrank!", rief er <strong>auf</strong>geregt, als Hermine<br />

auch schon an Ron vorbeisprintete, der ihr kopfschüttelnd nachsah.<br />

"Sie wird sich nie ändern."<br />

Sie liefen Hermine nach in <strong>das</strong> Büro, in dem sich die Unsäglichen<br />

mit dem Tod befassten, <strong>und</strong> gewahrten Hermine neben einem<br />

gewaltigen, metallenen Schrank stehend, mit der einen Hand gegen die<br />

Wand gestützt, mit der anderen ein Stück Pergament umklammernd, <strong>das</strong><br />

sie aus der nun offen stehenden zweiten Schublade von oben gezogen<br />

hatte.<br />

"Warte mal, wenn die Unsäglichen nichts <strong>auf</strong>schreiben dürfen, wo<br />

kommt dann <strong>das</strong> Blatt her?", wollte Ron misstrauisch wissen.<br />

Hermine zuckte mit den Schultern. "Vermutlich haben sie es<br />

<strong>auf</strong>gehoben, weil es Original-Beweismaterial ist. Ich denke, solche<br />

Sachen von besonderem Wert werden gut gesichert <strong>auf</strong>bewahrt."<br />

"Ja, sehr gut gesichert, wenn sogar drei Schüler Hogwarts<br />

rankommen", höhnte Ron, beugte sich aber über Hermines Schulter, um<br />

mitzulesen.<br />

241


"Das hier ist bloß eine Abschrift der Aussage des Hexer-Zeugen –<br />

Bryan Williamson hieß er –, die allerdings keine weiteren Informationen<br />

enthält als die, die wir bereits haben – er sah den Hexer durch den<br />

Bogen <strong>zur</strong>ück ins Leben treten, seinen Aussagen wurde aber kein<br />

Glauben geschenkt."<br />

Sie runzelte die Stirn, als sie ein an <strong>das</strong> Pergament geheftetes<br />

kleineres Blatt entfaltete <strong>und</strong> es las.<br />

<strong>Harry</strong> schwante Böses, als er ihrem unbeschreiblich erstaunten<br />

Blick folgte. Mit jeder Sek<strong>und</strong>e, die sie las, wurde sie betroffener.<br />

"Was ist los?", fragte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> hörte sein eigenes Herz immer<br />

schneller klopfen.<br />

"Es ist, wie ich vermutet habe", antwortete Hermine leise. "Die<br />

Unsäglichen haben Williamson mit einem Verwirrungszauber belegt,<br />

damit ihm niemand <strong>das</strong> abk<strong>auf</strong>te, was er über den Hexer erzählte. Hier<br />

steht, <strong>das</strong>s sie zum Schutze der Gemeinschaft einen dreitägigen Zauber<br />

<strong>auf</strong> ihn gelegt haben. Als sich seine Verwirrung erst einmal<br />

herumgesprochen hatte, hat ihm ohnehin keiner mehr geglaubt."<br />

"Und warum haben sie <strong>das</strong> getan?", schrie <strong>Harry</strong> lauter, als ihm<br />

bewusst war. "Oder denken die Unsäglichen genauso wie du über den<br />

Tod, nämlich <strong>das</strong>s er berechtigt <strong>und</strong> nötig ist?" Seine Stimme war<br />

sarkastisch geworden, <strong>und</strong> Hermine sah ihn mit zusammengekniffenen<br />

Augen an, genau wie er den Streit am Grimmauldplatz im Kopf.<br />

"Lass uns nicht wieder mit Streiten anfangen, akzeptiere einfach,<br />

<strong>das</strong>s ich meine Meinung habe <strong>und</strong> du deine", meinte sie ruhig.<br />

"Du hast keine Meinung, du hast einfach nur noch nicht erlebt, wie<br />

jemand, den du magst, gestorben ist!", redete <strong>Harry</strong> hitzig weiter.<br />

Obwohl er wusste, <strong>das</strong>s jetzt der unpassendste Augenblick war, sich<br />

über verschiedene Weltsichten zu zoffen, quollen die Worte aus ihm<br />

heraus. "Sonst würdest du nicht so leichtfertig über den Tod sprechen!"<br />

"Nur weil ich niemanden näher kannte, der gestorben ist, heißt <strong>das</strong><br />

nicht, <strong>das</strong>s ich nicht meinen Kopf benutzen kann, um mit<br />

angemessenem Abstand darüber zu urteilen", schoss Hermine <strong>zur</strong>ück.<br />

"Im Gegenteil, gerade weil ich nicht durch eigene, überemotionale <strong>und</strong><br />

blind machende Erfahrungen beeinträchtigt bin, bin ich derjenige von uns<br />

beiden, der eine realitätsnahe Ansicht über den Tod hat."<br />

Die beiden sahen sich mit zornigen Blicken an, auch wenn <strong>Harry</strong><br />

langsam die Ahnung überkam, <strong>das</strong>s sie vermutlich Recht hatte.<br />

"Hey Leute, hört <strong>auf</strong> damit", griff Ron ein. "Ihr habt beide aus euren<br />

Perspektiven gesehen Recht. Ist <strong>doc</strong>h immer so, oder, Menschen haben<br />

verschiedene Meinungen <strong>und</strong> sind stets überzeugt, ihre sei die einzig<br />

richtige ... weil sie die Argumente <strong>und</strong> Ansichten des anderen nicht<br />

nachvollziehen können. Sie haben eben einen anderen Charakter, eine<br />

andere Art, andere Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. Aber so wie<br />

ich <strong>das</strong> sehe, hat jeder die Berechtigung, er selbst zu sein, oder?" Er<br />

242


schaute die anderen unsicher an. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Hermine waren über seine<br />

Rede so verdutzt, <strong>das</strong>s sie ganz vergaßen, weiter zu streiten.<br />

Ron fuhr ermutigt fort. "Und deswegen ist es unsere Pflicht, den<br />

anderen als den zu akzeptieren, der er ist. Ihm die Freiheit zu geben,<br />

sein eigenes Leben zu führen."<br />

Für ein oder zwei Minuten sagte niemand etwas.<br />

Dann stand Hermine <strong>auf</strong>. "Ron", meinte sie, "<strong>das</strong> war <strong>das</strong><br />

Vernünftigste, was ich je von dir gehört habe." Sie schüttelte den Kopf<br />

<strong>und</strong> wandte sich <strong>Harry</strong> zu. "Lass uns <strong>das</strong> hier vergessen <strong>und</strong> unsere<br />

Standpunkte gegenseitig respektieren ", bot sie an <strong>und</strong> streckte die Hand<br />

aus.<br />

Er nickte <strong>und</strong> ergriff sie. Eins musste er aber noch wissen.<br />

"Hermine, wenn du den Tod für notwendig hälst, wieso bist du<br />

dann hier, um einen Toten zu retten?"<br />

Sie sah ihn ernst an.<br />

"Weil du mein Fre<strong>und</strong> bist", meinte sie nur. Verlegen schaute sie zu<br />

Ron. "Und jetzt lasst uns hier verschwinden, sonst kommen die<br />

Sicherheitszauberer wirklich noch an."<br />

Ohne sich noch mit anderen Sachen <strong>auf</strong>zuhalten, verließen sie die<br />

Büros <strong>auf</strong> die andere Seite hinaus (Hermine hatte <strong>das</strong> Pergament <strong>zur</strong>ück<br />

in den Sperrschrank gelegt <strong>und</strong> alles wieder so hergerichtet, <strong>das</strong>s<br />

niemand ihr Eindringen bemerken würde) <strong>und</strong> gelangten tatsächlich in<br />

den Zeitraum. Der große Schrank mit den Zeitumkehrern war<br />

verschw<strong>und</strong>en, wie <strong>Harry</strong> wusste, waren alle bei ihrem Kampf mit den<br />

Todessern kaputt gegangen. Er bedauerte es nicht.<br />

Wenige Sek<strong>und</strong>en später standen sie im Bogenraum, <strong>und</strong> diesmal<br />

war es der richtige: Mit mulmigem Gefühl stolperte <strong>Harry</strong> über die<br />

Steintreppen <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Podium, wo er mit Ron <strong>und</strong> Hermine eine Weile<br />

verharrte <strong>und</strong> wieder den starken Sog des matt in der Luft flatternden<br />

Schleiers spürte. Sein Verlangen, hindurchzugehen, stieg, wie damals,<br />

als seine Fre<strong>und</strong>e ihn nur schwer davon hatten abhalten können. Und<br />

nun wollten sie alle hinein.<br />

<strong>Harry</strong> atmete tief durch.<br />

"Bereit?", fragte Hermine unsicher. Er nickte. Sie wandte sich an<br />

Ron. "Fertig?"<br />

Er sagte nichts, sondern schaute den Bogen ängstlich an. <strong>Harry</strong><br />

verstand ihn. Zwar empfand er keine Furcht, aber ihm war mulmig zu<br />

Mute, da er keine Ahnung hatte, was sie <strong>auf</strong> der anderen Seite<br />

erwartete, noch, ob sie je <strong>zur</strong>ückkommen würden. Er wünschte, er hätte<br />

es den anderen beiden versprechen können.<br />

"Es ist nur", begann Ron langsam, "wir sind so überstürzt<br />

<strong>auf</strong>gebrochen, <strong>das</strong>s meine Familie – nun, wenn wir – wenn wir nicht<br />

wiederkommen, werden sie nicht wissen, was passiert ist."<br />

<strong>Harry</strong> fühlte sich elend.<br />

243


"Wenn du nicht möchtest, brauchst du nicht mitkommen", meinte<br />

er. "Und daran wäre auch nichts Feiges. Wir gehen wissentlich in den<br />

Tod ohne die Gewissheit, <strong>zur</strong>ückkommen zu können. Das ist verrückt.<br />

Ich würde es verstehen."<br />

Ron schüttelte heftig den Kopf. "Nein, Mann, ich komme natürlich<br />

mit. Ich frage mich nur, ob je jemand weiß, was mit uns geschehen ist."<br />

Hermine legte ihm den Arm <strong>auf</strong> die Schulter. "Ich habe einen Brief<br />

geschrieben", beruhigte sie ihn. "Ich dachte einfach, vorsichtshalber ...<br />

Ginny hat ihn. Sollten wir in einigen Tagen nicht <strong>zur</strong>ück sein, gibt sie ihn<br />

deinen Eltern, Dumbledore oder wer sonst über uns Bescheid wissen<br />

will."<br />

"Außerdem weiß Jamie, was wir vorhaben", fiel <strong>Harry</strong> ein. „Und die<br />

ganze DA …“<br />

Ron sah schon um einiges erleichterter aus.<br />

"Na dann, wor<strong>auf</strong> warten wir?", versuchte er, beschwingt zu wirken,<br />

was nicht ganz gelang. Jeder von ihnen hatte Angst, auch wenn sie es<br />

nicht zugaben, wie sie vor dem uralten, schwarzen Bogen standen, der<br />

<strong>das</strong> <strong>Tor</strong> zu einer anderen Welt markierte. Zu einer, in die niemand will,<br />

dachte <strong>Harry</strong>. Außer uns.<br />

Die mysteriösen, flüsternden Stimmen, von denen er mittlerweile<br />

wusste, <strong>das</strong>s sie von Toten stammten, beklemmten ihn. Er trat einen<br />

zögernden Schritt nach dem anderen in Richtung Bogen, bis er nur noch<br />

eine Handbreit davon entfernt war. Er spürte den zerschlissenen<br />

Schleier sein Gesicht berühren, eine gleichsam beruhigende wie Angst<br />

machende Erfahrung. Stärker denn je wisperten die Stimmen zu ihm,<br />

<strong>und</strong> er wusste, <strong>das</strong>s er sich ihnen nicht mehr entziehen konnte, dafür<br />

war es längst zu spät. Noch einmal drehte er sich zu Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

um.<br />

"Wir sehen uns gleich", murmelte er.<br />

Dann trat er durch den Bogen.<br />

244


KAPITEL DREIZEHN<br />

Im Feldlager<br />

Zuerst war es, als ginge er nur unter einem gewöhnlichen, alten<br />

Schleier hindurch. Der Stoff streifte über seinen Kopf, <strong>und</strong> auch wenn die<br />

flüsternden Stimmen immer näher zu kommen schienen, konnte <strong>Harry</strong><br />

nichts Ungewöhnliches feststellen. Er stürzte in keinen bodenlosen<br />

Schl<strong>und</strong>, keine Tür fiel hinter ihm zu <strong>und</strong> schloss ihn für immer in der<br />

<strong>Unterwelt</strong> ein, <strong>und</strong> er spürte auch kein Feuer, wie es in den<br />

Kindermärchen der Muggel immer hieß. Stattdessen fiel der Schleier<br />

nach hinten weg, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> überkam eine klamme Kälte, die ihn sogleich<br />

zittern ließ. Nachdem der Stoff seine Augen nicht mehr bedeckte,<br />

schaute er sich hektisch um, den Zauberstab erhoben, falls sich jemand<br />

in der Nähe befand. Er hatte nicht die blasseste Ahnung, was er erwartet<br />

hatte zu sehen. Doch was er wahrnahm, schien ihm irgendwie nicht in<br />

die <strong>Unterwelt</strong> zu passen: Dicker Nebel umschwaberte eine dunkle, kahle<br />

<strong>und</strong> menschenlose Landschaft, von der er freilich nicht viel sehen<br />

konnte. Kleine Kiesel bedeckten den feuchten Boden, <strong>und</strong> vor ihm verlief<br />

sich ein kleiner Trampelpfad in <strong>das</strong> <strong>und</strong>urchdringliche Grau. Die<br />

Stimmen waren mit einem Mal verschw<strong>und</strong>en, so<strong>das</strong>s sich eine fast<br />

unnatürliche Stille über ihn gelegt hatte.<br />

Nach Ron <strong>und</strong> Hermine suchend drehte er sich um. Der Bogen<br />

hinter ihm sah genauso aus wie der im Ministerium, nur <strong>das</strong>s er in einer<br />

ganz anderen Umgebung stand. <strong>Harry</strong> biss sich <strong>auf</strong> die Lippen <strong>und</strong><br />

schritt kurz entschlossen noch einmal durch den Schleier, nur um am<br />

anderen Ende wieder in der nebeligen, trostlosen Landschaft<br />

herauszukommen. Wie Hermine sagte, dachte er, für mich ist <strong>das</strong> jetzt<br />

ein stinknormaler <strong>Tor</strong>bogen. Ich bin in der <strong>Unterwelt</strong>, <strong>und</strong> hier geht es<br />

nicht mehr heraus.<br />

245


In dem Moment kamen Ron <strong>und</strong> Hermine fast gleichzeitig aus dem<br />

Bogen gestolpert <strong>und</strong> schlugen sofort die Arme um ihre Körper, als die<br />

eisige Kälte sie traf.<br />

"Wahnsinn", hauchte Ron <strong>und</strong> schaute sich ungläubig um. "Wir<br />

sind in der Hölle, stellt euch <strong>das</strong> mal vor!"<br />

"Nicht gerade bemerkenswert hier", kommentierte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong><br />

versuchte vergeblich, einen Himmel durch all den Nebel auszumachen.<br />

"Wo sind wir hier?", fragte Hermine.<br />

"Im Honigtopf", meinte Ron trocken. "Nicht zu übersehen."<br />

<strong>Harry</strong> lachte heiser, aber <strong>das</strong> Geräusch wirkte eher beängstigend<br />

als fröhlich. Der Nebel erstickte alle Töne <strong>und</strong> verzerrte sie zu etwas<br />

Unheimlichen.<br />

"Wir müssen Menschen finden", schlug Hermine vor. "Ich würde<br />

sagen, wir folgen dem Pfad, er wird bestimmt zu einer Ansiedlung<br />

führen. Und dort fragen wir, ob uns jemand <strong>auf</strong> der Suche nach Sirius<br />

helfen kann."<br />

"Und was, wenn es hier keine Menschen gibt?" Ron starrte<br />

skeptisch in die Nebelsuppe. "Das ist die <strong>Unterwelt</strong>, woher willst du<br />

wissen, ob die hier Ansiedlungen kennen, <strong>und</strong> vielleicht treffen wir <strong>auf</strong><br />

Teufel oder Hadesschlangen oder was weiß ich, was alles in den<br />

Märchen <strong>und</strong> Sagen geschrieben steht ..."<br />

"Du kannst auch hier stehen bleiben, bis der nächste Zauberer<br />

beschließt, durch den Bogen zu gehen", fauchte Hermine. "Ich jedenfalls<br />

gehe, denn was anderes fällt mir nicht ein."<br />

Als <strong>Harry</strong> sich zu dem Bogen umdrehen wollte, zuckte er<br />

zusammen.<br />

„Er ist weg!“, keuchte er. Wo gerade noch <strong>das</strong> unheimliche<br />

Bauwerk gestanden hatte, war nun nichts als Neben zu sehen.<br />

„Hier finden wir definitiv nicht <strong>zur</strong>ück“, meinte Hermine fest.<br />

So setzten sie sich in Bewegung, denn auch <strong>Harry</strong> wusste nichts<br />

Besseres, als dem Pfad zu folgen. Eine Weile liefen sie schweigend,<br />

frierend in der kalten Luft, bald durchnässt von dem feuchten Nebel. Er<br />

konnte nicht sagen, wie lange sie bereits unterwegs waren, als vor ihnen<br />

<strong>das</strong> Plätschern von Wasser zu hören war.<br />

"Da muss ein Fluss sein", murmelte er, <strong>und</strong> schon wenige Schritte<br />

später standen sie am schlammigen Ufer eines langsam fließenden<br />

Stromes mit trüb-braunem Wasser, in dem einige Algen <strong>und</strong> seltsame<br />

graue, schleimige Fische schwammen.<br />

"Ui, lecker", meinte Ron. "Da schwimmt ihr aber alleine durch."<br />

"Schaut, dort!", rief Hermine <strong>und</strong> deutete <strong>auf</strong> einen Punkt ein Stück<br />

fluss<strong>auf</strong>wärts. Dort befand sich ein b<strong>auf</strong>älliger, mit Algen verschmierter<br />

Steg, an dessen Ende ein kleines Boot im Wasser schaukelte. Und nicht<br />

nur <strong>das</strong>: In dem Boot saß ein Mann <strong>und</strong> schien mit aller Seelenruhe <strong>auf</strong><br />

sie zu warten.<br />

246


"Also ich habe <strong>das</strong> Wassertaxi nicht bestellt", stieß Ron in<br />

misstrauischem Ton hervor.<br />

"Ob der was von uns will?", fragte sich <strong>Harry</strong>.<br />

Hermine kniff die Augen zusammen. "Er macht den Eindruck, als<br />

würde er <strong>auf</strong> uns warten ..."<br />

"Hermine, <strong>das</strong> ist Blödsinn!", rief Ron. "Er konnte <strong>doc</strong>h gar nicht<br />

wissen, <strong>das</strong>s wir durch den Bogen gekommen sind. Wahrscheinlich<br />

angelt er nur ..."<br />

Das kam <strong>Harry</strong> aber äußerst unwahrscheinlich vor. Er musste<br />

insgeheim Hermine Recht geben, der Mann sah <strong>auf</strong> eine beunruhigend<br />

wissende <strong>und</strong> gleichzeitig entspannte Art zu ihnen hinüber, als erwarte<br />

er sie zum Nachmittagstee.<br />

"Gehen wir hin", wandte er sich an seine Fre<strong>und</strong>e. "Er wird uns<br />

zumindest sagen können, wo wir sind."<br />

So gingen sie am glitschigen Ufer entlang <strong>auf</strong> den Steg zu <strong>und</strong><br />

betraten die alten, löchrigen Planken. Alle drei hielten ihre Zauberstäbe<br />

bereit, falls sich der Bootsführer als feindselig herausstellen sollte.<br />

Wenigstens diese Befürchtung fiel von ihnen ab, als sie näher<br />

kamen: Der Mann war sehr alt, er wirkte fast gebrechlich in dem kleinen<br />

Boot, <strong>das</strong> mit zwei Rudern ausgestattet war.<br />

"Hallo?", sprach <strong>Harry</strong> ihn an.<br />

Das zerfurchte Gesicht, <strong>das</strong> seit Minuten jede ihrer Bewegungen<br />

genau verfolgt hatte, verzog sich zu einem Lächeln.<br />

"Hallo, mein Junge. Bereit für die große Fahrt?"<br />

<strong>Harry</strong> verstand nicht.<br />

"Was für eine Fahrt? Wir wollen nicht über den Fluss – na ja,<br />

vielleicht <strong>doc</strong>h, wir wissen im Moment noch gar nicht, wohin wir gehen<br />

müssen. Wir haben gehofft, sie würden uns helfen –"<br />

"Oh, <strong>das</strong> tue ich, dafür bin ich da", unterbrach ihn der Alte immer<br />

noch lächelnd. "Ich bringe euch über den großen Fluss, <strong>das</strong> ist mein<br />

Job."<br />

"Nein, nein!", schüttelte <strong>Harry</strong> ungeduldig den Kopf. "Sie können<br />

<strong>doc</strong>h gar nicht wissen, wohin wir wollen. Sagen Sie, wo befinden wir uns<br />

gerade?"<br />

"In der <strong>Unterwelt</strong>, mein Junge", antwortete der Fährmann ruhig.<br />

"Ja, <strong>das</strong> ist schon klar", schaltete sich nun Hermine ein. "Aber<br />

sehen Sie, wir suchen einen Fre<strong>und</strong> von uns, <strong>und</strong> es wäre nett, wenn Sie<br />

uns sagen könnten, wo wir genau sind!"<br />

"In der <strong>Unterwelt</strong>", meinte der Alte stoisch <strong>und</strong> nun etwas verwirrt.<br />

"In der <strong>Unterwelt</strong> ist es egal, wo man ist."<br />

"Wie egal? Wo sind die anderen Toten?", fragte <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>gebracht.<br />

Dieser Ort wurde ihm immer unheimlicher. Die Kälte laugte ihn aus, er<br />

wollte Sirius finden <strong>und</strong> so schnell wie möglich wieder umkehren.<br />

247


"Auf der anderen Seite des Flusses", meinte der Fährmann. "So<br />

wie alle, die den Weg in die Welt der Toten beschreiten. Und meine<br />

Aufgabe ist es, sie über den Fluss zu begleiten. Also steigt ein."<br />

"Woher wussten sie eigentlich, <strong>das</strong>s wir kommen?" Ron schaute<br />

misstrauisch in <strong>das</strong> Boot, als würde dort die Antwort liegen.<br />

"Ich weiß immer, wann jemand die Welt der Lebenden verlässt<br />

<strong>und</strong> wo er die hiesige betritt", zuckte der Alte nur mit den Schultern.<br />

"Auch wenn relativ selten Kinder dabei sind. Kommt, macht es euch<br />

bequem."<br />

Bequem war ein Wort, mit dem <strong>Harry</strong> andere Dinge assoziierte als<br />

zu viert in einem engen, schmutzigen Holzboot gequetscht zu sitzen <strong>und</strong><br />

über einen unheimlichen, düsteren Fluss zu fahren, aber zumindest<br />

hatten sie alle Platz. Sobald sie saßen, stieß der Alte <strong>das</strong> Boot vom<br />

Anlegesteg ab <strong>und</strong> tauchte die Ruder in <strong>das</strong> trübe Wasser des Flusses.<br />

Das andere Ufer war durch den Nebel nicht zu sehen.<br />

Ron erzitterte. "Ich hätte nicht gedacht, <strong>das</strong>s es in der <strong>Unterwelt</strong> so<br />

kalt ist", maulte er. "Da wäre mir ein schönes gemütliches Höllenfeuer<br />

<strong>doc</strong>h lieber."<br />

"Wir haben Oktober, was habt ihr denn gedacht?", lachte der Alte,<br />

der langsam, aber stetig die Ruder durch die Fluten zog.<br />

"Hier unten gibt es Jahreszeiten?", fragte <strong>Harry</strong> überrascht.<br />

"Natürlich, warum nicht? Im Gr<strong>und</strong>e ist es hier nicht viel anders als<br />

in der Welt der Lebenden. Nur haben alle viel mehr Zeit. Es gibt keine<br />

Vergänglichkeit."<br />

Er schüttelte sich. "Und vor ein paar Tagen haben wir einen<br />

richtigen Herbsteinbruch gehabt, allerdings soll es laut Voraussage<br />

morgen schon wieder besser werden."<br />

<strong>Harry</strong> schwirrte der Kopf. Es gab in der <strong>Unterwelt</strong><br />

Wettervorhersagen?<br />

"Ihr sucht also einen Fre<strong>und</strong>?", fragt der Alte sie fre<strong>und</strong>lich.<br />

"Ja", meinte <strong>Harry</strong> ohne große Lust, ihr Vorhaben einem Fremden<br />

anzuvertrauen. "Er ist vor einigen Monaten gestorben, <strong>und</strong> nun möchten<br />

wir ihn wieder sehen."<br />

Der alte Mann nickte verständnisvoll. "Vielen, die hierher kommen,<br />

ergeht es ähnlich. Jeder sucht einen Bruder, die Eltern, einen Fre<strong>und</strong> ...<br />

Wenn sie erst einmal realisiert haben, <strong>das</strong>s sie tot sind, denken sie<br />

zuallererst an bereits verschiedene Verwandte oder Bekannte."<br />

"Ja, nur suchen wir unseren Fre<strong>und</strong>, um mit ihm wieder in die Welt<br />

der Lebenden zu gehen", meinte Ron arglos.<br />

Die Ruder klatschten ins Wasser, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Boot stoppte.<br />

"Zurückkehren wollt ihr?" Der Alte schaute sie vollkommen<br />

überrumpelt an.<br />

<strong>Harry</strong> nickte nur.<br />

248


Der Alte fing laut an zu lachen <strong>und</strong> schaffte es eine Minute lang<br />

nicht, wieder <strong>auf</strong>zuhören. <strong>Harry</strong> hätte ihm am liebsten durchgeschüttelt,<br />

<strong>und</strong> nach Rons Miene zu urteilen, erging es ihm ähnlich.<br />

Dann wurde er wieder ruhig.<br />

"Ihr könnt nicht <strong>zur</strong>ück", meinte er schlicht.<br />

Wider besseres Wissen ließ sich <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> eine Diskussion ein.<br />

"Wieso nicht?"<br />

"Weil ihr tot seid, verdammt! Das soll nicht unhöflich klingen, aber<br />

es ist die Wahrheit, akzeptiert sie."<br />

"Wir sind NICHT tot", beharrte <strong>Harry</strong>. Ron nickte zustimmend. "Wir<br />

sind durch den Bogen in diese Welt gekommen – aber gestorben sind<br />

wir nicht, sind nicht tödlich verletzt oder krank gewesen oder ähnliches."<br />

Nun schaute der Alte sie neugierig an, während er <strong>das</strong> Rudern<br />

wieder <strong>auf</strong>genommen hatte.<br />

"Nicht tot? Mmm, vor einigen Jahrh<strong>und</strong>erten hatten wir schon<br />

einmal jemanden, der ebenfalls durch den Bogen kam <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

behauptete. War ein wenig begriffsstutzig <strong>und</strong> wollte nicht wahrhaben,<br />

<strong>das</strong>s er in der Welt der Toten ist. Armer Kerl."<br />

"Und was ist mit ihm passiert?", fragte <strong>Harry</strong> schnell.<br />

"Na, was wohl, er ist noch hier", zuckte der alte Mann die<br />

Schultern. "Man kann nicht mehr von hier weg. Kinder, kapiert es, ihr<br />

seid in der <strong>Unterwelt</strong>! Leute, die sterben, kommen hierher, aber es gibt<br />

keine Möglichkeit, den Prozess umzukehren."<br />

Entgeistert sank <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong> die harte Holzbank <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> starrte in<br />

Hermines <strong>und</strong> Rons bleiche Gesichter. "Aber ...", stammelte er, "wir<br />

haben von jemandem gehört, der durch den Bogen in unsere Welt<br />

<strong>zur</strong>ückgekehrt ist – der Hexer von Hexham, den müssen Sie <strong>doc</strong>h<br />

kennen!"<br />

"Nie gehört", winkte der Alte ab. "Ich weiß nicht, was die Leute<br />

machen, nachdem ich sie übergesetzt habe. Gehen ihren eigenen Weg,<br />

führen ihr eigenes Dasein. Ich betrete die Ufer nie."<br />

Hoffnungsvoll beugte er sich vor. "Ihr habt nicht zufällig ein kleines<br />

Trinkgeld dabei? Seht ihr, die Überfahrt ist nicht gebührenpflichtig, aber<br />

gegen eine Erkenntlichzeigung hätte ich nichts einzuwenden. Früher war<br />

<strong>das</strong> anders, die alten Griechen wussten, was Höflichkeit ist ... hatten alle<br />

eine Münze für mich dabei, wenn ihre Zeit gekommen war <strong>und</strong> sie am<br />

Ufer standen."<br />

<strong>Harry</strong> hatte keine Ahnung, von was der Alte sprach, aber Hermine<br />

klatschte sich mit der Hand <strong>auf</strong> die Stirn. "Natürlich!", rief sie <strong>auf</strong>geregt<br />

<strong>und</strong> begann in ihrer Tasche zu kramen. "Das ist der Totenfluss, <strong>und</strong><br />

jeder, der darüber fährt braucht eine Münze für den Fährmann ..." Sie<br />

schaute <strong>auf</strong>. "Also für Sie."<br />

"Brauchen nicht, aber wie gesagt, nett wäre es ..."<br />

249


Hermine reichte dem Alten eine goldene Galleone, die er dankend<br />

annahm.<br />

"Die gebe ich einem Fre<strong>und</strong>, er k<strong>auf</strong>t mir dafür ab <strong>und</strong> an ein wenig<br />

Tabak, ich darf ja nicht an Land gehen."<br />

<strong>Harry</strong> war zu erschöpft <strong>und</strong> erschlagen von dieser Welt, um sich zu<br />

w<strong>und</strong>ern, <strong>das</strong>s man im Reich der Toten auch Dinge k<strong>auf</strong>en konnte <strong>und</strong><br />

starrte nur trübsinnig in den Nebel. Was, wenn sie tatsächlich nicht mehr<br />

von hier wegkamen?<br />

"Bald sind wir da", kündigte der Fährmann an. "Ihr l<strong>auf</strong>t einfach die<br />

Pfade entlang, dann kommt ihr in eure Zeit."<br />

"In unsere Zeit?", fragte <strong>Harry</strong> verwirrt.<br />

"Klar. Alle, die sterben, haben ihre eigene Zeit. Oder glaubt ihr, die<br />

alten Ägypter würden gerne mit Jungvolk wie euch Neuzeitlichen<br />

zusammenwohnen? Ihr könntet euch nicht einmal verständigen. Auch<br />

wenn natürlich mittlerweile die meisten wenigstens Englisch<br />

beherrschen, ist die einfachste <strong>und</strong> gängigste Sprache der Menschen ..."<br />

<strong>Harry</strong> fühlte sich Minute mehr wie in einem Irrenhaus. Altägypter,<br />

die Englisch konnten ... eigene Zeiten ... wir finden hier nie wieder raus,<br />

dachte er niedergeschlagen.<br />

"Folgt nur den Wegen, dann kommt ihr in <strong>das</strong> Zeitalter, in <strong>das</strong> ihr<br />

gehört. Die anderen sind sowieso sehr weit entfernt, ich brauche sie<br />

nicht mehr anzusteuern, es stirbt ja niemand mehr aus diesen Zeiten.<br />

Ach, da ist <strong>das</strong> Ufer."<br />

Etwa h<strong>und</strong>ert Meter entfernt schälte sich ein Landsteg aus dem<br />

etwas lichter gewordenen Nebel, als sie plötzlich von rechts ein lautes<br />

Getöse hörten.<br />

Entsetzt fuhr der Alte herum. "Oh nein, nicht schon wieder! Die<br />

letzte hatten wir <strong>doc</strong>h erst vor dreih<strong>und</strong>ert Jahren!"<br />

"Die letzte was?", rief <strong>Harry</strong> panisch. Das ohrenbetäubende Grollen<br />

schien ihm eine gewaltige Kraft anzukündigen, die direkt <strong>auf</strong> dem Weg<br />

zu ihnen war.<br />

"Eine Sturmwelle", erklärte der Alte bedrückt. "Alle paar Zeitalter<br />

fegt sie den Fluss entlang <strong>und</strong> bringt alles durcheinander."<br />

"Aber was können wir tun? Werden wir kentern?", fragte Hermine<br />

ängstlich. Die Aussicht, in dem trüben Wasser von einer Riesenwelle<br />

erdrückt zu werden, war wenig verlockend. Plötzlich fragte sich <strong>Harry</strong>, ob<br />

sie denn sterben konnten – ging <strong>das</strong>, obwohl sie schon in der <strong>Unterwelt</strong><br />

waren?<br />

"Tun? Mein liebes Mädchen, da kann man gar nichts tun, nur<br />

ausharren!"<br />

Zwei Sek<strong>und</strong>en später brach aus dem Nebel eine gigantische<br />

Flutwelle hervor <strong>und</strong> riss sie mit sich. <strong>Harry</strong> sah <strong>und</strong> hörte nichts mehr<br />

außer dem Wasser, <strong>das</strong> <strong>das</strong> kleine Boot mit sich schleuderte wie ein<br />

Blatt im Wind. Er klammerte sich verzweifelt an die Reling, knallte mit<br />

250


dem Kopf mehrmals gegen den Holzboden <strong>und</strong> glaubte, zu ersticken, als<br />

die Flut ihn unter die Oberfläche drückte. Mit zusammengekniffenen<br />

Augen krallte er sich am Holz fest, so gut es ging <strong>und</strong> versuchte einfach,<br />

durchzuhalten. Die Welle je<strong>doc</strong>h schien <strong>das</strong> wehrlose Boot nicht mehr<br />

hergeben zu wollen <strong>und</strong> trieb sie ab, bis <strong>Harry</strong> nicht mehr zu sagen<br />

vermochte, ob es noch andere Dinge <strong>auf</strong> der Welt gab außer Wasser,<br />

Wind <strong>und</strong> nasses Holz. Dann wurde er ohnmächtig.<br />

Ein Zischen in seinem Ohr weckte ihn. Wild um sich schlagend<br />

versuchte er, sich vor einer schwarzen, großen Gestalt zu verteidigen,<br />

bis er feststellte, <strong>das</strong>s diese Gestalt Ron war, der sich zu ihm<br />

hinabbeugte.<br />

"Hey Mann, alles in Ordnung?", fragte er verwirrt, als <strong>Harry</strong><br />

seufzend die Arme fallen ließ.<br />

"Ja", atmete er mit klopfenden Herzen durch <strong>und</strong> sah sich um. "Wo<br />

ist Hermine?"<br />

"Hier!“, hörte er ihre Stimme hinter sich. Er drehte sich um <strong>und</strong><br />

erblickte sie <strong>auf</strong> einem zugewachsenen Trampelpfad, der sich im<br />

Gebüsch verlor. Erstaunt registrierte er, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wetter bedeutend<br />

besser geworden war; der Nebel war verschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> offenbarte eine<br />

karge, mit hartem Gras bewachsene offene Landschaft, die von sanften<br />

Hügeln durchzogen war. Wolken bedeckten den Himmel, aber dann <strong>und</strong><br />

wann rissen sie <strong>auf</strong> <strong>und</strong> ließen die Sonne wärmend <strong>auf</strong> sie hinab<br />

scheinen. <strong>Harry</strong> verschwendete erst gar keine Zeit damit, sich zu fragen,<br />

wie es denn in der <strong>Unterwelt</strong> eine Sonne geben konnte. Scheinbar ging<br />

es.<br />

"Wo sind wir?" Das war die entscheidende Frage.<br />

Ron zuckte mit den Schultern.<br />

"Keine Ahnung, ich bin eben gerade <strong>auf</strong>gewacht – habe einen<br />

Schlag von dem Boot abbekommen."<br />

"Das Boot! Wo ist es?" <strong>Harry</strong> schaute in alle Richtungen. Links von<br />

ihnen lag der Fluss, also waren sie am anderen Ufer gestrandet. Von<br />

einem Boot war aber keine Spur zu sehen.<br />

"Ich weiß nicht", erwiderte Hermine, die nun zu ihnen trat. Genau<br />

wie er <strong>und</strong> Ron war sie durchnässt, ihr Umhang hing nass um ihre Beine.<br />

"Ich habe den alten Mann seit dem Ausbruch des Unwetters nicht mehr<br />

gesehen."<br />

"Ist auch egal, wir sind am richtigen Ufer", meinte Ron. "Nun lasst<br />

uns "unsere Zeit" finden, was immer <strong>das</strong> auch ist."<br />

Hermine machte ein bedrücktes Gesicht. "Es gibt Schwierigkeiten",<br />

erklärte sie in einem seltsamen Ton.<br />

Sie erzählte, wie sie den Trampelpfad ein Stück entlang gegangen<br />

war. "Die Landschaft hier erinnert mich an nichts, was ich in unserer Welt<br />

251


isher gesehen habe. Auch wenn ich es nur ungern sage, aber ich<br />

glaube, wir haben uns verirrt."<br />

"Unsinn", widersprach <strong>Harry</strong> in dem Versuch, sich nicht verrückt<br />

machen zu lassen. "Woher sollen wir wissen, wie es hier aussieht,<br />

vielleicht ist <strong>das</strong> die Gegend, die Verstorbene aus unserer Zeit<br />

bewohnen."<br />

Die waldlosen Hügel <strong>und</strong> <strong>das</strong> braune Gras schienen ihm Hohn zu<br />

sprechen.<br />

"Lasst uns gehen", schlug er vor. "Irgendwo gibt es hier sicher<br />

Menschen."<br />

Bedächtig setzten sie sich in Bewegung, nach allen Seiten<br />

spähend, um keine unliebsame Überraschung zu erleben. Die Gegend<br />

schien je<strong>doc</strong>h ausgestorben zu sein, der kleine Weg wand sich zwischen<br />

sanften Hügeln durch die Steppe hindurch. Am Horizont war von weitem<br />

ein riesiges Gebirge zu sehen.<br />

"Ich frage mich, wie die Toten so leben", sinnierte Ron <strong>und</strong> kickte<br />

einen kleinen Stein aus dem Weg. "Ich meine, müssen sie essen <strong>und</strong><br />

trinken? Können sie sich verletzten?"<br />

"Weiß nicht", meinte <strong>Harry</strong> erschöpft. Er war zu müde, um noch viel<br />

nachdenken zu können.<br />

"Schaut mal, da vorne ist jemand!", flüsterte Hermine plötzlich.<br />

<strong>Harry</strong> riss sich zusammen <strong>und</strong> richtete den Blick in die Richtung, in die<br />

sie zeigte. Richtig, eine große Staubwolke näherte sich ihnen, die<br />

scheinbar von den Hufen vieler Pferde verursacht wurde.<br />

"Wer ist <strong>das</strong>?" Ron versuchte, sich zu ducken, aber es war längst<br />

zu spät; die Reiter hatten sie gesichtet.<br />

Hermine verdrehte die Augen. "Sehe ich so aus, als wüsste ich<br />

<strong>das</strong>? Jedenfalls niemand, den ich kenne."<br />

Das war bald festzustellen. Die in mörderischem Tempo näher<br />

preschenden Reiten ähnelten keinen Menschen, die <strong>Harry</strong> je gesehen<br />

hatte: Sie trugen lange, aus dickem Material bestehende Umhänge in<br />

bunten Farben, <strong>und</strong> ihre ziemlich kleinen <strong>und</strong> struppigen Pferde waren<br />

prächtig mit goldenem Zaumzeug geschmückt. Was <strong>Harry</strong> am meisten<br />

beunruhigte, waren je<strong>doc</strong>h die langen Speere, die die Reiter in den<br />

Händen hielten <strong>und</strong> die ausnahmslos <strong>auf</strong> sie gerichtet waren.<br />

Ohne viel ausrichten zu können, waren sie bald dar<strong>auf</strong> von den<br />

fremdartigen Menschen umringt, die Zauberstäbe in der Hand. Doch was<br />

könnten sie gegen so viele schon ausrichten?<br />

Der Reiter <strong>auf</strong> dem größten Pferd, einem gescheckten Hengst,<br />

gekleidet in einen besonders <strong>auf</strong>fälligen Mantel, starrte sie aus bösen,<br />

dunklen Augen an <strong>und</strong> sagte etwas in einer Sprache, die <strong>Harry</strong> an Troll<br />

erinnerte.<br />

"Wir verstehen Sie leider nicht", sagte Hermine fest, auch wenn<br />

<strong>Harry</strong> ihre leicht zitternde Hand durchaus bemerkte.<br />

252


Leider auch ihr Gegenüber. "Engländer", presste er in einem<br />

enorm schwer verständlichen <strong>und</strong> mit einem <strong>Harry</strong> völlig unbekannten<br />

Akzent versehenen Englisch heraus. Es folgte ein hinterlistiges Grinsen.<br />

"Ihr habt euch wohl verl<strong>auf</strong>en, was?" Seine Männer lachten siegesfroh.<br />

"Na, wenn <strong>das</strong> keine vorzüglichen Sklaven sind ... Meine Gattin wird sich<br />

freuen, die letzten zwei sind vor drei Tagen gestorben."<br />

<strong>Harry</strong> fragte lieber nicht, woran. An zu guter Behandlung sicher<br />

nicht.<br />

"Und <strong>das</strong> Mädchen würde ich gerne für mich behalten", stierte er<br />

Hermine lüstern an. "Eine kleine Britin nur für mich ... <strong>das</strong> versüßt einem<br />

<strong>doc</strong>h gleich den Tag!" Er lachte schallend, <strong>und</strong> Ron sprang vor Hermine,<br />

den Zauberstab <strong>auf</strong> den Anführer gerichtet.<br />

"Wag es nicht, sie an<strong>zur</strong>ühren!", schrie er.<br />

Bevor einer von ihnen auch nur eine Bewegung machen konnte,<br />

hatte der Anführer Ron den Zauberstab mit dem Speer aus der Hand<br />

geschlagen.<br />

"Oh, ein Zauberer, in der Tat", höhnte er. "Mit solchen wie dir<br />

können wir gut umgehen, keine Angst." Er nickte einem seiner Männer<br />

zu, der sogleich vom Pferd sprang <strong>und</strong> Ron schnappte, ehe <strong>Harry</strong> etwas<br />

unternehmen konnte. Diese Reiter waren unglaublich schnell. Ron wand<br />

sich, kam aber nicht frei.<br />

"Sollte einer von euch Mucken machen, stirbt euer Fre<strong>und</strong>", sagte<br />

der Anführer kalt. "Und nun gebt uns eure Zauberstäbe."<br />

<strong>Harry</strong> konnte es nicht fassen. Da befanden sie sich etwa eine<br />

St<strong>und</strong>e in der <strong>Unterwelt</strong> <strong>und</strong> wurden gleich von wilden<br />

Steppenbewohnern entführt. Und er konnte nichts unternehmen, wenn er<br />

Ron nicht in Gefahr bringen wollte.<br />

Wütend <strong>und</strong> vor Hass bebend streckte er seinen Zauberstab einem<br />

der widerwärtigen, dreckigen Burschen entgegen, der ihn grinsend<br />

nehmen wollte, als ein Pfeil durch die Luft segelte, <strong>Harry</strong> mit einem<br />

scharfen Zischen streifte <strong>und</strong> passgenau in der Brust des Reiters sein<br />

Ziel fand.<br />

"Runter!", schrie er <strong>und</strong> ließ sich fallen, während er neben sich<br />

Hermine <strong>und</strong> Ron hörte, die sich ebenfalls <strong>auf</strong> den Boden stürzten. Ein<br />

weiterer Pfeilhagel schoss <strong>auf</strong> sie nieder, der allerdings wie in Absicht<br />

nur die Reiter zu treffen schien.<br />

Der Anführer hatte sein widerwärtiges Grinsen verloren, seine<br />

Miene war nur noch von Abscheu <strong>und</strong> Enttäuschung verzerrt. Seine<br />

Gefangenen hatte er völlig vergessen.<br />

"Die Schwadron ist im Anmarsch!", stieß er hervor, wendete<br />

ruckartig sein wieherndes Pferd <strong>und</strong> gab Befehle in der trollartigen<br />

Sprache. <strong>Harry</strong>, immer noch <strong>auf</strong> den Boden gedrückt, sah, wie die<br />

Steppenreiter eine Angriffslinie bildeten <strong>und</strong> ihre Schilder vor sich<br />

253


hielten, die Speere <strong>auf</strong> etwas gerichtet, <strong>das</strong> sich in seinem Rücken<br />

befand. Von Panik ergriffen wagte er einen Blick <strong>zur</strong>ück.<br />

Was er sah, überzeugte ihn endgültig davon, in der Hölle<br />

angekommen zu sein: Ein riesiges, wildes, scheinbar ungezähmt<br />

galoppierendes Pferd, schwarz wie die Nacht, preschte mit gewaltigen<br />

Sprüngen <strong>auf</strong> sie zu. Erst glaubte <strong>Harry</strong>, <strong>das</strong> Tier stürmte ganz alleine<br />

über die Steppe, dann aber registrierte er einen Reiter, der sich dicht<br />

über der Mähne des Rappen hielt, in der einen Hand die Zügel, in der<br />

anderen ein langes Schwert hoch erhoben <strong>und</strong> <strong>auf</strong> die Steppenreiter<br />

gerichtet. Hinter ihm folgten zwei Dutzend andere Reiter, genau wie er<br />

im Gegensatz zu den wilden Steppenreitern <strong>auf</strong> ihren Ponys <strong>auf</strong> großen<br />

Schlachtrössern sitzend.<br />

<strong>Harry</strong> wollte sich Ron <strong>und</strong> Hermine schnappen <strong>und</strong> schnell<br />

verschwinden, <strong>doc</strong>h da hatten sie die angreifenden Reiter bereits<br />

erreicht <strong>und</strong> fegten ohne ihr Tempo zu verlangsamen an ihnen vorbei<br />

<strong>und</strong> in die Schlachtreihe der Steppenreiter hinein, mit denen sie ein<br />

hartes Gefecht begannen. Das Klirren von Schwertern zusammen mit<br />

dem schnaubenden Wiehern der Pferde mischte sich mit Schreien von<br />

sterbenden Männern, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> war froh, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Gemetzel bald von<br />

einer <strong>auf</strong>gewirbelten Staubwolke verdeckt wurde.<br />

Er suchte Hermines <strong>auf</strong>geschreckten Blick <strong>und</strong> gab ihr <strong>und</strong> Ron zu<br />

verstehen, <strong>das</strong>s sie sich wegschleichen sollte. Geduckt entfernten sie<br />

sich von dem Kampfgetümmel <strong>und</strong> hatten bald einen kleinen Abstand<br />

zwischen sich <strong>und</strong> die verfeindeten Reitern gebracht.<br />

"Puh, <strong>das</strong> war knapp", seufzte Ron. "Wer die wohl sind?"<br />

Hermine sah ratlos aus. "Irgendwelche wilden Stämme, vermute<br />

ich." Sie sah verzweifelt in die Gegend <strong>und</strong> sprach aus, was <strong>Harry</strong><br />

bereits seit einiger Zeit schwante. "Auf jeden Fall ist <strong>das</strong> hier nicht<br />

unsere Zeit."<br />

Verloren standen sie zwischen den Hügeln in dem wogenden,<br />

hohen, vertrockneten Gras <strong>und</strong> wussten nicht, wohin sie gehen sollten.<br />

"Na, wenigstens sind wir die Ritter los", brummte Ron <strong>und</strong> klopfte<br />

sich Staub vom Umhang.<br />

"Das würde ich nicht so sagen", meinte <strong>Harry</strong> düster, denn gerade<br />

hatte sich der Dunst über dem Schlachtfeld gelegt, <strong>und</strong> es wurde<br />

ersichtlich, <strong>das</strong>s die neu hinzugekommenen Reiter gesiegt hatten: Die<br />

übrig gebliebenen Steppenreiter <strong>auf</strong> ihren kleinen Pferden flüchteten in<br />

die endlose Grasebene hinaus, sie hatten wohl eingesehen, <strong>das</strong>s sie<br />

ihren Angreifern hoffnungslos unterlegen waren. Die Sieger je<strong>doc</strong>h<br />

verfolgten sie nicht, sondern wendeten ihre mit Staub <strong>und</strong> Blut<br />

bedeckten Pferde <strong>und</strong> galoppierten <strong>auf</strong> dem Weg <strong>zur</strong>ück, den sie<br />

gekommen waren – genau <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine zu.<br />

"Weg hier!", schrie <strong>Harry</strong> erschrocken <strong>und</strong> packte Hermine am<br />

Ärmel. Freilich rannte er nur aus Instinkt, ihm war längst klar, <strong>das</strong>s sie<br />

254


gegen die Schlachtrösser keine Chance haben würden. Seine Lunge<br />

brannte, während er über Grashügel <strong>und</strong> kleine Löcher sprang. Plötzlich<br />

erhob sich direkt vor ihm ein gewaltiger Schatten aus schlagenden Hufen<br />

<strong>und</strong> schnaubendem Grunzen, der ihn zwang, aus dem L<strong>auf</strong> heraus<br />

schlagartig anzuhalten. Er taumelte, stolperte <strong>und</strong> knallte direkt in Ron<br />

hinein, mit dem er zusammen in <strong>das</strong> weiche, hohe Gras fiel.<br />

"<strong>Harry</strong>, Ron!", quiekte Hermine <strong>und</strong> versuchte, ihnen hoch zu<br />

helfen. Erstarrt standen alle drei vor dem großen, schwarzen Pferd, <strong>das</strong><br />

<strong>Harry</strong> vorhin schon <strong>auf</strong>gefallen war, er brauchte nur die Hand<br />

auszustrecken, um es an den Nüstern zu berühren. Die weit<br />

<strong>auf</strong>gerissenen Augen des Tieres, <strong>das</strong> mit Blut bedeckte Fell <strong>und</strong> die<br />

nervös scharrenden Hufe hielten ihn dabei noch am wenigsten ab, es<br />

war eher sein Reiter, der nun hoch <strong>auf</strong>gerichtet im Sattel saß, <strong>das</strong> vor<br />

Blut triefende Schwert in der Hand.<br />

Klasse, dachte <strong>Harry</strong>, wenn es einen Menschen gibt, der noch<br />

Furcht einflößender wirkt als der Steppenreiter, dann dieser.<br />

"<strong>Harry</strong>", hörte er Ron neben sich wispern, sich erst gar keine Mühe<br />

gebend, den ängstlichen Unterton zu verbergen.<br />

<strong>Harry</strong> trat entschlossen vor <strong>und</strong> erhob seinen Zauberstab gegen<br />

den Reiter des schwarzen Pferdes. Er war sich durchaus dessen<br />

Gefährten bewusst, die zu etwa zwei Dutzend Stellung um sie bezogen<br />

hatten. Dennoch sagte er fest: "Wenn Sie uns versklaven wollen, dann<br />

müssen Sie uns schon töten." Seine Stimme zitterte leicht, weswegen er<br />

innerlich fluchte.<br />

"Versklaven?", fragte der Reiter mit etwas, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> fast<br />

ungläubig als Erstaunen identifizierte. "Warum sollte ich euch versklaven<br />

wollen? Ihr scheint mir kein immenses Reich zu besitzen, <strong>das</strong> ich<br />

erobern könnte, was also hätte ich von eurer Gefangenschaft?" Sein<br />

Englisch klang besser als <strong>das</strong> des Steppenreiters, wenn auch mit einem<br />

seltsamen Akzent behaftet.<br />

"Sie wollen uns nicht – verschleppen?", erk<strong>und</strong>igte sich Hermine<br />

zaghaft.<br />

"Nein!", lachte der Reiter <strong>und</strong> sprang nun von seinem Pferd. Er trug<br />

eine silberne Rüstung, die allerdings zum Großteil mit Blut bespritzt war.<br />

Sein Schwert befestigte er am Sattel, dann nahm er seinen mit Federn<br />

geschmückten Helm ab.<br />

Was immer <strong>Harry</strong> auch erwartet hatte, es war sicher nicht <strong>das</strong>, was<br />

er nun erblickte: Der Reiter war noch jung, vielleicht Ende zwanzig oder<br />

Anfang dreißig, hatte ein schmales, recht hübsches Gesicht, blau-grüne<br />

Augen <strong>und</strong> dunkelblonde Haare. Außerdem war er überraschend klein,<br />

sogar ein paar Zentimeter kleiner als <strong>Harry</strong>, der selbst nicht zu den<br />

Größten seines Alters gehörte.<br />

255


Er nickte <strong>Harry</strong> zu. "Ich lade dich <strong>und</strong> deine Fre<strong>und</strong>e ein, in mein<br />

Lager zu kommen, dort wird man euch zu essen <strong>und</strong> trinken geben. Ihr<br />

seht mitgenommen aus."<br />

<strong>Harry</strong> kam es komisch vor, diese Worte von jemandem zu hören,<br />

der selbst aussah, als hätte man ihn im Blut ertränkt, wusste aber nicht<br />

viel anderes zu tun als zu nicken.<br />

"Vielleicht ist <strong>das</strong> eine Falle!", zischte ihm Ron zu.<br />

"Falle?", grinste der Reiter. "Ich stelle seit tausenden von Jahren<br />

keine Fallen mehr, <strong>das</strong> lohnt sich nicht, wenn man tot ist. Hier kann man<br />

nicht sterben."<br />

Hermine blickte skeptisch zu den tot wirkenden Steppenreitern<br />

<strong>zur</strong>ück, die in ihren eigenen Blutlachen regungslos am Boden lagen.<br />

"Ach die, die wachen beim nächsten Tagesanbruch wieder <strong>auf</strong>, als<br />

wäre nichts gewesen. Ist mir selbst viele Male so ergangen. Wie gesagt,<br />

wir sind tot, was soll schon noch passieren?"<br />

Dann trat er näher an <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine heran <strong>und</strong> fixierte<br />

sie mit einem stechenden Blick. Von ihm ging etwas aus, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> am<br />

ehesten mit ungeheurer Macht beschreiben konnte, ein Charisma, <strong>das</strong><br />

ihn völlig in den Bann schlug.<br />

"Ich spüre in eurer Gegenwart etwas Eigenartiges", meinte er mit<br />

leicht schief gelegtem Kopf. "Ihr seid nicht wie die anderen Toten."<br />

"Nein, weil wir nicht tot sind", erklärte <strong>Harry</strong>. Wenn ihnen in dieser<br />

absurden Welt jemand helfen konnte, dann war <strong>das</strong> dieser Mann,<br />

jedenfalls war die Chance, beim nächsten Mal wieder an einen<br />

mordlüsternen Wilden zu geraten, ihm zu hoch. "Wir sind nur in die<br />

<strong>Unterwelt</strong> gekommen, um jemanden zu suchen."<br />

Sein Gegenüber strahlte, als hätte <strong>Harry</strong> ihm eine äußerst<br />

erfreuliche Neuigkeit überbracht. "Außergewöhnlich! Davon habe ich<br />

noch nie gehört. Ihr müsst unbedingt mit mir kommen <strong>und</strong> mir alles<br />

erzählen. Ich werde ein Fest zu euren Ehren geben."<br />

Ein Fest in dieser Einöde?<br />

"Und was soll es da geben? Hartes Gras?", flüsterte ihm Ron ins<br />

Ohr. "Mann, ich will lieber von hier verschwinden als mitten in der Wüste<br />

ein ominöses Festessen abzuhalten."<br />

Auch wenn der Reiter diese Worte glücklicherweise nicht gehört zu<br />

haben schien, unterstrich er seine Einladung noch einmal. "Mein Lager<br />

befindet sich drei St<strong>und</strong>en von hier entfernt, dort findet ihr alles, was man<br />

nur suchen könnte. Ist <strong>das</strong> in Ordnung?<br />

<strong>Harry</strong> nickte.<br />

"Dann kommt, die Sonne geht bald unter!"<br />

Er sprang <strong>auf</strong> sein schwarzes Ross, <strong>das</strong> er, wie <strong>Harry</strong> registrierte,<br />

ohne Steigbügel ritt.<br />

"Nehmt einige der Pferde dort", schlug der Reiter vor, <strong>und</strong> es klang<br />

fast wie ein Befehl. Er nickte seinen Gefährten zu, wor<strong>auf</strong>hin einer von<br />

256


ihnen absprang <strong>und</strong> drei der kleinen, struppigen Pferde der<br />

Steppenreiter einfing, die reiterlos über die Steppe irrten.<br />

"Aber <strong>das</strong> sind nicht Ihre!", rief Hermine empört. "Sie stehlen sie!"<br />

Ron boxte sie in die Seite. "Jetzt fang nicht einen Streit über<br />

Moralvorstellungen an, wir sind hier in der Steinzeit oder so! Die haben<br />

sich <strong>doc</strong>h gegenseitig umgebracht, wenn es nur um ein Stück<br />

Hammelkeule ging oder so –"<br />

Hermine verdrehte die Augen, sagte aber nichts, obwohl es auch<br />

für <strong>Harry</strong> offensichtlich war, <strong>das</strong>s sie nicht in der Steinzeit gelandet<br />

waren.<br />

"Das ist Kriegsbeute", antwortete ihr der Reiter <strong>auf</strong> dem schwarzen<br />

Pferd gelassen. "Die Skythen züchten die Pferde in Massen, drei mehr<br />

oder weniger macht da keinen Unterschied. Beeilt euch." Die letzten<br />

Worte kamen wieder in dem Befehlston, von dem <strong>Harry</strong> annahm, <strong>das</strong>s<br />

ihn der Reiter gewohnt war.<br />

Unter dem ungeduldigen Blick ihres Retters kletterte er ungeschickt<br />

<strong>auf</strong> ein hellbraunes Pony, <strong>das</strong> ihn dumpf anstarrte. Hermine hatte es sich<br />

im eleganten Sitz <strong>auf</strong> einem hübschen Schimmel bequem gemacht,<br />

während Ron schn<strong>auf</strong>end versuchte, <strong>auf</strong> den Rücken einer grauen Stute<br />

zu kommen, bis er schließlich rückwärts <strong>auf</strong> dem Tier saß.<br />

Einige der Reiter hielten sich vor Lachen kaum noch <strong>auf</strong> ihren<br />

eigenen Pferden, <strong>und</strong> Ron, der sich schwerfällig umgedreht hatte, wurde<br />

puterrot. "Dann <strong>doc</strong>h lieber einen Thestral", murrte er <strong>und</strong> grinste<br />

Hermine verlegen an.<br />

Die nächsten St<strong>und</strong>en ritten sie über die endlose Ebene, über<br />

einige Hügel <strong>und</strong> Flüsse hinweg, bis <strong>Harry</strong> der Hintern weh tat <strong>und</strong> die<br />

Sonne den Horizont wie eine Feuerwand aussehen ließ, die ihr warmes,<br />

goldenes Licht über die Graslandschaft warf <strong>und</strong> sie <strong>auf</strong> einmal<br />

w<strong>und</strong>erschön, wild, frei <strong>und</strong> romantisch zugleich wirken ließ. Doch immer<br />

noch hatte er keine Ahnung, wohin sie eigentlich ritten. Von Minute zu<br />

Minute kam es <strong>Harry</strong> unwahrscheinlicher vor, irgendwo in dieser Wildnis<br />

ein Lager anzutreffen. Er trieb sein Pony an, bis es neben dem viel<br />

größeren Rappen des Anführers trabte. "Wohin reiten wir genau?", fragte<br />

er.<br />

"In mein Lager", antwortete dieser unbeirrt.<br />

"Aber können wir <strong>das</strong> Lager nicht schon hier <strong>auf</strong>schlagen?" <strong>Harry</strong><br />

war müde, <strong>und</strong> ein kleines Lagerfeuer traute er sich allemal zu, errichten<br />

zu können.<br />

"Nein", lächelte der Reiter. "Es ist nicht mehr weit, <strong>und</strong> im Lager<br />

findet ihr allen Komfort. Außerdem erwarten mich meine Soldaten<br />

<strong>zur</strong>ück."<br />

<strong>Harry</strong> drehte sich zu den etwa 20 Reitern um, die ihnen folgten.<br />

"Sie haben noch mehr Soldaten?", fragte er neugierig.<br />

257


Der Reiter fing laut an zu lachen, bis er es kaum noch schaffte,<br />

sein Pferd unter Kontrolle zu halten. "Hey, Hephaistion!", rief er, <strong>und</strong> ein<br />

Reiter <strong>auf</strong> einem Fuchs hob fragend den Kopf. "Dieser Junge will wissen,<br />

ob unser Heer aus noch mehr Soldaten besteht –"<br />

"Mal abgesehen davon, <strong>das</strong>s die sich den ganzen Tag mit Wein<br />

<strong>und</strong> Frauen vergnügen, während wir Skythen jagen – ein tolles Heer, in<br />

der Tat“, lachte der angesprochene Reiter.<br />

Sie erreichten jetzt eine Hügelkuppe, hinter der <strong>Harry</strong> eine weitere<br />

Grasebene erwartete. Doch was er sah, als sein Pony die Anhöhe<br />

erklommen hatte, ließ sein Herz für einen Augenblick aussetzen:<br />

Vor ihnen befand sich eindeutig <strong>das</strong> besagte Lager, je<strong>doc</strong>h<br />

bestand es nicht aus ein paar Zelten mit Soldaten, die um ein Lagerfeuer<br />

saßen, sondern aus einer weiten Grasfläche, die schwarz vor Menschen<br />

war – <strong>und</strong> sich bis weit an den Horizont ausdehnte.<br />

"Bei Merlin", hauchte Ron, <strong>und</strong> Hermine hielt ihr Pferd an. "Das ist<br />

kein Lager, sondern ein ganzes Land!"<br />

Auch wenn er zehn Augen gehabt hätte, hätte <strong>Harry</strong> gar nicht all<br />

<strong>das</strong> erfassen können, was sich ihnen bot: Tausende <strong>und</strong> abertausende<br />

von Menschen hausten hier in einfachen Holzhütten oder Zelten aus Fell<br />

oder Leinen. Sie saßen in der Abenddämmerung <strong>und</strong> kochten ihr Essen<br />

oder aßen getrocknetes Fleisch <strong>und</strong> Früchte, Kinder jagten einander in<br />

den verwinkelten Gassen zwischen den Behausungen, h<strong>und</strong>erte von<br />

Pferden standen angepflockt vor Futtereimern oder wurden gerade<br />

gestriegelt. Auch war <strong>das</strong> Hämmern von Hufschmieden zu hören, <strong>das</strong><br />

Prasseln von hohen Feuern, <strong>das</strong> schallende Lachen von Männern, die<br />

sich einen Krug Wein genehmigten oder <strong>das</strong> Geschwätz von Frauen, die<br />

in Gruppen zusammen standen. <strong>Harry</strong> sah auch etwas, <strong>das</strong> ihn an eine<br />

Bäckerei erinnerte, wo Brote in mehreren Steinöfen buken. Auf<br />

mehreren kleinen Bühnen wurden Schauspiele <strong>auf</strong>geführt, <strong>und</strong> aus einer<br />

Hütte, an der sie vorbeikamen, drangen Stöhnlaute, die keinen Zweifel<br />

daran ließen, um was für einen Ort es sich handelte.<br />

"Das gehört alles Ihnen?", fragte er überwältigt den Reiter <strong>auf</strong> dem<br />

schwarzen Pferd, dem fast alle Menschen zunickten, als er an ihnen<br />

vorbei ritt.<br />

"Ja", erwiderte er bloß. "Das sind mein Heer <strong>und</strong> die Menschen, die<br />

mir folgen, <strong>und</strong> die, die denen folgen, die mir folgen – so war es immer."<br />

"Aber <strong>das</strong> ist eine Stadt!", rief Hermine. "Wie viele Menschen<br />

wohnen hier wohl?"<br />

"Eigentlich wohnen sie nicht hier", antwortete der Reiter des<br />

Fuchses. "Sie ziehen mit uns. Wir haben unser Lager nur für die<br />

nächsten Wochen hier <strong>auf</strong>geschlagen. Und da du es wissen willst, <strong>das</strong><br />

Heer besteht aus etwa 70.000 Soldaten, zu Fuß <strong>und</strong> zu Pferd, <strong>und</strong> noch<br />

einmal fast 40.000 Handwerkern, Bäckern, Frauen, Künstlern, Bettlern ...<br />

wen so ein Heer halt alles anzieht."<br />

258


"Aber was macht ihr? Die <strong>Unterwelt</strong> erobern?"<br />

Der Reiter zuckte nur mit den Schultern. "Wir tun, was wir zu<br />

unseren Lebzeiten getan haben. Was anderes könnten wir gar nicht."<br />

Ihr Anführer drehte sich zu ihnen um. "Wir sind da", verkündete er<br />

<strong>und</strong> zeigte <strong>auf</strong> ein Zelt, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> eher wie ein Palast vorkam: Es war<br />

riesig, aus braunen Leinen <strong>und</strong> mit Fell überhangen, mit einem dicken,<br />

rot-goldenen Teppich, der aus dem halb offenem Eingang hervorlugte,<br />

den mehrere Soldaten bewachten. Auf der Spitze wehte eine rote Fahne,<br />

<strong>auf</strong> der ein vielzackiger goldener Stern abgebildet war.<br />

"Wow! Dagegen kann Tante Muriels Zelt einpacken!", meinte Ron<br />

neidisch. "Dort würde ich gerne einmal hineingehen!"<br />

"Es wäre mir eine Ehre, euch drei heute Abend zum Essen<br />

einzuladen", bot der Anführer höflich an, auch wenn es ersichtlich war,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Angebot weniger als eine Bitte als vielmehr als eine Anweisung<br />

gemeint war. "Man wird euch euer Quartier zeigen – dort findet ihr neue<br />

Kleidung <strong>und</strong> könnt euch waschen. Ich lasse euch später holen."<br />

Er stieg von seinem Pferd <strong>und</strong> gab es einem Stallburschen, der<br />

<strong>das</strong> mit Schweiß <strong>und</strong> Blut bedeckte Tier wegführte. Ein anderer wies sie<br />

an, mit ihm zu kommen. Nach einem letzten Blick <strong>auf</strong> den blonden<br />

Reiter, der ihnen ermunternd zulächelte, folgten sie dem Mann zu einem<br />

kleineren, aber sehr gemütlichen Zelt mit drei Schlafpritschen aus Holz,<br />

die mit weichen Fellen <strong>und</strong> Leinen ausgelegt waren <strong>und</strong> zwar einfach,<br />

aber einladend wirkten. Weiterhin wurden ihnen große Zuber mit<br />

warmem Wasser gebracht <strong>und</strong> Kleider, die <strong>Harry</strong> im Normalfall nicht im<br />

Traum gedachte, anzuziehen. Kurz dar<strong>auf</strong> wurden sie allein gelassen.<br />

Ron ließ sich <strong>auf</strong> eins der Betten plumpsen.<br />

"Wer hätte gedacht, <strong>das</strong>s die <strong>Unterwelt</strong> <strong>auf</strong>regender ist als die<br />

unsrige!", grinste er <strong>und</strong> betrachtete interessiert <strong>das</strong> Geschirr, <strong>das</strong> <strong>auf</strong><br />

einem kleinen Holztisch stand.<br />

"Unsinn", fauchte Hermine. "Wir müssen hier so schnell wieder<br />

raus, wie es nur irgend geht. Lasst uns Sirius finden <strong>und</strong> dann<br />

verschwinden. Wir haben keine Ahnung, in was wir geraten sind!"<br />

"Genau", meldete sich <strong>Harry</strong> zu Wort. "Wer sind diese Leute?<br />

Steinzeitmenschen jedenfalls nicht", beeilte er sich zu sagen, als Ron<br />

schon den M<strong>und</strong> öffnete.<br />

"Ich weiß nicht", seufzte Hermine erschöpft <strong>und</strong> lud ihre dreckige<br />

Tasche <strong>auf</strong> eines der Betten ab. "Sie reden miteinander etwas, <strong>das</strong> für<br />

mich wie Griechisch klingt. Und sie scheinen sehr früh gestorben zu<br />

sein, bestimmt vor Christi Geburt."<br />

"Vor wessen Geburt?", fragte Ron verwirrt, aber Hermine winkte<br />

nur ab.<br />

"Auf jeden Fall denke ich, <strong>das</strong>s sie uns weiterhelfen können.<br />

Deswegen sollten wir unbedingt zu diesem Abendessen gehen."<br />

259


"Vor allem, da uns der Blonde <strong>auf</strong> seinem Schwert <strong>auf</strong>spießen<br />

wird, sollten wir es nicht tun", meinte <strong>Harry</strong> düster.<br />

"Ich muss aus diesen Sachen heraus!", warf Hermine ein <strong>und</strong><br />

brachte sie damit <strong>auf</strong> andere Gedanken. Sie alle waren nach dem<br />

unfreiwilligen Bad im Fluss verschmutzt, <strong>und</strong> ihre Sachen zerrissen. Ron<br />

schaute nachdenklich <strong>auf</strong> die Waschzuber.<br />

"Also, äh, wir gehen raus <strong>und</strong> du kannst dich waschen", bot er an.<br />

Hermine nickte dankbar, wor<strong>auf</strong>hin <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron für eine Weile nach<br />

draußen traten <strong>und</strong> mit großen Augen <strong>das</strong> geschäftige Treiben um sich<br />

herum verfolgten. Kurze Zeit später kam Hermine ebenfalls durch den<br />

Zeiteingang geschritten,<br />

Sie machte ein komisches Gesicht, <strong>und</strong> es war ersichtlich, warum:<br />

Statt Hosen <strong>und</strong> ihrem schwarzen Umhang trug sie eine Art helles,<br />

leichtes Kleid, <strong>das</strong> ihr nur bis zu den Knien ging. Auch wenn es nicht<br />

sehr geeignet schien, die Kälte abzuhalten, stand es ihr sehr gut.<br />

"Interessant", grinste Ron.<br />

"Wartet nur, bis ihr eures seht", grinste Hermine fies <strong>zur</strong>ück.<br />

Was sie meinte, sah <strong>Harry</strong>, als er <strong>und</strong> Ron sich gewaschen hatten<br />

<strong>und</strong> sie ihre neuen Sachen anziehen wollten.<br />

"Also, damit würde ich nicht einmal vor Grawp herumtanzen",<br />

beschwerte sich Ron <strong>und</strong> drehte ein großes Stück Stoff hilflos in- <strong>und</strong><br />

her. "Ich ziehe meine eigenen Sachen an!"<br />

"Das lässt du schön bleiben!", wies ihn Hermine <strong>zur</strong>echt <strong>und</strong> hielt<br />

ihm <strong>das</strong> Kleidungsstück richtig herum hin. "Wir müssen uns den hiesigen<br />

Bräuchen anpassen, oder willst du ein Schwert in deiner Seite stecken<br />

haben?", kicherte sie ungewöhnlich heiter.<br />

"Deswegen wird mich ja keiner ermorden", brummte Ron, probierte<br />

den Umhang, als den sich <strong>das</strong> Kleidungsstück herausstellte, aber an. Er<br />

fiel ihm bis fast an die Knöchel <strong>und</strong> wurde mit einem Gürtel um die Taille<br />

zusammen gehalten.<br />

"Wahnsinn, wenn ich in dem Zeitalter gelebt hätte, wäre ich<br />

gestorben", knurrte er <strong>und</strong> betrachtete sich von allen Seiten.<br />

"Bist du ja auch quasi", meinte Hermine trocken, während <strong>Harry</strong><br />

seinen eigenen Umhang anzog. Er fühlte sich ungewohnt, aber auch<br />

bequem an. "Geht <strong>doc</strong>h", konstatierte er, als ein Bote den Zelteingang<br />

anhob <strong>und</strong> ihnen ausrichtete, <strong>das</strong>s der König sie nun erwarte.<br />

"König?", fragte Ron. "Von was, den Zombies?" Zum Glück schien<br />

der Bote kaum Englisch zu verstehen.<br />

Sie wurden zu dem prächtigen Zelt geführt, in <strong>das</strong> sie nun<br />

staunend eintraten: Ein langer Tisch, gedeckt für bestimmt zwei Dutzend<br />

Personen, füllte <strong>das</strong> geräumige Innere aus. Auf ihm standen Teller,<br />

Becher <strong>und</strong> Besteck aus Silber, <strong>und</strong> flankiert wurde er von Liegen statt<br />

von Stühlen.<br />

"Was, schlafen die hier beim Essen?", höhnte Ron.<br />

260


"Nein, wir sind es nur gewohnt, so zu speisen", erklang hinter ihnen<br />

die Stimme des Reiters, der sie gerettet hatte. <strong>Harry</strong> fuhr herum. Er trug<br />

einen ähnlichen Umhang wie sie, nur <strong>das</strong>s sein Gürtel mit Gold<br />

beschlagen war. Ein ebenfalls goldener Stirnreif hielt seine blonden<br />

Locken aus dem Gesicht. Zwar fiel <strong>Harry</strong> wieder die geringe Größe<br />

seines Gegenüber <strong>auf</strong>, aber er kam gar nicht <strong>auf</strong> den Gedanken, sich<br />

irgendwie überlegen zu fühlen: Dieser Mann strahlte eine ähnlich<br />

natürliche Autorität aus, wie er es sonst nur von Dumbledore kannte.<br />

"Setzt euch neben mich", bat er <strong>und</strong> ließ sich <strong>auf</strong> einer der Liegen<br />

nieder. Vorsichtig setzten sich die drei, wobei es <strong>Harry</strong> zwar sehr<br />

entspannend, aber auch seltsam vorkam, bei Tisch zu liegen.<br />

"Tut mir Leid, <strong>das</strong>s wir uns noch nicht vorgestellt haben",<br />

entschuldigte sich ihr Gastgeber. "Mein Name ist Alexander."<br />

<strong>Harry</strong> dachte sich nicht viel dabei. "Ich bin <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> <strong>das</strong> sind<br />

meine Fre<strong>und</strong>e Ron <strong>und</strong> Hermine", erläuterte er. „Der Mann, der uns<br />

abgeholt hat, meinte, Sie sind König“, redete er weiter, ohne groß<br />

nachzudenken.<br />

„Ja, bin ich“, lächelte Alexander. „König der Makedonen.<br />

Erstaunlich, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Leben <strong>und</strong> der Tod sich nicht viel nehmen.“<br />

Hermine verschluckte sich <strong>und</strong> fing fürchterlich an zu husten. Ron<br />

schlug ihr helfend <strong>auf</strong> den Rücken.<br />

"Dann sind Sie – Alexander der Große?", fragte sie ungläubig.<br />

Verlegen senkte er den Blick. "Ich weiß, <strong>das</strong>s ich von späteren<br />

Völkern so genannt wurde, aber eigentlich gefällt der Name mir nicht – er<br />

ist aus ersichtlichen Gründen wenig passend."<br />

Hermine ließ sich <strong>auf</strong> die Liege <strong>zur</strong>ücksinken. Sie wirkte völlig<br />

fassungslos.<br />

"Wenn es hier irgendwo Wein gibt, dann brauchte ich jetzt ein<br />

Glas!", stieß sie hervor.<br />

Alexander lachte <strong>und</strong> gab einen Befehl, wor<strong>auf</strong>hin eine Reihe<br />

junger Sklaven – zumindest hielt <strong>Harry</strong> sie dafür – etliche Krüge<br />

anbrachte, in denen er Wein vermutete – was sich bestätigte, als der<br />

Becher vor ihm mit einer dunkelrot schimmernden Flüssigkeit gefüllt<br />

wurde.<br />

Mit hoch gezogenen Augenbrauchen begutachtete <strong>Harry</strong> den<br />

Becher in seiner Hand, unschlüssig, ob er seinen Gastgeber beleidigen<br />

würde, wenn er nicht trank, als Ron sich zu ihm hinüberbeugte.<br />

"Hey, du weißt ja, <strong>das</strong>s wir Zauberer mit Muggelgeschichte nichts<br />

am Hut haben. Wer ist der Kerl?"<br />

"Keine Ahnung", gab <strong>Harry</strong> zu. "Weißt du, im Geschichtsunterricht<br />

meiner alten Muggelschule habe ich noch weniger <strong>auf</strong>gepasst als bei<br />

Binns."<br />

"Das geht?", fragte Ron ehrfurchtsvoll, als Alexander die Stimme<br />

erhob.<br />

261


"Meine Gäste – <strong>das</strong> bedeutet, zum Großteil meine engsten<br />

Fre<strong>und</strong>e – werden in den nächsten Minuten erscheinen, da diese junge<br />

Frau aber den ausdrücklichen Wunsch geäußert hatte, bereits unseren<br />

vorzüglichen Wein zu probieren, möchte ich jeden ermuntern, sich zu<br />

bedienen." Dies war vor allem an die Gäste gerichtet, die in den letzten<br />

Minuten <strong>das</strong> Zelt betreten hatten – allesamt Soldaten, wie <strong>Harry</strong><br />

annahm, auch wenn sie keine Rüstung trugen. Bald füllte sich <strong>das</strong> Zelt,<br />

<strong>und</strong> ein lautes Stimmengemurmel erhob sich, während die ersten Becher<br />

Wein vernichtet wurden. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron hatten von dem schweren,<br />

süßlichen Getränk nur genippt, <strong>und</strong> auch <strong>das</strong> reichte bereits, um <strong>Harry</strong><br />

leicht schwummrig zu machen. Alexander schien je<strong>doc</strong>h keine Probleme<br />

damit zu haben, in kurzer Zeit zwei Kelche davon zu trinken, ohne <strong>das</strong>s<br />

er betrunken wirkte.<br />

Als endlich alle Plätze besetzt waren, beugte sich ein<br />

dunkelhaariger Mann halb über den Tisch <strong>und</strong> fragte <strong>Harry</strong> neugierig<br />

etwas in seiner eigenen Sprache. <strong>Harry</strong> konnte nur hilflos den Kopf<br />

schütteln.<br />

"Wie ich sehe, sind nun alle eingetroffen", blickte sich Alexander<br />

prüfend um. "Nun denn, es ist an der Zeit, <strong>das</strong>s ich euch denjenigen<br />

vorstelle, denen wir heute dieses Fest zu verdanken haben", sagte er <strong>auf</strong><br />

Englisch.<br />

"Ja, wer ist es denn diesmal?", fragte grinsend einer der Soldaten.<br />

"Vorgestern war der Besuch deiner Mutter der Anlass, gestern war es die<br />

Nichte von Ptolemäus, nicht zu vergessen Aristoteles letzte Woche ..."<br />

Das ganze Zelt grölte. Alexander grinste, wurde dann aber wieder<br />

ernst. "Das sind nicht drei gewöhnliche Kinder", verkündete er. "Meine<br />

Schwadron hat sie gef<strong>und</strong>en, als sie von Skythen angegriffen wurden,<br />

von demselben Stamm, der unsere Grenzen bedroht <strong>und</strong> wegen dem wir<br />

ausgeritten sind. Doch von allen Toten, die wir in den letzten<br />

Jahrtausenden getroffen haben, heben sie sich ab. Sie sind nämlich<br />

nicht tot."<br />

Auf einmal waren alle Menschen im Zelt still.<br />

"Wie – nicht tot? Das ist die <strong>Unterwelt</strong>, wie sollen sie hierher<br />

gekommen sein, wenn nicht durch den Tod?", fragte sie der<br />

dunkelhaarige Soldat von gegenüber.<br />

"Eine gute Frage." Alexander drehte sich zu <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong><br />

Hermine um. "Ich denke, ihr habt einiges zu erklären."<br />

<strong>Harry</strong> seufzte. Am liebsten würde er ihre Geschichte für sich<br />

behalten – was, wenn sie ihnen nicht glaubten? Würden sie dann als<br />

Betrüger versklavt werden? Angesichts der zwei Dutzend Soldaten um<br />

sie herum, von denen sie jeder einzelne gespannt anblickte, kannte er<br />

aber keine Alternative, als sich ihnen anzuvertrauen. So erzählte er von<br />

Sirius' Tod, ohne allerdings groß <strong>auf</strong> die Todesser <strong>und</strong> Voldemort<br />

262


einzugehen, er erläuterte, wie sie <strong>das</strong> Rosier-Buch gef<strong>und</strong>en hatten <strong>und</strong><br />

wie sie schließlich durch den Bogen in die <strong>Unterwelt</strong> gelangt waren.<br />

Als er geendet hatte, schwieg <strong>das</strong> gesamte Zelt, bevor ein wildes<br />

Stimmenwirrwarr ausbrach.<br />

Alexander hob die Hand, wor<strong>auf</strong>hin wieder Ruhe einkehrte.<br />

"Ihr seid wirklich freiwillig in den Tod gegangen?", fragte er<br />

skeptisch.<br />

"Mit dem Willen, wieder <strong>zur</strong>ückzukehren", stellte <strong>Harry</strong> richtig. "Ich<br />

musste es tun, ich hätte jede noch so kleine Chance ergriffen, Sirius zu<br />

retten. Hätten Sie <strong>das</strong> für Ihre Fre<strong>und</strong>e nicht auch getan?"<br />

Alexander nickte, während sein Blick den dunkelhaarigen Soldaten<br />

streifte.<br />

"Doch, <strong>das</strong> hätte ich. Allerdings höre ich heute <strong>das</strong> erste Mal von<br />

diesem Bogen. Aber Nicht-Zauberern steht er wohl nicht offen."<br />

Bei diesen Worten wurde <strong>Harry</strong> plötzlich bewusst, was ihn die<br />

ganze Zeit gestört hatte, was an ihm genagt hatte <strong>und</strong> in seinem<br />

Hinterkopf herumgeschwirrt war, seid sie die Schwadron am Nachmittag<br />

gerettet hatte.<br />

"Ihr seid alle Muggel!", keuchte er, was Verwirrung auslöste.<br />

"Was ist ein Muggel?", wollte ein alter Soldat wissen.<br />

"Nicht-Magier", erklärte Hermine. "Gab es in eurem Heer denn<br />

keine Zauberer oder Hexen?"<br />

Für ein paar Sek<strong>und</strong>en schreckte in <strong>Harry</strong> der Gedanke hoch, sie<br />

hätten soeben <strong>das</strong> internationale Geheimhaltungsabkommen gebrochen,<br />

dann aber wurde ihm klar, wie absurd <strong>das</strong> war – schließlich waren sie im<br />

Reich der Toten.<br />

"Doch, einige", überlegte Alexander. "Aber ich glaube, echte Magie<br />

beherrschten auch sie nicht. Zeigt mir mal einen Zauberspruch!", forderte<br />

er die drei mit leuchtenden Augen <strong>auf</strong>. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

beschworen dar<strong>auf</strong>hin ihre Patroni, die ausgelassen durch <strong>das</strong> Zelt<br />

tollten.<br />

"Fantastisch!", rief Alexander begeistert <strong>und</strong> beobachtete die<br />

silbernen Tiere, bis sie schließlich schwächer wurden <strong>und</strong><br />

verschwanden.<br />

Dann wandte er sich ernst an <strong>Harry</strong>. "Ich werde euch helfen, euren<br />

Fre<strong>und</strong> zu finden. Zusammen mit ein paar Reitern könnte ich euch<br />

gefahrlos durch die Zeit <strong>und</strong> den Raum bringen."<br />

"Zeit <strong>und</strong> Raum?", hiekste Ron, der ein oder zwei Schluck zuviel<br />

von dem schweren Wein getrunken hatte.<br />

"Aber ihr wisst <strong>doc</strong>h gar nicht, wo wir hingehen, oder was uns<br />

erwartet!", wandte <strong>Harry</strong> ein.<br />

Doch Alexander schüttelte nur den Kopf.<br />

"Genau darum", meinte er.<br />

263


Das restliche Fest bestand aus Ess- <strong>und</strong> Trinkgelagen, was dazu<br />

führte, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine frühzeitig <strong>zur</strong>ück zu ihrem Zelt<br />

gingen, alle drei leicht beschwipst. Sie waren bis unter die Ohren voll<br />

gestopft mit Fasan, Spanferkel, gebratenem Ochsen, leckeren<br />

Fischgerichten, allerlei interessant zubereitetem Obst <strong>und</strong> Gemüse <strong>und</strong><br />

jeder Menge Brot, <strong>und</strong> den Nachtisch, der aus verschiedenstem<br />

verlockenden Gebäck bestand, hatten sie nur noch mit Mühe<br />

nachgeschoben.<br />

"Was bin ich voll!", stöhnte Ron <strong>und</strong> ließ sich zufrieden <strong>auf</strong> sein<br />

Bett fallen. "In dieser <strong>Unterwelt</strong> könnte man es glatt aushalten. Wer hätte<br />

gedacht, <strong>das</strong>s es hier möglich ist, solches Essen zuzubereiten?"<br />

"Ich weiß nicht", antwortete Hermine, die dabei war, die Sachen<br />

aus ihrem Rucksack zu ordnen <strong>und</strong> zum Trocknen auszulegen, da sie<br />

vom unfreiwilligen Bad im Fluss noch feucht waren. "Mir kam es so vor,<br />

als würde ich nicht Huhn <strong>und</strong> Fisch essen, sondern –" sie suchte nach<br />

einem passenden Wort – "Abbilder, Kopien, unwirkliche Ideen davon.<br />

Klar, es hat so geschmeckt wie Huhn, <strong>und</strong> sah aus wie Huhn, aber es<br />

fehlte –"<br />

"Das Wirkliche", versuchte <strong>Harry</strong> auszudrücken, was auch ihm<br />

beim Essen <strong>auf</strong>gefallen war.<br />

"Genau", nickte Hermine. "Das alles ist nicht echt. Was wir sehen,<br />

die Menschen, <strong>das</strong> Lager, die Steppe – <strong>das</strong> alles existiert eigentlich<br />

nicht. Es sind nur Vorstellungen."<br />

"Halt mal", unterbrach sie Ron. "Wie soll <strong>das</strong> alles nur eingebildet<br />

sein – wo wir <strong>doc</strong>h exakt <strong>das</strong> Gleiche sehen. Dazu müssten wir drei <strong>das</strong><br />

gleiche Wissen <strong>und</strong> die gleichen Wünsche haben, was wir sehen<br />

wollen."<br />

Hermine dachte nach. "Was wir sehen, sind nicht unsere<br />

Vorstellungen, sondern die der Toten. Sie befinden sich in einer Welt,<br />

wie sie sie aus dem Leben kannten, dieses Reich ist ihre Konstruktion<br />

<strong>und</strong> sie verhalten sich genauso wie in ihrem Leben. Und wir sind mitten<br />

hineingeraten."<br />

"Vorstellungen, Abbilder – ihr könnte euch ja den Kopf darüber<br />

zerbrechen, alles, was ich weiß, ist <strong>das</strong>s wir uns in einem riesigen Heer<br />

aus vorchristlicher Zeit befinden <strong>und</strong> einen Weg in unser Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

finden müssen, um Sirius zu finden", meinte <strong>Harry</strong>, der keine Lust hatte,<br />

sich länger als nötig an diesem unheimlichen Ort <strong>auf</strong>zuhalten. Nicht,<br />

<strong>das</strong>s er sich unwohl oder von den Soldaten bedroht fühlte, aber Hermine<br />

hatte Recht – man hatte stets <strong>das</strong> Gefühl, mitten in einem Film zu sein,<br />

in dem keiner der Akteure wusste, <strong>das</strong>s er nur eine Rolle spielte – außer<br />

ihnen. Das Lager schien wie eine riesige Kulisse für eine Aufführung,<br />

deren Unwirklichkeit nur ihnen <strong>auf</strong>fiel.<br />

Ron streckte sich <strong>auf</strong> seinem Bett aus <strong>und</strong> zog die Leinendecke<br />

über den Kopf. "Hermine", nuschelte er müde.<br />

264


"Ja?" Auch Hermine <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> hatten sich nun hingelegt,<br />

vollkommen erschöpft von dem langen Tag <strong>und</strong> dem gewaltigen Essen.<br />

"Wer ist dieser Typ nun eigentlich? Alexander? Muss man den<br />

kennen?"<br />

"Nicht wirklich", gähnte Hermine. "Er ist nur einer der größten<br />

Herrscher <strong>und</strong> Eroberer der Muggelgeschichte."<br />

"Na dann", brummte Ron, ohne die Stichelei noch zu bemerken,<br />

denn im nächsten Moment war er eingeschlafen.<br />

<strong>Harry</strong>, den vor allem der Wein schläfrig machte, versuchte noch,<br />

die ganzen Eindrücke des Tages zu verarbeiten <strong>und</strong> darüber<br />

nachzudenken, wie ihre Situation einzuschätzen war – aber ein paar<br />

Minuten später war auch er weggetreten.<br />

Hämmern, <strong>das</strong> Klirren von Metall <strong>auf</strong> Metall <strong>und</strong> Schwertgeräusche<br />

weckte sie früh am nächsten Morgen. Erst fuhr <strong>Harry</strong> verschlafen <strong>und</strong><br />

erschrocken zugleich hoch – hatten die Skythen angegriffen? Oder ein<br />

anderes Heer?<br />

Dann aber wurde ihm bewusst, <strong>das</strong>s alles, was ihn geweckt hatte,<br />

<strong>das</strong> langsam erwachende Lager war – Hufschmiede begannen ihre<br />

Arbeit, Soldaten übten sich im Kampf. Langsam zog er sich an. Er hatte<br />

leichte Kopfschmerzen, die er als leichten Kater interpretierte.<br />

Ron neben ihm regte sich.<br />

"Bei Merlin, mein Schädel dröhnt!", jammerte er <strong>und</strong> ließ sich<br />

<strong>zur</strong>ück ins Bett fallen.<br />

"Selber Schuld, so viel, wie du getrunken hast", stellte Hermine<br />

mitleidlos fest.<br />

"Das sagst gerade du, wo <strong>doc</strong>h du nach Wein gerufen hast!"<br />

Das Gekabbel der beiden ging noch eine Weile weiter, dann waren<br />

sie angezogen <strong>und</strong> verließen <strong>das</strong> Zelt. Strahlender Sonnenschein<br />

überflutete <strong>das</strong> Lager, in dem die Menschen zwar ruhig, aber zügig ihrer<br />

Arbeit nachgingen.<br />

"Wenn ich tot bin, dann verrichte ich keinen Handschlag mehr",<br />

meinte Ron. "Wozu die Mühe?"<br />

"Weil wir <strong>das</strong>, was wir essen, trinken <strong>und</strong> sonst zum Erhalt des<br />

Lagers brauchen, nicht geschenkt bekommen", hörten sie eine Stimme<br />

hinter sich. Alexander hatte scheinbar gewartet, bis sie ausgeschlafen<br />

hatten <strong>und</strong> kam ihnen nun entgegen.<br />

"Außerdem – am Anfang haben viele von uns auch nur gefaulenzt,<br />

bis ihnen <strong>auf</strong>ging, <strong>das</strong>s sie vor Langeweile fast den Verstand verloren.<br />

So tun sie wenigstens etwas Sinnvolles.“<br />

"Aber welches Reich könnte dieses Heer erobern?", fragte Hermine.<br />

"Na welches wohl, <strong>das</strong> Perserreich", meinte Alexander. "Das hat es<br />

in seinem Leben getan, nun tut es dies im Tod."<br />

265


"Ja – aber wenn ihr es erst einmal eingenommen habt, ist euer Ziel<br />

<strong>doc</strong>h erfüllt – für alle Zeit!", widersprach Hermine.<br />

"Nein", lächelte Alexander. "In den letzten zweieinhalbtausend<br />

Jahren habe ich <strong>das</strong> Perserreich insgesamt 218 Mal erobert. Die<br />

Perserkönige haben mich 53 Mal geschlagen. Nun, so fahren wir fort."<br />

<strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine starrten ihn ungläubig an.<br />

"Wie soll <strong>das</strong> gehen?"<br />

"Ganz einfach, nach jedem Sieg geben wir die gewonnenen<br />

Länderein <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> fangen von vorne an."<br />

"Welche Motivation habt ihr dann, immer wieder von Neuem zu<br />

kämpfen?", fragte Ron, fasziniert von dieser Unlogik.<br />

"Es macht uns Spaß, denn der Krieg ist unsere Bestimmung",<br />

erklärte Alexander. "Außerdem", grinste er, "muss der Verlierer ein<br />

einmonatiges Fest für beide Heere geben. Das kostet einiges an<br />

Aufwand <strong>und</strong> Vermögen."<br />

Ron schüttelte unverständlich den Kopf.<br />

"Es wird Zeit, <strong>das</strong>s wir <strong>auf</strong>brechen." Sie folgten Alexander, bis sie<br />

<strong>das</strong> Heerlager verlassen hatten <strong>und</strong> nur noch die weite, offene<br />

Grasfläche vor sich hatten. Dort hatten sich einige Dutzend Reiter<br />

versammelt, allesamt in Rüstung, die etliche Packpferde mit sich führten.<br />

Ihnen wurden drei Pferde zugewiesen, wor<strong>auf</strong>hin Ron stöhnte.<br />

"Nicht schon wieder reiten! Wieso gibt es hier keine Besen? Wir<br />

hätten unsere mitnehmen sollen." Mit misstrauischem Blick betrachtete<br />

er sein Pferd, als könnte es sich im nächsten Moment in ein Feuer<br />

speiendes Ungeheuer verwandeln.<br />

"Was hast du gegen Pferde?", fragte Hermine grinsend, die schon<br />

wieder bequem im Sattel saß.<br />

"An unsere Besen hätten wir allerdings denken sollen", stimmte<br />

<strong>Harry</strong> zu.<br />

"Was wollt ihr denn mit Besen?" Alexander sah sie erstaunt an.<br />

"Ich habe welche im Lager – aber hier in der Wildnis ... ich weiß nicht."<br />

"Keine normalen Besen", erklärte <strong>Harry</strong>. "Unsere können fliegen."<br />

"Fliegende Besen!", lachte Alexander laut, "so einen Unsinn habe<br />

ich noch nicht gehört!" Die anderen Reiter grinsten ebenfalls spöttisch zu<br />

ihnen hinüber.<br />

"Gleich beteuert ihr noch, <strong>das</strong>s es auch fliegende Pferde gibt –"<br />

Auf einmal schoss etwas über sie hinweg, etwas Großes <strong>und</strong>, wie<br />

<strong>Harry</strong> aus den Augenwinkeln geglaubt hatte zu sehen, Weißes. Verdutzt<br />

schauten sich die Soldaten um, die Lanzen gegen einen unsichtbaren<br />

Gegner erhoben. <strong>Harry</strong> konnte erst nichts sehen außer dem tiefblauen,<br />

wolkenlosen Steppenhimmel, dann aber rief Hermine: "Dort drüben!"<br />

Und da erkannte er ein Abraxas-Pferd, <strong>das</strong> gerade ein Stück von<br />

ihnen entfernt gelandet war. Es galoppierte aus <strong>und</strong> kam direkt <strong>auf</strong> sie<br />

zu.<br />

266


"Angriffsreihe!", schrie Alexander <strong>und</strong> ritt vor die Soldaten, welche<br />

sogleich vor <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine stürmten <strong>und</strong> eine Linie bildeten.<br />

Freilich griffen sie nicht an, ein Pferd, <strong>und</strong> sei es auch geflügelt, konnte<br />

50 Soldaten kaum gefährlich werden. Deshalb ritt Alexander mit zwei<br />

anderen Reitern dem Abraxas-Pferd entgegen.<br />

"Da sitzt jemand dr<strong>auf</strong>", flüsterte Ron neben <strong>Harry</strong>.<br />

"Richtig", rief er <strong>auf</strong>geregt. "Ob es ein Zauberer ist?"<br />

"Bestimmt", vermutete Hermine, "Muggel wissen nichts von der<br />

Existenz von Abraxas-Pferden, geschweige denn, <strong>das</strong>s sie <strong>auf</strong> ihnen<br />

reiten würden."<br />

Gespannt verfolgten sie, wie <strong>das</strong> große, silberfarbene Tier näher<br />

kam, die beiden riesigen Flügel angelegt. Sein Reiter trug einen<br />

schwarzen Umhang, der <strong>Harry</strong> irgendwie bekannt vorkam. Allerdings<br />

standen sie zu weit hinter den Soldaten, um viel sehen zu können.<br />

Kurz dar<strong>auf</strong> teilten sich die Reihen, <strong>und</strong> Alexander kam <strong>auf</strong> sie zu.<br />

"Dieses Pferd –" Er warf einen ungläubigen Blick <strong>zur</strong>ück, als könne<br />

er dem nicht trauen, was er sah – "Wird von jemandem geritten, der<br />

behauptet, euch zu suchen."<br />

"Uns?", platzte <strong>Harry</strong> heraus. Wer sollte ausgerechnet hier <strong>auf</strong> der<br />

Suche nach ihnen sein? Sie befanden sich in der <strong>Unterwelt</strong>, irgendwo im<br />

dritten Jahrtausend vor der Zeitwende in einer unendlich großen Steppe<br />

am Rand der Welt.<br />

"Wer denn?"<br />

"Na, was glaubst du denn? Deine Tante <strong>und</strong> dein Onkel mit<br />

Sicherheit nicht", hörte <strong>Harry</strong> eine Stimme, die ihn abgr<strong>und</strong>tief entsetzte.<br />

Das konnte nicht sein! Er war am wahrscheinlich unmöglichsten Ort aller<br />

Welten gelandet <strong>und</strong> traf die Person, der er <strong>auf</strong> gar keinen Fall so schnell<br />

wieder hatte begegnen wollen.<br />

267


KAPITEL VIERZEHN<br />

Durch Zeit <strong>und</strong> Raum<br />

"Jamie!", stieß er mit einem krächzenden Quaken aus. Sein<br />

Verteidigungslehrer sprang von dem Abraxas-Pferd, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> nun als<br />

<strong>das</strong> Exemplar identifizierte, <strong>das</strong> Hagrid ihnen im Unterricht gezeigt hatte.<br />

Plötzlich vermisste er Hogwarts so sehr, <strong>das</strong>s es wehtat, <strong>und</strong> eine<br />

Sek<strong>und</strong>e sah er die tiefgrünen Wiesen <strong>und</strong> <strong>das</strong> alte, verwinkelte Schloss<br />

vor sich.<br />

Dann aber stand McGonagall vor ihm, den Zauberstab in der Hand<br />

<strong>und</strong> sich argwöhnisch zu den Soldaten umsehend, die sie keine<br />

Sek<strong>und</strong>e aus den Augen ließen. Er sah ziemlich mitgenommen aus; sein<br />

Umhang hatte Risse, <strong>und</strong> er trug einen weißen Verband um den Kopf,<br />

der an einer Stelle mit Blut getränkt war. Unter Hermines zutiefst<br />

vorwurfsvollen Blick wäre <strong>Harry</strong> am liebsten im Boden versunken.<br />

"Ich, äh", stammelte er <strong>und</strong> wusste nicht, was er sagen sollte.<br />

"Sind Sie – tot?", fragte Ron vorsichtig, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> war ihm dankbar<br />

für die Ablenkung.<br />

"Ich habe dir schon <strong>das</strong> letzte Mal gesagt, <strong>das</strong>s wir uns duzen<br />

können", meinte McGonagall erstaunlicherweise munter. "Und nein, ich<br />

denke nicht, <strong>das</strong>s ich tot bin. Zumindest nicht toter als ihr, <strong>und</strong> euch<br />

scheint es ganz gut zu gehen."<br />

"Dann bist du auch durch den Bogen gegangen?", presste <strong>Harry</strong><br />

heraus, immer noch nicht in der Lage, seinem Großcousin in die Augen<br />

zu sehen.<br />

"Ja, Dumbledore hat mich gleich hinter euch hergeschickt, als ich<br />

ihm erzählt habe, was ihr vorhabt."<br />

"Und <strong>das</strong> Abraxas-Pferd?" <strong>Harry</strong> hatte Mühe, sich vorzustellen, wie<br />

ein riesiges geflügeltes Pferd ins Ministerium gelangen konnte.<br />

268


"Ach, Marius?" McGonagall schien traurig. "Nein, er ist tatsächlich<br />

gestorben. Ich bin mit ihm zum Ministerium geflogen – ich kann keine<br />

Thestrale sehen, <strong>und</strong> die lassen sich dann schwer finden – <strong>und</strong> da<br />

haben sie <strong>auf</strong> uns gewartet."<br />

"Wer?", fragten alle drei gleichzeitig.<br />

"Todesser", meinte McGonagall trübe. "Sie müssen im Ministerium<br />

mitbekommen haben, <strong>das</strong>s ihr eingedrungen seid, <strong>und</strong> irgendein Spion<br />

hat dies an Voldemort weitergegeben, der dann gleich seine Schergen<br />

geschickt hat, um euch zu suchen. Als ich ankam, sind drei oder vier von<br />

denen <strong>auf</strong> mich zu – gab einen hübschen Kampf. Mich haben sie zwar<br />

nicht erwischt, aber Marius hat einen Avada Kedavra abgekommen. Uns<br />

ist es zum Glück gelungen, bis <strong>zur</strong> Mysteriumsabteilung zu flüchten <strong>und</strong><br />

durch den Bogen zu gehen. Noch eine Minute länger, <strong>und</strong> wir wären <strong>auf</strong><br />

regulärem Weg hier gelandet", meinte er mit einem Grinsen.<br />

Hermine schrie leise <strong>auf</strong>. „Hoffentlich sind Ginny, Luna <strong>und</strong> Neville<br />

rechtzeitig herausgekommen!“<br />

<strong>Harry</strong>s Magen fühlte sich an, als ob er plötzlich mit Ziegelsteinen<br />

gefüllt worden wäre. Ginny …<br />

„Waren sie auch mit?“, fragte McGonagall verblüfft.<br />

„Ja, sie haben uns Rückendeckung gegeben“, erklärte Hermine<br />

Hände ringend. „Oh Gott, wenn sie unseretwegen …“ Sie konnte den<br />

Gedanken nicht zu Ende führen.<br />

„Keine Angst, ich bin sicher, es geht ihnen gut“, beruhigte sie<br />

McGonagall. „Als wir ankamen, haben wir keine Kinder mehr gesehen.<br />

Und auch keine Thestrale, also sind sie zu dem Zeitpunkt wohl schon<br />

weggeflogen gewesen. Obwohl, natürlich kann ich Thestrale sowieso<br />

nicht sehen“, grübelte er.<br />

"Wir?", echote <strong>Harry</strong>.<br />

"Na, Snape <strong>und</strong> ich", zuckte McGonagall die Schultern.<br />

"Snape? Was macht er hier? Wo ist er?"<br />

"Dumbledore hat ihn ebenfalls geschickt, um euch zu suchen.<br />

Offiziell handelt er <strong>auf</strong> Befehl Voldemorts, scheinbar hat der keinen<br />

anderen seiner so tapferen Gefolgsleute überreden können, in die<br />

<strong>Unterwelt</strong> zu gehen. Wenn ich es mir recht überlege, war Snape sogar<br />

kaum zu halten."<br />

Klar, dachte <strong>Harry</strong>, der will seit Wochen hierher. Über den Gr<strong>und</strong><br />

wollte er lieber nicht nachdenken.<br />

"Wo er hin ist, weiß ich aber nicht", sagte McGonagall, ohne<br />

darüber allzu großes Bedauern zu empfinden. "Am Fluss trafen wir einen<br />

Alten in einem Boot, der meinte, vor kurzem seien er <strong>und</strong> drei Kinder von<br />

einem Sturm überrascht worden. Er hat mir die Stelle genannt, wo ihr<br />

gekentert seid, <strong>und</strong> ich bin <strong>auf</strong> Marius her geflogen. Snape wollte<br />

inzwischen in <strong>das</strong> neuzeitliche England gehen."<br />

"Dort müssen wir auch hin", meinte <strong>Harry</strong> schnell.<br />

269


"Aber wie?", fragte Hermine hilflos. "Von hier bis England sind es<br />

tausende Kilometer!"<br />

"Außerdem", fiel <strong>Harry</strong> mit Schrecken ein, "kommen wir <strong>doc</strong>h im<br />

England des vierten Jahrh<strong>und</strong>erts vor Christus an!"<br />

"Da kann ich euch helfen", schaltete sich nun Alexander ein. "Ich<br />

bin schon einmal durch die Zeit gereist. Es ist im Gr<strong>und</strong>e ganz einfach;<br />

ihr müsst euch nur ganz genau vorstellen, wo ihr hinwollt – wie es dort<br />

aussieht, sich anfühlt, was es dort für Geräusche gibt. Dazu ist eine hohe<br />

Konzentration nötig, <strong>und</strong> am Ende müsst ihr eine kurze Drehung<br />

machen, was dann dazu führen sollte, <strong>das</strong>s ihr im richtigen Zeitalter<br />

angelangt seid."<br />

"Klingt fast wie Apparieren", nickte Hermine, froh, <strong>das</strong>s sich <strong>das</strong><br />

Gespräch um etwas Bekanntes drehte.<br />

"Ich kann aber nicht apparieren!", maulte Ron. "Dann bleibe ich für<br />

immer hier in der Steppe <strong>und</strong> warte <strong>auf</strong> euch, bis ihr irgendwann einmal<br />

sterbt <strong>und</strong> wiederkommt."<br />

"Erzähl keinen Unsinn, Ronald Weasley!", fauchte Hermine.<br />

"Ich weiß nicht einmal, was Apparieren ist, geschweige denn <strong>das</strong>s<br />

ich es kann", beruhigte ihn Alexander. "Und dennoch habe ich <strong>das</strong><br />

Reisen durch den Raum geschafft."<br />

"Womit immer noch nicht klar ist, wie wir überhaupt nach England<br />

kommen!", wandte <strong>Harry</strong> ein.<br />

"Vielleicht mit dem hier?", grinste McGonagall <strong>und</strong> ging zu einem<br />

Bündel, <strong>das</strong> er dem Abraxas-Pferd <strong>auf</strong> den Rücken geschnallt hatte <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> <strong>Harry</strong> erst jetzt <strong>auf</strong>fiel. Heraus holte er vier Besen – darunter <strong>Harry</strong>s<br />

Feuerblitz <strong>und</strong> Rons Sauberwisch.<br />

Mit Freudenschreien stürzten sie sich dar<strong>auf</strong>. "Damit dürften wir in<br />

einem Tag da sein", meinte McGonagall. "Ich würde sagen, wir brechen<br />

auch gleich <strong>auf</strong>."<br />

Alexander sprang von seinem Pferd. "So wie ich es sehe, reitet<br />

dann niemand mehr <strong>das</strong> geflügelte Pferd. Wenn ihr nichts dagegen habt,<br />

würde ich mit euch kommen."<br />

McGonagall warf <strong>Harry</strong> einen fragenden Blick zu, so<strong>das</strong>s er mit<br />

einem Nicken versicherte, <strong>das</strong>s dies in Ordnung sei. Immerhin hatte<br />

Alexander ihnen <strong>das</strong> Leben gerettet – obwohl er selbst nicht wusste, ob<br />

sie es in der <strong>Unterwelt</strong> überhaupt verlieren konnte. Wer weiß, vielleicht<br />

hatten sie auch schon keins mehr.<br />

"Gut, dann mal los!", rief ihr Verteidigungslehrer <strong>und</strong> schwang sich<br />

<strong>auf</strong> seinen Besen. <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine bestiegen ihre ebenfalls, <strong>und</strong><br />

mit einem jäh <strong>auf</strong>kommenden Glücksgefühl spürte <strong>Harry</strong> <strong>das</strong> erste Mal<br />

seit zwei Tagen, <strong>das</strong>s er irgendwo war, wo er wirklich hingehörte.<br />

Alexander derweil besprach noch einige Dinge mit seinen Soldaten,<br />

dann sprang er mühelos <strong>auf</strong> den großen Schimmel, der sich sogleich in<br />

die Luft erhob, durch die Schläge seiner mächtigen Flügel Staub<br />

270


<strong>auf</strong>wirbelnd. Auch <strong>Harry</strong> stieß sich vom Boden ab <strong>und</strong> hätte vor<br />

Begeisterung fast los geschrieen – endlich konnte er wieder fliegen,<br />

endlich nahmen sie Kurs <strong>auf</strong> ihr Ziel, <strong>und</strong> nun war auch noch<br />

McGonagall bei ihnen. Bei dem Gedanken an diesen verdüsterte sich<br />

sein Gesicht allerdings. Er dachte kurz nach, dann manövrierte er seinen<br />

Besen geschickt neben den von McGonagall.<br />

"Jamie", begann er stockend.<br />

"Ja?", fragte dieser.<br />

"Ich wollte mich entschuldigen – für die Sache in deinem Büro. Ich<br />

wollte dich nicht verletzen, aber in dem Moment, als du zu Dumbledore<br />

gehen wolltest, stand alles <strong>auf</strong> der Kippe – ich wusste nicht, was ich tat."<br />

"Doch, <strong>das</strong> wusstest du", korrigierte ihn McGonagall, lächelte dabei<br />

aber.<br />

"Es tut mir Leid", murmelte <strong>Harry</strong> zu seinem Besenstiel.<br />

"Ist schon in Ordnung, ich denke, nein, ich weiß, <strong>das</strong>s ich in deiner<br />

Situation <strong>das</strong>selbe getan hätte", entgegnete McGonagall, der ein wenig<br />

schreien musste, um den Wind zu übertönen.<br />

<strong>Harry</strong> sah überrascht <strong>auf</strong>. "Du hast auch einmal jemanden<br />

niedergeschlagen?"<br />

McGonagall grinste. "Na ja, in meinem siebten Schuljahr wollte<br />

Snape uns – also die Rumtreiber <strong>und</strong> mich – verpetzen, weil wir einen<br />

Unsichtbar-Glatteis-Zauber vor dem Lehrerzimmer gesprochen haben,<br />

also habe ich ihm eine Ohrfeige verpasst, <strong>das</strong>s er zu Boden ging.<br />

Anschließend kam noch ein Amnesia-Zauber dazu, damit er uns nicht<br />

einfach später verrät."<br />

<strong>Harry</strong> stellte mit Genugtuung fest, <strong>das</strong>s er dieses Verhalten<br />

widerlich fand. Seines war es nämlich auch nicht besser gewesen, <strong>und</strong><br />

scheinbar im Gegensatz zu McGonagall war ihm <strong>das</strong> wenigstens<br />

bewusst.<br />

"Also vergessen wir die Sache, wer austeilt, der muss auch<br />

einstecken können. Denke aber nicht, <strong>das</strong>s ich dir nicht böse bin, weil du<br />

in die <strong>Unterwelt</strong> gegangen bist. Das war unsinnig, <strong>und</strong>urchdacht <strong>und</strong> im<br />

höchsten Grad verantwortungslos."<br />

<strong>Harry</strong> fragte sich ernsthaft, wieso ausgerechnet McGonagall ihm<br />

etwas von Verantwortung sagen wollte, schluckte seinen Ärger aber<br />

hinunter. Immerhin ist er hergekommen, um mir zu helfen.<br />

"Mein ganzes Leben habe ich Dinge getan, die andere als<br />

<strong>und</strong>urchdacht <strong>und</strong> verantwortungslos dargestellt haben. Aber weißt du<br />

was? Ich habe es nie bereut. Weil ich stets der vollen Überzeugung<br />

gewesen war, <strong>das</strong>s es <strong>das</strong> Richtige ist. Und meistens hat es sich auch<br />

als richtig herausgestellt", verteidigte er sich.<br />

McGonagall schaute ihn schräg an, <strong>Harry</strong> hätte aber schwören<br />

können, <strong>das</strong>s er dabei ganz leicht grinste.<br />

271


Dann schüttelte er den Kopf <strong>und</strong> meinte munter: "Nun aber erzähle<br />

mir, wen ihr dort <strong>auf</strong>gegabelt habt!", während er <strong>auf</strong> Alexander deutete,<br />

der über Marius vollkommen begeistert war <strong>und</strong> dauernd staunend zum<br />

weit entfernten Boden sah, was Hermine scheinbar nicht mit ansehen<br />

konnte. Sie saß wie immer mit einem nichts als Unwohlsein<br />

ausdrückendem Gesicht <strong>auf</strong> ihrem Besen, dar<strong>auf</strong> bedacht, nicht unter<br />

sich zu blicken.<br />

So nutzte <strong>Harry</strong> die lange noch vor ihnen liegende Flugzeit, um<br />

McGonagall über ihr bisheriges <strong>Unterwelt</strong>-Abenteuer ins Bild zu setzen.<br />

Als er geendet hatte, stöhnte sein Lehrer <strong>auf</strong>. "<strong>Harry</strong>, du bist der<br />

einzige Mensch, dem ich zutrauen würde, <strong>das</strong>s er stets schnurstracks<br />

<strong>zur</strong> nächsten sich bietenden Gefahr rennt <strong>und</strong> dann von einem der<br />

größten Herrscher der Geschichte gerettet wird."<br />

"Wo fliegen wir eigentlich genau hin?", fragte <strong>Harry</strong>.<br />

"Gute Frage", überlegte McGonagall. "Wir müssen grob ins<br />

England des 4. Jahrh<strong>und</strong>ert vor Christus kommen, also der Zeit, in der<br />

wir uns befinden, <strong>und</strong> am besten beim ersten Auftauchen der Küste<br />

durch die Zeit apparieren. Danach finden wir London leichter."<br />

"London ...", murmelte <strong>Harry</strong>. "Ob sich Sirius dort <strong>auf</strong>hält?" Nun, wo<br />

sie entgegen aller Wahrscheinlichkeiten tatsächlich eine gewisse<br />

Chance hatten, seinen Paten zu erreichen, fiel <strong>Harry</strong> ein, <strong>das</strong>s er nicht<br />

sagen konnte, wo sich Sirius in der <strong>Unterwelt</strong> <strong>auf</strong>halten würde. Vielleicht<br />

war er sogar selbst durch die Zeit gereist <strong>und</strong> machte Urlaub im<br />

Mittelalter?<br />

"Weiß ich nicht", meinte McGonagall kurz angeb<strong>und</strong>en. Vermutlich<br />

machte auch er sich Sorgen. "Wen würde denn Sirius in der <strong>Unterwelt</strong><br />

<strong>auf</strong>suchen?", fragte er sich selbst ebenso wie <strong>Harry</strong>.<br />

In der einen Sek<strong>und</strong>e hatte <strong>Harry</strong> noch halb verträumt einen<br />

Wolkenfetzen vor ihnen betrachtet, <strong>doc</strong>h als McGonagalls Frage in sein<br />

Gehirn vordrang, wäre er beinahe von seinem Besen gefallen. Wieso<br />

hatte er nicht längst daran gedacht? Hatte er sich vielleicht keine<br />

übereilten Hoffnungen machen wollen? Oder hatte er am Ende sogar<br />

Angst davor?<br />

"Meine Eltern", presste er hervor, <strong>und</strong> alles drehte sich um ihn. Er<br />

konnte seine Eltern sehen ... Auf einmal wusste er nicht mehr, ob er<br />

noch in der <strong>Unterwelt</strong> sein wollte. Was würde ihn erwarten?<br />

McGonagall sah ihn ruhig an <strong>und</strong> sagte nichts, wohl wissend, <strong>das</strong>s<br />

<strong>Harry</strong> lieber nicht reden wollte. So flogen sie schweigend nebeneinander<br />

her, viele St<strong>und</strong>en, ohne <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> sagen konnte, wo sie waren. Die<br />

ewige Steppe war zwischendurch in fruchtbares Küstenland<br />

übergegangen, <strong>und</strong> einmal überflogen sie ein großes, blaues Meer,<br />

bevor etliche Zeit später unter ihnen grüne Wälder <strong>auf</strong>tauchten, die sich<br />

bis an den Horizont ausdehnten. Kaum ein Sonnenstrahl schien<br />

zwischen ihnen hindurch <strong>auf</strong> den Boden. Allerdings ging im Westen, also<br />

272


vor ihnen, allmählich die Sonne unter, <strong>und</strong> sie mussten sich ein Lager für<br />

die Nacht suchen.<br />

"Wie wäre es damit?", schrie <strong>Harry</strong> gegen den stärker<br />

<strong>auf</strong>kommenden Wind an <strong>und</strong> zeigte <strong>auf</strong> ein Gebirgsmassiv, <strong>das</strong> vor<br />

ihnen in den Himmel <strong>auf</strong>ragte.<br />

"Das sind die Alpen", erklärte McGonagall leicht besorgt. "Dort gab<br />

es um diese Zeit bereits Riesen ... aber du hast Recht, wir müssen<br />

rasten."<br />

Sie suchten sich einen geschützten Platz unter einer<br />

vorhängenden Felswand, der von unten nur schwer bestiegen werden<br />

konnte. Jetzt wo die Sonne untergegangen war, war es war klirrend kalt.<br />

Nur wenige Meter weiter oben waren die Felswände mit Schnee<br />

bedeckt.<br />

Zitternd verstauten sie die Besen in einer kleinen Höhle, in die sie<br />

selbst aber nicht hineingepasst hätten.<br />

"Lasst uns hier ruhen", meinte McGonagall gähnend <strong>und</strong> legte sich<br />

in den Schatten der dunkler werdenden Berge. Einzelne, noch blasse<br />

Sterne waren am Himmel erschienen <strong>und</strong> beleuchteten die<br />

gespenstische Landschaft voller Wildheit, aber auch eine einzigartige<br />

Schönheit, die sich an den kargen Bergwiesen widerspiegelte.<br />

"Versuch zu schlafen", meinte Hermine zu <strong>Harry</strong>. Sie selbst sah<br />

erschöpft <strong>und</strong> müde aus, <strong>und</strong> auch <strong>Harry</strong> fühlte sich nicht <strong>auf</strong> der Höhe<br />

seiner Kräfte. Kein W<strong>und</strong>er, sie waren quasi den ganzen Tag über<br />

geflogen.<br />

"Hier ist es so kalt", zitterte er <strong>und</strong> sah sich zwischen den<br />

Felsbrocken vergeblich nach einem wärmeren Platz um. Er trug nur<br />

seinen Schulumhang <strong>und</strong> darunter einen Pullover <strong>und</strong> eine Hose.<br />

"Ich weiß", flüsterte Hermine. "Aber wir müssen ein wenig schlafen<br />

... wir dürfen kein Feuer machen, um keine Kreaturen anzulocken, die<br />

hier hausen. Binns meint, in früheren Zeitaltern gab es noch<br />

unangenehmere Wesen als Riesen in den Bergen."<br />

<strong>Harry</strong> lächelte sie an, irgendwie dankbar dafür, <strong>das</strong>s sie selbst hier<br />

einen Anflug an Heimat herbeirufen konnte, nur indem sie von<br />

Geschichte der Zauberei sprach.<br />

"Ich bin froh, <strong>das</strong>s ihr bei mir seid", sagte er ruhig.<br />

"Wo sollten wir sonst sein?", fragte sie mit einem schrägen<br />

Lächeln. "Wir sind deine Fre<strong>und</strong>e."<br />

"Ja, ich weiß." Er legte sich nun abtastend <strong>auf</strong> den harten Boden,<br />

suchte eine Stelle, an der nicht allzu viele Steine lagen.<br />

"Und es gibt nichts Schöneres <strong>auf</strong> der Welt, <strong>und</strong> auch in dieser, als<br />

dieses Wissen", sagte er ernst, während er zähneklappernd seinen<br />

Umhang um sich zog <strong>und</strong> sich ausstreckte.<br />

"Schlaf gut", nuschelte Hermine.<br />

273


"Sicher", antwortete <strong>Harry</strong> in dem sicheren Gefühl, kein Auge zutun<br />

zu können.<br />

Zwei Sek<strong>und</strong>en später war er eingeschlafen.<br />

Er konnte nicht sagen, was ihn geweckt hatte. Möglicherweise war<br />

es ein absurder Traum gewesen, in dem Neville seinen Zaubertrank<br />

umgestoßen hatte <strong>und</strong> sich <strong>Harry</strong> die ganze Zeit gefragt hatte, wieso<br />

dieser überhaupt in Snapes Unterricht <strong>auf</strong>tauchte, vielleicht war es auch<br />

die eisige Kälte, die sich in den letzten St<strong>und</strong>en noch verschärft zu<br />

haben schien.<br />

Mit einem Gefühl tiefer Verlorenheit starrte er halb erfroren in den<br />

klaren Sternenhimmel <strong>und</strong> erkannte <strong>das</strong> Sternbild des Großen H<strong>und</strong>es.<br />

Was mache ich hier nur, seufzte er <strong>und</strong> versuchte, seinen Umhang um<br />

seine Füße zu ziehen, die er fest an den steinigen Boden angefroren<br />

glaubte.<br />

Sirius suchen, was sonst.<br />

Nur, in dieser Einöde, fernab aller Welten, die ihm vertraut waren,<br />

kam er sich seinem Ziel ferner vor als je zuvor. Es ist so kalt.<br />

Plötzlich hörte er ein leises Knacken, <strong>das</strong> er sofort als <strong>das</strong><br />

Geräusch identifizierte, welches ihn geweckt hatte.<br />

Erschreckt fuhr er hoch <strong>und</strong> sah sich nach allen Seiten um. Rechts<br />

von ihm schliefen Hermine <strong>und</strong> Ron, seltsamerweise eng aneinander<br />

gekuschelt, links lag einige Meter entfernt McGonagall <strong>und</strong> schien<br />

ebenso tief im Schlaf versunken. Abseits von ihnen hatte sich Marius an<br />

eine Felswand geschmiegt, <strong>und</strong> Alexander hatte sich an <strong>das</strong> Pferd<br />

gelegt, um etwas mehr Wärme zu haben. Sie schienen die einzigen<br />

Lebewesen weit <strong>und</strong> breit zu sein.<br />

Beruhigt legte sich <strong>Harry</strong> wieder hin. Da knackte es erneut, <strong>und</strong><br />

diesmal eindeutig näher. Er widerstand dem Wunsch nach Licht <strong>und</strong><br />

rührte seinen Zauberstab nicht an, sondern lauschte angestrengt in alle<br />

Richtungen. Einmal glaubte er einen Schatten nicht weit entfernt von<br />

ihnen vorbeihuschen zu sehen, beim genaueren Hinschauen aber lagen<br />

die Felsbrocken wieder genauso still da wie zuvor.<br />

Sollte er McGonagall wecken? Aber <strong>das</strong> war Unsinn. Er<br />

phantasierte. McGonagall schlief seelenruhig, <strong>und</strong> er hatte keinen<br />

Gr<strong>und</strong>, ihn dabei zu stören. Müde warf <strong>Harry</strong> einen letzten Blick zu<br />

seinem Verteidigungslehrer <strong>und</strong> erstarrte.<br />

Eine Gestalt, fast größer als der Felsvorsprung, beugte sich über<br />

McGonagall.<br />

Bevor <strong>Harry</strong> überhaupt registrierte, <strong>das</strong>s er einen echten Riesen<br />

vor sich hatte, war er auch schon <strong>auf</strong> die Beine gesprungen <strong>und</strong> schrie:<br />

"Stupor!"<br />

274


Die rote Flamme schoss <strong>auf</strong> den Riesen zu, der <strong>Harry</strong> aus seinen<br />

dumpfen Augen nur blöd anglotzte, prallte aber an dessen zähen Haut<br />

ab.<br />

Verdammt.<br />

Neben ihm waren Ron <strong>und</strong> Hermine mit einem Ruck <strong>auf</strong>gewacht,<br />

<strong>und</strong> auch McGonagall war <strong>auf</strong>gefahren, erstarrt beim Anblick des<br />

Riesen, der ihn nur eine Handbreit entfernt verdutzt ansah.<br />

Dann brüllte der Riese <strong>und</strong> stürzte sich <strong>auf</strong> McGonagall. Dieser<br />

sprang behände beiseite <strong>und</strong> rannte schnell weg, aber der Riese blieb<br />

ihm <strong>auf</strong> den Fersen. Einige Zaubersprüche aus McGonagalls Zauberstab<br />

trafen <strong>das</strong> graue Ungetüm an den absurd kleinen Kopf, zwischen die<br />

baumstammdicken Beine <strong>und</strong> an den Hals, aber keiner reichte, um ihn<br />

auch nur langsamer zu machen. Mittlerweile rasend vor Wut hieb der<br />

Riese nach McGonagall aus <strong>und</strong> verfehlte ihn zwei Mal.<br />

Beim dritten Mal traf er ihn an der Schulter. McGonagall flog<br />

mehrere Meter durch die Luft <strong>und</strong> blieb schwer atmend liegen.<br />

<strong>Harry</strong> wollte zu ihm l<strong>auf</strong>en, aber Ron hielt ihn fest.<br />

"Wir können nichts machen!", meinte er, leise, um die<br />

Aufmerksamkeit des Riesen nicht zu erwecken.<br />

"Vielleicht nicht, aber wir können ihn auch nicht einfach sterben<br />

lassen!", rief <strong>Harry</strong> verzweifelt.<br />

In dem Moment beugte sich der Riese über McGonagall, der<br />

bewusstlos am Boden lag <strong>und</strong> packte ihn, dümmlich grinsend ob der<br />

Dinge, die er mit seiner Beute würde anstellen können.<br />

In dem Moment, als er den Verteidigungslehrer hochheben wollte,<br />

zuckte er zusammen, verdrehte seine Riesenaugen <strong>und</strong> taumelte<br />

rückwärts. Ein Schwert steckte in seiner Seite.<br />

Dumpf starrte der Riese <strong>das</strong> Stück Metall an <strong>und</strong> murmelte etwas<br />

in einer Sprache, die klang, als rumpelten Steine über einen Berghang.<br />

Das Schwert wurde wieder herausgezogen, <strong>und</strong> nun sah <strong>Harry</strong><br />

Alexander, der sich abwartend vor den Riesen gestellt hatte. Ungeachtet<br />

der tiefen W<strong>und</strong>e in seiner Seite sprang der Riese <strong>auf</strong> Alexander zu <strong>und</strong><br />

versuchte, ihn mit seinen Pranken zu schlagen.<br />

Der König wich geschickt aus <strong>und</strong> verfolgte jeden einzelnen Schritt<br />

des Riesen mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Mit der Sicherheit des<br />

geübten Kämpfers duckte er sich geduldig stets ein paar Zentimeter<br />

unter den ungeheuer starken Händen des Riesen weg. Langsam schien<br />

der Koloss müde zu werden, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> begann zu hoffen, <strong>das</strong>s er bald<br />

genug haben <strong>und</strong> verschwinden würde. In seinem nicht allzu hoch<br />

entwickelten Riesenhirn spielten sich scheinbar dieselben Gedanken ab,<br />

denn die graue Masse an Haut <strong>und</strong> Kleidungsfetzen brüllte enttäuscht<br />

<strong>auf</strong> <strong>und</strong> blieb hilflos stehen.<br />

In der nächsten Sek<strong>und</strong>e sah <strong>Harry</strong> je<strong>doc</strong>h einen großen<br />

Steinbrocken durch die Luft fliegen. Ohne erkennbaren Ansatz hatte der<br />

275


Riese in seiner rasenden Wut einen passenden Stein ergriffen <strong>und</strong> ihn<br />

mit der Kraft eines sechs Meter hohen, tobenden Geschöpfes <strong>auf</strong><br />

Alexander geworfen. Zwar war nicht anzunehmen, <strong>das</strong>s der Riese<br />

wirklich gezielt hatte, dennoch traf der Brocken genau dessen Kopf.<br />

Alexander taumelte <strong>und</strong> fiel rückwärts, während der Riese mit<br />

Triumphgeheul <strong>auf</strong> seine Beute zusprang <strong>und</strong> versuchte, ihn mit den<br />

Angst einflößenden Händen zu zerfetzen.<br />

<strong>Harry</strong> wollte vorstürmen <strong>und</strong> Alexander helfen, aber Hermine hielt<br />

ihn abermals <strong>zur</strong>ück.<br />

"Warte!"<br />

"Wieso, wenn wir nichts tun, stirbt er!"<br />

Im selben Moment merkte er, wie dämlich seine Worte klangen.<br />

"Er ist seit Jahrtausenden tot", meinte Hermine ruhig.<br />

"Wir sollten zusehen, <strong>das</strong>s wir abhauen", drängelte Ron <strong>und</strong><br />

schleppte ihre Besen an. "Alexander wird <strong>das</strong> schaffen ... wie Hermine<br />

sagt, er ist bereits tot. Aber wir könnten sterben, wer weiß? Wenn uns<br />

der Riese erwischt <strong>und</strong> tötet, können wir vielleicht nicht mehr <strong>zur</strong>ück in<br />

unsere Welt."<br />

"Aber wir kriegen McGonagall nie hier weg!", rief <strong>Harry</strong>. Der Lehrer<br />

lag immer noch bewusstlos <strong>auf</strong> dem Boden. Das war auch dem Riesen<br />

nicht entgangen, der plötzlich von Alexander abließ <strong>und</strong> sich neugierig<br />

<strong>auf</strong> sein erstes Opfer zu bewegte. <strong>Harry</strong> wollte nicht wissen, was er tun<br />

würde, wenn er ihn erreichte – in zwei Hälften teilen? Oder <strong>doc</strong>h in vier?<br />

Automatisch zückte er seinen Zauberstab <strong>und</strong> wollte dem Riesen<br />

entgegen gehen, da schrie <strong>das</strong> Wesen wieder <strong>auf</strong> <strong>und</strong> drehte sich ratlos<br />

um. In seinem Rücken steckte eine lange Lanze, nur der Schaft war<br />

noch zu sehen. Dunkle Ströme von Blut flossen aus der W<strong>und</strong>e, die der<br />

Riese vergeblich versuchte, mit seinen sch<strong>auf</strong>felradgroßen Händen<br />

abzudecken. Vor Schmerz <strong>und</strong> Wut durchdrehend wandte er sich<br />

Alexander zu, der die Lanze mit letzter Kraft geschleudert hatte. Lange<br />

würde der König allerdings nicht mehr aushalten können, denn er kniete<br />

bereits eher als <strong>das</strong>s er stand. Dennoch war sein silbernes Schwert nach<br />

wie vor <strong>auf</strong> den Riesen gerichtet.<br />

Die Kreatur blinzelte ein paar Mal <strong>und</strong> schien zwischen<br />

Unsicherheit <strong>und</strong> Irritation nicht zu wissen, was sie tun sollte, erinnerte<br />

sich aber anscheinend an die lange W<strong>und</strong>e, die <strong>das</strong> Schwert bereits an<br />

ihr hinterlassen hatte. Der Riese brüllte noch einmal <strong>auf</strong> <strong>und</strong> rannte dann<br />

unter lautem Schimpfen in der polternden Riesensprache über den<br />

Berghang davon. Nach einer Minute war nichts mehr zu hören.<br />

"Jamie!", rief <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> stürzte <strong>auf</strong> seinen Lehrer zu. Der hatte sich<br />

inzwischen <strong>auf</strong>gerichtet <strong>und</strong> betrachtete verwirrt seinen rechten Arm, der<br />

grotesk verrenkt an seiner Seite hing.<br />

"Verdammt!", fluchte <strong>Harry</strong>.<br />

276


"Ich weiß nicht, was passiert ist", nuschelte McGonagall <strong>und</strong><br />

wischte sich Blut aus den Augen. Durch den Schlag war anscheinend<br />

auch die W<strong>und</strong>e, die <strong>Harry</strong> ihm mit dem Stuhl zugefügt hatte, wieder<br />

<strong>auf</strong>gebrochen.<br />

"Da war ein Riese", erklärte <strong>Harry</strong>. "Aber er ist weg."<br />

"Ja, Alexander hat ihn verw<strong>und</strong>et", berichtete Hermine <strong>und</strong> beugte<br />

sich besorgt über McGonagalls Arm. "Es sieht so aus, als wäre er<br />

gebrochen – oh nein, ich wusste <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s ich den Knochenheilzauber<br />

noch hätte abarbeiten sollen ..."<br />

"Ist gut Hermine, <strong>das</strong> lässt sich nun auch nicht ändern", seufzte<br />

McGonagall. "Vielleicht kann man ihn schienen ..."<br />

"Es sieht für mich nicht so aus, als wäre der Arm wirklich<br />

gebrochen", erklang plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Alexander<br />

wankte <strong>auf</strong> sie zu, scheinbar kurz vor dem Zusammenbrechen. Er hinkte,<br />

was ihn aber am schlimmsten getroffen zu haben schien war der Stein,<br />

denn die linke Hälfte seines Kopfes war dunkel, was <strong>Harry</strong> vermuteten<br />

ließ, <strong>das</strong>s er wenigstens eine schwere Kopfw<strong>und</strong>e erlitten hatte.<br />

Als Hermine bei seinem Anblick <strong>auf</strong>keuchte, winkte er ab. "Keine<br />

Sorge, beim nächsten Sonnen<strong>auf</strong>gang werden meine W<strong>und</strong>en heilen.<br />

Bei euch bin ich aber nicht so sicher. Ist einer von euch gestern<br />

verw<strong>und</strong>et worden?"<br />

Die Frage kam <strong>Harry</strong> sinnlos vor, es ging schließlich jetzt nicht um<br />

sie, sondern um McGonagall.<br />

"Ja, ich bin <strong>auf</strong> der Flucht vor diesen Halsabschneidern hingefallen<br />

<strong>und</strong> habe mir <strong>das</strong> Knie <strong>auf</strong>geschlagen", meinte Ron <strong>und</strong> streckte<br />

demonstrativ sein Bein vor. Hermine rief "Lumos!" <strong>und</strong> hielt den<br />

Zauberstab daran. Der Kratzer war nicht groß, aber eindeutig zu sehen.<br />

"Ihr seid tatsächlich anders als die Toten", nickte Alexander. "Eure<br />

W<strong>und</strong>en heilen nicht mit dem nächsten Tagesanbruch. Wir müssen<br />

seinen Arm behandeln."<br />

"Aber wie sollen wir <strong>das</strong> anstellen?", fragte Hermine erschöpft. "Ein<br />

gebrochener Arm braucht Wochen, bis er heilt – na, wenigstens <strong>auf</strong><br />

Muggelart."<br />

"Wie ich schon sagte, der Arm ist nicht gebrochen", berichtigte sie<br />

Alexander. Hermine sah ihn mit einem Ausdruck leichter Beleidigung an.<br />

Er nahm den Arm vorsichtig in die Hand, während McGonagall ihn<br />

skeptisch beäugte.<br />

"Er ist nur ausgekugelt." Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen<br />

oder eine Sek<strong>und</strong>e Zeit zu verlieren renkte er die Schulter mit<br />

unbewegtem Gesicht wieder ein. McGonagall schrie <strong>auf</strong> <strong>und</strong> machte für<br />

einen Augenblick den Eindruck, als wollte er Alexander schlagen.<br />

Stattdessen riss er erstaunt die Augen <strong>auf</strong>.<br />

"Es tut nicht mehr weh!" Verblüfft tastete er seinen Arm ab. "Wo<br />

hast du <strong>das</strong> gelernt?", wollte er wissen. Alexander zuckte mit den<br />

277


Schultern. "Ein paar Jahrtausende in der Schlacht machen gewisse<br />

Kenntnisse notwendig", meinte er nur.<br />

Ron sah ihm ehrfürchtig hinterher, als der König <strong>zur</strong>ück zu Marius<br />

ging, immer noch unsicher <strong>auf</strong> den Beinen. "Es ist <strong>das</strong> Beste, wir fliegen<br />

gleich weiter", meinte er in einem Befehlston, der wenig Zweifel daran<br />

ließ, <strong>das</strong>s er es gewohnt was, <strong>das</strong> Kommando zu übernehmen. "Der<br />

Riese könnte sich bei seiner Horde beschweren <strong>und</strong> sie zum Angriff <strong>auf</strong><br />

uns anstacheln. Wenn sie kommen, möchte ich gerne woanders sein."<br />

<strong>Harry</strong> verwendete erst gar keine Energie dar<strong>auf</strong>, ihm zu<br />

widersprechen. Obwohl er h<strong>und</strong>emüde war, bestieg er seinen Besen <strong>und</strong><br />

atmete die scharfe, frische Luft ein, um wach zu werden. Ron neben ihm<br />

murmelte etwas von seinem Bett in Hogwarts mit frischen Laken <strong>und</strong><br />

weichen Decken, während Hermine McGonagall, der noch immer etwas<br />

unbeholfen wirkte, <strong>auf</strong> seinen Besen half.<br />

"Haben wir nicht einmal etwas zum Frühstück?", maulte Ron,<br />

misstrauisch den schwarzen Nachthimmel betrachtend. Vom<br />

Tagesanbruch war nichts zu sehen.<br />

"Du kannst ja die Riesen fragen, ob sie dich einladen", schnappte<br />

Hermine laut, vielleicht auch nur, um ihren knurrenden Magen zu<br />

übertönen.<br />

"Sobald wir in eurem England sind, finden wir sicher etwas",<br />

ermunterte sie Alexander, der <strong>auf</strong> Marius zu ihnen geritten kam. "Wenn<br />

es dämmert, können wir Wasser suchen. Was je<strong>doc</strong>h Essen angeht,<br />

müssen wir wohl noch einige St<strong>und</strong>en dar<strong>auf</strong> verzichten."<br />

"Wie kannst du eigentlich essen wollen – brauchen Tote unbedingt<br />

Nahrung?", fragte <strong>Harry</strong>, dem es komisch vorkam, <strong>das</strong>s ein Geist noch<br />

Essen benötigen sollte. Die Geister Hogwarts KONNTEN gar nicht mehr<br />

essen, auch wenn sie wollten.<br />

Alexander lächelte. "Nein, wir brauchen natürlich keine. Wir essen<br />

zwar gerne, aber zum – Existieren ist es nicht wichtig."<br />

"Ich glaube, ich will <strong>doc</strong>h nicht tot sein", murmelte Ron. Er stieß<br />

sich nun vom Boden ab <strong>und</strong> folgte den anderen in den schwarzen<br />

Himmel hin<strong>auf</strong>. In der Ferne glaubte <strong>Harry</strong> irgendwo zwischen den<br />

dunklen Bergtälern ein schauriges Gebrüll zu hören <strong>und</strong> war froh, vor<br />

den Riesen sicher zu sein.<br />

St<strong>und</strong>enlang flogen sie, bis die ersten Streifen der Dämmerung den<br />

Horizont erhellten <strong>und</strong> die Sterne allmählich verblassten. <strong>Harry</strong> spürte<br />

mittlerweile weder seine Hände noch seine Füße mehr, beide waren sie<br />

vor Kälte taub. Außerdem fielen ihm ständig die Augen zu, <strong>und</strong> er<br />

musste <strong>auf</strong>passen, <strong>das</strong>s er nicht von seinem Besen fiel.<br />

Endlich ging im Osten die Sonne <strong>auf</strong> <strong>und</strong> warf ein sanftes,<br />

goldenes Licht <strong>auf</strong> die mit geschwungenen grünen Hügeln durchzogene<br />

Landschaft unter ihnen. In der Nähe eines großen Stromes gingen sie<br />

schließlich nieder.<br />

278


"Wenn ich mich nicht täusche, müsste <strong>das</strong> der Rhein sein", meinte<br />

Hermine in dem Ton, den sie auch für Antworten <strong>auf</strong> Lehrerfragen parat<br />

hatte.<br />

"Mhm", brummte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> versuchte, sein verkrampftes Bein über<br />

den Besenstiel zu heben.<br />

"Das heißt, wir sind vielleicht noch vier oder fünf Flugst<strong>und</strong>en von<br />

England entfernt", rümpfte Hermine die Nase über seine Unwissenheit.<br />

Ron verdrehte die Augen. "Wenigstens in der <strong>Unterwelt</strong> könntest<br />

du diese Besserwisserei ja sein lassen."<br />

"Ach ja? Wenn ich nicht wäre, wüsstest du nicht einmal, in welche<br />

Himmelsrichtung wir fliegen müssen!", konterte Hermine.<br />

"Na wo schon hin – halt zum Meer", sagte Ron <strong>und</strong> zeigte<br />

überzeugt in eine Richtung, in der <strong>Harry</strong> Spanien vermutete. Hermine<br />

gab es <strong>auf</strong>.<br />

"Essen gibt es hier zwar keins, es sei denn, ihr habt Lust, einen<br />

Hirsch zu jagen", rief ihnen McGonagall zu, der zum Ufer des Flusses<br />

ging. "Aber zumindest haben wir Wasser." <strong>Harry</strong> kam misstrauisch näher<br />

<strong>und</strong> starrte in die grün-blauen Fluten. "Keine Angst, ihr könnt es trinken.<br />

In der Zeit, in der wir uns befinden, war es noch nicht verschmutzt."<br />

<strong>Harry</strong> schöpfte also <strong>das</strong> kalte Wasser <strong>und</strong> trank, da er wirklich<br />

Durst hatte, es schmeckte fast wie Quellwasser. Im heutigen England<br />

würde ich mir nicht trauen, einfach aus Gewässern zu trinken, dachte er<br />

erschaudernd.<br />

Auch Marius trank begeistert am Ufer <strong>und</strong> ließ sich dann<br />

<strong>auf</strong>stöhnend ins weiche, noch taunasse Gras fallen.<br />

"Aufstehen!", gab ihm Alexander einen Klapps <strong>auf</strong> den Hintern.<br />

Von den Verletzungen, die er in der vergangenen Nacht erlitten hatte,<br />

war nichts mehr zu merken: Weder hinkte er, noch konnte man eine<br />

W<strong>und</strong>e am Kopf sehen, obwohl <strong>Harry</strong> hätte schwören können, <strong>das</strong>s der<br />

Stein ihm den Hinterkopf zerschmettert hatte.<br />

Alexander, der nun <strong>Harry</strong>s erstaunte Blicke bemerkte, lachte. "Wie<br />

ich sagte, Tote können nicht mehr verletzt werden. Wenigstens ein<br />

Vorteil – nun, wenn ich so darüber nachdenke, dann hat der Tod<br />

verglichen mit dem Leben wahrlich eine Menge Vorteile."<br />

<strong>Harry</strong> richtete wortlos seinen Zauberstab <strong>auf</strong> Alexanders Kleider,<br />

die völlig zerrissen waren.<br />

"Reparo!" Sofort flickten sich die Risse von selbst.<br />

"Danke", meinte Alexander <strong>und</strong> fügte mit plötzlich trauriger Stimme<br />

an: "Ich werde nie so zaubern können, oder? Es gibt keinen Weg, <strong>das</strong> zu<br />

erlernen?"<br />

<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf. Noch nie hatte er sich mit einem Muggel<br />

darüber unterhalten, was es bedeutete, Zauberei zu beherrschen, <strong>und</strong><br />

stellte <strong>auf</strong> einmal fest, <strong>das</strong>s ihm eine Fähigkeit gegeben war, um die ihn<br />

andere beneideten. Auch <strong>das</strong> war ein neues Gefühl, wo <strong>doc</strong>h die<br />

279


Dursleys als einzige Muggel, die von seiner Gabe wussten, ihn nur als<br />

Aussätzigen behandelten.<br />

"Das Gelernte darf einer von euch gerne anwenden", sagte<br />

McGonagall, der den Verband von seiner Kopfw<strong>und</strong>e genommen hatte.<br />

Immer noch blutete sie leicht.<br />

"Wozu habe ich euch denn die Heilzauber beigebracht? Zeigt mal,<br />

was ihr könnt!"<br />

<strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Alexander verfolgten gebannt Hermine, die ruhig<br />

mit dem Zauberstab <strong>auf</strong> McGonagall zeigte <strong>und</strong> "Episkey!" rief. Die<br />

W<strong>und</strong>e schloss sich sofort.<br />

"Sehr gut", lobte sie ihr Lehrer, wor<strong>auf</strong>hin Hermine leicht rot anlief<br />

<strong>und</strong> Ron dazu brachte, sich demonstrativ näher an sie heran zu stellen.<br />

"Wenn <strong>das</strong> Wasser nicht so elendig kalt wäre", murmelte<br />

McGonagall <strong>und</strong> strich sich <strong>das</strong> mit Blut verschmierte Haar aus dem<br />

Gesicht. "Aber da kriegen mich keine zehn Abraxas-Pferde rein."<br />

"Dann sollten wir weiter fliegen", meinte <strong>Harry</strong>, dem diese völlig<br />

menschenleere Umgebung mit der Zeit unheimlich wurde.<br />

Wahrscheinlich wohnten irgendwo in der Nähe wilde Urmenschen, die<br />

nur dar<strong>auf</strong> warteten, sie <strong>auf</strong>spießen zu können.<br />

"Hier bin ich noch nie gewesen", erklärte Alexander <strong>und</strong> sah<br />

wehmütig in die Ferne, als wolle er tatsächlich losziehen <strong>und</strong> sie<br />

erk<strong>und</strong>en.<br />

"Und ich will hier auch nie mehr sein", stellte Ron klar, der besorgt<br />

seinen Bauch betrachtete, welcher in den letzten Minuten immer<br />

beunruhigendere Geräusche fabriziert hatte.<br />

Kurze Zeit später saßen sie wieder <strong>auf</strong> den Besen <strong>und</strong> flogen, bis<br />

sie ein relativ schmales blaues Meer unter sich sahen.<br />

"Der Kanal!", schrie Hermine <strong>und</strong> deutete nach vorne. "Dort ist die<br />

englische Südküste!"<br />

Weiße Steilküsten erhoben sich vor ihnen unter einer grauen<br />

Regenwand <strong>und</strong> gingen in hellgrüne Wiesen über.<br />

"Ihr wisst, <strong>das</strong>s es im frühen England Unmengen von Drachen gab,<br />

oder?", erk<strong>und</strong>igte sich McGonagall. <strong>Harry</strong> nahm an, <strong>das</strong>s es eine<br />

rhetorische Frage war <strong>und</strong> schwieg lieber.<br />

Sie landeten <strong>auf</strong> den windigen Steilküsten <strong>und</strong> mussten ihre Besen<br />

festhalten, damit der Wind sie nicht fortwehte.<br />

"Das Beste wäre, wir apparieren sofort durch die Zeit", meinte<br />

Alexander. "Wie sieht es denn im England des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts aus?"<br />

"Eigentlich so wie hier", meinte <strong>Harry</strong> unschlüssig. Irgendwo an<br />

dieser Küste würde später Dover liegen, <strong>das</strong> er allerdings nur aus dem<br />

Fernsehen kannte. "Nur befindet sich hier eine Stadt mit einem großen<br />

Hafen ...“<br />

280


"Ich bin mit meinen Eltern durch Dover gekommen, als wir in<br />

Frankreich Urlaub gemacht haben", meinte Hermine <strong>und</strong> trat vor die<br />

anderen.<br />

"Dort werden die großen Docks sein ... weiße Passagierschiffe, vor<br />

denen Autos in Reihen warten, um geladen zu werden ...“ Sie schwieg,<br />

als sie Alexanders verwirrte Miene sah.<br />

"Schiffe ... nicht solche wie zu deinen Zeiten, sondern riesige,<br />

segellose."<br />

"Schiffe ohne Segel?" Der König starrte sie an, als wäre sie ein<br />

zweibeiniges Nashorn. "So etwas gibt es nicht!"<br />

Die vier anderen setzten ihn dar<strong>auf</strong>hin eine viertel St<strong>und</strong>e lang<br />

über moderne Schifffahrt, Personenkraftverkehr <strong>und</strong> zeitgenössische<br />

Sitten in Kenntnis.<br />

"Wir bräuchten eigentlich andere Kleidung für dich", meinte<br />

McGonagall besorgt <strong>und</strong> schaute <strong>auf</strong> Alexanders helles Gewand von der<br />

Sorte, wie es <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron vorgestern Abend auch getragen hatten.<br />

"Wir werden <strong>auf</strong>fallen wie Zirkustiere."<br />

Hastig kramte <strong>Harry</strong> in seinem Rucksack <strong>und</strong> holte den<br />

Tarnumhang heraus. "Damit sollte es gehen!", schlug er vor, <strong>und</strong><br />

Alexander verschwand unter dem fließenden Stoff. McGonagall<br />

verpasste Marius zudem einen eigenartigen Zauber, durch den seine<br />

Flügel unsichtbar worden, <strong>und</strong> er außerdem ein Halfter <strong>und</strong> einen<br />

modernen Sattel bekam, so<strong>das</strong>s er aussah wie ein normaler Schimmel.<br />

Dennoch, dachte <strong>Harry</strong> verzweifelt, wird es schwer werden<br />

unterzutauchen. Ihre Besen hatten sie schließlich auch noch.<br />

"Sobald wir drüben sind", wies sie McGonagall an, "gehen zwei von<br />

uns in die Stadt <strong>und</strong> holen neue Kleidung, Essen <strong>und</strong> Trinken. Die<br />

anderen warten außerhalb. Wenn wir alles haben, verpasse ich euch<br />

einen Desillusionszauber <strong>und</strong> wir fliegen nach London."<br />

"Aber –", setzte <strong>Harry</strong> an, als ihm etwas einfiel.<br />

"Was?"<br />

"Wir haben kein Muggelgeld!"<br />

"Doch, ich habe welches. Und auch eine Kreditkarte", vernahm er<br />

mit Erleichterung McGonagalls Antwort. "Ich bin es eben gewohnt, unter<br />

Muggeln zu leben ..."<br />

"Und wer soll gehen?", fragte Ron <strong>und</strong> sah sich misstrauisch um,<br />

als fürchte er, mit einem ungarischen Hornschwanz alleine gelassen zu<br />

werden.<br />

"Am besten Hermine <strong>und</strong> ich – sie kennt sich in Dover ein bisschen<br />

aus. Wir werden <strong>zur</strong>ückkommen, so schnell es uns möglich ist",<br />

versprach McGonagall, als er Rons finstere Miene sah.<br />

"Aber jetzt lasst uns durch die Zeit reisen!"<br />

<strong>Harry</strong> atmete tief durch. Er war noch nie aus eigenen Kräften<br />

appariert <strong>und</strong> hatte auch keine Ahnung, wie man <strong>das</strong> anstellen sollte. Er<br />

281


fasste Hermines Hand, welche wiederum Ron festhielt. McGonagall <strong>und</strong><br />

Alexander schlossen sich an, so<strong>das</strong>s sie einen Kreis bildeten, die Besen<br />

in der Mitte. McGonagall hatte sich noch die Zügel von Marius ums<br />

Handgelenk geschlungen <strong>und</strong> forderte sie nun <strong>auf</strong>, sich <strong>das</strong> moderne<br />

Dover so genau wie möglich vorzustellen.<br />

"Versucht, es vor euch zu sehen ... die Häuser, die Autos, die<br />

Menschen <strong>und</strong> Straßen."<br />

<strong>Harry</strong> kniff die Augen zusammen <strong>und</strong> stellte sich einen großen<br />

Hafen mit Fähren <strong>und</strong> Passagieren vor, mit bunten Autos <strong>und</strong> Bussen<br />

<strong>und</strong> regenverhangenen Häuserfassaden –<br />

"Und vergesst eure Besen nicht!", erinnerte sie McGonagall, <strong>und</strong><br />

als <strong>Harry</strong> dar<strong>auf</strong>hin geschwind seinem Gedankenbild den Feuerblitz<br />

hinzufügte, spürte er ein kurzes, unangenehmes Reißen in der<br />

Magengegend. Er traute sich nicht, die Augen zu öffnen, denn ein Wirbel<br />

an Farben <strong>und</strong> Linien drang durch die Dunkelheit <strong>und</strong> zog ihn nach oben.<br />

Ihm war, als schwebe er <strong>auf</strong>wärts, die Hand von Hermine immer noch<br />

fest umklammert. Mit dem Appariergefühl, <strong>das</strong> er kannte, hatte <strong>das</strong><br />

Zeitreisen nicht viel zu tun, es war eher, als fuhr man in einem Fahrstuhl<br />

sanft in die Höhe.<br />

Plötzlich hatte er wieder festen Boden unter den Füßen <strong>und</strong><br />

vernahm <strong>das</strong> laute Hupen eines Autos. Erschrocken riss er die Augen<br />

<strong>auf</strong>.<br />

Sie standen mitten <strong>auf</strong> einer stark befahrenen Straße. Ein grauer<br />

Laster vor ihnen schlingerte, als der Fahrer hektisch <strong>auf</strong> die Bremse trat,<br />

wor<strong>auf</strong>hin mehrere Autos ineinander krachten in dem Versuch, ihnen<br />

auszuweichen.<br />

Das war ihr Glück, denn wären sie erwischt worden, wären sie<br />

gestorben <strong>und</strong> für immer an die <strong>Unterwelt</strong> gefesselt gewesen, ohne <strong>das</strong>s<br />

die Lebenden Bescheid gewusst hätten, was ihnen widerfahren war.<br />

"Weg hier!", schrie McGonagall <strong>und</strong> stieß sie panisch in Richtung<br />

Bürgersteig, ihre Besen in der einen <strong>und</strong> Marius an der anderen Hand.<br />

"Gr<strong>und</strong>gütiger, wir mussten ja auch <strong>auf</strong> die Hauptstraße<br />

apparieren!", beschwerte sich Ron, als er gegen einen Laternenpfahl<br />

taumelte.<br />

"Tja, sorry, <strong>das</strong> habe ich natürlich nicht ahnen können", keuchte<br />

McGonagall bei dem Versuch, Marius zu beruhigen, dem die vielen<br />

Autos nicht zusagten.<br />

"<strong>Harry</strong>, in Deckung!", zischte er plötzlich, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> verschwand<br />

schnell mit unter dem Tarnumhang. Im nächsten Moment kamen<br />

Muggelpolizisten <strong>auf</strong> sie zu.<br />

"Haben Sie diesen Aufruhr verursacht?", fragte der erste, in einer<br />

dunkelgrünen Uniform <strong>und</strong> mit einem Funksprechgerät bewaffnet.<br />

"Nein, ich meine ja, aber <strong>das</strong> war keine Absicht", stammelte<br />

McGonagall.<br />

282


"Verdächtige gef<strong>und</strong>en. Wir werden sie <strong>auf</strong>s Hauptquartier<br />

bringen", sprach der zweite Polizist in sein Funkgerät.<br />

"Warten Sie, <strong>das</strong> geht nicht", fuhr Ron <strong>auf</strong>.<br />

"Wieso?", wollte der Polizist wissen <strong>und</strong> wandte sich ihm mit einem<br />

fragenden Blick zu.<br />

"Weil wir – etwas erledigen müssen", meinte Ron trotzig, was die<br />

Muggel in einen Lachanfall ausbrechen ließ.<br />

"Sie haben etwas vor! Wie putzig. Weißt du was, Junge? Wir<br />

haben auch etwas vor, nämlich euch festzunehmen, da ihr gerade einen<br />

echten Auffahrunfall verursacht habt."<br />

"Aber sie sind <strong>doc</strong>h schon tot", argumentierte McGonagall<br />

verzweifelt <strong>und</strong> wies <strong>auf</strong> mehrere Leute, die nun aus den kaputten Autos<br />

gezogen wurden. Es waren allesamt Muggel, <strong>und</strong> alle hatten sie<br />

Verletzungen erlitten, die in der Welt der Lebenden als tödlich<br />

bezeichnet worden wären.<br />

"Nur weil hier niemand mehr sterben kann, heißt <strong>das</strong> nicht, <strong>das</strong>s<br />

Sie sich wie Rowdys benehmen dürfen!", explodierte der Polizist <strong>und</strong><br />

legte McGonagall so schnell Handschellen an, <strong>das</strong>s dieser nur noch<br />

verblüfft <strong>auf</strong> die Eisen um seine Handgelenkte schauen konnte.<br />

"In diesem Land gibt es genauso Gesetze wie in der Welt der<br />

Lebenden, kapiert ihr <strong>das</strong> nicht? Ich wette, wir haben hier auch die<br />

Schuldigen für die Karambolage in der West Street von letzter Woche",<br />

triumphierte er.<br />

"Mit Sicherheit nicht, denn wir sind erst seit zwei Tagen – äh, hier",<br />

fauchte McGonagall <strong>und</strong> versuchte vergeblich, die Handschellen zu<br />

lösen. Ron zückte seinen Zauberstab, um ihm zu helfen, fand ihn eine<br />

Zehntelsek<strong>und</strong>e später aber in der Hand der Polizisten wieder.<br />

"Ah, wir haben hier Zauberer", grinste der Beamte selbstzufrieden.<br />

"Dann gib schön deinen Zauberstab her, Mädchen", forderte er Hermine<br />

<strong>auf</strong>. „Und keinen Widerstand, ja?“ Er deutete mit dem Finger <strong>auf</strong> eine<br />

Handfeuerwaffe, die griffbereit an seinem Gürtel hing.<br />

Hermine schien eine Weile zu überlegen, ob sich ein Angriff lohnte,<br />

sah aber schließlich die Ausweglosigkeit ihrer Situation ein <strong>und</strong> übergab<br />

widerwillig <strong>und</strong> mit zusammengekniffenen Augen ihren Weinholzstab.<br />

Auch McGonagall wurde der Zauberstab abgenommen.<br />

"Und nun folgt mir, ohne Mucken zu machen", befahl der Polizist<br />

<strong>und</strong> stieß sie in ein Polizeiauto.<br />

McGonagall trat einen Schritt <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> schaute in die Richtung,<br />

in der er wohl <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Alexander vermutete.<br />

"Ihr müsst uns hier rausholen!", flüsterte er <strong>und</strong> warf ihnen mit<br />

seinen gefesselten Händen ungeschickt ein Portemonnaie zu.<br />

"Mach, <strong>das</strong>s du rein kommst", blökte der Polizist <strong>und</strong> packte ihn<br />

grob an den Haaren, bevor er ihn unsanft ins Auto beförderte.<br />

283


Nachdem <strong>das</strong> Polizeiauto mit schrillender Sirene abgefahren war,<br />

bedeutete <strong>Harry</strong> Alexander, vorsichtig mit ihm zu kommen, so<strong>das</strong>s sie<br />

den Tarnumhang nicht verloren. Ein Stück weiter fanden sie in einer<br />

Nebenstraße einen kleinen Park. <strong>Harry</strong> vergewisserte sich, <strong>das</strong>s sie<br />

allein waren <strong>und</strong> riss den Umhang von sich.<br />

"Verdammter Mist!", fluchte er <strong>und</strong> trat vor Wut gegen eine<br />

Mülltonne, die scheppernd umfiel.<br />

"Mach keinen Krach, sonst verhaften sie uns auch noch", warnte<br />

ihn Alexander. Marius war mit ihnen gekommen <strong>und</strong> trottete <strong>auf</strong> der<br />

Suche nach Gras über den zertrampelten Boden des Parks.<br />

"Diese dummen Muggelpolizisten", fluchte er weiter.<br />

"Die zeitgenössischen Ordnungshüter sind tatsächlich etwas stur",<br />

drückte es Alexander höflicher aus. "Aber es ist geschehen, was<br />

geschehen ist, wir müssen nun einen Weg finden, sie zu befreien.<br />

Schließlich kannst du zaubern."<br />

"Aber die Muggel hier wissen von Zauberei! Du hast <strong>doc</strong>h<br />

gesehen, wie schnell sie Ron den Zauberstab abgenommen haben",<br />

meinte <strong>Harry</strong> verzweifelt.<br />

"Gut, aber du wirst <strong>doc</strong>h auch aus der Ferne zaubern können.<br />

Oder willst du damit sagen, <strong>das</strong>s du mit Magie nichts ausrichten kannst?<br />

Das wäre nicht schlimm, ich werde einen anderen Weg finden."<br />

"Natürlich kann ich zaubern", meinte <strong>Harry</strong> patzig.<br />

"Dann ist ja gut", entgegnete Alexander ruhig. "Ich schlage vor, <strong>das</strong><br />

Hauptlager der grünen Leute zu finden."<br />

"Sie heißen Polizisten, <strong>und</strong> sie haben eine Hauptzentrale",<br />

verbesserte ihn <strong>Harry</strong> müde. Nach der letzten Nacht befand er sich<br />

ohnehin nicht <strong>auf</strong> der Höhe seiner Kräfte, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s sie nun auch noch<br />

Ron, Hermine <strong>und</strong> McGonagall verloren hatten, gab ihm den Rest. Er<br />

konnte nicht begreifen, wie Alexander noch so munter Pläne schmieden<br />

konnte, wo er zudem auch noch vor wenigen St<strong>und</strong>en von einem Riesen<br />

halb tot geprügelt worden war.<br />

"Gut, dann frage ich jetzt jemanden, wo sich die Zentrale befindet",<br />

kündigte der König an <strong>und</strong> wollte losgehen, als <strong>Harry</strong> ihn <strong>zur</strong>ückrief.<br />

"Was ist?"<br />

"Du kannst unmöglich so unter die Leute gehen. Wir dürfen nicht<br />

<strong>auf</strong>fallen. Mich kennt man in dieser Zeitepoche. Wenn <strong>das</strong> Gerücht<br />

entsteht, <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> sei tot, dann gibt es einen gewaltigen Aufruhr –<br />

<strong>und</strong> ich habe eigentlich nicht vor, jemandem erklären zu müssen, was<br />

wir hier vorhaben."<br />

"Wieso bist du berühmt?", fragte Alexander neugierig.<br />

"Ach, wegen nichts Besonderem", wiegelte <strong>Harry</strong> ab. Die Lust,<br />

seine Stellung in der Zaubererwelt mit einem eigentlich seit zwei<br />

Jahrtausenden toten Makedonenkönig zu diskutieren, ging gegen Null.<br />

284


"Wir müssen zusehen, <strong>das</strong>s wir die anderen wieder finden. Eher<br />

können wir nicht nach London." Er stellte sich Ron <strong>und</strong> Hermine in einem<br />

engen, kalten Gefängnis vor, ohne Hoffnung, herauszukommen <strong>und</strong><br />

verloren in einer fremden Welt. Vielleicht wäre es klüger, erst Sirius zu<br />

suchen <strong>und</strong> dann mit der Hilfe eines erwachsenen Zauberers ins<br />

Gefängnis einzubrechen, <strong>doc</strong>h <strong>Harry</strong> wäre nie <strong>auf</strong> die Idee gekommen,<br />

seine Fre<strong>und</strong>e im Stich zu lassen.<br />

"Hier, zieh <strong>das</strong> an", wandte er sich an Alexander <strong>und</strong> holte eine<br />

Hose <strong>und</strong> einen Pullover aus seinem Rucksack, die einzigen noch<br />

sauberen Sachen, die er besaß. "Du hast fast dieselbe Größe wie ich ..."<br />

Alexander sah ihn etwas finster an, wohl, weil er eigentlich doppelt<br />

so alt war wie <strong>Harry</strong>. Schweigend zog er sich um <strong>und</strong> setzte am Ende<br />

noch eine Mütze <strong>auf</strong>, um die immer noch mit Blut beschmutzten Haare<br />

zu verdecken.<br />

"Was machen wir mit dem geflügelten Pferd?", fragte er <strong>und</strong> wies<br />

<strong>auf</strong> Marius.<br />

<strong>Harry</strong> dachte fieberhaft nach. Im Gr<strong>und</strong>e machte es wenig Sinn,<br />

<strong>das</strong> Abraxas-Pferd noch mitzunehmen – es war tot <strong>und</strong> konnte nicht<br />

mehr durch den Bogen <strong>zur</strong>ück.<br />

"Wenn du es möchtest, gehört es dir", bot er deswegen an. "Aber<br />

hier kann es nicht bleiben. Muggel sind nicht an Pferde gewöhnt, die <strong>auf</strong><br />

den Straßen umherl<strong>auf</strong>en ... es würde den Weg <strong>zur</strong>ück zu deinem Heer<br />

sicher finden", fügte er versucht überzeugend hinzu. Er hatte keine<br />

Ahnung, ob <strong>das</strong> stimmte, aber sie konnten sich nicht länger mit dem<br />

Hengst belasten. Und vor allem nicht mit ihm <strong>zur</strong> Polizeiwache gehen.<br />

Also trat Alexander an <strong>das</strong> Pferd heran, flüsterte ihm etwas ins<br />

Ohr, <strong>und</strong> es erhob sich wiehernd in die Luft. "Danke. Es wird in<br />

Frankreich <strong>auf</strong> mich warten", erklärte er dem verdutzten <strong>Harry</strong>.<br />

Dann traten sie wieder <strong>auf</strong> die Straße. <strong>Harry</strong> hoffte inständig, <strong>das</strong>s<br />

sie keinem Zauberer über den Weg liefen, der in ihm den Bezwinger<br />

Voldemorts wieder erkennen würde. Seinen schwarzen Umhang hatte er<br />

zusammen mit dem Tarnumhang in seiner Tasche verstaut <strong>und</strong> fiel unter<br />

den vielen Muggeln nicht weiter <strong>auf</strong>, mal abgesehen von den Besen, die<br />

er trug. Aber einem <strong>auf</strong>merksamen Beobachter wäre seine Stirnnarbe<br />

dennoch nicht entgangen, da machte er sich keine Illusionen.<br />

Unbehelligt fanden sie den Weg durch die vielen Straßen in die<br />

Innenstadt <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>igten sich nach dem Polizeirevier, <strong>das</strong> sie wenige<br />

Minuten später betraten.<br />

Ein gelangweilter Muggel hinter einem Schalter sah sie abwertend<br />

an.<br />

"Kinder haben hier nichts zu suchen", schnarrte er <strong>und</strong> erinnerte<br />

<strong>Harry</strong> unangenehm an Onkel Vernon.<br />

285


"Wir möchten zu den Gefangenen, die vor etwa einer St<strong>und</strong>e<br />

eingeliefert worden sind", forderte <strong>Harry</strong>. Der Beamte lachte hässlich <strong>und</strong><br />

beugte sich zu ihm hinunter. "Verschwindet von hier, sonst lasse ich<br />

euch rauswerfen. Geht wieder spielen!"<br />

Da trat Alexander an den Wachmann heran, die Augen schwarz<br />

vor Wut. "Wir wollen wissen, wohin die Gefangenen gebracht worden<br />

sind", zischte er leise, aber so bedrohlich, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong>s Haare sich im<br />

Nacken <strong>auf</strong>richteten. Auf einmal verstand er, wie Alexander einer der<br />

größten Herrscher der Geschichte hatte werden können.<br />

"Nun ja, sie sind verhört worden <strong>und</strong> dann – dann in die<br />

Untersuchungshaft geschafft worden ... ", stotterte der Beamte <strong>und</strong> sah<br />

Alexander erschrocken an.<br />

"Gut, dort können wir sie besuchen, oder?"<br />

"Eigentlich nur Verwandte, wissen Sie", beeilte sich der Polizist zu<br />

sagen, offensichtlich in Angst, mit einer negativen Antwort Alexanders<br />

Zorn zu verstärken.<br />

"Prima, denn wir sind mit einem dieser Gefangenen verwandt, mit<br />

Jamie McGonagall", behauptete Alexander, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> musste sich<br />

zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Der Muggelbeamte kniff die<br />

Augen zusammen <strong>und</strong> sah die beiden prüfend an.<br />

"Dir glaube ich <strong>das</strong>", nickte er zu <strong>Harry</strong>, was diesen wenig<br />

verw<strong>und</strong>erte, da er ja tatsächlich mit McGonagall verwandt war. "Doch<br />

ich fresse einen Besen, wenn <strong>das</strong> auch <strong>auf</strong> Sie zutrifft."<br />

Wortlos schnappte sich Alexander Rons Sauberwisch <strong>und</strong> hielt ihn<br />

wie eine wurfbereite Lanze, nur wenige Zentimeter von dem Gesicht des<br />

Beamten entfernt.<br />

„Das lässt sich einrichten“, meinte er lässig <strong>und</strong> lächelte Unheil<br />

verkündend. „Ich habe in meinem Leben h<strong>und</strong>erte, tausende von<br />

Menschen getötet, <strong>und</strong> ich versichere dir, keiner davon war so<br />

jämmerlich wie du. Du kannst dich entscheiden: Entweder begleitest du<br />

uns zu den Gefangenen, oder du verbringst den Rest des Tages<br />

bewusstlos zu, bis die <strong>auf</strong>gehende Sonne deine zerrissenen Gliedmaßen<br />

leider wieder zusammensetzt.“<br />

Die ganze Zeit sprach Alexander so ausdruckslos, als lese er die<br />

Speisekarte eines Restaurants vor.<br />

Der Beamte konnte sich vor Angst einige Sek<strong>und</strong>en weder rühren<br />

noch etwas sagen, sondern stammelte nur unverständliche Laute vor<br />

sich hin.<br />

"Was ist?", fragte Alexander hart.<br />

"Ich werde Sie hinführen, kein Problem", zitterte der Mann <strong>und</strong> tat<br />

<strong>Harry</strong> fast Leid. "Nur tun Sie mir nichts ... ich will nicht sterben, will nicht<br />

in die Dunkelheit versinken ... auch wenn ich morgen wieder erwache, ist<br />

es ein schreckliches Gefühl, so schrecklich ..."<br />

286


Alexander schnaubte. "So eine widerliche Furcht vor dem Tod ist<br />

erbärmlich. Ich wette, in deinem Leben hast du auch nichts anderes<br />

getan als vor dem Tag zu beben, an dem du es verlieren würdest."<br />

"Ja, ja, so ging es uns allen", nuschelte der Wachmann <strong>und</strong><br />

fingerte einen Schlüssel aus einer Schublade heraus.<br />

"Nein, eben nicht", widersprach Alexander kalt. "Wir alle mussten<br />

sterben, als es an der Zeit für uns war, aber nur jene, die den Tod nicht<br />

fürchteten, konnten ihr Leben wirklich zu etwas Sinnvollem nutzen."<br />

Abschätzend sah er den Beamten an. "Ich wette, du langweilst dich in<br />

deinem Job jeden Tag mehr, weißt nicht, wohin deine Existenz hier<br />

unten führen soll oder ob es irgendwann ein Ende des grauen Alltags<br />

gibt."<br />

Der Polizist zuckte gleichgültig mit den Schultern. "So ist es <strong>doc</strong>h<br />

bei vielen ... erst gestern beschwerte sich John White über <strong>das</strong> alles hier<br />

... er arbeitet als Tellerwäscher in einem Cafe <strong>und</strong> sieht keinen Ausweg.<br />

Ich meine, wir können <strong>doc</strong>h nicht immer <strong>das</strong> tun, was wir machen, immer<br />

arbeiten, selbst im Tod, oder?", grinste er Alexander in einem furchtbar<br />

schief gegangenen Versuch des Witzigseins an, <strong>das</strong> Gesicht <strong>zur</strong><br />

Grimasse verzerrt. Der Makedone sah ihn an, als wäre er eine<br />

besonders eklige Kakerlake.<br />

"Genau <strong>das</strong> ist der Unterschied zwischen Leuten wie dir <strong>und</strong> mir",<br />

stellte er sachlich fest. "Ich führe seit zweitausendfünfh<strong>und</strong>ert Jahren<br />

Krieg, <strong>und</strong> soll ich dir was sagen? Es wird mir nie langweilig. Jeder Tag<br />

ist für mich eine neue Herausforderung, ein neues Abenteuer. Ich<br />

genieße jede Sek<strong>und</strong>e."<br />

Der Beamte wusste kaum noch, in welchen Winkel er<br />

verschwinden sollte, so sehr versuchte er Abstand zwischen sich <strong>und</strong><br />

Alexander zu bekommen.<br />

"Weil ich bereits in meinem Leben meine Bestimmung gef<strong>und</strong>en<br />

habe, entdeckt habe, was mich wirklich erfüllt. Hier unten kann man es<br />

nicht mehr lernen", erklärte Alexander, jetzt eher an <strong>Harry</strong> gerichtet.<br />

"Wie meinst du <strong>das</strong> –", fragte <strong>Harry</strong> verwirrt, aber in dem<br />

Augenblick öffnete der Beamte eine große, eiserne Tür vor ihnen, die<br />

über Treppen in <strong>das</strong> Untergeschoss des Gebäudes führte.<br />

Unten angekommen wurden sie in einen engen, aber gut<br />

beleuchteten grauen Steinkorridor geleitet, an dessen Seiten Metalltüren<br />

eingelassen worden waren, in die man durch eine Glasscheibe<br />

hineinblicken konnte. Offensichtlich wurden hier die Gefangenen<br />

gehalten.<br />

Alexander flüsterte in <strong>Harry</strong>s Ohr. "Kannst du ihn außer Gefecht<br />

setzen?", fragte er leise. <strong>Harry</strong> nickte. Er hätte wetten können, <strong>das</strong>s sie<br />

der Beamte im Normalfall <strong>auf</strong> Zauberstäbe hin durchsucht hätte, aber<br />

der war so verängstigt durch Alexanders Auftreten, <strong>das</strong>s er gar nicht <strong>auf</strong><br />

die Idee kam, irgendwelche Forderungen zu stellen. Die gesamte Zeit<br />

287


ehielt er argwöhnisch den Besenstil in Alexanders Hand im Auge wie<br />

eine Maus, die von einer Schlange verfolgt wird.<br />

Vor der letzten Tür blieben sie stehen.<br />

"Hier sind die Gefangenen, äh, Jamie McGonagall, Hermine<br />

Granger <strong>und</strong> Ron Weasley", las er von einem Formular ab.<br />

"Öffne die Tür", forderte Alexander.<br />

"Das kann ich nicht –"<br />

"Öffne die Tür, oder der Besen wird in dir stecken."<br />

"Mir ist es nicht erlaubt –"<br />

Alexander erhob den Besen.<br />

"Mann, schon gut, aber klopft, wenn ihr wieder raus wollt!", rief er<br />

hektisch <strong>und</strong> schloss ungeschickt die Zelle <strong>auf</strong>. Die Tür schwang beiseite<br />

<strong>und</strong> Ron, der dagegen gelehnt hatte, purzelte mit überraschtem<br />

Gesichtsausdruck <strong>auf</strong> den Gang.<br />

"Begeben Sie sich sofort wieder in die Zelle, Sie haben Besuch",<br />

herrschte ihn der Beamte an.<br />

Alexander hob die Augenbrauen. "Ach, seit wann gibst du hier die<br />

Befehle?", höhnte er <strong>und</strong> nickte <strong>Harry</strong> zu. Der richtete flink den<br />

Zauberstab <strong>auf</strong> den verblüfften Beamten.<br />

"Stupor!", schrie er, <strong>und</strong> der Mann fiel ohne Ansatz nach hinten<br />

weg <strong>und</strong> schlug hart <strong>auf</strong> dem Boden <strong>auf</strong>.<br />

"Gute Arbeit", lobte Alexander.<br />

"<strong>Harry</strong>!"<br />

Hermine kam aus der Zelle gerannt <strong>und</strong> fiel ihm um den Hals.<br />

"Wir dachten schon, wir hätten euch verloren ... als uns die<br />

Polizisten weggeführt haben, haben sie etwas von einem ewig langen<br />

Prozess erzählt, Jamie hat ihnen mit dem Premierminister gedroht, aber<br />

da haben sie sich nur tot gelacht ..."<br />

"Ja, ich habe ganz vergessen, <strong>das</strong>s der Knabe noch lebt", grinste<br />

McGonagall <strong>und</strong> blickte zu dem bewusstlosen Polizisten. "Ich hatte<br />

eigentlich etwas Eleganteres erwartet", meinte er mit schief gelegtem<br />

Kopf, als benote er eine Hausarbeit. "Eine Geschichte mit Vielsafttrank,<br />

Animagi <strong>und</strong> Tarnumhängen mindestens."<br />

<strong>Harry</strong> sah ihn so verblüfft an, <strong>das</strong>s er lachten musste. "Einfach<br />

reinzuplatzen <strong>und</strong> den Dienst habenden Beamten zu lähmen passt nicht<br />

zu dir!"<br />

"Zu ihm nicht, aber zu mir", stellte Alexander schlicht fest.<br />

Alle lachten, zum Großteil aus Erleichterung, <strong>das</strong>s sie wieder<br />

zusammen waren.<br />

"Nun lasst uns hier verschwinden", forderte Ron endlich.<br />

"Folgt mir", befahl Alexander, als wäre jetzt Krieg <strong>und</strong> sie in einem<br />

feindlichen Gebiet.<br />

Ohne Komplikationen gelangten sie wieder <strong>auf</strong> die Straße,<br />

nachdem sie sich mit Hilfe der Schlüssel des geschockten Beamten die<br />

288


Zauberstäbe von Ron, Hermine <strong>und</strong> McGonagall aus einem Tresor<br />

<strong>zur</strong>ückgeholt hatten.<br />

"Ich würde sagen, wir fliegen ohne Umwege nach London, in Dover<br />

werden sie uns drei bald suchen", meinte McGonagall besorgt <strong>und</strong><br />

schaute sich <strong>auf</strong>merksam um.<br />

"Aber ich sterbe vor Hunger!", beschwerte sich Ron. Da merkten<br />

sie alle, wie hungrig sie waren <strong>und</strong> holten sich an einem Imbiss Fish and<br />

Chips. Alexander inspizierte <strong>das</strong> Fast Food mit hoch gezogenen<br />

Augenbrauen erst einmal eine Minute, bevor er aß.<br />

Als sie gestärkt waren, verteilte McGonagall die Besen. "Hermine<br />

setzt sich am besten mit zu <strong>Harry</strong>", meinte er, da sie einen Besen zu<br />

wenig hatten.<br />

Es war zwar ungewohnt, mit einem Beiflieger durch die Luft zu<br />

steuern, aber <strong>Harry</strong> merkte nach ein paar chaotischen Anfangsminuten,<br />

in denen er seinen Feuerblitz nicht deutlich genug in die entsprechenden<br />

Richtungen gelenkt hatte, <strong>das</strong>s er sich <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Mehrgewicht einzustellen<br />

begann. Auch Alexander hatte anfangs Schwierigkeiten, sich <strong>auf</strong> seinem<br />

wackelnden Schulbesen zu halten, aber dafür, <strong>das</strong>s es sein erstes Mal<br />

war, hielt er sich überraschend gut, so gut, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> ihn sich in<br />

Gedanken in seiner Quidditch-Mannschaft vorstellte.<br />

Schnell ließen sie die Küstenstraßen von Dover hinter sich <strong>und</strong><br />

flogen über grüne Wiesen <strong>und</strong> kleine Hügel mit Schafherden, zwischen<br />

denen kläffende H<strong>und</strong>e von Schafhirten angetrieben wurden.<br />

Als die ersten Vorstädte im Dunstkreis des gewaltigen London vor<br />

ihnen <strong>auf</strong>tauchten, spürte <strong>Harry</strong> sein Herz schneller schlagen. Hier<br />

würden sie hoffentlich Sirius finden. Und dann? Durch den weißen<br />

Bogen <strong>zur</strong>ück? Hieß <strong>das</strong>, <strong>das</strong>s sie schon wieder ins Ministerium<br />

eindringen mussten? Langsam war ihm dieses Gebäude ernsthaft<br />

verhasst.<br />

Unter ihnen rasten kleine Häuser vorbei, an geschwungene<br />

Straßen geschmiegt, in denen Autos wie endlose Kolonnen von Ameisen<br />

langsam vorwärts krochen.<br />

"Wo wollen wir landen?", rief ihnen McGonagall zu.<br />

"Ja, richtig, wir müssen überlegen, wo sich Sirius <strong>auf</strong>halten<br />

würde", schrie Hermine <strong>Harry</strong> von hinten so laut ins Ohr, <strong>das</strong>s er für ein<br />

paar Sek<strong>und</strong>en taub wurde.<br />

"Wie wäre es mit dem Grimmauldplatz?", schlug Ron vor.<br />

"Dort würde Sirius nie freiwillig hingehen", sagte <strong>Harry</strong> sofort. "Er<br />

hasst sein Zuhause – <strong>und</strong> seine Familie, vergiss nicht, die wird sicher in<br />

ihrem alten Heim leben."<br />

"Äh, also <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Original dieses widerwärtigen Gemäldes habe ich<br />

persönlich keine Lust", ätzte Ron <strong>und</strong> tat so, als würde er sich<br />

übergeben. McGonagall, der hinter ihm flog, riss erschrocken seinen<br />

Besen <strong>zur</strong> Seite <strong>und</strong> wäre fast herunter gefallen.<br />

289


„Entschuldige“, murmelte Ron <strong>und</strong> wurde rot.<br />

"Dann fragen wir lieber einmal im Tropfenden Kessel nach,<br />

vielleicht weiß man dort, wo sich Sirius <strong>auf</strong>hält", sagte Hermine schnell.<br />

Die Idee gefiel allen, <strong>und</strong> so flogen sie den Tropfenden Kessel an –<br />

Hermine <strong>und</strong> McGonagall kannten zum Glück den genauen Weg.<br />

Als sie vor dem Pub von den Besen sprangen, stockte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong><br />

alles zog sich in ihm krampfhaft zusammen. Etwas war gr<strong>und</strong>legend<br />

falsch. Das war nicht der Tropfende Kessel.<br />

290


KAPITEL FÜNFZEHN<br />

Das andere London<br />

Jedenfalls war er es nicht ganz. Vielmehr kam es <strong>Harry</strong> so vor, als<br />

stünde er vor einer ziemlich schlechten Kopie des berühmten Pubs für<br />

Zauberer <strong>und</strong> Hexen. Im Nachbarladen <strong>auf</strong> der einen Seite befand sich<br />

tatsächlich derselbe Buchladen, der ihm schon bei seinem ersten<br />

Besuch im Tropfenden Kessel vor nunmehr fünf Jahren <strong>auf</strong>gefallen war.<br />

Doch <strong>auf</strong> der anderen Seite schaute er nicht in den erwarteten<br />

Plattenladen, sondern in einen kleinen Schnellimbiss, in dem Muggel bei<br />

Kaffee <strong>und</strong> Kuchen saßen <strong>und</strong> unbeschwert schwatzten. Der Pub selbst<br />

wirkte nicht halb so schmuddelig, wie ihn <strong>Harry</strong> in Erinnerung hatte, <strong>und</strong><br />

auch <strong>das</strong> hölzerne Namensschild hatte andere Farben.<br />

"Wo sind wir?", fragte Ron mit komischer Stimme.<br />

"Das ist nicht der Tropfende Kessel unserer Zeit", hauchte<br />

Hermine, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> wurde es fast schlecht vor Angst. Wo waren sie in<br />

Wirklichkeit gelandet?<br />

McGonagall sah sie erstaunt an. "Was habt ihr denn, es sieht <strong>doc</strong>h<br />

genauso aus wie immer, oder?"<br />

Ron fiel die Kinnlade herunter.<br />

"In meiner Kindheit jedenfalls bin ich vor dem ersten Schultag<br />

immer hier durch, um in die Winkelgasse zu kommen." Er wollte durch<br />

die Tür treten. Hermine hielt ihn <strong>zur</strong>ück.<br />

"In deiner Kindheit", wiederholte <strong>Harry</strong> ungläubig. "Aber Jamie, <strong>das</strong><br />

ist 25 Jahre her!"<br />

"Wollt ihr damit sagen, wir sind in den 60er Jahren gelandet?",<br />

keuchte Ron entsetzt. "Wie kann <strong>das</strong> sein?"<br />

291


"Diese Welt ist eine Widerspiegelung der Erinnerungen <strong>und</strong> Bilder,<br />

die die Toten aus ihrem Leben mitgebracht haben", überlegte Alexander.<br />

„Nein, wie toll“, meinte Ron sarkastisch, aber der Makedone<br />

beachtete ihn nicht.<br />

"Wahrscheinlich sind aus eurer Generation noch nicht genügend<br />

Menschen gestorben“, fuhr er fort, „so<strong>das</strong>s wir uns in der Gedankenwelt<br />

eurer Vorgängergenerationen befinden. Ich habe <strong>das</strong> bei meinem Tod<br />

auch erlebt. In einigen Jahren wird sich die Umgebung hier verändern<br />

<strong>und</strong> sich der anpassen, die ihr gekannt habt. Den früher gestorbenen<br />

Menschen werdet ihr nach <strong>und</strong> nach nicht mehr begegnen, sondern<br />

neuen, späteren Toten, die dieselben Erinnerungen aus der Welt der<br />

Lebenden haben wir ihr. Und am Ende werdet ihr in der euch vertrauten<br />

Welt leben, <strong>und</strong> die ältere wird nur noch durch Zeitreisen erreichbar sein.<br />

Das ist hier unten der L<strong>auf</strong> der Dinge."<br />

"Also müssen wir uns jetzt im London der 60er <strong>zur</strong>echtfinden",<br />

stöhnte <strong>Harry</strong>.<br />

"Der 60er", bestätigte Alexander, "vermutlich aber bereits vermischt<br />

mit Elementen jünger verstorbener Menschen. Der Übergang ist<br />

fließend."<br />

Zögernd öffnete McGonagall die Tür zum Tropfenden Kessel. "Geh<br />

unter den Tarnumhang", flüsterte er <strong>Harry</strong> zu. "Wenn hier jemand<br />

mitkriegt, <strong>das</strong>s du in der Welt der Toten bist, dreht die ganze Zauberer-<br />

<strong>Unterwelt</strong> durch."<br />

Erleichtert warf sich <strong>Harry</strong> seinen fließenden Tarnumhang über <strong>und</strong><br />

folgte den anderen in den düsteren, schummrigen Pub, in dem einige<br />

Hexen <strong>und</strong> Zauberer bei einem Pint saßen. Den Wirt, ein kleines,<br />

unruhiges Kerlchen, kannte er nicht.<br />

"Hallo Michael", begrüßte ihn McGonagall fröhlich.<br />

Der Wirt guckte ihn einige Sek<strong>und</strong>en lang verwirrt an, dann lachte<br />

er laut. "Jamie, ich hätte dich beinahe nicht erkannt ... dachte für einen<br />

Moment, du seiest James <strong>Potter</strong>. Der alte Haudegen war erst vorgestern<br />

hier."<br />

<strong>Harry</strong> verlor die Kontrolle über seine Beine <strong>und</strong> sank nicht gerade<br />

geräuschlos <strong>auf</strong> einen Stuhl. Ron <strong>und</strong> Hermine versuchten, ihn<br />

un<strong>auf</strong>fällig zu stützen.<br />

"Was?", stammelte McGonagall, sichtlich bestürzt.<br />

"Hat es dich jetzt auch erwischt, was?", fragte Michael in einer<br />

gewöhnungsbedürftigen Mischung aus Mitleid <strong>und</strong> Unbeschwertheit.<br />

"Äh, sozusagen."<br />

"Na dann setzt dich! Ich lade dich <strong>auf</strong> ein Butterbier ein, immerhin<br />

habe ich dich nicht mehr gesehen, seit du 17 warst <strong>und</strong> kurz vor deinem<br />

letzten Hogwartsjahr standest."<br />

292


"Leider habe ich keine Zeit, ich muss jemanden suchen",<br />

unterbrach ihn McGonagall. "Sirius Black. Du hast nicht zufällig von ihm<br />

gehört?"<br />

"Sirius Black? Klar, mit dem seid ihr damals immer in die<br />

Winkelgasse gel<strong>auf</strong>en, um sämtlichen Verkäufern Streiche zu spielen ...<br />

Er hatte ganz schön was auszuhalten, als er <strong>das</strong> erste Mal hier ankam,<br />

sie alle haben es ihm <strong>zur</strong>ückgezahlt!" Der Wirt grinste <strong>und</strong> schenkte<br />

einer Hexe ein Butterbier ein.<br />

"Er ist seit etwa einer Woche in London, um seine Familie zu<br />

besuchen, ihr müsst also nur zum Grimmauldplatz gehen."<br />

"Seine Familie?", echote McGonagall überrascht. "Aber er hasst<br />

sie <strong>doc</strong>h!"<br />

"Eben, jetzt kann er ihnen einmal so richtig die Meinung sagen –<br />

was soll seine verkorkste Mutter schon noch machen? Ein richtiger<br />

Hausdrachen, <strong>das</strong> kann ich sagen. Außerdem hat er seid neuestem ein<br />

gutes Verhältnis zu seinem Bruder, ich glaube, sie wollen in ein paar<br />

Tagen <strong>auf</strong>brechen nach Godric's Hollow."<br />

"Dann müssen wir uns beeilen!", meinte McGonagall <strong>und</strong> richtete<br />

sich <strong>auf</strong>.<br />

"Wir?"<br />

McGonagall schaute zu Ron <strong>und</strong> Hermine, die immer noch am<br />

Tisch neben dem unsichtbaren <strong>Harry</strong> saßen.<br />

"Deine Kinder?", fragte der Wirt neugierig.<br />

"Nein, nein, nur – Bekannte."<br />

"Gut, dann viel Glück bei deiner Suche, <strong>und</strong> komm hier vorbei,<br />

wenn du Sirius gef<strong>und</strong>en hast. Dann können wir mal wieder in den alten<br />

Zeiten schwelgen ..."<br />

McGonagall nickte mit sichtbar schlechtem Gewissen. "Ich<br />

verspreche, <strong>das</strong>s ich wieder kommen werde. Aber verzeihe mir, wenn es<br />

etwas – länger dauert."<br />

"Immer habt ihr jungen Leute was zu tun." Der Wirt schüttelte den<br />

Kopf <strong>und</strong> wandte sich den nächsten K<strong>und</strong>en zu. McGonagall verließ den<br />

Pub, <strong>und</strong> die anderen folgten ihm.<br />

Draußen riss <strong>Harry</strong> sich den Tarnumhang herunter <strong>und</strong> rief<br />

vollkommen <strong>auf</strong>gelöst: "Mein Vater war hier! Wir müssen ihn finden, <strong>und</strong><br />

meine Mutter wird bei ihm sein! Endlich kann ich meine Eltern sehen!"<br />

"<strong>Harry</strong>, ich weiß nicht, ob <strong>das</strong> eine so gute Idee ist", sagte Hermine<br />

vorsichtig. <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron schauten sie an, als wäre sie durchgeknallt.<br />

"Das ist <strong>doc</strong>h DIE Chance, Hermine", meinte Ron, verdutzt über<br />

Hermines Begriffsstutzigkeit. "Ich würde meine Eltern hier auch<br />

besuchen, wenn sie bereits tot wären."<br />

"Ich gebe Hermine Recht", schaltete sich McGonagall ein.<br />

293


"Ihr seid <strong>doc</strong>h alle nicht ganz dicht!", schrie <strong>Harry</strong> so wütend, <strong>das</strong>s<br />

sich einige Muggelpassanten nach ihm umdrehten. Doch ihm war egal,<br />

ob er Aufmerksamkeit erregte.<br />

"Ihr mögt eure Eltern den ganzen Tag um euch herum haben, ich<br />

habe meine noch nicht einmal richtig gesehen oder je mit ihnen<br />

gesprochen! Und nun, wo ich es kann, wollt ihr mich davon abhalten? Ich<br />

dachte, ihr seid meine Fre<strong>und</strong>e!"<br />

Hermine sah betroffen zu Ron, der böse <strong>zur</strong>ückstarrte. "Warum soll<br />

er seine Eltern nicht sehen?", beharrte er.<br />

"Weil ich nicht denke, <strong>das</strong>s er sich von ihnen trennen könnte",<br />

meinte sie leise <strong>und</strong> schaute nachdenklich zu <strong>Harry</strong>. "Oder?"<br />

<strong>Harry</strong> traten Tränen in die Augen, <strong>und</strong> er zwang sich, jetzt nicht vor<br />

allen loszuheulen. "Das wäre <strong>doc</strong>h dann auch egal", presste er heraus.<br />

"Wenn ich bei ihnen bin, brauche ich nicht mehr <strong>zur</strong>ück in eure<br />

bescheuerte Welt."<br />

"Unsere Welt?", wiederholte Ron beunruhigt.<br />

"Genau <strong>das</strong> meinte ich", erklärte McGonagall. "Unser Platz ist nicht<br />

in der <strong>Unterwelt</strong>, deswegen müssen wir <strong>auf</strong>passen, uns nicht an etwas<br />

oder jemanden zu binden, der uns davon abhält, <strong>zur</strong>ückzukehren."<br />

"Wieso <strong>zur</strong>ückkehren?", fauchte <strong>Harry</strong> unbeherrscht. "Ich will mit<br />

meinen Eltern leben, <strong>und</strong> ob ich es in der <strong>Unterwelt</strong> tue oder in der der<br />

Lebenden, ist <strong>doc</strong>h Nebensache."<br />

"Nein, ist es nicht", meinte Alexander <strong>und</strong> versuchte, ihm eine<br />

Hand <strong>auf</strong> die Schulter zu legen. <strong>Harry</strong> stieß ihn von sich.<br />

"Was weißt du schon davon?", brüllte er. "Du kennst weder meine<br />

Eltern noch mich!"<br />

"Nein, aber ich kenne den Tod", konterte der König, der sich<br />

sichtlich nur schwer beherrschen konnte, nachdem <strong>Harry</strong> ihn so rüde von<br />

sich gewiesen hatte.<br />

"Kannst du dich an <strong>das</strong> erinnern, was ich über <strong>das</strong> Leben gesagt<br />

habe? Dass man in ihm herausfinden muss, wer man ist <strong>und</strong> was man<br />

will, um in der <strong>Unterwelt</strong> <strong>auf</strong> ewig glücklich zu werden. Du hast diesen<br />

Beamten im Polizeihauptquartier gehört: Er wusste nicht, wer wirklich<br />

war <strong>und</strong> sein sollte. Dementsprechend ist er verloren gewesen."<br />

"Und was, wenn es meine Bestimmung ist, mit meinen Eltern<br />

zusammen zu sein?", knurrte <strong>Harry</strong> trotzig.<br />

"Was, wenn du stattdessen der beste Quidditch-Spieler der Welt<br />

werden solltest?", warf Ron vorsichtig ein.<br />

"Oder ein fantastischer Auror", fügte Hermine hinzu.<br />

"Oder Lehrer für Verteidigung", ergänzte McGonagall.<br />

"Oder Vater von drei Kindern", meinte Alexander.<br />

"Ihr seid doof", brummte <strong>Harry</strong>, der sich langsam abregte. Was,<br />

wenn sie Recht hatten? Musste er <strong>zur</strong>ück in die Welt der Lebenden, um<br />

seine Bestimmung zu finden?<br />

294


"Kannst du mit Sicherheit sagen, <strong>das</strong>s du weißt, was du vom<br />

Leben willst <strong>und</strong> es von dir?", fragte ihn Alexander mit so eindringlichem<br />

Blick aus den blau-grünen Augen, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> ihn nicht einfach so<br />

ignorieren konnte, wie er es gern gewollt hätte.<br />

Er dachte nach. Konnte er sich vorstellen, sein ganzes Leben<br />

Quidditch-Spieler zu sein? Irgendwie wollte er nicht glauben, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

alles sein sollte, was ihn erwartete. Oder Lehrer? Eine seltsame<br />

Vorstellung, auch wenn ihm die Arbeit mit der DA eine Menge Spaß<br />

machte. Aber was war mit Familie? Wäre ihm eine eigene wichtiger als<br />

alles andere? Die Antwort, so schwer er sie sich eingestehen mochte,<br />

war, <strong>das</strong>s er keine kannte. Er wusste nicht, was sein Leben ausfüllen<br />

konnte, er war sich noch nicht einmal ganz sicher, was es bisher<br />

ausgefüllt hatte.<br />

"Nein", erwiderte er deswegen ehrlich.<br />

"Dann ist es klar, du musst <strong>zur</strong>ück in die Oberwelt", meinte<br />

Alexander unbekümmert. "Also lasst uns diesen Sirius Black suchen!"<br />

Die anderen schwiegen. "Ist alles OK?", fragte ihn Hermine leise.<br />

<strong>Harry</strong> nickte.<br />

"Was ist nun mit deinen Eltern?", wollte Ron wissen.<br />

"Keine Ahnung", entgegnete <strong>Harry</strong>. Er wollte jetzt keine<br />

Entscheidung treffen. "Wir sprechen erst einmal mit Sirius."<br />

Alle schienen erleichtert. "Dann <strong>auf</strong> zum Grimmauldplatz", rief<br />

McGonagall <strong>und</strong> schwang sich <strong>auf</strong> seinen Besen. Die anderen folgten<br />

ihm.<br />

<strong>Harry</strong> musste während des Flugs über Londons Innenstadt über<br />

<strong>das</strong> Gesagte nachdenken. Würde er sich wirklich von seinen Eltern<br />

wieder trennen können? Es fiel ihm schwer, sich <strong>das</strong> vorstellen zu<br />

können. Vielleicht haben McGonagall <strong>und</strong> Hermine Recht, dachte er. Ich<br />

muss <strong>zur</strong>ück.<br />

Andererseits haben sie <strong>doc</strong>h keine Ahnung, was deine Eltern<br />

angeht, zischte eine leise verborgene Stimme in ihm.<br />

Aber McGonagall hat auch Eltern, die gestorben sind, <strong>und</strong> er zeigt<br />

keine Bemühungen, sie sehen zu wollen. Vielleicht weil er weiß, welche<br />

Gefahr dahinter steckt, entgegnete <strong>Harry</strong> für sich.<br />

Oder weil er seine Eltern nicht leiden kann, antwortete die leise<br />

Stimme.<br />

Unsinn, dachte <strong>Harry</strong>. Außerdem ... ich würde Ginny für eine sehr<br />

lange Zeit nicht wieder sehen, wenn ich hier bleiben würde. Auf einmal<br />

merkte er, wie sehr ihm Rons Schwester fehlte, <strong>und</strong> <strong>das</strong>, obwohl sie erst<br />

seit wenigen Tagen getrennt waren. Konnte er sie so einfach<br />

<strong>zur</strong>ücklassen? Er glaubte es nicht.<br />

Die Wolken vor ihnen zerrissen, <strong>und</strong> überrascht stellte er fest, <strong>das</strong>s<br />

sie sich bereits im Landeanflug <strong>auf</strong> den Grimmauldplatz befanden. Statt<br />

des bekannten schmuddeligen Gebäudes in einer dunklen, schmutzigen<br />

295


Straße kamen sie in einer noblen Wohngegend mit vornehmen alten<br />

Häusern an, die vor gepflegten grünen Gärten thronten. Die Straße<br />

schien vor der Nummer 12 besondern sauber <strong>und</strong> einladend zu wirken,<br />

in glatten Stein gehauene Stufen führten zu der aus schönem dunklen<br />

Holz gezimmerten Tür mit dem markanten Klopfer in Form einer<br />

silbernen Schlange, <strong>und</strong> die Fenster waren weder trübe noch<br />

eingeschlagen, sondern glänzten strahlend in der spätherbstlichen<br />

Sonne.<br />

"Sah früher ganz hübsch aus, was? Und wer klingelt nun?", fragte<br />

<strong>Harry</strong>. Es hatte unbeschwert klingen sollen, allerdings kamen ihm die<br />

Worte nur unnatürlich hoch über die Lippen.<br />

Alexander zuckte mit den Schultern <strong>und</strong> packte den Türklopfer. Ein<br />

lautes, schallendes Dröhnen ließ <strong>das</strong> Haus in seinen Gr<strong>und</strong>festen<br />

erbeben, <strong>und</strong> wenige Sek<strong>und</strong>en später wurde die Tür geöffnet. Eine<br />

große, beleibte Frau in mittleren Jahren stand vor ihnen <strong>und</strong> ließ ihren<br />

hochmütigen Blick über die <strong>auf</strong> offensichtliche Weise ungebetenen<br />

Gäste schweifen.<br />

"Was wollt ihr?", schnarrte sie, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> erkannte <strong>auf</strong> der Stelle<br />

Mrs. Black, die ihr eigenes Portrait im Grimmauldplatz Nummer 12 für<br />

die lebende (<strong>und</strong> leidende, dachte er grimmig) Nachwelt hatte verewigen<br />

lassen.<br />

Ihre gelbe Haut glich exakt der <strong>auf</strong> dem Bild, <strong>und</strong> auch die bösen<br />

schwarzen Augen kamen <strong>Harry</strong> unangenehm vertraut vor – ganz<br />

abgesehen von der hässlichen Stimme, die er gewohnt war,<br />

Schimpfwörter schreien zu hören.<br />

"Guten Tag, Frau – äh, Black", grüßte sie McGonagall in einem<br />

sogar für <strong>Harry</strong> hoffnungslos erscheinenden Versuch, Fre<strong>und</strong>lichkeit bei<br />

der Hausherrin erwecken zu wollen.<br />

Sie stierte ihre Besucher angewidert an. "Muggelgeborene" – der<br />

Blick aus den theatralisch verdrehten Augen streifte Alexander <strong>und</strong><br />

Hermine – "Schlammblüter" – nun sah sie McGonagall <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> Unheil<br />

verkündend an – "sowie Abkömmlinge von Schandflecken der<br />

Zaubererschaft. Was sollte ich mit Pack wie euch anfangen?"<br />

Für einen kurzen Augenblick kam sich <strong>Harry</strong> vor wie am<br />

Grimmauldplatz der Welt der Lebenden <strong>und</strong> wünschte sich, jemand<br />

würde die Vorhänge vor <strong>das</strong> Gemälde ziehen. Doch <strong>das</strong> Original<br />

wetterte weiter.<br />

"In mein nobles Haus", keifte Mrs Black, "hat Ungeziefer wie ihr<br />

keinen Zutritt. Verschwindet!"<br />

Alexander neben <strong>Harry</strong> griff an sein Schwert. Schnell packte er ihn<br />

am Arm, um folgenschwere Konfrontationen zu vermeiden. "Nicht!",<br />

zischte er. Der Makedone sah dafür statt Mrs Black ihn an, als wolle er<br />

ihn töten.<br />

296


McGonagall musste auch erst ein paar Sek<strong>und</strong>en seinen Ärger<br />

herunterschlucken, dann meinte er fest: "Wir suchen Ihren Sohn, Si –"<br />

"Regulus Black", rief <strong>Harry</strong> laut, einer Eingebung folgend.<br />

Hermine <strong>und</strong> Ron hielten ihre Überraschung gut <strong>zur</strong>ück, Alexander<br />

war ohnehin damit beschäftigt, <strong>Harry</strong> böse anzustarren, der immer noch<br />

dessen Schwerthand festhielt, nur McGonagall wirkte höchst verblüfft.<br />

Er sah <strong>Harry</strong> an. "Wer –?"<br />

"Wer sollte nicht ihren Sohn Regulus kennen – er wird in der<br />

<strong>Unterwelt</strong> regelrecht verehrt", beeilte sich <strong>Harry</strong> zu sagen.<br />

McGonagall schwieg verwirrt.<br />

"Wieso sollten Maden wie ihr unseren Regulus verehren?", fragte<br />

Mrs Black argwöhnisch.<br />

"Sähen Sie einen Gr<strong>und</strong>, <strong>das</strong> nicht zu tun?", schmeichelte<br />

Hermine.<br />

"Natürlich nicht!", meinte Mrs Black überzeugt <strong>und</strong> schnell genug,<br />

<strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> klar war, <strong>das</strong>s sie <strong>auf</strong> ihren Trick hereinfallen würde.<br />

"Er ist der perfekte Sohn – interessiert sich für die richtigen<br />

Themen, ist ein wahres Ass in den Dunklen Künsten! Und er umgibt sich<br />

nur mit den besten Leuten. Im Gegensatz zu diesem <strong>und</strong>ankbaren<br />

Wurm, den wir noch in die Welt gesetzt haben, weiß er, was es heißt, ein<br />

Black zu sein!"<br />

"Ja, genau", bestätigte <strong>Harry</strong>. "Wir sind zutiefst beeindruckt von<br />

seinem Wissen über Dunkle Künste <strong>und</strong> Muggelfoltermethoden." Er<br />

hoffte, <strong>das</strong>s es so etwas gab.<br />

"Ja, natürlich!", rief Mrs Black <strong>auf</strong>geregt. "Er hat letztens ein Buch<br />

dazu veröffentlicht" – <strong>Harry</strong> drehte sich der Magen um – "<strong>und</strong> heute eine<br />

Versammlung einberufen. Da wollen Sie sicher hin?", fragte sie, nun<br />

ganz die eifrige Gastgeberin.<br />

"Ja", sagte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> meinte eigentlich nein.<br />

"Dann kommen Sie, ich führe Sie zu ihm!"<br />

Er konnte schlecht zugeben, schon einmal in dem schmalen,<br />

finsteren Gang gewesen zu sein, den sie jetzt betraten, <strong>und</strong> heuchelte<br />

Begeisterung beim Anblick der mit Schlangen verzierten Leuchter <strong>und</strong><br />

der Trollbeine.<br />

"Diese geschmackvolle Einrichtung haben mein Mann <strong>und</strong> ich ganz<br />

allein zusammengetragen", erzählte Mrs Black stolz.<br />

"Ja, außergewöhnlich", bekräftigte Ron <strong>und</strong> tat so, als müsse er<br />

sich übergeben, als die Hausherrin ihnen den Rücken zuwandte.<br />

"Ich muss schon sagen, es ist ungewöhnlich, <strong>das</strong>s sich Muggel <strong>und</strong><br />

Muggelgeborene für Muggelfolter interessieren. Aber letztendlich erging<br />

es unserem heiligen Dunklen Lord auch so, nicht? Als Schlammblüter<br />

geboren, der Arme." Sie seufzte vor Mitleid.<br />

297


"Nun, hierher können Sie Ihre Jacken <strong>und</strong> Mäntel hängen", meinte<br />

sie galant <strong>und</strong> ging in Richtung der Küche. "Danach bitte ich Sie, mir <strong>auf</strong><br />

einen Begrüßungsdrink in die Küche zu folgen."<br />

"Danke für <strong>das</strong> Angebot", meinte McGonagall schnell <strong>und</strong><br />

entledigte sich seines Umhangs. "Aber wir möchten nur zu Si – äh,<br />

Regulus."<br />

"Keine Manieren mehr, diese Jugend", schüttelte sie den Kopf.<br />

"Aber gut, wenn Sie es so eilig haben ..." Im Licht der nun geöffneten<br />

Küche fiel ihr Blick genauer <strong>auf</strong> ihre Gäste. Erschrockenes Kreischen<br />

folgte.<br />

"So können Sie unmöglich vor meinen Sohn treten. Er legte Wert<br />

<strong>auf</strong> untadeliges Äußeres, so wie der Rest der Familie auch", meinte sie<br />

Nase rümpfend mit Blick <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s zerrissenen Umhang, McGonagalls<br />

Hose, die an einem Bein völlig zerfetzt war, <strong>und</strong> Hermines Rucksack, der<br />

auch schon bessere Tage gesehen hatte.<br />

"Benutzen Sie erst einmal <strong>das</strong> Gästebadezimmer, bevor Sie zu<br />

der Versammlung gehen", meinte sie hochmütig. Es war eher eine Art<br />

Befehl.<br />

Automatisch wollte sich <strong>Harry</strong> in Richtung der Treppen wenden, wo<br />

sich <strong>das</strong> Bad befand, <strong>das</strong> er bei seinen Besuchen im Black-Haus stets<br />

<strong>auf</strong>suchte, Hermine trat ihm je<strong>doc</strong>h <strong>auf</strong> den Fuß.<br />

"Hier entlang", schnarrte Mrs Black, <strong>und</strong> sie folgten ihr durch eine<br />

Tür in der Eingangshalle, die <strong>Harry</strong> bisher noch nicht <strong>auf</strong>gefallen war.<br />

Dahinter kamen sie in einen langen Gang, von dem mehrere Türen<br />

abzweigten. Das magisch vergrößerte Haus versetzte ihn wieder einmal<br />

in Staunen.<br />

Vor zwei Türen blieb die alte Frau stehen. "Drinnen finden Sie auch<br />

neue Kleidung – Sie können Sie behalten, für die Anhänger unseren<br />

Dunklen Lords haben wir immer gut gesorgt." Sie deutete eine kurze,<br />

lächerliche Verbeugung an <strong>und</strong> verschwand hinter einem Vorhang, von<br />

dem <strong>Harry</strong> beim besten Willen nicht hätte sagen könne, wo er hinführte.<br />

Hermine ging nun durch die linke Tür, <strong>Harry</strong>, Ron, McGonagall <strong>und</strong><br />

Alexander nahmen die rechte <strong>und</strong> traten in einen Raum ein, der <strong>Harry</strong><br />

wenigstens halb so groß wie die große Halle vorkam. Ein gigantisches<br />

Becken mit dunkelblau gekachelten Fließen hob sich sichtbar gemacht<br />

durch einige Kerzenleuchter an den Wänden <strong>und</strong> an der Decke von den<br />

pechschwarzen Fließen ab, die den übrigen Teil des Raumes bedeckten.<br />

Dicke weiße Handtücher hingen an Stangen neben dem Becken, <strong>und</strong> am<br />

anderen Ende des Bads waren ordentlich Umhänge in allen Größen in<br />

einen offenen Schrank gehängt worden.<br />

Das Bad hätte <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> seines Luxus gemütlich <strong>und</strong> einladend<br />

wirken können, aber die schwarzen Fließen, <strong>das</strong> wenige Licht <strong>und</strong> vor<br />

allem die grausigen Bilder an den Wänden ließen es für <strong>Harry</strong> eher wie<br />

eine Folterhölle aussehen: Überall waren Gemälde von Todessern in<br />

298


schwarzen Kutten <strong>und</strong> Masken angebracht, <strong>auf</strong> zweien wurden Muggel<br />

bis <strong>auf</strong>s Blut gefoltert, <strong>und</strong> <strong>auf</strong> einer riesigen Fotografie direkt ihnen<br />

gegenüber war der Angebetete selbst verewigt: Voldemort. Er sah noch<br />

nicht so schlangenartig <strong>und</strong> unmenschlich aus, wie <strong>Harry</strong> ihn kennen<br />

gelernt hatte, sondern ähnelte vielmehr dem Tom Riddle aus der<br />

Kammer des Schreckens. Dennoch durchdrang seine sehr lebensecht<br />

gemalte Bösartigkeit den gesamten Raum <strong>und</strong> ließ sie frösteln.<br />

"Gr<strong>und</strong>gütiger, was für ein Gruselkabinett!", keuchte McGonagall<br />

<strong>und</strong> sah sich unbehaglich um, als könnten sich Todesser in den Ecken<br />

verstecken.<br />

"Irgendwie habt ihr Zauberer einen seltsamen Geschmack, was<br />

Inneneinrichtungen angeht", klagte Alexander, der sich ebenfalls unwohl<br />

fühlte.<br />

"Was sollte <strong>das</strong> denn da draußen?", fragte Ron, der sich nicht<br />

weiter mit dem Raum beschäftigte, <strong>Harry</strong>.<br />

"Wegen dir müssen wir zu einer Versammlung über Muggelfolter,<br />

<strong>und</strong> wenn dieser Regulus uns sieht, wird er seine neuesten<br />

Forschungsergebnisse gleich an uns ausprobieren!"<br />

"Du hast die Black <strong>doc</strong>h gehört", verteidigte sich <strong>Harry</strong>. "Hätten wir<br />

nach Sirius gefragt, hätte sie uns die Tür vor der Nase zugeschlagen.<br />

Wer weiß, wann wir ihn dann zu Gesicht bekommen hätten."<br />

"Ach, <strong>und</strong> du denkst, an Muggelfoltersitzungen nimmt er teil?" Ron<br />

war entgeistert.<br />

"Natürlich nicht!", schnappte <strong>Harry</strong>.<br />

"<strong>Harry</strong> hat <strong>das</strong> clever gemacht", half ihm McGonagall. "Nur so<br />

konnten wir überhaupt in <strong>das</strong> Haus hineinkommen. Wir müssen Regulus<br />

nach seinem Bruder fragen – angeblich kommen sie ja derzeit gut<br />

miteinander <strong>zur</strong>echt. Vielleicht hilft er uns."<br />

"Und vielleicht übt er an uns den Eingeweide-Ausweidefluch",<br />

brummte Ron.<br />

Die nächsten Minuten sprach keiner von ihnen, vielmehr sahen sie<br />

zu, <strong>das</strong>s sie sauber wurden <strong>und</strong> die neuen Umhänge anprobierten – was<br />

sich als leicht schwierig erwies, da es kaum passende Größen für <strong>Harry</strong>,<br />

Ron <strong>und</strong> Alexander gab. Der Makedone schien zudem wenig zufrieden<br />

zu sein mit den schwarzen, langen Umhängen, die für Zauberer völlig<br />

normal waren.<br />

"Das ziehe ich nicht an", erklärte er angewidert.<br />

Ron schüttelte sich vor Lachen. "Das habe ich auch gesagt, als ich<br />

eure Toga vorgesetzt bekommen habe!", grinste er schadenfroh.<br />

Alexander schien für ein paar Sek<strong>und</strong>en zu überlegen, ob er sein<br />

Schwert gegen Ron erheben sollte, besann sich dann aber <strong>und</strong> zog mit<br />

saurer Miene den Umhang über <strong>Harry</strong>s Hose <strong>und</strong> Pullover.<br />

299


Wieder <strong>auf</strong> dem Gang angekommen trafen sie Hermine, die genau<br />

wie sie zwar sehr erschöpft war, dafür aber wieder sauber <strong>und</strong> schon<br />

etwas optimistischer als vorhin.<br />

"Wir suchen schnell diesen Regulus, fragen ihn, wo Sirius ist, <strong>und</strong><br />

verschwinden", flüsterte sie, anscheinend aus Angst, <strong>das</strong>s sie abgehört<br />

wurden.<br />

"Klar, oder dachtest du, wir führen danach noch eine<br />

Hausdurchsuchung durch?", wisperte Ron <strong>zur</strong>ück. "Ich habe bereits im<br />

Leben genug von diesem Gruselschuppen gehabt!"<br />

Langsam gingen sie in die Eingangshalle <strong>zur</strong>ück, wo Mrs Black sie<br />

schon erwartete. "Haben Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorgef<strong>und</strong>en?",<br />

fragte sie süßlich.<br />

McGonagall nickte, angestrengt seine Abscheu verbergend.<br />

"Dann bitte ich Sie, in den dritten Stock zu gehen – <strong>auf</strong> der linken<br />

Seite ist ein großes Versammlungszimmer, wo Sie unseren Regulus<br />

finden. Er hält sich strikt an Geheimhaltung, was angesichts der<br />

unvernünftigen Einstellung, die einige so genannte Zauberer gegenüber<br />

den Ideen des Dunklen Lords haben, leider auch nötig ist. Sie werden<br />

<strong>das</strong> Passwort ja kennen, mit dem sie in <strong>das</strong> Zimmer kommen."<br />

"Äh, ja, sicher", stotterte McGonagall <strong>und</strong> schaute <strong>Harry</strong> verzweifelt<br />

an.<br />

Mrs Black nickte ihnen noch einmal zu <strong>und</strong> watschelte dann <strong>zur</strong><br />

Küche.<br />

"Oh Gott, ein Passwort!", stöhnte Ron.<br />

"Lasst uns erst mal hochgehen", schlug Hermine vor. Im dritten<br />

Stock angekommen blieben sie vor einer großen, mit schwarzem Holz<br />

verkleideten Tür stehen, in die eine sich windende silberne Schlange<br />

eingraviert war. <strong>Harry</strong> wusste, <strong>das</strong>s sich dahinter ein langer, mit einem<br />

großen Tisch ausgestatteter Raum befand, war aber noch nie dort<br />

gewesen.<br />

"Und?", zischte McGonagall. "Sagt ihr jetzt <strong>das</strong> Passwort oder<br />

ich?"<br />

Unschlüssig standen sie davor.<br />

"Vielleicht ist es „Voldemort“", überlegte <strong>Harry</strong>, aber nichts<br />

geschah, als er den Namen des Dunklen Lords laut sprach.<br />

"Quatsch, die Todesser haben zu viel Angst, <strong>das</strong> auszusprechen",<br />

winkte Ron ab. "Wie wäre es mit "Dunkles Mal"?“<br />

Wieder tat sich nichts, die Tür blieb stumm.<br />

"Todesser", versuchte es Hermine.<br />

"Avada Kedavra", meinte McGonagall, peinlich dar<strong>auf</strong> bedacht,<br />

dabei seinen Zauberstab nicht zu berühren.<br />

"Slytherin."<br />

"Muggelfolter."<br />

"Dunkle Künste!"<br />

300


"Eingeweide-Ausweidefluch!"<br />

"Black", sprach Alexander <strong>das</strong> erste Mal. Alle sahen ihn an. Er<br />

zuckte mit den Schultern. "Meistens nehme ich den Namen einer<br />

beteiligten Person als Losungswort, wenn ich geheime Nachrichten<br />

verschicke."<br />

Nach einigen Variationen des Familiennamens ("Haus der Blacks!"<br />

"Regulus Black!") sanken sie erschöpft gegen die Wand.<br />

"Wie wäre es mit <strong>Potter</strong>?", schlug Alexander vor, der als einziger<br />

Spaß an dem Rätselraten zu haben schien.<br />

"<strong>Harry</strong>", meinte Ron lahm.<br />

"Hogwarts", gähnte Hermine.<br />

"Patronus", warf McGonagall ein, während er an seinem<br />

Zauberstab herumfingerte.<br />

"Phönixorden", nuschelte <strong>Harry</strong>, dem die ganze Sache langsam<br />

dämlich vorkam.<br />

Die Tür schwang <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schlug Ron ins Kreuz.<br />

"Phönixorden?", keuchte Hermine. "Aber wie –"<br />

Sie verstummte angesichts der vielen Augenpaare, die nun <strong>auf</strong> sie<br />

gerichtet waren. Der gesamte Versammlungsraum war voller Menschen;<br />

<strong>Harry</strong> überschlug vielleicht zwei Dutzend Todesser, die teils von ihren<br />

Stühlen <strong>auf</strong>gesprungen waren, welche einen alten, eleganten Holztisch<br />

umgaben, <strong>und</strong> sie sprachlos anstarrten. Alexander stürmte mit<br />

gezogenem Schwert in den Raum. <strong>Harry</strong> brachte es nicht übers Herz,<br />

um mitzuteilen, <strong>das</strong>s eine einfache Körperklammer ihn auch aus h<strong>und</strong>ert<br />

Metern Entfernung bewegungsunfähig machen konnte.<br />

"Wer seid ihr?", schallte eine laute, hart klingende Stimme durch<br />

den Raum. "Woher kennt ihr <strong>das</strong> Passwort?"<br />

<strong>Harry</strong> zwang sich, unverwandt in <strong>das</strong> Gesicht des Mannes zu<br />

sehen. Es gehörte einem noch recht jungen Zauberer in einem weinroten<br />

Umhang <strong>und</strong> mit kurzem, blondem Haar. <strong>Harry</strong> glaubte, ihn irgendwoher<br />

zu kennen, aber warum auch nicht, schließlich war er schon etlichen<br />

Todessern begegnet, von denen sich die meisten hinter Masken<br />

versteckt hatten.<br />

"Wir wollen Regulus Black sprechen", sagte er mit leicht zitternder<br />

Stimme. Flüchtig fiel ihm ein Banner mit einem rot-goldenen Phönix an<br />

der gegenüberliegenden Wand <strong>auf</strong>, welches er aber schnell überging.<br />

Was sollte ein Phönixbild im Haus der Blacks machen?<br />

"<strong>Harry</strong>?"<br />

Ihm stockte <strong>das</strong> Herz. Hier, bei einer Versammlung über<br />

Muggelfoltermethoden? Das konnte nicht sein. Was machte Sirius –<br />

"Wag es nicht, ihm zu nahe zu kommen!", schrie Alexander, der<br />

immer noch vor <strong>Harry</strong> stand, <strong>und</strong>, so klein er auch war, ihm die meiste<br />

Sicht <strong>auf</strong> den Raum nahm.<br />

301


"Nein, Alexander, es ist in Ordnung", wollte <strong>Harry</strong> noch schnell<br />

rufen, als ein roter Blitz <strong>auf</strong>leuchtete <strong>und</strong> den Makedonen ein paar Meter<br />

durch die Luft schleuderte.<br />

"Nein –!"<br />

Hermine beugte sich über seine bewusstlose Gestalt, als sich ein<br />

Zauberer aus der Versammlungsgruppe löste <strong>und</strong> langsam, beinahe<br />

zögerlich <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> zukam.<br />

Der grausame Hintergr<strong>und</strong> dieser Versammlung entschwand<br />

<strong>Harry</strong>s Gedanken, als er <strong>auf</strong> seinen Paten zulief, den er im Leben nicht<br />

geglaubt hatte, wieder sehen zu können.<br />

Was ja auch so gewesen war.<br />

"Sirius!" Ehe er es sich versah, lag er ihm in den Armen.<br />

Für ein paar Sek<strong>und</strong>en vergaß <strong>Harry</strong> alles, die Todesser um sich,<br />

die Tatsache, <strong>das</strong>s er sich in einem zutiefst schwarzmagischen Haus<br />

<strong>auf</strong>hielt <strong>und</strong> auch, <strong>das</strong>s er eigentlich in der Hölle war <strong>und</strong> keine Ahnung<br />

hatte, wie er wieder herauskommen konnte.<br />

"Ich hätte nie gedacht", murmelte er <strong>und</strong> merkte zu seiner<br />

Beschämung, <strong>das</strong>s seine Augen feucht waren, „<strong>das</strong>s wir uns so bald<br />

wieder treffen.“<br />

Aber auch Sirius schien sich nur schwer unter Kontrolle zu haben,<br />

denn er ließ <strong>Harry</strong> eine Ewigkeit nicht mehr los, <strong>und</strong> als er sprach, war<br />

seine Stimme belegt.<br />

"Dass du auch hier bist!" Er drehte sich mit einem Ausdruck von<br />

Verzweiflung zu den Todessern um, der <strong>Harry</strong> komisch vorkam,<br />

schließlich mussten die Schergen Voldemorts <strong>doc</strong>h froh sein, ihn hier zu<br />

sehen.<br />

"Ist <strong>das</strong> <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong>?", fragte eine große, ältere Frau. Der ganze<br />

Raum stöhnte <strong>auf</strong>.<br />

"Ich freue mich so, dich zu sehen, <strong>Harry</strong>", flüsterte Sirius bedrückt.<br />

"Aber unter diesen Umständen ... Musste es soweit kommen? Jetzt<br />

schon? Hat Voldemort endgültig gesiegt?"<br />

<strong>Harry</strong> konnte ihm nicht ganz folgen, zumindest aber den Gr<strong>und</strong> für<br />

seine Trauer beseitigen.<br />

"Ich bin nicht tot!", meinte er. "Ich bin nur durch den Bogen<br />

gegangen, so wie du. Wir kehren wieder <strong>zur</strong>ück. Zusammen."<br />

"Du bist nicht tot?", fragte Sirius entgeistert. "Was denkst du denn, was<br />

ich bin? Gefangen in der Welt der Toten. Es gibt keinen Weg <strong>zur</strong>ück."<br />

"Soll <strong>das</strong> heißen, <strong>das</strong>s du freiwillig in den Tod gegangen bist?",<br />

hörte er jemanden sagen. Sein Magen drehte sich um.<br />

"Cedric?", keuchte er, unfähig, noch mehr Überraschungen<br />

verkraften zu können. Er sah Hermine neben sich die Hände vor den<br />

M<strong>und</strong> schlagen <strong>und</strong> Ron, wie er einen Schritt <strong>zur</strong>ücktaumelte.<br />

"Erst Sirius <strong>und</strong> dann du!" Er konnte es nicht glauben. Waren die<br />

beiden Todesser geworden?<br />

302


"Was hast du?", fragte ihn sein Pate verwirrt.<br />

"Wieso nimmst du an schwarzmagischen Versammlungen teil, du<br />

widerwärtiger Kerl!", schrie <strong>Harry</strong>, der sich nicht mehr halten konnte. Alle<br />

schwiegen.<br />

Dann lachte Sirius laut <strong>auf</strong>. "Schwarzmagisch? Wer hat dir <strong>das</strong><br />

erzählt? Oh, sicher meine liebe Mum, aber ich kann dir schwören, sie hat<br />

keine Ahnung, was in ihrem Haus passiert."<br />

"Wieso, was –"<br />

"<strong>Harry</strong>." Sirius trat galant einen Schritt <strong>zur</strong>ück. "Darf ich dir den<br />

Phönixorden der <strong>Unterwelt</strong> vorstellen?"<br />

Verdutzt schaute sich <strong>Harry</strong> um. Plötzlich fiel ihm ein, woher er den<br />

Zauberer um weinroten Umhang kannte, Moody hatte ihm ihn einmal als<br />

Benjy Fenwick <strong>auf</strong> einem alten Photo des Ordens gezeigt. Und beim<br />

näheren Hinsehen erkannte er noch andere Gesichter des früheren<br />

Ordens wieder.<br />

"Dann seid ihr nichts weiter als eine Widerstandsgruppe gegen<br />

Voldemort?", hakte Ron nach.<br />

"Selbstverständlich, was glaubst du denn? Dass wir Muggel<br />

foltern?", lachte Sirius mit dem für ihn typischen lässigen, belustigten<br />

Grinsen <strong>und</strong> einem amüsierten, leicht hochmütigen Blick.<br />

"Aber dein Bruder war Todesser, deswegen dachten wir, er führt<br />

seine Hobbys auch in der <strong>Unterwelt</strong> fort", verteidigte sich <strong>Harry</strong>, der sich<br />

langsam blöd vorkam: Es war offensichtlich, <strong>das</strong>s sich kein Todesser im<br />

Raum <strong>auf</strong>hielt, alle anwesenden Hexen <strong>und</strong> Zauberer trugen Umhänge<br />

in verschiedenen Farben <strong>und</strong> nicht die schwarzen Kutten von<br />

Voldemorts Anhängern, er erkannte Edgar Bones, der mitsamt seiner<br />

ganzen Familie von Todessern ausgelöscht worden war, <strong>und</strong> Cara<strong>doc</strong><br />

Dearborn, dessen Leiche spurlos verschw<strong>und</strong>en gewesen war. Die<br />

Wände säumten Bilder von Phönixen, den Ordensmitgliedern,<br />

Dumbledore <strong>und</strong> – <strong>Harry</strong> wurde leicht rot – ihm selbst, wie er <strong>auf</strong> einem<br />

Besen flog.<br />

"Ja, ich dachte auch, er wäre ein Idiot", gab Sirius freimütig zu.<br />

"Aber es hat sich herausgestellt, <strong>das</strong>s er sich am Ende gegen Voldemort<br />

gestellt hat <strong>und</strong> aus seiner Gefolgschaft austreten wollte."<br />

"Und wenn es eines gibt, <strong>das</strong> man nicht tun darf, dann, den<br />

Dunklen Lord zu verraten", hörten sie eine dunkle Stimme, <strong>und</strong> ein sehr<br />

junger Zauberer bahnte sich seinen Weg durch die Ordensmitglieder. Er<br />

hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Sirius, auch wenn er kleiner <strong>und</strong><br />

dünner war <strong>und</strong> sein dunkles Haar kürzer trug. Allerdings war der etwas<br />

arrogante Ausdruck in seinem Gesicht unfehlbar dem Black'schen<br />

Geblüt zuzuordnen. Um den Hals hatte er einen grün-weißen Schal der<br />

Slytherins geschlungen.<br />

"Das ist mein Bruder Rex", sagte Sirius mit etwas in der Stimme,<br />

<strong>das</strong> für <strong>Harry</strong> seltsamerweise wie Stolz klang.<br />

303


"Hallo", gab <strong>Harry</strong> ihm die Hand <strong>und</strong> stellte fest, <strong>das</strong>s er den<br />

Jungen entgegen seiner Erwartung nicht unsympathisch fand – noch vor<br />

zwei Minuten hatte er ihn für einen fanatischen, grausamen Todesser<br />

vom Schlage seiner Mutter gehalten.<br />

"Willkommen im Haus meiner Familie", sagte Regulus etwas<br />

hochtrabend. "Ihr könnt unsere Gäste sein, so lange ihr wollt – wenn ihr<br />

es fertig bringt, vor meiner Mutter die perfekten Todesser zu spielen."<br />

"Kein Problem", erklärte Ron. "Sie ist ganz begeistert von uns."<br />

"Wir brauchten ein großes Versammlungszimmer für den Orden,<br />

<strong>und</strong> dieses ist nun einmal perfekt. Aber meine Mutter würde mit an die<br />

Gurgel springen, wenn sie wüsste, <strong>das</strong>s wir statt Muggelfolter den<br />

Widerstand gegen Voldemort diskutieren."<br />

<strong>Harry</strong> wollte etwas erwidern, wurde aber von Regulus Black an den<br />

Tisch geschoben. "Ihr seid natürlich Ehrenmitglieder", sagte er eindeutig<br />

traurig. "Auch wenn der Anlass furchtbar ist."<br />

Plötzlich stand Cedric neben ihnen.<br />

„Hi“, sagte er unsicher.<br />

„Hallo“, erwiderte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> wusste nicht ganz, wie er sich<br />

verhalten sollte. Er fühlte sich immer noch schuldig an Cedrics Tod.<br />

„Es tut mit Leid, was damals passiert ist!“, sprudelte es aus ihm<br />

heraus. „Du hättest den Pokal nicht berühren dürfen, ich …“<br />

„Beruhige dich“, grinste Cedric. „Du hast alles richtig gemacht. Du-<br />

Weißt-Schon-Wer hat mich eigentlich umgebracht.“<br />

„Schon, aber …“<br />

„Kein Aber!“, unterbrach ihn Cedric. „Der Tod ist nicht schlecht, im<br />

Gr<strong>und</strong>e sogar besser als <strong>das</strong> Leben, zumindest manchmal.“<br />

<strong>Harry</strong> nickte ihm dankbar zu <strong>und</strong> ließ sich <strong>auf</strong> einen Stuhl fallen.<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine, die alle bereits zu kennen schienen (<strong>Harry</strong> nahm<br />

an, <strong>das</strong>s Sirius von ihnen erzählt hatte), setzten sich unschlüssig, <strong>und</strong><br />

nun stand McGonagall, der Alexander vom Boden <strong>auf</strong>gehoben hatte, vor<br />

Sirius. Der starrte ihn für einige Sek<strong>und</strong>en perplex an, dann wieder<br />

<strong>Harry</strong>, dann wieder McGonagall.<br />

"Das gibt es <strong>doc</strong>h nicht", murmelte er. "Wer zum Teufel –"<br />

"Eigentlich sollte man meinen, <strong>das</strong>s du diejenigen erkennst, mit<br />

denen du einst einen Irrwicht unter Snapes Bett versteckt hast", grinste<br />

er.<br />

"Jamie?" Sirius trat einen Schritt <strong>zur</strong>ück, völlig überrumpelt wusste<br />

er anscheinend nicht, was er sagen sollte.<br />

"Kein anderer", feixte McGonagall.<br />

"Jamie Brown!"<br />

"Äh, eigentlich heiße ich McGonagall", erklärte dieser verlegen.<br />

"McGonagall?" Sirius schnaubte vor Lachen. "Du willst <strong>doc</strong>h nicht<br />

sagen, <strong>das</strong>s du mit unserer lieben Verwandlungslehrerin verwandt bist?"<br />

304


"Doch", nuschelte McGonagall. Sirius ging vor Lachen fast in die<br />

Knie.<br />

"So eine Schande, hätten wir <strong>das</strong> gewusst, dann wäre die<br />

Schulzeit noch lustiger gewesen – bei Merlin, da fallen mir eine<br />

Unmenge Streiche ein! Gleich erzählst du mir noch, <strong>das</strong>s du mit James<br />

<strong>Potter</strong> verwandt bist, es mag dir nicht <strong>auf</strong>gefallen sein, aber ihr seid euch<br />

zum Verwechseln ähnlich."<br />

"Na ja, ich bin sein Cousin."<br />

Sirius wusste sich kaum mehr zu bändigen. "Sein Cousin?", schrie<br />

er fast. "Du bist mit uns zwei Jahre durch die Schule gegangen <strong>und</strong><br />

warst die ganze Zeit über sein Cousin? Wusste er <strong>das</strong>?"<br />

"Nein, niemand wusste davon", erklärte McGonagall. "Ich sage dir<br />

später, warum."<br />

"Gut." Sirius nickte, immer noch ganz aus dem Häuschen. Dann<br />

fiel sein Blick <strong>auf</strong> Alexander.<br />

"Wer ist <strong>das</strong> denn?", fragte er. "Dein Sohn?"<br />

McGonagall lachte. "Nein, bei Merlin, er ist höchstens sieben oder<br />

acht Jahre jünger als ich. Ich habe ihn bei <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

getroffen, sie behaupten, er habe ihnen <strong>das</strong> Leben gerettet."<br />

"Tut mir Leid wegen des Stupor ... aber ich dachte, er wolle mich<br />

angreifen." Sirius warf einen argwöhnischen Blick <strong>auf</strong> <strong>das</strong> metallisch<br />

funkelnde Schwert, <strong>das</strong> <strong>auf</strong> dem Boden lag.<br />

"Er wird bald <strong>auf</strong>wachen", meinte McGonagall mit leichter Sorge in<br />

der Stimme. "Sein Schwert sollte dann in sicherer Entfernung sein." Er<br />

trug Alexander zu einer Couch, die in einer Ecke des Raums stand, <strong>und</strong><br />

legte ihn vorsichtig dar<strong>auf</strong>.<br />

"Wieso?", meinte Sirius unbeschwert, "ich glaube nicht, <strong>das</strong>s<br />

dieses Kind uns gefährlich werden kann."<br />

"Unterschätz ihn nicht", warnte McGonagall. "Er hat einen Riesen<br />

geschlagen sowie eine Polizeibehörde der Muggel ausgetrickst, <strong>und</strong><br />

besondern beherrscht würde ich ihn auch nicht nennen."<br />

Sirius warf Alexander einen unangenehm berührten Blick zu <strong>und</strong><br />

wandte sich dar<strong>auf</strong>hin lieber an <strong>Harry</strong>.<br />

"<strong>Harry</strong>, sag uns, was du Neues über Voldemort weißt", forderte er.<br />

"Die Haupt<strong>auf</strong>gabe dieses Phönixordens besteht darin, möglichst<br />

aktuelle Informationen über ihn zu beschaffen <strong>und</strong> über Wege zu<br />

beratschlagen, ihn zu stoppen."<br />

"Ich weiß nichts", meinte <strong>Harry</strong> hastig. "Aber wie wollt ihr etwas<br />

gegen Voldemort unternehmen? Ihr seid tot – oder gefangen in der Welt<br />

der Toten", verbesserte er sich schnell, als er Sirius ansah.<br />

"Wie ich schon sagte, versuchen wir, Neuigkeiten über Voldemort<br />

zu erfahren. Dazu stöbern wir jeden Tag nach neuen Toten, die vielleicht<br />

etwas über den Kampf gegen die Todesser wissen, was erst in den<br />

letzten Tagen geschehen ist. Das ist eine recht langwierige <strong>und</strong> gar nicht<br />

305


so einfache Aufgabe, denn die Toten erscheinen im Land, wo <strong>und</strong> wie es<br />

ihnen passt, wenn sie erst einmal den Fluss überquert haben.<br />

Außerdem beratschlagen wir noch Mittel, um gegen Voldemort<br />

vorzugehen – einige von uns, wie zum Beispiel Rex, wissen von Dingen,<br />

die noch kein Lebender erfahren hat <strong>und</strong> die dem lebenden Phönixorden<br />

wirklich weiterbringen können. Oder wir suchen verstorbene Todesser<br />

<strong>und</strong> bringen sie dazu, interne Informationen preiszugeben. Ohne ihren<br />

Anführer sind die meisten leicht einzuschüchtern."<br />

"Das ist völlig unsinnig", widersprach <strong>Harry</strong>. "Was bringt es, wenn<br />

ihr Pläne <strong>zur</strong> Vernichtung Voldemorts <strong>auf</strong>stellt – die Lebenden können<br />

<strong>doc</strong>h davon nichts erfahren."<br />

"Falsch", lächelte Regulus Black. "Am Tag der Toten werden wir<br />

einen von uns durch den Bogen schicken, um unsere Ergebnisse zu<br />

überbringen."<br />

"Am Tag der was?", platzte Ron heraus.<br />

"Davon habe ich schon in den Mysterien gelesen", fiel es <strong>Harry</strong><br />

plötzlich wieder ein. "Was ist <strong>das</strong> für ein Tag?"<br />

"Einmal im Jahr entsteht für einen Tag eine beidseitige Verbindung<br />

zwischen den Welten. Tote können dann durch den schwarzen Bogen<br />

<strong>zur</strong>ück in die Welt der Lebenden – was eine eklatante Ausnahme ist, da<br />

der Bogen an allen anderen Tagen des Jahres nur in die <strong>Unterwelt</strong> führt.<br />

Allerdings können sie nur in den Raum, in dem der schwarze Bogen<br />

steht."<br />

"Daher die vielen Sitzreihen!", hauchte Hermine. "Die Unsäglichen<br />

reden mit den Gestorbenen, um den Tod zu erforschen!"<br />

"Aber – aber <strong>das</strong> wäre <strong>doc</strong>h die Chance für jeden, der jemanden<br />

verloren hat, regelmäßig mit ihm zu sprechen!", meinte <strong>Harry</strong> hektisch.<br />

Er musste an seine Eltern denken. Waren sie jedes Jahr für einen Tag<br />

durch den Bogen <strong>zur</strong>ückgekehrt, um ihn zu sehen? Und er war nie dort<br />

gewesen!<br />

"Nein, der Zugang zum Todesraum ist nur den Unsäglichen<br />

gestattet. Es kann natürlich auch nicht die gesamte <strong>Unterwelt</strong><br />

<strong>zur</strong>ückkehren. Das Zaubereiministerium der <strong>Unterwelt</strong> entscheidet<br />

jährlich über die Personen, die gehen dürfen. Einen Verwandten oder<br />

Fre<strong>und</strong> zu sehen ist kein sachgemäßer Gr<strong>und</strong>, die <strong>Unterwelt</strong> verlassen<br />

zu dürfen", erklärte ein kleiner Zauberer im hinteren Teil des Raumes.<br />

"Das ist Alan Jones, er hat vor ein paar Jahrzehnten als<br />

Unsäglicher gearbeitet. Um ehrlich zu sein, tut er es immer noch."<br />

"Sachgemäßer Gr<strong>und</strong>!", rief <strong>Harry</strong> erbost. "Was ist mit den<br />

Menschen, die um jemanden trauern? Es würde ihnen enorm viel helfen,<br />

zu wissen, <strong>das</strong>s es den Toten gut geht, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s sie – <strong>das</strong>s sie sie eines<br />

Tages wieder sehen werden!"<br />

"<strong>Harry</strong>, jetzt fang nicht schon wieder damit an", tadelte Hermine<br />

<strong>und</strong> packte ihn bei der Schulter.<br />

306


"Das werden sie früh genug", erwiderte Jones. "Die Verbindung <strong>zur</strong><br />

<strong>Unterwelt</strong> wird daher genutzt, um Wissen auszutauschen, nicht nur <strong>auf</strong><br />

dem Gebiet des Todes. Auch die Zauberer in dieser Welt forschen <strong>und</strong><br />

möchten ihr Wissen mit der Oberwelt teilen. Man könnte den Bogen ein<br />

Forschungs-Joint-Venture nennen, wenn dir der Begriff etwas sagt."<br />

Das tat er durchaus, da <strong>Harry</strong> im Sommer mit den<br />

Expansionsplänen von Onkel Vernons Firma traktiert worden war, aber<br />

<strong>das</strong> war ihm jetzt egal.<br />

"Forschungs-Joint-Venture?", schrie er außer sich vor Wut. "Sie<br />

könnten die Trauer von so vielen Menschen lindern, <strong>und</strong> errichten ein<br />

Joint-Venture?" Verzweifelt versuchte er, sich Hermines <strong>und</strong> nun auch<br />

McGonagalls Griff zu entwinden, vermutlich, um Jones anzuspringen.<br />

"Werde mal nicht unsachlich, <strong>Harry</strong>", bat ihn sein Lehrer. "Die<br />

Mysteriumsabteilung ist streng abgesichert, dort darf keine Zivilperson<br />

hinein."<br />

"Dann stellt diesen blöden Bogen <strong>doc</strong>h woanders hin!"<br />

"Damit alle Zauberer <strong>und</strong> Hexen durch ihn hindurchgelockt<br />

werden? Das ist ein sehr gefährlicher Gegenstand, soweit ich Snapes<br />

Erzählung entnehmen konnte, wolltest du selbst fast hindurchgehen."<br />

<strong>Harry</strong> erinnerte sich an die seltsamen Stimmen, denen er im Juni<br />

beinahe gefolgt wäre.<br />

"Und wenn ich noch genauer überlege, bist du tatsächlich<br />

hindurchgegangen! Der Bogen gehört weggesperrt", beharrte<br />

McGonagall.<br />

"Aber wäre es nicht möglich, den Zauberern <strong>und</strong> Hexen<br />

mitzuteilen, <strong>das</strong>s es eine <strong>Unterwelt</strong> gibt?", fragte Ron. <strong>Harry</strong> hätte ihn<br />

umarmen können, Hermine je<strong>doc</strong>h schien ihn lieber mit einem<br />

Schweigezauber belegen zu wollen.<br />

"Nein, dann würde ja jeder an Halloween ins Ministerium wollen.<br />

Das ergäbe ein unsägliches Chaos", meinte Jones. "Außerdem, was<br />

denkst du, würde passieren, wenn jeder wüsste, <strong>das</strong>s er nach dem Tod<br />

weiterlebt ... niemand würde <strong>das</strong> Leben mehr ernst nehmen, keiner<br />

würde es mehr als einmalige Chance betrachten, die uns gegeben ist.<br />

Das wäre fatal. Denn die <strong>Unterwelt</strong> ist nur eine Erinnerung, ein Abbild<br />

der oberen Welt! Und wenn keiner mehr seine Lebenszeit nutzen würde,<br />

um seine Bestimmung zu finden, würde sich die <strong>Unterwelt</strong> in einen Ort<br />

für jammernde, leere, dumme, phantasielose <strong>und</strong> unzufriedene Muggel,<br />

Zauberer <strong>und</strong> Hexen entwickeln. Dann wären beide Welten verloren."<br />

"Sie reden schon wie Alexander", meinte <strong>Harry</strong> erbost. "Diese<br />

dämliche "Bestimmung" ..."<br />

"Ist der gr<strong>und</strong>legende Sinn des Lebens von jedem Einzelnen",<br />

vollendete Jones <strong>und</strong> schaute nickend zu dem immer noch bewusstlosen<br />

Makedonen. "Er ist weiser als du."<br />

307


"Na toll, jetzt sollen wir uns irgendwelchen schon ewig toten<br />

Monarchen beugen", nölte Ron.<br />

"Ach, halt die Klappe, Ron", seufzte Hermine.<br />

"Also", sprach <strong>Harry</strong> mit zusammengepressten Zähnen, nachdem<br />

er beschlossen hatte, <strong>das</strong>s dieser Streit zu nichts führen würde, "wollt ihr<br />

an Halloween einen Boten in die Oberwelt schicken, um ihm mitzuteilen,<br />

was der <strong>Unterwelt</strong>s-Phönixorden erarbeitet hat."<br />

"Ja. Es ist <strong>das</strong> erste Mal, <strong>das</strong>s wir so etwas tun. Erst Sirius hat<br />

nach seinem Tod den neuen Orden gegründet. Bei den Informationen<br />

geht es hauptsächlich darum, welche Ministeriumsmitarbeiter Voldemort<br />

eingeschleust hat, wie er mit seinen Todessern umgeht <strong>und</strong> seine Arbeit<br />

plant – <strong>und</strong> was wir von seinen kleinen Spielzeugen wissen, die ihn<br />

unsterblich machen sollen.“<br />

"Hä?", machte <strong>Harry</strong> unwillkürlich, musste aber im nächsten<br />

Augenblick gähnen. Er war h<strong>und</strong>emüde.<br />

"Das Beste wäre, ihr geht erst einmal schlafen", schlug Sirius vor.<br />

"Wir setzen die Sitzung morgen fort. Wir haben ja ewig Zeit", grinste er.<br />

"Du kapierst es nicht, oder?", fragte <strong>Harry</strong>, der langsam die Geduld<br />

verlor. "Wir gehen <strong>zur</strong>ück in die Oberwelt, <strong>und</strong> zwar mit dir. Und Snape<br />

müssen wir auch noch finden!", fiel ihm erschrocken ein.<br />

"Was?", fragte Sirius entgeistert. "Der ist auch hier? Wen habt ihr<br />

noch durch den Bogen geschleppt?"<br />

"Keinen weiter", antwortete <strong>Harry</strong> verschnupft. Da waren sie hier,<br />

um Sirius zu retten, <strong>und</strong> der wusste nichts Besseres, als ihnen Vorwürfe<br />

zu machen.<br />

"Vielleicht ist es besser, wir setzen uns <strong>doc</strong>h erst einmal hin <strong>und</strong><br />

erklären alles", schlug McGonagall vor. Obwohl er genauso müde<br />

aussah, wie <strong>Harry</strong> sich fühlte, ließ er sich <strong>auf</strong> einen Stuhl fallen.<br />

"Na gut", murmelte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> setzte sich neben ihn. In der<br />

nächsten halben St<strong>und</strong>e lieferten sie einen genauen Bericht über die<br />

Gründe ihres Kommens ab. Die Reaktionen der Ordensmitglieder<br />

variierten zwischen mitleidigem Seufzen, erstaunten Rufen <strong>und</strong><br />

schließlich <strong>auf</strong>geregter Hoffnung.<br />

"Vielleicht können wir <strong>Harry</strong> <strong>Potter</strong> tatsächlich wieder in die<br />

Oberwelt bringen", rief Fenwick <strong>und</strong> werkelte in seinen Unterlagen<br />

herum. "Dann kann er weiter gegen Voldemort kämpfen!"<br />

"Was dachtet ihr denn, was ich hier wollte?", stöhnte <strong>Harry</strong>. Waren<br />

sie alle so dumm <strong>und</strong> glaubten, er wäre freiwillig in den Tod gegangen,<br />

ohne wenigstens ein wenig Hoffnung, <strong>zur</strong>ückkehren zu können?<br />

"Aber wie kommt man <strong>zur</strong>ück? Geht man einfach durch den<br />

weißen Bogen? Das ist absurd, denn dann wäre <strong>doc</strong>h die ganze<br />

<strong>Unterwelt</strong> bereits leergefegt!", wandte eine junge Hexe ein, die <strong>Harry</strong><br />

nicht kannte.<br />

308


"Es gibt nur eine Möglichkeit", erklärte Jones, "wir müssen den<br />

Hexer von Hexham finden. Auch ich habe während meiner Arbeit von<br />

ihm gehört, da ich aber nicht über den Tod, sondern über die Zeit<br />

geforscht habe, weiß ich nichts Genaues."<br />

"Richtig!", rief <strong>Harry</strong> eifrig. "Der Hexer wird wissen, wie man<br />

<strong>zur</strong>ückgelangt."<br />

"Falls er tot ist", meinte Ron düster. "Wenn ich zwischen den<br />

Welten wandeln könnte, würde ich für immer in der Oberwelt leben<br />

wollen."<br />

"Also ich nicht. Dieses Zeitreisen ist <strong>doc</strong>h sehr interessant. Man<br />

trifft neue Gegenden, Gesellschaften <strong>und</strong> Menschen, <strong>und</strong> wenn man<br />

besonderes Glück hat, erwischt einen ein rotes Feuer, <strong>das</strong> einen zum<br />

Schlafen bringt", hörten sie eine mit Wut durchtränkte, sarkastische<br />

Stimme hinter sich. McGonagall fuhr herum.<br />

"Alexander!", begrüßte er ihn. "Schön, <strong>das</strong>s du –" Er verstummte<br />

angesichts des vor Zorn verzerrten Gesichts des Makedonen.<br />

"Tut mir Leid, Kumpel", entschuldigte sich Sirius, "ich dachte, du<br />

würdest mich angreifen."<br />

"Verhext ihr Zauberer prinzipiell alles, mit dem ihr nicht umgehen<br />

könnt?", höhnte Alexander <strong>und</strong> sah sich um. "Wo ist mein Schwert?<br />

Vielleicht hast du nichts gegen einen fairen Zweikampf, um die<br />

Positionen zu klären. Du <strong>und</strong> ich, ohne Zauberstab."<br />

"Also jetzt reicht es!", rief McGonagall. "Es geht hier nicht um<br />

Positionskämpfe, sondern darum, wie wir wieder in die Oberwelt<br />

kommen. Alexander, diese Zauberer <strong>und</strong> Hexen sind unsere Fre<strong>und</strong>e,<br />

<strong>und</strong> die werden nicht angegriffen. Du kannst dich wieder mit den Skythen<br />

kloppen, wenn du <strong>zur</strong>ück in deiner Zeit bist."<br />

<strong>Harry</strong> fürchtete für einen Augenblick, <strong>das</strong>s Alexander nun erst recht<br />

durchdrehen würde <strong>und</strong> McGonagall einfach erwürgen würde – was<br />

angesichts der Tatsache, <strong>das</strong>s dieser eigentlich noch lebte, fatal<br />

gewesen wäre. Aber er hielt sich <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> schluckte seinen Ärger<br />

runter.<br />

"Gut, dann schlage ich vor, wir kümmern uns morgen darum, wie<br />

wir an den Hexer kommen", meinte Jones. "Er ist übrigens gestorben,<br />

<strong>das</strong> Ministerium hat ihn nach seiner Rückkehr nicht aus den Augen<br />

gelassen. Irgendwann war er ganz normal tot."<br />

"Wie denn <strong>das</strong>? Wenn er den Weg aus dem Tod gef<strong>und</strong>en hat, wie<br />

kann er dann sterben?", empörte sich Ron.<br />

"Weil nur diejenigen in die Oberwelt <strong>zur</strong>ückkehren können, die sie<br />

durch den Bogen verlassen", erklärte Jones. "Denn ihr seid nicht im<br />

biologischen Sinne gestorben – ihr seid weder tödlich verletzt worden,<br />

noch seid ihr einer Krankheit erlegen, sondern wandelt sprichwörtlich<br />

lebendig unter den Toten." Er lehnte sich in seinem Stuhl <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong><br />

betrachtete die fünf mit fast akademischem Interesse.<br />

309


"Und bisher wusste keiner, <strong>das</strong>s es für Leute wie euch einen Weg<br />

<strong>zur</strong>ück gibt. Das Ministerium hat in früheren Jahrh<strong>und</strong>erten ab <strong>und</strong> zu<br />

einen Freiwilligen durch den Bogen geschickt, von denen aber keiner<br />

<strong>zur</strong>ückgekommen ist – bis <strong>auf</strong> den Hexer. Da dieser aber verschwand<br />

<strong>und</strong> keinem mitteilen wollte, was er gesehen hatte, gab man die<br />

Experimente <strong>auf</strong>. Keiner traute sich mehr in die <strong>Unterwelt</strong>."<br />

"Nun gut, dann ist der Hexer unsere einzige Hoffnung", seufzte<br />

McGonagall. "Das wird lustig."<br />

"Wieso?", fuhr <strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>, Böses ahnend.<br />

"Weil der Hexer im Mittelalter gestorben ist", meinte Jones.<br />

"Niemand weiß, wo er jetzt ist."<br />

"Na klasse, wenn wir je eine Chance haben wollen, aus der<br />

Zombie-Welt zu entkommen, dann nur, wenn wir einen Kerl finden, der<br />

vor 800 Jahren gestorben ist!", wetterte Ron, als <strong>Harry</strong> später mit ihm<br />

<strong>und</strong> Hermine zu den von ihnen auch in der Oberwelt bewohnten<br />

Zimmern ging. Das Ordenstreffen war beendet, <strong>und</strong> die Mitglieder, nun in<br />

schwarzen Roben, hatten unter den stolzen Augen von Mrs Black <strong>das</strong><br />

Haus verlassen. Sirius schlief ebenfalls am Grimmauldplatz, <strong>und</strong> auch<br />

wenn <strong>das</strong> seinen Eltern sichtlich nicht passte, so duldeten sie ihn wegen<br />

seines angeblichen Interesses für Muggelfolter.<br />

"Wir müssen es eben versuchen", meinte Hermine nun müde <strong>und</strong><br />

blieb vor der Tür ihres Schlafzimmers stehen.<br />

"Wo ist eigentlich Snape?", warf <strong>Harry</strong> ein. "Wollte er nicht Sirius<br />

suchen?"<br />

"Keine Ahnung, vielleicht hat er sich verirrt", meinte Ron leichthin.<br />

"Ist <strong>doc</strong>h egal, oder? Wenn er in der <strong>Unterwelt</strong> bleibt, dann haben wir<br />

wenigstens vor ihm Ruhe."<br />

"Ich glaube, ich weiß, wo er ist", grübelte Hermine. "In Godric's<br />

Hollow."<br />

"Godric's Hollow?", echote Ron. "Dort wohnen <strong>doc</strong>h deine Eltern,<br />

oder?", fragte er <strong>Harry</strong>.<br />

Der nickte.<br />

"Was sollte denn Snape dort machen, Hermine, er hasst <strong>Harry</strong>s<br />

Vater!"<br />

"Ich spreche auch nicht von <strong>Harry</strong>s Vater", entgegnete sie<br />

vieldeutig <strong>und</strong> warf <strong>Harry</strong> einen vorsichtigen Blick zu. Dann schloss sie<br />

ihre Tür, nachdem sie den beiden eine gute Nacht gewünscht hatte.<br />

"Was sollte denn <strong>das</strong>?", w<strong>und</strong>erte sich Ron <strong>und</strong> warf sich <strong>auf</strong> sein<br />

Bett. "Wieso muss sie immer in Rätseln sprechen?"<br />

"Keine Ahnung", murmelte <strong>Harry</strong>. "Ich schlafe jetzt, ich bin<br />

h<strong>und</strong>emüde."<br />

Zwei Minuten später war auch von Ron nichts mehr zu hören, aber<br />

<strong>Harry</strong> konnte natürlich nicht so schnell einschlafen.<br />

310


War Snape wirklich bei seinen Eltern – bei seiner Mutter? Hatte er<br />

nach wie vor Interesse an ihr? Glühende Wut begann in ihm zu brodeln,<br />

als er sich vorstellte, wie Snape seine Eltern belästigte. Am liebsten wäre<br />

er nach Godric's Hollow geflogen, um sich zu vergewissern, <strong>das</strong>s alles in<br />

Ordnung war – aber McGonagalls Warnung hatte Eindruck hinterlassen.<br />

Würde er es je über sich bringen, sich von seinen Eltern wieder zu<br />

trennen, wenn er sie einmal getroffen hatte? Würde er den Willen<br />

<strong>auf</strong>bringen können, <strong>zur</strong>ück in die Oberwelt zu gehen, was ja eigentlich<br />

seine Aufgabe war?<br />

Langsam spürte er die Folgen der Anstrengungen des Tages <strong>doc</strong>h,<br />

<strong>und</strong> bevor der Schlaf über ihn kam, dachte er noch einmal an Sirius, der<br />

den ganzen Abend über ausgelassen <strong>und</strong> fröhlich gewesen war, unfähig,<br />

seine Freude über <strong>das</strong> Wiedersehen mit ihnen zu verbergen, selbst<br />

wenn er wusste, in welch prekärer Lage sie steckten. Immerhin einer war<br />

froh, <strong>das</strong>s wir hier sind, war sein letzter Gedanke, bevor er<br />

wegdämmerte.<br />

311


KAPITEL SECHZEHN<br />

Der Hexer<br />

<strong>Harry</strong> erwachte von einem Poltern in seinem Zimmer.<br />

Schlaftrunken öffnete er die Augen <strong>und</strong> suchte tastend nach seiner Brille.<br />

Blinzelnd registrierte er Ron, der gerade hineinkam <strong>und</strong> die Tür in die<br />

Angeln schlug.<br />

"Was machst du?", fragte er gähnend <strong>und</strong> wollte sich die Decke<br />

über die Ohren ziehen.<br />

"Ich war schon unten, es gibt gleich Frühstück", berichtete Ron mit<br />

einem komischen Gesichtsausdruck. "Danach wollen wir ins Mittelalter<br />

<strong>auf</strong>brechen. Sirius <strong>und</strong> sein Bruder kommen mit."<br />

"Frühstück? In der Küche?" Wenn ich die <strong>Unterwelt</strong> später einmal<br />

beschreiben müsste, dann als Anhäufung von Deja Vues aus der<br />

Oberwelt, dachte er grimmig.<br />

"Nein, die Blacks haben <strong>doc</strong>h einen eigenen, riesigen Speisesaal",<br />

grinste Ron. "Die essen nicht in der Hauselfen-Kaschemme, die wir<br />

immer benutzen."<br />

"Aber – erlauben die <strong>das</strong>?"<br />

"Das ist <strong>das</strong> Problem, Kumpel", raunte Ron düster. "Dieser<br />

Hausdrachen isst mit uns. Die nächste halbe St<strong>und</strong>e musst du so tun,<br />

als seiest du fanatischer Todesser."<br />

"Können wir nicht einfach gehen <strong>und</strong> unterwegs essen?", fuhr<br />

<strong>Harry</strong> <strong>auf</strong>.<br />

"Nein, <strong>das</strong> gehört sich hier scheinbar nicht. Wir würden ihr<br />

"Misstrauen erwecken", wie Hermine sagt." Er rümpfte die Nase. "Wenn<br />

sie dahinter kommen, gehen sie uns an die Gurgel. Wir können noch<br />

sterben, vergiss <strong>das</strong> nicht."<br />

Ein paar Minuten später saßen sie in einem gigantischen, teuer<br />

eingerichteten Raum, der allerdings wie der Rest des Hauses viel zu<br />

düster war, um gemütlich zu wirken. Dunkle Holztäfelung an den<br />

312


Wänden ergab mit weiteren grausigen Bildern irgendwelcher borniert<br />

<strong>und</strong> böse aussehender Zauberer <strong>und</strong> Hexen längst vergangener Zeiten<br />

(vermutlich die lieben Ahnen, dachte <strong>Harry</strong>) eine bedrückte, belastende<br />

Atmosphäre, in denen sich die Blacks allerdings wohl zu fühlen<br />

schienen. Oder, besser gesagt, Mrs Black, denn Sirius <strong>und</strong> Regulus war<br />

es sichtbar unangenehm, sich hier <strong>auf</strong>zuhalten.<br />

"Entschuldigen Sie, <strong>das</strong>s mein Mann nicht hier sein kann, er ist seit<br />

zwei Tagen geschäftlich in Liverpool", knarrte Mrs Black. "Hat Ihnen die<br />

Versammlung gestern zugesagt?", erk<strong>und</strong>igte sie sich strahlend.<br />

"Äh, sehr interessant, in der Tat", bestätigte McGonagall, der<br />

appetitlos in einer Schüssel kunstvoll zubereiteten Obstsalates<br />

herumstocherte, welche ein Hauself vor einigen Minuten gebracht hatte.<br />

"Sie müssen wissen, <strong>das</strong>s es eine Ehre ist, im Hause Black zum<br />

Essen eingeladen zu sein", stellte Mrs Black zwischen zwei Löffeln<br />

Honigtorte mit Mandelcreme fest. "Nur Wenigen ist <strong>das</strong> vergönnt. Aber<br />

so lieben Fre<strong>und</strong>en unseres Regulus machen wir gerne eine Freude.<br />

Nur, sagen Sie, welches ist Ihre am meisten bevorzugte Art, Muggel zu<br />

foltern? Soweit ich informiert bin, war es <strong>das</strong> Ziel der gestrigen<br />

Versammlung, die schmerzvollste zu finden. Sind es langsam<br />

ausgeführte Eingeweide-Ausweideflüche, oder vielleicht diese<br />

Muggelart, Gliedmaßen nacheinander mit einer "Säge" abzutrennen?"<br />

Erwartungsvoll <strong>und</strong> neugierig schaute sie McGonagall an.<br />

Der war kalkweiß geworden <strong>und</strong> ließ seine Gabel fallen.<br />

"Sagen Sie, sind Sie sicher, <strong>das</strong>s es Ihnen gut geht?", hakte sie<br />

nach.<br />

Ron neben <strong>Harry</strong> schluckte <strong>und</strong> blickte beharrlich in seine<br />

Schüssel, <strong>und</strong> Hermine rang mit sich, ihrem Ekel keinen zu deutlichen<br />

Ausdruck zu geben. Sirius <strong>und</strong> Regulus waren solche Gespräche wohl<br />

gewohnt, denn der jüngere Black meinte sofort munter:<br />

"Wir sind noch zu keinem Abschlussergebnis gekommen, Mum",<br />

meinte er gespielt fröhlich. "Kann ich bitte die Erdbeermarmelade<br />

haben?"<br />

"Ach, komm, Schatz, ein wenig kannst du mir <strong>doc</strong>h verraten.<br />

Wolltet ihr euch für morgen nicht einen Muggel für Tests suchen?"<br />

<strong>Harry</strong> hatte eindeutig den Eindruck, <strong>das</strong>s McGonagall sich gleich<br />

übergeben würde. Sein Lehrer starrte die Obstschale an, als überlege er,<br />

ob es passend wäre, sie als Kloschüssel zu benutzen.<br />

Mrs Black bemerkte seinen Zustand nun auch <strong>und</strong> kniff die Augen<br />

zusammen. "Sagen Sie, eigentlich machen Sie mir nicht den Eindruck,<br />

als hätten Sie Interesse an Muggelfolter!"<br />

"Nein?", presste McGonagall in unnatürlich hohem Ton heraus.<br />

"Wer sind Sie?" Ihr Blick wurde unübersehbar misstrauisch.<br />

"Wir sind eine Forschungsgruppe, die Foltermethoden<br />

verschiedener Jahrh<strong>und</strong>erte untersucht", erklang <strong>auf</strong> einmal Alexanders<br />

313


Stimme, der bisher nichts gesagt hatte, sondern den Gesprächen<br />

neugierig zugehört hatte.<br />

"Was Sie nicht sagen", hob Mrs Black die Augenbrauen. "Dann<br />

können Sie sicher berichten, über was gestern im Versammlungsraum<br />

gesprochen wurde?"<br />

"Sicher", meinte Alexander leicht hochmütig <strong>und</strong> sah sie unbewegt<br />

an. Danach hielt er einen fast fünfzehnminütigen Vortrag über<br />

Foltermethoden der Antike, der so lebendig <strong>und</strong> detailliert war, <strong>das</strong>s<br />

<strong>Harry</strong> den Verdacht nicht los wurde, er beruhe <strong>auf</strong> eigenen Erfahrungen.<br />

McGonagall hatte sich entschlossen, für den Rest des Frühstücks die<br />

Hände vor <strong>das</strong> Gesicht zu schlagen, Hermine schaute angewidert der<br />

von ihrem Löffel tropfenden Milch zu, Ron starrte Alexander ungläubig<br />

an <strong>und</strong> die Black-Brüder schienen beeindruckt. Der Makedone jedenfalls<br />

schien seinen Auftritt zu genießen, schenkte Mrs Black galant neuen<br />

Kaffee ein <strong>und</strong> erzählte unbeschwert von Gräueltaten, über die <strong>Harry</strong><br />

noch nicht einmal nachdenken wollte.<br />

Hätte sich Mrs Black auch nur einmal von Alexanders Blick<br />

losreißen können, wäre ihr <strong>auf</strong>gefallen, <strong>das</strong>s ihre übrigen Gäste entsetzt<br />

über seinen Schilderungen waren, aber der Makedone hatte die<br />

Situation an sich gerissen <strong>und</strong> hielt die Hausherrin mühelos in seinem<br />

Bann.<br />

"Ach, wie schade, wir müssen schon <strong>auf</strong>brechen!", rief er später<br />

bedauernd <strong>und</strong> schaute aus dem Fenster, wo die Sonne zu sehen war.<br />

Uhren kennt er wohl nicht, überlegte <strong>Harry</strong>.<br />

"Es tut uns <strong>auf</strong>richtig Leid, Ihre vorzügliche Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

verlassen zu müssen", sagte er mit so traurigem Blick, <strong>das</strong>s Mrs Black<br />

<strong>auf</strong>sprang.<br />

"Aber Sie können <strong>doc</strong>h jederzeit wiederkommen ... wenn Sie ihre<br />

Forschungsreise ins Mittelalter beendet haben, um – wie war <strong>das</strong> <strong>doc</strong>h<br />

gleich?"<br />

"Inquisitionsmethoden!", warf Regulus hilfreich ein.<br />

"Ach ja. Wenn Sie die untersucht haben, kommen Sie bitte wieder<br />

<strong>und</strong> setzen mich davon in Kenntnis. Ich bin immer an Wissenschaft<br />

interessiert, <strong>und</strong> ich wäre glücklich, Sie wieder in meinem Haus bewirten<br />

zu können."<br />

"Sicher", lächelte Alexander. "Ich zähle die Tage, bis wir ihre<br />

vornehme Gesellschaft wieder genießen dürfen."<br />

Mrs Black war restlos entzückt <strong>und</strong> wurde richtig gehend<br />

gesprächig, was dazu führte, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> vor Erleichterung tief<br />

durchatmete, als die Tür des Grimmauldplatzes ins Schloss fiel <strong>und</strong> sie<br />

die unermüdlich wiederholten Einladungen der Hausherrin los waren.<br />

"Bei Merlin, <strong>das</strong> war <strong>das</strong> furchtbarste Frühstück, <strong>das</strong> ich je <strong>das</strong><br />

Pech hatte, durchstehen zu müssen!", klagte McGonagall, der immer<br />

noch recht blass war.<br />

314


"Diese Person ist in der Tat abscheulich", bestätigte Alexander,<br />

dessen Fre<strong>und</strong>lichkeit verschw<strong>und</strong>en war.<br />

"Dann hast du all <strong>das</strong> nur vorgetäuscht?", fragte Regulus<br />

bew<strong>und</strong>ernd.<br />

"Natürlich."<br />

"Aber woher weißt du so gut über Folter Bescheid?"<br />

"Ich bin halt viel rumgekommen", meinte Alexander knapp. "Aber<br />

ich habe nie selbst jemandem aus Spaß Leid zugefügt, falls es <strong>das</strong> ist,<br />

was du wissen willst."<br />

"Das war eine brillante schauspielerische Leistung", nickte Sirius<br />

anerkennend. "Aber meine alte Mum wird enttäuscht sein, <strong>das</strong>s du nie<br />

wiederkommst ..."<br />

"Dann soll sie mich in Persien besuchen, dort kann sie die Folter,<br />

für die sie so schwärmt, einmal selbst austesten", entgegnete Alexander<br />

grimmig.<br />

"Genug davon!", rief Regulus. "Vergesst nicht, was unsere Aufgabe<br />

ist. Wir sollten bis heute Abend wissen, wie ihr <strong>zur</strong>ückgelangt."<br />

„Wieso bis heute Abend?“, fragte McGonagall stirnrunzelnd.<br />

„Weil es am besten ist, ihr verlasst die <strong>Unterwelt</strong> an Halloween.<br />

Dann werden viele Ministeriumsleute im Bogenraum anwesend sein, <strong>und</strong><br />

die Chance, einem von Voldemorts Schergen in den Weg zu l<strong>auf</strong>en, ist<br />

geringer.“<br />

"Ja, aber wie gelangen wir eigentlich ins Mittelalter?", fragte <strong>Harry</strong>.<br />

"Ich habe gestern noch alte Bücher aus unserer Bibliothek<br />

gef<strong>und</strong>en, in denen <strong>das</strong> mittelalterliche London Wort für Wort<br />

beschrieben ist", sagte Regulus. „Ihr werdet den Hexer suchen, während<br />

ich ins Ministerium gehe <strong>und</strong> mit einigen Ordensmitgliedern rede, die<br />

dort arbeiten. Wir warten <strong>auf</strong> euch. Sobald ihr kommt, gehen wir in die<br />

Mysteriumsabteilung zum weißen Bogen.“<br />

Dar<strong>auf</strong>hin schilderte er ihnen <strong>auf</strong> <strong>das</strong> Genaueste, wie es in der<br />

Stadt vor knapp 800 Jahren ausgesehen hatte. Schließlich stellten sich<br />

alle dieses Szenario vor, schlossen die Augen, konzentrierten sich <strong>und</strong><br />

verschwanden mit einer abschließenden Drehung in der Vergangenheit.<br />

Sobald er wieder festen Stand hatte, riss <strong>Harry</strong> sofort die Augen<br />

<strong>auf</strong> <strong>und</strong> verscheuchte schnell die schwarzen <strong>und</strong> bunten Wirbel hinter<br />

seinen Augelidern, um nicht wieder eine unangenehme Überraschung<br />

<strong>auf</strong> sich zufahren zu sehen. Tatsächlich waren sie wieder <strong>auf</strong> einer<br />

Straße gelandet, neben ihm stolperten gerade Ron <strong>und</strong> Hermine<br />

ineinander, <strong>und</strong> vor ihm lag Sirius <strong>auf</strong> dem fest getrampelten Boden.<br />

Fahrzeuge waren zum Glück aber keine zu sehen.<br />

"Hab’s ein wenig mit dem Schwung übertrieben", grinste sein Pate<br />

<strong>und</strong> klopfte sich den Staub vom Umhang.<br />

Neugierig sahen sie sich um.<br />

315


"Wahnsinn", hauchte Hermine. "Seht euch nur die alten Häuser<br />

an!"<br />

"Sie sind nicht alt", belehrte Ron sie neckend. "Höchstens vor ein<br />

paar Jahren erbaut." Hermine stieß ihn leicht in die Seite.<br />

Dennoch kam sich <strong>Harry</strong> vor, als sei er in eines der künstlich<br />

hergerichteten Dörfer der Muggel geraten, in denen man sich ansehen<br />

konnte, wie <strong>das</strong> Leben noch vor einigen Jahrh<strong>und</strong>erten ausgesehen<br />

hatte. An die Straße aus festem Boden, <strong>auf</strong> der sie standen, schmiegten<br />

sich mit Stroh bedeckte Häuser aus Stein oder gebrannten Lehm mit<br />

niedlichen Türen <strong>und</strong> Fenstern, vor denen Blumen in großen<br />

Tongefäßen gediehen. In den kleinen, krummen Gassen, die von der<br />

Hauptstraße abgingen, rannten Kinder umher, offensichtlich zum<br />

Missfallen der Händler, welche ein Stück von ihnen entfernt vor den<br />

Eingängen ihrer kleinen Geschäfte <strong>und</strong> Werkstatten saßen <strong>und</strong> ihre<br />

Waren feilboten; von Gewürzen aus aller Welt über Seidenstoffe aus<br />

dem fernen China bis hin zu Holzarbeiten aus der Umgebung konnte<br />

man alles k<strong>auf</strong>en. Schwatzend liefen die Menschen von Stand zu Stand<br />

<strong>und</strong> begutachteten die Qualität der Produkte oder feilschten um den<br />

Preis.<br />

"Was steht ihr hier rum? Macht, <strong>das</strong>s ihr von der Straße kommt!",<br />

herrschte sie plötzlich eine laute Stimme an.<br />

<strong>Harry</strong> fuhr herum <strong>und</strong> sah sich Auge in Auge mit einem großen<br />

Ackergaul, der vor einer Karre voller geflochtener Körbe gespannt war<br />

<strong>und</strong> ihn anstierte. Der Mann <strong>auf</strong> dem Kutschbock hatte es scheinbar<br />

eilig, denn er rief wieder: "Was ist denn nun? Seid ihr festgewachsen?<br />

Manche Leute müssen auch arbeiten!"<br />

Schnell gingen sie <strong>zur</strong> Seite <strong>und</strong> liefen in die kleinen, engen<br />

Gassen hinein.<br />

"Wow, an Zeitreisen könnte ich mich glatt gewöhnen!", meinte Ron<br />

begeistert, der gar nicht genug bekommen konnte von der neuen Welt.<br />

„Hier ist es eindeutig angenehmer als in der großen Steppe!“<br />

"Es ist unglaublich, stellt euch nur vor, was man alles lernen<br />

könnte!", rief auch Hermine vollkommen hingerissen. "Man kann<br />

Bibliotheken <strong>auf</strong>suchen, die es gar nicht mehr gibt, <strong>und</strong> uralte, in unserer<br />

Zeit längst verschw<strong>und</strong>ene Bücher lesen – z.B. in Alexandria, <strong>das</strong> einst<br />

der reichste Ort der Welt war <strong>und</strong> dessen berühmte Bibliothek seit langer<br />

Zeit verschollen ist ..." Ihre Augen leuchteten, während sie über die<br />

Möglichkeiten, die sich ihr boten, nachdachte. "Man könnte sogar den<br />

Gründer der Stadt <strong>auf</strong>suchen, wenn man möchte ..."<br />

Alexander reichte ihr mit bemüht ernstem Gesicht die Hand. "Es ist<br />

mir eine Ehre."<br />

Erst schaute ihn Hermine verwirrt an, dann musste sie lachen.<br />

"Ach ja, <strong>das</strong> warst du ..."<br />

316


"Ich will eure Pläne ja nicht unterbinden, aber wir sind nur hier, um<br />

den Hexer zu suchen", erinnerte sie McGonagall, während sie an einer<br />

großen Kirche vorbeikamen, in die eine Unmenge Menschen strömten.<br />

Vermutlich war gerade Gottesdienst. "Wenn ihr Forschungsreisen<br />

unternehmen wollt, wartet bitte bis zu eurem richtigen Tod."<br />

"Aber nur ein kleiner Abstecher in die Bibliothek von –", wollte<br />

Hermine mit verklärtem Blick rufen, aber McGonagall sah sie warnend<br />

an.<br />

"In Ordnung", meinte sie kleinlaut.<br />

"Das hier ist kein Abenteuerausflug, sondern bitterer Ernst!",<br />

mahnte auch Sirius.<br />

Von fern schallte laute Musik zu ihnen.<br />

"Was zum Teufel –", begann McGonagall, als Ron <strong>auf</strong>geregt <strong>auf</strong><br />

ein Stück Pergament deutete, <strong>das</strong> an einen Baum genagelt war <strong>und</strong> in<br />

schräger Handschrift von einem am heutigen Tag stattfindenden Turnier<br />

kündigte.<br />

"Ein Ritterturnier!", rief er. "Lasst uns dahin gehen, die Muggel<br />

waren ganz wild dar<strong>auf</strong> – es war sozusagen <strong>das</strong> Quidditch des<br />

Mittelalters, meint Dad immer."<br />

Auch <strong>Harry</strong> konnte nicht umhin, sein Interesse zu unterdrücken.<br />

Die Dursleys hatten ihn nie mit <strong>auf</strong> die Ritterspiele genommen, für die<br />

Dudley so geschwärmt hatte, sondern ihn zu Mrs Figg abgeschoben ...<br />

<strong>und</strong> nun hatte er sogar die Chance, ein echtes Turnier zu sehen!<br />

"Kommt gar nicht in Frage!", beschied McGonagall, obwohl nicht zu<br />

übersehen war, <strong>das</strong>s auch er einen neugierigen Blick in Richtung des<br />

Lärms warf.<br />

"Wir suchen <strong>doc</strong>h den Hexer, oder?", fragte Ron langsam.<br />

"Klar, oder glaubst du, wir wollen wirklich die Inquisition<br />

untersuchen? Eher untersucht die uns ..."<br />

"Und der Hexer hat hier in London gelebt?", bohrte Ron weiter.<br />

"Ron, was –!", rief Hermine.<br />

"Ja, hat er, laut Jones", erklärte McGonagall argwöhnisch.<br />

"Na dann wird er sich <strong>doc</strong>h so ein Turnier nicht entgehen lassen!",<br />

präsentierte Ron zufrieden seine Schlussfolgerung.<br />

"Also ich weiß nicht", meinte Sirius zweifelnd.<br />

"Das ist eine Idee", grübelte Hermine, die nachdenklich <strong>auf</strong> <strong>das</strong><br />

Pergament schaute. "Sollte der Hexer nicht dort sein, kann uns vielleicht<br />

wenigstens jemand sagen, wo er ist."<br />

In den letzten Minuten hatten sich die Straßen <strong>und</strong> Gassen um sie<br />

herum geleert, die Händler schlossen ihre Geschäfte, <strong>und</strong> die Kinder<br />

hüpften <strong>auf</strong>geregt um ihre Eltern herum. Alle schien es zu dem<br />

Turnierplatz zu ziehen.<br />

"In Ordnung, einen Blick können wir ja riskieren", meinte<br />

McGonagall, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron strahlten. "Aber bleibt zusammen, ich<br />

317


habe keine Lust, später einen von euch im mittelalterlichen London<br />

suchen zu müssen." Stirnrunzelnd schaute er sich um. "Weiß jemand,<br />

wie diese Straße heißt? Wenn wir nachher durch die Zeit <strong>zur</strong>ückreisen<br />

wollen, wäre es am besten, wir kommen so genau wie möglich wieder<br />

dort an, wo wir gestartet sind."<br />

Sirius hielt einen kleinen Jungen an. "Hey, kannst du uns sagen, in<br />

welcher Straße wir uns befinden?"<br />

"Das Turnier ist dort hinten!", rief er <strong>und</strong> zeigte mit dem Finger <strong>auf</strong><br />

die Menschenmassen, die alle in eine Richtung gingen.<br />

"Schon klar, aber diese Straße?"<br />

"Korbflechtergasse", sagte der Junge, offenbar empört, <strong>das</strong>s sich<br />

die Fremden für so nichtige Dinge interessierten, <strong>und</strong> rannte davon.<br />

"Korbflechter", murmelte Sirius. "Wieder so ein bescheuertes<br />

Muggelwort. Kann <strong>das</strong> jemand <strong>auf</strong>schreiben?"<br />

<strong>Harry</strong> kramte ein Stück zerrissenes Pergament aus seinem<br />

Rucksack, hatte aber nichts zu schreiben mit.<br />

"Hat niemand eine Feder?", grollte Sirius.<br />

"Ich wollte meinen Aufsatz für Verteidigung nicht in der <strong>Unterwelt</strong><br />

schreiben", konterte Ron.<br />

"Hier." <strong>Harry</strong> gab ihm einen Bleistift, den er <strong>auf</strong> dem Boden seiner<br />

Tasche noch gef<strong>und</strong>en hatte, offenbar ein Überbleibsel aus dem<br />

Ligusterweg.<br />

Etwas linkisch kritzelte sein Pate <strong>das</strong> Wort <strong>auf</strong> den<br />

Pergamentfetzen <strong>und</strong> steckte ihn seine Hosentasche.<br />

Sie liefen nun den vielen Menschen nach, die alle dem Tosen von<br />

noch mehr Menschen folgten, bis sie am Rande eines großen, offenbar<br />

umzäunten Platzes zum Stehen kamen. <strong>Harry</strong> konnte nicht viel sehen,<br />

da sich vor ihm etliche kreischende <strong>und</strong> schreiende Menschenreihen<br />

drängten, aber Sirius hatte un<strong>auf</strong>fällig seinen Zauberstab gezückt <strong>und</strong><br />

brachte die Muggel vor ihnen dazu, erschreckt <strong>zur</strong>ückzuweichen. Schnell<br />

zwängten sie sich in die entstandenen Lücken.<br />

"Packt eure Zauberstäbe weg", flüsterte Hermine. "Die Muggel des<br />

Mittelalters waren gegenüber Zauberei nicht sehr tolerant! Denkt nur an<br />

die Hexenverbrennungen, die wir bei Binns hatten."<br />

<strong>Harry</strong> verstaute dar<strong>auf</strong>hin seinen Zauberstab lieber in der Tasche.<br />

"Und, wen fragen wir nun nach dem Hexer?", wollte McGonagall<br />

wissen <strong>und</strong> schaute sich zwischen den vielen Frauen, Kindern <strong>und</strong><br />

einigen männlichen Zuschauern um. Sie alle hatten aber nur Augen für<br />

den Turnierplatz, der aus einem Boden aus festgetretener Erde bestand<br />

<strong>und</strong> durch einen langen Holzbalken in zwei Hälften geteilt wurde.<br />

"Was soll diese seltsame Aufmachung?", w<strong>und</strong>erte sich Alexander.<br />

"Bei unseren Turnieren tragen wir Wettkämpfe im Ringen oder<br />

Schwertkampf aus."<br />

318


In dem Moment trieben zwei Reiter ihre Pferde in die Arena, <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> Publikum klatschte rasend Beifall. Der eine Reiter, <strong>auf</strong> einem<br />

schwarzen Tier sitzend <strong>und</strong> mit einer metallisch funkelnden Rüstung<br />

geschützt, ritt an <strong>das</strong> eine Ende des Holzbalkens <strong>und</strong> fixierte seinen<br />

Gegner, der ein hellbraunes Pferd ritt, <strong>das</strong> nervös mit den Hufen<br />

scharrte.<br />

"Irgendwie finde ich die Sitten der mittelalterlichen Krieger<br />

fragwürdig", klagte Alexander weiter.<br />

"Das sind keine Krieger, sondern Ritter!", meinte Ron entnervt.<br />

"Und sie haben auch nicht vor, sich gegenseitig umzubringen, sondern<br />

wollen nur <strong>das</strong> Turnier gewinnen."<br />

Der Makedone schien die Berechtigung eines solchen Zieles erst<br />

recht anzuzweifeln <strong>und</strong> starrte grimmig <strong>auf</strong> die beiden Flaggen, die ein<br />

Mann in Hosen <strong>und</strong> einem Lederwams, den <strong>Harry</strong> als Kampfrichter<br />

identifizierte, in die Höhe hielt: Gelb für den Reiter des schwarzen, lila für<br />

den des braunen Pferdes. Die beiden Farben waren auch durch Bänder<br />

am Halfter der Tiere dargestellt.<br />

Nun bekamen die beiden Reiter eine lange <strong>und</strong> offensichtlich sehr<br />

schwere Lanze in die Hand gedrückt, mit der sie <strong>auf</strong> ihren jeweiligen<br />

Gegner zielten.<br />

"So ein Unfug!", rief Alexander hitzig. "Mit solchen Waffen würden<br />

sie <strong>auf</strong> dem Schlachtfeld keine h<strong>und</strong>ert Meter weit kommen!"<br />

Ron verdrehte die Augen, konnte aber nichts erwidern, da die<br />

Leute um sie herum jetzt so einen Krach machten, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong> die Ohren<br />

dröhnten. Dann folgten plötzlich einige Sek<strong>und</strong>en völlige Stille, als die<br />

Reiter ihre Pferde antrieben, die Lanzen nach wie vor <strong>auf</strong> den Gegner<br />

fixiert, <strong>und</strong> <strong>auf</strong> jeweils einer Seite des Holzbalkens <strong>auf</strong>einander zu ritten.<br />

Hermine kniff die Augen zusammen, als die Lanzen an den<br />

Rüstungen zersplitterten, <strong>und</strong> auch <strong>Harry</strong> zuckte bei dem Geräusch<br />

zerbrechenden Holzes <strong>und</strong> quietschenden Metalls zusammen.<br />

"Also ich hätte meinen Gegner problemlos vom Pferd geholt",<br />

schätzte Alexander mit schief gelegtem Kopf ein, da es beiden Reitern<br />

gelungen war, sich im Sattel zu halten. Derjenige <strong>auf</strong> dem braunen Pferd<br />

schien allerdings gewonnen zu haben, denn er reckte die Hand in die<br />

Luft, der Kampfrichter schwenkte seine lila Flagge, <strong>und</strong> die Menge<br />

kriegte sich nun gar nicht mehr ein.<br />

Während der Sieger eine Ehrenr<strong>und</strong>e ritt, meinte Hermine<br />

indigniert, <strong>das</strong>s es sich <strong>doc</strong>h gar nicht lohnte, wegen so eines Sportes<br />

derart aus dem Häuschen zu geraten.<br />

Ein Mann neben ihnen schaute sie an, als wären sie<br />

Geisteskranke.<br />

"Aber <strong>das</strong> sind die britannischen Meisterschaften, <strong>das</strong> wichtigste<br />

Turnier des Jahres!", erklärte er. Hermine schüttelte nur den Kopf.<br />

319


"Und <strong>das</strong> ist unser Londoner Vertreter, Bill Carter, er hat <strong>das</strong><br />

Turnier letztes Jahr schon gewonnen. War heute kein schlechter Sieg,<br />

aber nur eine Pflicht<strong>auf</strong>gabe, immerhin läuft erst die zweite R<strong>und</strong>e ..."<br />

<strong>Harry</strong> langweilte <strong>das</strong> Selbstgespräch des Mannes, <strong>und</strong> er wandte<br />

sich an Jamie. "Wie gehen wir weiter vor? Wer könnte uns hier<br />

weiterhelfen?" Irgendwie fiel es ihm schwer zu glauben, <strong>das</strong>s einer der<br />

turnierbegeisterten Zuschauer Lust hatte, sich mit ihnen <strong>auf</strong> ein<br />

ominöses Gespräch über den Hexer von Hexham einzulassen.<br />

"Wirklich einer der besten Turnierreiter Europas", schwärmte der<br />

Mann neben ihnen weiter, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> überlegte ernsthaft, ihm einen<br />

Schweigezauber zu verpassen.<br />

"Keine Ahnung", seufzte McGonagall. "He, Sirius –"<br />

"Und <strong>das</strong>, obwohl er nebenbei noch die Arbeit des Stadtverwalters<br />

innehat, auch kein leichter Posten, was?", grölte der Mann.<br />

"Könnten Sie –", setzte McGonagall mit eindeutig entnervtem<br />

Ausdruck an, wurde aber schlicht übergangen.<br />

"Muss sich um jeden Bürger der Stadt kümmern, nicht, eine<br />

verantwortungsvolle Aufgabe. Wenn jemand nach London zieht, <strong>das</strong><br />

Stadtrecht will, oder wegzieht ..."<br />

Ron hielt sich die Ohren zu, aber McGonagall drehte sich so abrupt<br />

zu dem Mann um, <strong>das</strong>s seine Halswirbel knackten.<br />

"Stadtverwalter?", echote er.<br />

"Das habe ich <strong>doc</strong>h gerade gesagt", murrte der Mann <strong>und</strong><br />

beobachtete zwei neue Reiter, die nun <strong>das</strong> Stadion betraten.<br />

"Heißt <strong>das</strong>, er kann Auskunft über jeden Einwohner der Stadt<br />

geben?", fragte Sirius eifrig.<br />

"Klar, was habe ich denn gesagt, aber seien Sie jetzt ruhig, nun<br />

kommt der niederländische Meister ..." Begierig lehnte sich der Mann<br />

über die Brüstung <strong>und</strong> hatte sie offensichtlich vergessen.<br />

"Los", flüsterte McGonagall, <strong>und</strong> sie folgten ihm aus der Menge<br />

heraus.<br />

"Wir müssen diesen Carter finden."<br />

Mit gewissen Schwierigkeiten bahnten sie sich ihren Weg durch die<br />

vielen Menschen, vorbei an einer kleinen Tribüne, <strong>auf</strong> der die begüterten<br />

Einwohner der Stadt zu sitzen schienen.<br />

"Wo könnte er sein?", fragte <strong>Harry</strong>.<br />

"Weiß ich nicht, wir müssen den Abreiteplatz finden – falls es so<br />

etwas gibt."<br />

Hektisch umr<strong>und</strong>eten sie den gesamten Turnierplatz, bis sie am<br />

Ausgang ankamen, durch den die Ritter verschw<strong>und</strong>en waren. Das neue<br />

Wettkampfpaar ritt in dem Moment gegeneinander, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Splittern der<br />

Lanzen durchschnitt die Luft.<br />

Hastig zwängten sich die sechs an <strong>das</strong> Gatter, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> sah zu<br />

seiner Erleichterung tatsächlich einen kleinen Platz hinter dem großen<br />

320


Turnierareal, <strong>auf</strong> dem sich mehrere Pferde samt Reiter tummelten,<br />

darunter auch der braune Hengst von Bill Carter.<br />

"He, wir müssen diesen Ritter dort sprechen!", rief McGonagall<br />

einem Aufpasser zu <strong>und</strong> deutete <strong>auf</strong> den Sieger des letzten Duells. Der<br />

schmierige, riesige Kerl grinste ihn verächtlich an.<br />

"Wer denkst du, bist du, <strong>das</strong>s du Bill Carter stören könntest?",<br />

höhnte er <strong>und</strong> stieß den Verteidigungslehrer von sich.<br />

"Es ist dringend, wirklich!", drängte Sirius.<br />

"Ha, dringlich! Das Einzige, was ich euch empfehle, ist <strong>auf</strong>s<br />

Dringlichste zu verschwinden, sonst landet ihr im Kerker."<br />

"Jetzt hör <strong>auf</strong>, dich wichtig zu machen, du Holzklotz!", schrie<br />

McGonagall so verzweifelt, <strong>das</strong>s Ron die Kinnlade herunterfiel. Der<br />

Wachposten verpasste ihm dar<strong>auf</strong>hin einen so heftigen Schlag in den<br />

Magen, <strong>das</strong>s McGonagall keuchend in die Knie ging.<br />

"Haut ab!", rief er warnend. Doch <strong>auf</strong> einmal entspannten sich<br />

seine verengten, bösen Augen, <strong>und</strong> seine M<strong>und</strong>winkel hingen schlaff<br />

herab. Einen Schritt bei Seite taumelnd wies er selig lächelnd <strong>auf</strong> den<br />

Abreiteplatz. "Wie Sie wünschen", nuschelte er. "Treten Sie nur ein, Ihr<br />

Wunsch ist mir Befehl."<br />

Irritiert fuhr <strong>Harry</strong> herum.<br />

"Wieso –" Er erblickte Sirius, der seinen Zauberstab <strong>auf</strong> den<br />

Riesen gerichtet hielt <strong>und</strong> mit der anderen Hand McGonagall hoch half,<br />

der sich am Gatter festhalten musste.<br />

"Sirius!", kreischte Hermine entsetzt. "Das ist ein unverzeihlicher<br />

Fluch!"<br />

"Unverzeihlich in der Welt, in der wir uns nicht befinden", brummte<br />

Sirius entschuldigend. "Was hätte ich tun sollen?"<br />

"Aber es ist verboten –"<br />

"Es wird niemand erfahren, es sei denn, du entscheidest dich dazu,<br />

mich zu verpetzen", knurrte <strong>Harry</strong>s Pate <strong>und</strong> lief an dem Aufpasser<br />

vorbei <strong>auf</strong> den Platz.<br />

<strong>Harry</strong> legte Hermine die Hand <strong>auf</strong> die Schulter. "Lass gut sein“,<br />

flüsterte er. "Es schadet dem Kerl <strong>doc</strong>h nicht." Dennoch machte<br />

Hermine ein zutiefst unglückliches Gesicht.<br />

Zumindest kamen sie durch Sirius' Gesetzesbruch endlich an den<br />

Ritter heran.<br />

"Bill Carter!", sagte McGonagall laut, als sie einen Meter hinter dem<br />

braunen Pferd zum Stehen kamen. Dessen Reiter drehte sich zu ihnen<br />

um. Er war vielleicht ein paar Jahre jünger als Alexander, mittelgroß <strong>und</strong><br />

hatte zerzauste, hellblonde Haare.<br />

"Was macht ihr hier?", fragte er argwöhnisch in demselben<br />

gewöhnungsbedürftigen Altenglisch, <strong>das</strong> alle Bewohner der Stadt zu<br />

sprechen schienen.<br />

321


"Wir müssen dich etwas fragen", erklärte Sirius. "Wir hoffen, <strong>das</strong>s<br />

du uns helfen kannst, jemanden zu finden, der von größter Wichtigkeit<br />

für uns ist. Wir haben gehört, <strong>das</strong>s du Stadtverwalter von London bist."<br />

"Könnt ihr nicht bis nach dem Turnier warten?", herrschte Bill<br />

Carter. "Es endet in zwei Wochen, dann nehme ich auch meine reguläre<br />

Arbeit wieder <strong>auf</strong>."<br />

"Das geht nicht, wir haben es eilig", meinte <strong>Harry</strong> hitzig. Der Reiter<br />

musterte ihn abschätzend.<br />

"Ach, <strong>und</strong> eure Interessen übersteigen die meinigen? Mit welchem<br />

Recht wagt ihr dies zu behaupten? Wir sind tot, uns hetzt nichts mehr.<br />

Ihr klingt mir sehr nach den der Zeit hinterher eilenden Lebenden, wenn<br />

ich <strong>das</strong> sagen darf."<br />

"Das liegt daran, <strong>das</strong>s wir nicht tot sind!", plapperte Ron heraus.<br />

"Wir suchen einen Weg <strong>zur</strong>ück!"<br />

"Zurück? Ihr seid mutig, <strong>das</strong> muss euch zugestanden werden.<br />

Mutig, aber töricht. Es gibt keinen Weg <strong>zur</strong>ück."<br />

"Und mit welchem Recht behauptest du, alles wissen zu wollen?",<br />

konterte Sirius. Carter sah ihn nachdenklich an.<br />

"Gut, ich mache euch einen Vorschlag. Ich bin Turnierreiter. Wer<br />

mich schlägt, dem bin ich einen Gefallen schuldig. Tretet gegen mich an,<br />

hier, <strong>auf</strong> diesem Platz, <strong>und</strong> der Gewinner bekommt seinen Willen."<br />

"Das ist <strong>doc</strong>h Unsinn!", herrschte McGonagall. "Wir sind nicht aus deiner<br />

Zeit <strong>und</strong> beherrschen deinen Sport nicht! Das ist unfair!"<br />

"Unfair? Aber mich beim Training zu stören erachtet ihr als fair?<br />

Verschwindet!"<br />

<strong>Harry</strong> wäre ihm vor Wut am liebsten an den Hals gesprungen <strong>und</strong><br />

wünschte fast, Sirius würde seinen Zauberstab wieder herausholen ...<br />

Doch da meldete sich Alexander zu Wort.<br />

"Ich reite", sagte er bloß. Mit seinen grünlichen Augen sah er<br />

Carter fest an. "Ich reite gegen dich."<br />

"Ihr?", fragte der Reiter verblüfft <strong>und</strong> musterte Alexander von Kopf<br />

bis Fuß. "Könnt Ihr ein so großes Pferd wie <strong>das</strong> meine überhaupt<br />

lenken?"<br />

<strong>Harry</strong> hatte den eindeutigen Eindruck, <strong>das</strong>s der Makedone gleich<br />

lostoben würde, kein W<strong>und</strong>er, war sein eigenes Pferd in Persien <strong>doc</strong>h<br />

um einiges größer als <strong>das</strong> Carters.<br />

"Das ist wohl mein Risiko", meinte er süffisant.<br />

„Alexander, nicht!“, rief Sirius ihn <strong>zur</strong> Vernunft, aber der sah ihn nur<br />

strafend an.<br />

"In Ordnung." Carter zuckte mit den Schultern. Dann nimm dir mein<br />

Ersatzpferd."<br />

Wortlos bestieg Alexander mit einem eleganten Sprung den<br />

ungesattelten Rappen, <strong>auf</strong> den Carter gedeutet hatte.<br />

322


"Wollt Ihr keine Rüstung?", stieß der mit <strong>auf</strong>gerissenen Augen<br />

hervor.<br />

"Nein", meinte Alexander nur. "Die würde mich bloß stören."<br />

"Aber Ihr würdet schwer verletzt werden –"<br />

"Ich bin tot, genau wie du. Was könnte uns noch passieren? Wir<br />

haben all <strong>das</strong> Schlimme der oberen Welt hinter uns gelassen."<br />

Carter nickte langsam. "Es ist deine Wahl. Nimm die Lanze." Er<br />

winkte einen Stallburschen herbei, der Alexander eine Holzstange in die<br />

Hand drückte, die fast genauso lang war wie er groß.<br />

"Wer seine Lanze an der – äh, Rüstung –", ironisch schaute Carter<br />

seinen Gegner an, "zerschlägt, hat gewonnen." Alexander nickte<br />

unbeeindruckt.<br />

"Dann los!"<br />

Sie wendeten ihre Pferde <strong>und</strong> ritten etwa h<strong>und</strong>ert Meter weit<br />

auseinander.<br />

<strong>Harry</strong> hatte sich mit Ron, Hermine, Sirius <strong>und</strong> McGonagall ein<br />

Stück abseits gestellt.<br />

"Das klappt nie!", stöhnte Ron. "Er wird zerfetzt werden, <strong>und</strong> dann<br />

müssen wir nicht nur einen Tag lang seine Eingeweide mit uns<br />

herumschleppen, sondern bekommen nie die Chance, den Hexer zu<br />

finden."<br />

"Ron, sprich nicht von solchen Sachen", herrschte ihn Hermine an,<br />

die leicht grün im Gesicht schien, während sie Alexander beobachtete,<br />

der seinen Rappen nun Carter zuwandte <strong>und</strong> prüfend die schwere Lanze<br />

erhob. Gleich ließ er sie wieder nach unten fallen.<br />

"Das schafft er nie", meinte McGonagall mit so sachlicher Stimme,<br />

als beurteile er Nevilles Chancen, beim Trimagischen Turnier zu<br />

gewinnen.<br />

"Nur wegen seines Egos bringt er uns um die einzige Möglichkeit,<br />

in die Welt der Lebenden <strong>zur</strong>ückzukehren!", fauchte Sirius. "Was denkt<br />

er sich dabei? Er ist ja tot, ihm kann es egal sein, wenn wir hier für<br />

immer festhängen!"<br />

"Immerhin hat er uns <strong>das</strong> Leben gerettet", verteidigte ihn Hermine.<br />

"Du musst auch jeden in Schutz nehmen", meinte Ron mit<br />

verärgerter Stimme, was Hermine eingeschnappt <strong>zur</strong>ücktreten ließ.<br />

In diesem Augenblick trieb Carter sein Pferd an <strong>und</strong> stürmte <strong>auf</strong><br />

Alexander zu. Der schaute eine Sek<strong>und</strong>e erschrocken <strong>auf</strong> seinen<br />

attackierenden Gegner, dann richtete er mit aller Kraft die gewaltige<br />

Lanze <strong>auf</strong> <strong>und</strong> jagte dem Rappen seine Stiefelspitzen in die Seiten. Mit<br />

enormen Tempo galoppierten die Reiter <strong>auf</strong>einander zu, unbewegt den<br />

anderen ansehend. Als sie nur noch einen Meter voneinander entfernt<br />

waren, schrie Hermine leise <strong>auf</strong>, aber <strong>Harry</strong> vermochte seinen Blick nicht<br />

abzuwenden.<br />

323


Mit lautem Scheppern zerbrach Holz an einer Rüstung, <strong>und</strong> ein<br />

Pferd wieherte <strong>auf</strong>. Alexander hatte sich geschickt unter der Lanze von<br />

Carter hinweggeduckt <strong>und</strong> ihm stattdessen seine eigene mit aller Kraft<br />

gegen die Brust gestoßen. Der Schlag war so gewaltig, <strong>das</strong>s Carter<br />

seine Lanze fallen ließ <strong>und</strong> die Kontrolle über sein Pferd verlor, <strong>das</strong> wild<br />

über den Platz jagte.<br />

Schließlich gelang es ihm, die Zügel wieder in die Hand zu<br />

bekommen, <strong>und</strong> mit entgeistertem Ausdruck <strong>auf</strong> dem Gesicht ritt er<br />

Alexander entgegen, der zufrieden seine zerbrochene Lanze<br />

begutachtete.<br />

"Galoppierender Wasserspeier!", brachte Sirius nur heraus.<br />

"Wer seid Ihr?", fragte Carter, keuchend von dem rasanten Ritt.<br />

Alexander atmete noch nicht einmal schneller.<br />

"Wie lange tjostet Ihr schon?"<br />

"Was?", entgegnete der Makedone unwirsch. "Falls du <strong>das</strong><br />

Stangengefuchtel meinst, <strong>das</strong> war mein erstes Mal. Bilde dir nichts <strong>auf</strong><br />

deine Siege ein, einen Perser <strong>auf</strong> h<strong>und</strong>ert Meter in vollem Galopp mit der<br />

Lanze zu durchbohren ist ungleich schwerer."<br />

"Unglaublich", schüttelte Carter den Kopf.<br />

"Glaubst du, ich lasse mich <strong>auf</strong> einen Kampf ein, den ich nicht<br />

gewinnen kann?", fragte Alexander nun lächelnd. "Außerdem brauchen<br />

meine Fre<strong>und</strong>e eine Auskunft von dir."<br />

Carter nickte.<br />

"Und lass dieses "Ihr" sein, ich komme mir dann immer vor wie ein<br />

tattriger alter Herrscher. Gut, Herrscher bin ich ja, aber lassen wir es<br />

beim Du."<br />

"Das sagt man hier aber so –", verteidigte sich Carter, als<br />

McGonagall ihm gegenüberstand.<br />

"Also, wir möchten etwas wissen." Er streckte die Hand aus, um<br />

Alexander zu gratulieren. "Klasse geritten."<br />

Carter seufzte. "Und, worum geht es?“<br />

"Wir suchen den Hexer von Hexham", erklärte Sirius hoffnungsvoll.<br />

"Kennst du ihn?"<br />

"Den Hexer?"<br />

<strong>Harry</strong> konnte nicht genau sagen, wie er sich die Antwort von Carter<br />

vorgestellt hatte; vielleicht erwartete er, eine Adresse zu hören oder<br />

zumindest eine Personenbeschreibung nebst Lieblingskneipe des Hexer;<br />

in jedem Fall hatte er <strong>das</strong> Gespräch für eine Minutensache gehalten.<br />

Aber Cartes entsetztes Gesicht ließ ihn ahnen, <strong>das</strong>s die Sache aus<br />

irgendeinem Gr<strong>und</strong> komplizierter war.<br />

"Sprecht nicht von ihm in aller Öffentlichkeit, oder wollt ihr<br />

eingesperrt werden?"<br />

324


McGonagall starrte den Turnierreiter mit offenem M<strong>und</strong> an.<br />

"Wieso? Wir wollen nur mit ihm reden. Er besitzt Informationen, die für<br />

uns sprichwörtlich überlebenswichtig sind."<br />

Carter stutzte bei dieser Wortwahl, seine Angst gewann aber die<br />

Oberhand über die Neugier.<br />

"Er ist ein Ketzer", meinte er nur <strong>und</strong> wandte sich ab. "Und sitzt im<br />

Kerker. Vergesst die Sache."<br />

"Ketzer?", wiederholte Sirius. "Was heißt <strong>das</strong>, hat er jemanden<br />

umgebracht?"<br />

Carter schaute ihn mit erhobenen Augenbrauen an. "Umgebracht?<br />

Ihr seid noch nicht lange in der <strong>Unterwelt</strong>, was? Nun, da ich euch<br />

zumindest einen kleinen Gefallen schuldig bin, erkläre ich euch die<br />

Umstände. Ein Ketzer ist jemand, der den Lehren der Kirche widerspricht<br />

<strong>und</strong> wegen Gotteslästerung gejagt wird."<br />

"Was ist eine Kirche?", fragte Sirius neugierig. Hermine packte ihn<br />

ängstlich am Arm. "Wir sind nicht von hier", meinte sie schnell.<br />

"Das sehe ich." Carter wirkte unschlüssig. "Aber aus welcher Zeit<br />

ihr auch immer kommt, die Inquisition wird euch finden, wenn ihr weiter<br />

solches Zeug redet."<br />

Er sah sich unwohl um. "Schon mit euch zu reden könnte mich<br />

meinen Job kosten."<br />

"Was wird dem Hexer genau vorgeworfen?", fragte Hermine.<br />

"Nun, er redet unheiliges Zeug vom Wieder<strong>auf</strong>stieg in die Welt der<br />

Lebenden. Die Kirche hat je<strong>doc</strong>h die <strong>Unterwelt</strong> zum ewigen Jenseits<br />

erklärt <strong>und</strong> duldet keine Querschläger."<br />

<strong>Harry</strong> zuckte bei dem Wort "Wieder<strong>auf</strong>stieg" zusammen.<br />

"Nur deswegen ist er eingesperrt?", presste er heraus.<br />

"Nun, auch deshalb, weil ihm vorgeworfen wird, ein Zauberer zu<br />

sein", flüsterte Carter leise, als könne alleine <strong>das</strong> Aussprechen dieser<br />

Worte die Inquisition anlocken. "Wobei ich <strong>das</strong> persönlich für Unsinn<br />

halte. Es gibt <strong>doc</strong>h keine Magie!"<br />

Sirius grinste bemüht, <strong>und</strong> McGonagall hörte abrupt <strong>auf</strong>, mit<br />

seinem unter dem Umhang versteckten Zauberstab zu spielen.<br />

"Lasst diesen Blödsinn einfach sein. Ich will nicht auch im Kerker<br />

landen."<br />

"Aber wir müssen zu dem Hexer! Er ist unsere einzige Chance",<br />

flehte <strong>Harry</strong>.<br />

"Chance wor<strong>auf</strong>? In einem Kellerloch zu versauern?", meinte<br />

Carter bitter.<br />

<strong>Harry</strong> resignierte. Sie mussten Carter in ihren Plan einweihen, wie<br />

sonst sollten sie zum Hexer kommen?<br />

Alexander trat nun vor den Ritter <strong>und</strong> schaute ihn ruhig an. "Du<br />

musst ihnen helfen, diesen Hexer zu finden. Sonst sind sie für immer an<br />

die <strong>Unterwelt</strong> gekettet."<br />

325


"Wie für immer – was denn sonst?", fuhr Carter <strong>auf</strong>, wor<strong>auf</strong>hin<br />

Alexander ihm die Hand <strong>auf</strong> die Schulter legte <strong>und</strong> ihn wortlos mit<br />

seinem Blick gefangen hielt. Erstaunlicherweise beruhigte sich der<br />

Stadtverwalter <strong>und</strong> kniff die Augen zusammen.<br />

"Ich glaube nicht, <strong>das</strong>s ich wirklich hören will, was ihr vorhabt",<br />

meinte er. "Aber ich werde euch helfen. Immerhin hast du mich<br />

geschlagen." Leicht verlegen ergriff auch er Alexanders Schulter, was<br />

Ron dazu brachte, die Augenbrauen hochzuziehen.<br />

"Nun, damit ist die Angelegenheit klar", flüsterte McGonagall zu<br />

<strong>Harry</strong>, auch wenn der nicht genau wusste, was sein Großcousin damit<br />

meinte.<br />

"In Ordnung, wir gehen am besten gleich, solange die ganze Stadt<br />

noch beim Turnier ist. Das Stadtgefängnis ist nicht weit." Carter übergab<br />

seinen Braunen dem Stallburschen <strong>und</strong> ging kurz weg, um seine<br />

Rüstung loszuwerden.<br />

"Wie hast es geschafft, ihn zu überreden?", wollte Sirius von<br />

Alexander wissen. Der lächelte geheimnisvoll. "Ich bin König von<br />

Makedonien, Pharao von Ägypten <strong>und</strong> Großkönig der Perser. Ein<br />

bisschen Überzeugungskraft benötigt man schon, um diese Dinge zu<br />

erreichen." Dennoch errötete er leicht, als er sich in die Richtung<br />

umdrehte, in die Carter verschw<strong>und</strong>en war.<br />

"Ah ja", grinste McGonagall. "Dann können wir nur hoffen, <strong>das</strong>s<br />

dein Fre<strong>und</strong> uns zum Hexer führen kann."<br />

Zwei Minuten später entfernten sie sich vom Turnierplatz, was<br />

<strong>Harry</strong> wie ein Segen vorkam, <strong>das</strong> endlose Gekreische der Leute ging<br />

ihm entschieden <strong>auf</strong> die Nerven. Nur einige Straßen weiter war es<br />

vollkommen ruhig, <strong>und</strong> kein Mensch war zu sehen.<br />

Alexander <strong>und</strong> Carter liefen einige Schritte voraus. Letzterer<br />

beugte sich zu dem Makedonen hinunter <strong>und</strong> sagte etwas, <strong>das</strong> <strong>Harry</strong><br />

nicht verstehen konnte. Alexander grinste <strong>und</strong> flüsterte Carter etwas ins<br />

Ohr, seine dunkelblonde Mähne vermischte sich mit Carters heller.<br />

McGonagall wies mit dem Kopf <strong>auf</strong> die beiden <strong>und</strong> stieß <strong>Harry</strong><br />

leicht an. "Ich denke nicht, <strong>das</strong>s er uns jetzt noch verraten wird."<br />

"Wenn die Inquisition uns kriegt, schmoren wir sowieso für immer<br />

im Mittelalter", murrte Ron, als sie vor einem großen, steinernen<br />

Gebäude hielten, <strong>das</strong> mit einer schweren Eichentür versehen war <strong>und</strong><br />

vergitterte Erkerfenster hatte, die <strong>Harry</strong> ein Schaudern über den Rücken<br />

jagten.<br />

Carter klopfte, <strong>und</strong> ein großer, mürrisch drein blickender Mann<br />

öffnete.<br />

"Ich möchte mit dem Hexer sprechen", forderte er ruhig.<br />

Der Mann trat beiseite. "Natürlich, Herr Stadtverwalter."<br />

Argwöhnisch betrachtete er <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> die anderen. "Und wer sind die<br />

da?"<br />

326


"Das sind Mitglieder der spanischen Inquisition", behauptete Carter<br />

fest.<br />

"Buenos dias!", rief Hermine schnell. Ron neben ihr grinste.<br />

"Sie sind wegen des Turniers gekommen", erklärte Carter, "<strong>und</strong> da<br />

habe ich ihnen vom Hexer erzählt. Sie würden ihn gerne selbst befragen<br />

– die Spanier haben da ganz eigene Methoden", meinte er <strong>und</strong> zwinkerte<br />

dem Burschen verschwörerisch zu.<br />

"Ah, verstehe, <strong>das</strong> läuft quasi inoffiziell", strahlte der Kerl <strong>zur</strong>ück,<br />

wor<strong>auf</strong>hin Alexander zustimmend nickte.<br />

"Dann kommt." Sie betraten <strong>das</strong> enge, dunkle Haus <strong>und</strong> ließen sich<br />

zu einer Tür bringen, hinter der gew<strong>und</strong>ene Stufen hinab in die Finsternis<br />

führten.<br />

"Ihr wisst ja, wo er ist", grunzte der Aufseher zu Carter <strong>und</strong> ging<br />

wieder <strong>zur</strong>ück in sein Zimmer.<br />

"Fauler Kerl", brummte der Stadtverwalter. "Eigentlich sollte er<br />

immer dabei sein, wenn ein Gefangener besucht wird. Aber uns kann es<br />

nur dienen."<br />

Problemlos erreichten sie die Zellen, die in einem überraschend<br />

großen, von nur wenigen Kerzen erleuchteten Keller untergebracht<br />

waren, <strong>und</strong> passierten mehrere nach Fäule stinkende, dreckige<br />

Kerkerlöcher, bevor Carter vor einer besonders ekligen Tür zum Stehen<br />

kam.<br />

"Hexer!", rief er.<br />

Drinnen rührte sich nichts.<br />

"Zeig dich, ich habe jemanden dabei, der mit dir reden will."<br />

Immer noch drang kein Ton aus der Gruft.<br />

"Ich fürchte, er wurde in den letzten 500 Jahren etwas zu oft<br />

verhört", meinte Carter leise, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> erschrak. Der Hexer war seit so<br />

langer Zeit hier eingesperrt? Er würde es nicht einmal eine St<strong>und</strong>e<br />

aushalten.<br />

"Hexer!", ergriff nun McGonagall <strong>das</strong> Wort. "Wir möchten dich<br />

etwas fragen. Etwas über den Bogen. Im Ministerium."<br />

Carter starrte ihn befremdet an, aber wenigstens hörten sie nun ein<br />

leises Schlurfen aus dem Inneren der Zelle, <strong>und</strong> ein kleines Fenster im<br />

oberen Teil der Tür wurde geöffnet. Sie blickten in <strong>das</strong> Gesicht eines<br />

älteren, wahrscheinlich beleibten Mannes mit grauem Haar <strong>und</strong><br />

Schnurrbart, <strong>das</strong> trotz seiner Fülle irgendwie ausgezehrt wirkte.<br />

Wachsame braune Augen zeugten je<strong>doc</strong>h von einem wachen Verstand<br />

<strong>und</strong> musterten sie fast eine Minute lang.<br />

"Ihr seid Zauberer", meinte der Hexer schließlich angestrengt, als<br />

müsse er sich erst wieder an <strong>das</strong> Reden gewöhnen.<br />

Carter knallte vor Schreck gegen die Wand hinter sich, <strong>und</strong><br />

Alexander lief sofort zu ihm, um ihn zu beruhigen.<br />

"Zauberer?", flüstere der Ritter. "Aber – es gibt keine!"<br />

327


"Doch", erwiderte Sirius <strong>und</strong> zückte seinen Zauberstab.<br />

"Mein Gott." Carter war kalkweiß geworden. "Ihr seid Ketzer!"<br />

"Ja, sind wir, zufrieden?", blaffte McGonagall <strong>und</strong> wandte sich dem<br />

Hexer zu.<br />

"Wir haben von dir gehört", begann er.<br />

"Ja, Sie sind schon einmal durch den Bogen <strong>zur</strong>ück in die Welt der<br />

Lebenden gegangen!", rief Ron. "Sie müssen uns helfen."<br />

"Niemand kann <strong>zur</strong>ück in die andere Welt, wenn er sie nicht durch den<br />

schwarzen Bogen verlassen hat", grunzte der Hexer scheinbar unter<br />

Schmerzen. "Das ist der Preis für den Tod."<br />

"Aber wir sind durch den Bogen gekommen!", meinte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong><br />

Ron <strong>und</strong> Hermine nickten heftig.<br />

"Was?" Der Hexer keuchte <strong>und</strong> brauchte einen Moment, um<br />

weiter<strong>zur</strong>eden. "Aber wie?"<br />

"Das ist unwichtig", winkte Sirius ab. "Wir wollen <strong>zur</strong>ück. Du musst<br />

uns sagen, wie <strong>das</strong> geht."<br />

"Wie? Aber <strong>das</strong> ist einfach. Ihr müsst nur den weißen Bogen<br />

durchqueren. Den kennt ihr <strong>doc</strong>h?"<br />

Sie nickten.<br />

"Aber wieso sind dann die früheren Unsäglichen nie<br />

<strong>zur</strong>ückgekehrt?", zweifelte Hermine.<br />

"Weil ihr nur unter einer Bedingung <strong>zur</strong>ückkommt." Der Hexer<br />

brach ab <strong>und</strong> hustete heftig, ein Geräusch, <strong>das</strong> von den kalten<br />

Kellerwänden widerhallte.<br />

<strong>Harry</strong> spürte, wie seine Beine leicht nachgaben. Eine Bedingung?<br />

Was, wenn sie die nicht erfüllten? Er sah denselben Schrecken, den er<br />

empfand, in den Gesichtern seiner Fre<strong>und</strong>e; Hermine schaute<br />

ungeheuer besorgt den Hexer an, <strong>und</strong> Ron war genauso weiß geworden<br />

wie Carter. Letzterer wirkte zwar immer noch mitgenommen, aber<br />

Alexander hatte ihm den Arm um die Schulter gelegt <strong>und</strong> drückte ihn an<br />

sich.<br />

"Was für eine Bedingung?", fragte McGonagall so leise, <strong>das</strong>s <strong>Harry</strong><br />

seine Worte fast nicht verstand. Er spürte Wasser von der Kerkerdecke<br />

<strong>auf</strong> sein Gesicht tropfen, achtete aber nicht dar<strong>auf</strong>, sondern lauschte<br />

atemlos dem Röcheln des Hexers.<br />

"Um ins Leben <strong>zur</strong>ückkehren zu können müsst ihr Leben<br />

geschaffen haben."<br />

Einige Sek<strong>und</strong>en war alles still, sogar Carter sah verw<strong>und</strong>ert aus.<br />

"Leben geschaffen?" Sirius Stimme klang in dem großen Gewölbe<br />

seltsam hohl.<br />

"Klar, <strong>das</strong> müsst ihr zahlen für eine zweite Chance unter den<br />

Lebenden: Leben erzeugt zu haben."<br />

Taumelnd ließ <strong>Harry</strong> sich gegen die Kerkerwand sinken.<br />

Es war vorbei.<br />

328


Leben schaffen?<br />

"Ihr meint", hauchte Hermine, <strong>das</strong> pure Entsetzen in der Stimme,<br />

"nur, wer ein Kind gezeugt hat, kann durch den Bogen gehen?"<br />

Ron hatte die Augen <strong>auf</strong>gerissen <strong>und</strong> starrte den Hexer wie<br />

Hermine gleichsam ungläubig an, als wäre er in eine falsche Geschichte<br />

geraten.<br />

Aber waren sie <strong>das</strong> im Gr<strong>und</strong>e nicht alle?, fragte sich <strong>Harry</strong><br />

resignierend.<br />

"Kinder zeugen? Nein, natürlich nicht!" Der Hexer stieß würgende<br />

Laute aus, die wohl ein Lachen darstellen sollten.<br />

"Kinder bekommen? Wie soll <strong>das</strong> in der <strong>Unterwelt</strong> denn gehen?<br />

Schwanger zu werden ist hier ein Tabu, <strong>das</strong> niemand brechen darf",<br />

erklärte er ernst. "Denn ein Kind bedeutet Leben, <strong>und</strong> wir sind hier unter<br />

Toten, nicht? Das heißt, wenn in der <strong>Unterwelt</strong> ein Kind gezeugt wird,<br />

gelangt es bei Geburt automatisch in die andere Welt."<br />

"Aber wie –", protestierte McGonagall.<br />

"Nun ja, es wird einfach willkürlich einer unberührten Frau<br />

geboren." Der Hexer zuckte mit den Schultern. "Soweit ich weiß, ist <strong>das</strong><br />

bisher nur einmal vorgekommen. Vor einigen Jahrtausenden. Hat die<br />

Muggel in ziemliche Aufregung versetzt, nach dem, was ich gehört<br />

habe."<br />

Hermine sank halb in die Knie, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> rief in ungewollt hohem<br />

Ton: "Soll <strong>das</strong> heißen, Jesus ist kein Sohn Gottes, sondern kommt aus<br />

der – <strong>Unterwelt</strong>?"<br />

"Wer?", fragten ihn drei Stimmen gleichzeitig, nur Hermine,<br />

McGonagall <strong>und</strong> Carter schienen wie er zu begreifen, was sie gerade<br />

gehört hatten.<br />

"Ach, niemand."<br />

Verlegen senkte <strong>Harry</strong> den Kopf. Er vergaß auch nach fünf Jahren<br />

in der Zauberergemeinschaft noch, <strong>das</strong>s es f<strong>und</strong>amentale Unterschiede<br />

zwischen magischen <strong>und</strong> nichtmagischen Menschen gab.<br />

"Ist auch egal", meinte Sirius unwirsch. "Was meinst du mit „Leben<br />

erzeugen“, wenn damit keine Fortpflanzungsgedanken verb<strong>und</strong>en<br />

sind?", wollte er vom Hexer wissen.<br />

"Nun, Ihr müsst einmal jemandem <strong>das</strong> Leben gerettet haben",<br />

erklärte der Hexer <strong>und</strong> brach in einen neuerlichen Hustenanfall aus.<br />

"Gerettet?" Sie sahen sich bestürzt an.<br />

"<strong>Harry</strong> hat uns mehr als einmal <strong>das</strong> Leben gerettet!", warf Hermine<br />

ein. "Wie zum Beispiel damals, als mich der Troll erledigen wollte."<br />

"Da hat Ron aber auch mit gemacht", sagte <strong>Harry</strong> sofort.<br />

"Und du hast mich gerettet, Hermine – vor der Teufelsschlinge,<br />

weißt du noch?", fiel es Ron ein, der unsäglich erleichtert schien.<br />

"Wie könnte ich <strong>das</strong> je vergessen", grinste Hermine schwach.<br />

Sie schauten Sirius <strong>und</strong> McGonagall an.<br />

329


"Du hast mir im See <strong>das</strong> Leben gerettet", erinnerte <strong>Harry</strong> seinen<br />

Großcousin.<br />

"Und Sirius ist uns zusammen mit dem Orden im letzten Juli <strong>zur</strong><br />

Hilfe gekommen", meinte Hermine nachdenklich. "Die Todesser hätten<br />

uns sonst getötet."<br />

Sirius atmete scharf ein.<br />

"Dann sollte uns nichts mehr im Weg stehen", meinte er.<br />

„Sag mal“, fragte <strong>Harry</strong> an den Hexer gewandt nachdenklich,<br />

„wieso hat nie jemand erfahren, <strong>das</strong>s du aus der <strong>Unterwelt</strong><br />

<strong>zur</strong>ückgekehrt bist?“<br />

Ein bellendes Röcheln war die Antwort.<br />

„Weil sie es vertuschen wollten!“, rief der Hexer. „Das Ministerium<br />

wollte die ganze Sache geheim halten, <strong>und</strong> sie taten ja auch gut daran,<br />

oder? Der Zeuge, der mich gesehen hatte, wurde mit einem<br />

Verwirrungszauber belegt – nur ich konnte rechtzeitig fliehen. Aber<br />

ehrlich gesagt habe ich nie den Wunsch verspürt, über mein Geheimnis<br />

zu sprechen. Ich mag keine Aufmerksamkeit.“<br />

„Genug geredet“, unterbrach sie Sirius <strong>und</strong> wollte in Richtung<br />

Ausgang l<strong>auf</strong>en, als plötzlich drei Männer durch die Tür stürmten <strong>und</strong><br />

Schwerter <strong>auf</strong> sie richteten.<br />

"Stehen bleiben!", blaffte der Größte von ihnen. "Wir nehmen Sie<br />

fest im Namen des Königs wegen Verdacht <strong>auf</strong> Hexerei!" Hinter ihnen<br />

trat der Wachmann vor, welcher Carter einen fast entschuldigenden Blick<br />

zuwarf.<br />

"Deine so genannten Inquisitoren wirkten komisch <strong>auf</strong> mich ...",<br />

murmelte er. "Ich habe euch <strong>zur</strong> Sicherheit überwachen lassen ... zu<br />

Recht, wie sich erwies. Ihr seid Ketzer, der Hexerei verfallen, wie unser<br />

werter Gefangener." Er warf einen schnellen Blick <strong>auf</strong> den Hexer von<br />

Hexham.<br />

"Inquisitionsgarde, nehmt sie in Gewahrsam!", befahl er kühl.<br />

McGonagall zog seinen Zauberstab, Ron <strong>und</strong> Hermine stellten sich<br />

Rücken an Rücken gegen die Angreifer <strong>auf</strong>, <strong>und</strong> der erste der Männer<br />

stürmte mit hämischem Grinsen <strong>auf</strong> Carter zu, der unbewaffnet war.<br />

"Ein Stadtverwalter der Hexerei angeklagt, <strong>das</strong> gibt einen<br />

hübschen Bonus für uns", grinste er böse <strong>und</strong> schwang sein Schwert.<br />

"<strong>Harry</strong>, verhexe ihn!", schrie Carter, während er sich unter dem<br />

Schlag wegduckte. Hektisch wühlte <strong>Harry</strong> in seiner Tasche nach dem<br />

Zauberstab. Wo war er nur? Undeutlich nahm er einen Schockzauber<br />

von Sirius wahr, der einen der drei Wachmänner <strong>auf</strong> den Boden<br />

schleuderte. Plötzlich zischte ein Stück Metall an seinem Ohr vorbei, <strong>und</strong><br />

entsetzt erkannte er, <strong>das</strong>s der Wachmann versuchte, ihn zu treffen.<br />

Endlich fanden seine tastenden Finger ein langes, dünnes Stück<br />

Holz, <strong>und</strong> triumphierend zog er es aus der Tasche, in Gedanken schon<br />

einen Stupor-Zauber formulierend.<br />

330


Als er ihn sprechen wollte, fiel sein Blick je<strong>doc</strong>h <strong>auf</strong> den Bleistift,<br />

den er in der Hand hielt. Verdammt, wo war sein Zauberstab?<br />

Der Wächter kam <strong>auf</strong> ihn zu <strong>und</strong> holte mit dem Schwert aus. Irritiert<br />

starrte <strong>Harry</strong> immer noch <strong>das</strong> Schreibgerät an, es fühlte sich fast an wie<br />

sein Zauberstab, ließ ihn aber <strong>doc</strong>h so hilflos da stehen ... da schnappte<br />

sich Carter den Bleistift aus seiner Hand <strong>und</strong> rammte ihn ohne zu zögern<br />

dem Angreifer mit Schwung ins Gesicht. Dieser fiel lautlos nach hinten<br />

weg <strong>und</strong> blieb regungslos liegen.<br />

"Nun, <strong>das</strong> ist der einzige Zaubertrick, den ich beherrsche", meinte<br />

Carter trocken, während <strong>Harry</strong> endlich seinen Zauberstab fand <strong>und</strong> dem<br />

dritten Mann eine Ganzkörperklammer verpasste.<br />

Schn<strong>auf</strong>end stützte er sich <strong>auf</strong> die Knie. Die Inquisitionsgarde war<br />

erledigt, aber der Gefängniswärter, der sie hereingelassen hatte, war<br />

verschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> holte vermutlich gerade Hilfe. Sirius <strong>und</strong> McGonagall<br />

standen immer noch mit erhobenen Zauberstäben da, <strong>und</strong> Alexander<br />

hatte sein Schwert gezückt. Aber alles war still.<br />

"Schnell, wir müssen verschwinden", rief Sirius. "Die Verstärkung<br />

wird bald anrücken."<br />

"Wo sollen wir hin?", fragte Hermine. "Sie werden uns finden, wir<br />

fallen in unseren Umhängen viel zu sehr <strong>auf</strong>."<br />

"Na, wohin denn, in unsere Zeit natürlich", meinte McGonagall.<br />

"Dort sind wir sicher. Diese Menschen hier sind ungebildet, sie wissen<br />

gar nichts von der Zukunft. Sie könnten uns nicht folgen, selbst wenn sie<br />

wüssten, wohin wir gegangen sind. Sie haben nicht genug Kenntnis von<br />

unserer Zeit."<br />

"Ich gehe nicht von hier weg", erklang <strong>auf</strong> einmal Alexanders<br />

Stimme. "Nicht ohne Bill."<br />

"Dann soll er mit uns kommen", knurrte Sirius unwirsch. "Wir haben<br />

keine Zeit für so was."<br />

"Was meint ihr?", fragte sie der Ritter verwirrt. "Wohin geht ihr<br />

denn?"<br />

"Bill", sprach Alexander leise. "Komm mit in meine Zeit. Dort<br />

können wir zusammen sein – <strong>auf</strong> ewig."<br />

"Die Menschen in diesem Land dulden – äh, Beziehungen wie die<br />

unsere nicht", meinte Carter ängstlich. "Sie würden uns jagen <strong>und</strong><br />

verbrennen. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne dich zu leben – aber an<br />

welchem Ort hätten wir Frieden?"<br />

"Nun ja", lächelte Alexander, "in meiner Zeit würde man uns<br />

akzeptieren. Und selbst wenn nicht – dann würde ich es einfach<br />

befehlen. Kommst du mit mir?"<br />

Carter nickte nur.<br />

"Genug, lasst uns verschwinden!", drängte McGonagall, <strong>und</strong><br />

überstürzt rannten sie die Treppen hin<strong>auf</strong> <strong>auf</strong> die Straße. Von weitem<br />

hörten sie Geschrei <strong>und</strong> <strong>das</strong> Klappern von Rüstungen.<br />

331


"Sie kommen", erklärte Carter ruhig. "Sie werden uns gefangen<br />

nehmen."<br />

"Beeilt euch!", schrie Sirius <strong>und</strong> schloss die Augen. <strong>Harry</strong> kniff<br />

seine auch zusammen <strong>und</strong> ergriff die vom Schweiß nasse Hand<br />

Hermines, die Ron mit ihrer anderen Hand fest umklammert hatte. Die<br />

Inquisitionsgarde kam näher. Aus dem Augenwinkel heraus sah er<br />

Alexander hastig Worte in Carters Ohr flüstern, dann erblickte er im<br />

Geiste nur noch <strong>das</strong> moderne London <strong>und</strong> drehte sich halb um die<br />

eigene Achse, gerade, als er ein scharfes Schwert vor sich durch die Luft<br />

schwingen fühlte.<br />

332


KAPITEL SIEBZEHN<br />

Halloween<br />

Panisch wollte er sich wegducken, griff aber nur in Luft <strong>und</strong><br />

stolperte über seine Füße.<br />

"<strong>Harry</strong>!", hörte er Hermine rufen, <strong>und</strong> irgendwo über ihm flog etwas<br />

Schweres durch die Gegend. Als er wieder sehen konnte, riss er den<br />

Kopf herum <strong>und</strong> fand sich überrascht <strong>auf</strong> einem Fleckchen Rasen<br />

wieder. Nicht weit von ihm entfernt donnerte ein Doppeldeckerbus<br />

vorbei.<br />

Unendlich erleichtert sank er <strong>zur</strong>ück ins Gras, als Hermine ihn bei<br />

der Hand packte.<br />

"Wo sind sie?", fragte sie, <strong>und</strong> ihre vor Furcht zitternde Stimme ließ<br />

ihn <strong>auf</strong>springen.<br />

"Wer?" Hinter Hermine lag Ron <strong>auf</strong> dem Boden <strong>und</strong> rappelte sich<br />

gerade hoch, scheinbar war er es gewesen, der neben ihm durch die<br />

Luft geflogen war.<br />

Sonst war aber niemand zu sehen.<br />

"Wo sind Sirius <strong>und</strong> Jamie?" <strong>Harry</strong> fand, <strong>das</strong>s er erstaunlich ruhig<br />

klang angesichts der Tatsache, <strong>das</strong>s sein Pate <strong>und</strong> sein Großcousin<br />

möglicherweise in die Fänge der Inquisition geraten waren <strong>und</strong> irgendwo<br />

im Mittelalter feststeckten.<br />

"Wir müssen <strong>zur</strong>ück." Wortlos schloss er die Augen, aber Hermine<br />

schüttelte ihn, <strong>und</strong> seine Konzentration verflog.<br />

"Das geht nicht! Sie schnappen uns sonst auch!"<br />

"Und was denkst du, was ich jetzt mache?", fauchte <strong>Harry</strong>. "Untätig<br />

bleiben, während ich Sirius zum zweiten Mal verliere?<br />

"Wir müssen warten!", hielt ihn auch Ron <strong>zur</strong>ück. "Wenn sie es<br />

schaffen, werden sie kommen."<br />

333


"Und was, wenn nicht?", schnappte <strong>Harry</strong> <strong>zur</strong>ück. "Vielleicht<br />

werden sie in ein Gefängnis geschleppt, <strong>das</strong> wir im Leben nicht finden –<br />

wenn wir sofort gehen, können wir ihnen folgen."<br />

"Wenn es einen Weg gibt, werden sie ihn finden", beharrte<br />

Hermine. "Was glaubst du, was du bewirken kannst, <strong>das</strong> zwei<br />

erwachsene Zauberer nicht auch könnten?"<br />

"Aber wenn sie –"<br />

Weiter kam er nicht. Die Luft um ihn schien plötzlich <strong>auf</strong><strong>zur</strong>eißen,<br />

als hätte jemand in sie hinein geschnitten <strong>und</strong> ein Loch geöffnet. Im<br />

nächsten Moment stolperte Sirius <strong>auf</strong> ihn zu <strong>und</strong> hätte ihn beinahe<br />

umgerissen.<br />

"Sorry", schn<strong>auf</strong>te sein Pate <strong>und</strong> sprang schnell <strong>zur</strong> Seite, um nicht<br />

von McGonagall, Alexander <strong>und</strong> Carter umgestoßen zu werden, die ihm<br />

<strong>auf</strong> dem Fuß folgten.<br />

"Wo wart ihr?", schrie <strong>Harry</strong> halb außer sich vor Erleichterung <strong>und</strong><br />

langsam abklingender Angst.<br />

"Zauberschach spielen", meinte Sirius trocken <strong>und</strong> klopfte sich<br />

Dreck vom Umhang.<br />

"Wir haben uns die Inquisitoren vom Leib gehalten, was denkst du<br />

denn?", sah ihn McGonagall fragend an.<br />

"Wir haben euch nicht mehr gesehen, <strong>und</strong> da dachte ich –"<br />

"Wir waren genau eine halbe Minute hinter euch", verdrehte Sirius<br />

die Augen. "Traust du uns nicht zu, mit einem H<strong>auf</strong>en mit Mistgabeln<br />

bewaffneter Muggel fertig zu werden?" Er schlug <strong>Harry</strong> grinsend <strong>auf</strong> die<br />

Schulter. "James wäre nicht so ungeduldig gewesen wie du."<br />

<strong>Harry</strong> hatte gut Lust, jemanden ordentlich durchzuschütteln, beließ<br />

es aber. Es gab Wichtigeres zu tun.<br />

Hermine schaute <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> Ron mit blitzenden Augen an. "Nun, da<br />

wir vollständig sind, sollten wir von hier verschwinden Wir gehören nicht<br />

hierher", meinte sie. "Unser Platz ist woanders."<br />

"Zurück nach Hogwarts", nickte Ron. "Mann, wer hätte gedacht,<br />

<strong>das</strong>s ich diese Ruine einmal vermissen würde. Was würde ich geben für<br />

mein Bett – <strong>das</strong> Essen – Quidditch." Sein Gesicht nahm einen<br />

schwärmerischen Ausdruck an, als er die Annehmlichkeiten des<br />

Schlosses <strong>auf</strong>zählte.<br />

Auch <strong>Harry</strong> hatte <strong>das</strong> Gefühl, es keine Minute länger hier aushalten<br />

zu können.<br />

Nicht, <strong>das</strong>s der Tod so schlecht wäre, redete er sich ein. Und <strong>das</strong><br />

war er auch nicht. Aber wie Hermine auch verspürte er eine große<br />

Fremdartigkeit in all den Dingen, die die <strong>Unterwelt</strong> ausmachten. Das<br />

Gras unter seinen Füßen schien nur eine Karikatur dessen zu sein, was<br />

er unter Gras verstand, der blaue Himmel <strong>und</strong> die kühle Herbstluft<br />

wirkten wie eine Filmkulisse.<br />

"Alles hier ist irgendwie unecht", setzte Ron hinzu.<br />

334


"Das wird sich ändern, wenn ihr tot seid", beruhigte ihn Alexander.<br />

"Denn dann seid ihr ein berechtigter Teil dieser Welt <strong>und</strong> sie einer von<br />

euch."<br />

"Na, dar<strong>auf</strong> kann man sich freuen", nuschelte Ron leicht ironisch,<br />

aber <strong>Harry</strong> merkte, <strong>das</strong>s er genau wie er selbst keine Angst mehr vor<br />

dem Tod haben würde.<br />

Denn er ist nicht <strong>das</strong> Ende.<br />

McGonagall, der eine Straßenkarte von London untersucht hatte,<br />

zeigte ihnen den Weg zum Ministerium, zuckte dann aber plötzlich<br />

zusammen.<br />

"Was ist?", fragte Sirius.<br />

"Wir müssen Snape finden", keuchte McGonagall. Sein Gesicht<br />

war <strong>auf</strong> einmal sehr blass. "Er weiß noch nicht, welche Bedingung man<br />

erfüllen muss, um in die Oberwelt <strong>zur</strong>ückzukehren."<br />

Sirius, Alexander <strong>und</strong> Carter schauten sich betreten an.<br />

"Daran habe ich nicht gedacht", meinte <strong>Harry</strong>s Pate erschrocken.<br />

"Bei Merlin, nun ist er euch gefolgt, <strong>und</strong> –" Er rang nach Worten. "Ihr<br />

wisst ja, <strong>das</strong>s er ein Schleimbeutel ist, aber ich hätte nie gewollt, <strong>das</strong>s –"<br />

"Mache dir keine Mühe, schlechtes Gewissen zu haben", grinste<br />

<strong>Harry</strong>. Er hatte schon über Snape nachgedacht.<br />

"Er hat mir in meinem ersten Schuljahr <strong>das</strong> Leben gerettet, als<br />

Quirrell meinen Besen verhext hat. Er kann <strong>zur</strong>ück in die Oberwelt."<br />

"Oh", sagte Sirius nur <strong>und</strong> versuchte, möglichst emotionslos zu<br />

wirken. Ob er damit seine Erleichterung oder <strong>doc</strong>h Enttäuschung<br />

verbergen wollte, konnte <strong>Harry</strong> nicht sagen. Verstanden hätte er beides.<br />

"Dennoch weiß keiner, wo er ist", erinnerte sie Hermine.<br />

"Na <strong>und</strong>, wir informieren einfach den <strong>Unterwelt</strong>s-Orden, <strong>und</strong> wenn<br />

er <strong>auf</strong>taucht, kann man ihn zum Ministerium bringen", schlug<br />

McGonagall vor.<br />

"Na super, <strong>und</strong> in der Zwischenzeit kann er hier unten machen,<br />

was ihm gerade einfällt!", protestierte <strong>Harry</strong>.<br />

Sirius lachte. "Was soll er denn tun? Willst du neben ihm herl<strong>auf</strong>en<br />

<strong>und</strong> ihm <strong>auf</strong> die Finger schauen?"<br />

"Hat er denn nicht gesagt, wo er hin will, bevor ihr euch getrennt<br />

habt?", fragte Hermine McGonagall.<br />

Der zuckte mit den Schultern. "Er meinte nur, <strong>das</strong>s er Sirius schon<br />

einmal suchen wollte –"<br />

"Hat ja gut geklappt", schnaubte dieser.<br />

"— <strong>und</strong> vorher wollte er noch eine Frau <strong>auf</strong>suchen."<br />

"Eine Frau?", entfuhr es <strong>Harry</strong>. Seine Mutter! Sicher wollte Snape<br />

zu Lily <strong>Potter</strong>, in die er laut Hermine einmal verliebt gewesen war – es<br />

besser, es immer noch war.<br />

"Ich muss zu meinen Eltern!", beschloss er.<br />

335


McGonagall schloss die Augen. "<strong>Harry</strong>, <strong>das</strong> haben wir <strong>doc</strong>h schon<br />

einmal diskutiert. Du darfst deine Eltern zu deinem eigenen Schutz nicht<br />

sehen."<br />

"Nein, ihr versteht <strong>das</strong> nicht, es ist –"<br />

"Was ist es, <strong>Potter</strong>?", ertönte eine kalte Stimme hinter ihm. Einige<br />

Sek<strong>und</strong>en lang blieb er erstarrt stehen, unfähig, sich zu rühren. Sirius<br />

<strong>und</strong> McGonagall waren zusammengezuckt, <strong>und</strong> Alexander hatte wieder<br />

sein Schwert gezogen.<br />

"Die Sprache verloren, <strong>Potter</strong>?", höhnte Snape <strong>und</strong> sah sich in<br />

ihrer R<strong>und</strong>e um. Seine schwarze, große Gestalt wirkte zwischen ihnen<br />

wie eine Fledermaus, die sich <strong>auf</strong> der Erde niedergelassen hatte. Mit<br />

erhobenen Augenbrauen musterte er Alexander <strong>und</strong> Carter, die<br />

abwartend nebeneinander standen.<br />

"Die Aufgabe lautete, <strong>Potter</strong> <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>e zu finden, nicht,<br />

eine Bagage historischer Gestalten zu sammeln, McGonagall", schnarrte<br />

er. "Es war ihnen wohl zu langweilig."<br />

Alexander trat wutentbrannt <strong>auf</strong> Snape zu, ihn mit dem Schwert<br />

fixierend.<br />

"Alexander, nicht!", rief <strong>Harry</strong>.<br />

"Glauben Sie wirklich, Sie könnten mich mit diesem Stück Metall<br />

ängstigen?", fragte der Zaubertranklehrer herablassend <strong>und</strong> zog in einer<br />

schnellen Bewegung seinen Zauberstab.<br />

"Nein", meinte Alexander ruhig. "Genauso wenig, wie Sie mir etwas<br />

anhaben können."<br />

"Das werden wir sehen", höhnte Snape <strong>und</strong> schwang seinen<br />

Zauberstab. Alexander wich dem roten Lichtstrahl spielerisch aus,<br />

obwohl er höchstens fünf Meter von Snape entfernt stand. Der schaute<br />

den Makedonen verblüfft an.<br />

"Genug jetzt, Severus", herrschte ihn McGonagall an. "Das ist<br />

Alexander, er hat <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine <strong>das</strong> Leben gerettet. Und mir<br />

auch", fügte er hinzu.<br />

Snape wandte sich von Alexander ab <strong>und</strong> warf einen Blick voll<br />

gespieltem Mitleid <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>s Großcousin.<br />

"Dachte ich mir <strong>doc</strong>h, <strong>das</strong>s Ihnen der Auftrag zu viel abverlangt."<br />

Mit hässlichem Grinsen wollte er sich Sirius zuwenden, ohne Zweifel, um<br />

auch ihm etwas an den Kopf zu werfen, da schnitt etwas Scharfes durch<br />

die Luft. Mit einer Reaktionsschnelligkeit, wie <strong>Harry</strong> sie auch bei Viktor<br />

Krum noch nicht gesehen hatte, zog Snape erneut seinen Zauberstab,<br />

wich dem Schwert aus <strong>und</strong> schoss einen gezielten Schockzauber <strong>auf</strong><br />

Alexander. Allerdings duckte sich der Makedone noch schneller unter<br />

dem Zauber weg, <strong>und</strong> ehe <strong>Harry</strong> auch nur hätte blinzeln können, hatte<br />

sein Schwert eine schmale W<strong>und</strong>e in Snapes Gesicht gerissen.<br />

"Protego!", hörte <strong>Harry</strong> jemanden in sein Ohr schreien. Ein<br />

Schutzschild baute sich zwischen den beiden Streithähnen <strong>auf</strong>, <strong>das</strong><br />

336


weder Alexander mit seinem Schwert noch Snape mit Zaubern<br />

durchdringen konnte.<br />

"Hört endlich <strong>auf</strong> damit!", rief McGonagall, der den Schutzzauber<br />

<strong>auf</strong>recht hielt.<br />

"Wenn ihr es nicht schafft, gemeinsam zum Ministerium zu gehen,<br />

ohne <strong>das</strong>s einer von euch dabei stirbt, dann würde ich vorschlagen, wir<br />

verabschieden Alexander jetzt."<br />

"Aber dieser Mann hat euch provoziert!", verteidigte sich der<br />

Makedone.<br />

"Ich weiß", seufzte McGonagall müde. "Das tut er, seit wir uns<br />

kennen. Lass es gut sein."<br />

Snape grinste hämisch, als Alexander sein Schwert wieder am<br />

Gürtel befestigte <strong>und</strong> McGonagall den Zauber beendete.<br />

"Beeilen wir uns, damit wir ins Ministerium kommen", trieb sie<br />

McGonagall an. "Ich will weg von hier."<br />

Snape schien zu zögern. „Eigentlich hatte ich noch etwas anderes<br />

erledigen wollen“, blaffte er. „Dazu müsste ich für ein oder zwei Tage aus<br />

London heraus.“<br />

<strong>Harry</strong> wusste sofort, was er meinte. Gehässig sagte er:<br />

„Nur, wer durch den Bogen in die <strong>Unterwelt</strong> getreten ist, kann auch<br />

wieder <strong>zur</strong>ück“, setzte er ihn in Kenntnis. Snapes Gesicht wurde rot vor<br />

Wut, zeigte aber auch eine Trauer, die <strong>Harry</strong> nicht erwartet hätte.<br />

„Schön, <strong>Potter</strong>“, knurrte er, <strong>und</strong> beide wussten, <strong>das</strong>s Snape keine<br />

Chance haben würde, Lily <strong>Potter</strong> je mit <strong>zur</strong>ück in die Welt der Lebenden<br />

zu nehmen.<br />

McGonagall sah sie verständnislos an. „Was wartet ihr? Lasst uns<br />

gehen!“<br />

<strong>Harry</strong> eilte hinter den anderen her, die seinem Verteidigungslehrer<br />

durch <strong>das</strong> Straßengewirr von London folgten. Muggel gingen hastig ihren<br />

Besorgungen nach (wozu die Eile, wenn man tot ist?, fragte sich <strong>Harry</strong>.<br />

Vielleicht konnten diese Leute sich einfach nicht von den<br />

Verhaltensweisen ihrer Leben trennen), Busse <strong>und</strong> Autos verstopften die<br />

Straßen, <strong>und</strong> wäre nicht <strong>das</strong> drängende Gefühl in ihm gewesen, nicht<br />

hierher zu gehören, hätte er gut glauben können, sich im richtigen<br />

London <strong>auf</strong>zuhalten.<br />

Bald erreichten sie die rote Telefonzelle, die <strong>Harry</strong> mittlerweile<br />

unangenehm vertraut war. McGonagall trat zuerst mit Snape, Alexander<br />

<strong>und</strong> Carter hinein, <strong>und</strong> wenige Minuten später folgten <strong>Harry</strong>, Ron,<br />

Hermine <strong>und</strong> Sirius.<br />

Sie kamen in dem alt bekannten Atrium mit seinem Brunnen <strong>und</strong><br />

den goldenen Fahrstühlen an. Dort erwartete sie auch schon Jones, der<br />

mit ihnen ohne Verzögerungen in die Mysteriumsabteilung fuhr, dort den<br />

langen, dunklen Gang bis zu der Tür nahm, die <strong>Harry</strong> oft genug in seinen<br />

Träumen gesehen hatte, <strong>und</strong> von dort zielsicher <strong>auf</strong> eine der Türen in<br />

337


dem r<strong>und</strong>en, blau erleuchtetem Raum zuging. Sie führte direkt in den<br />

Raum des Lebens. Fröstelnd erblickte <strong>Harry</strong> den weißen Bogen. Beim<br />

Näherkommen hörte er dieselben flüsternden, unheimlichen Stimmen,<br />

die er in der Welt der Lebenden aus dem schwarzen Bogen heraus<br />

wahrgenommen hatte. Auf seinen fragenden Blick nickte Jones.<br />

"Die Stimmen der Lebenden", meinte er nur.<br />

„Hier drinnen gefällt es mir nicht“, flüsterte Carter, <strong>und</strong> auch<br />

Alexander schien sich in der für ihn fremden Umgebung unwohl zu<br />

fühlen. <strong>Harry</strong> konnte <strong>das</strong> nachvollziehen, je mehr er über die<br />

Mysteriumsabteilung lernte, desto mehr ängstigte sie ihn.<br />

In dem Raum befanden sich noch einige andere Mitglieder des<br />

Phönixordens der <strong>Unterwelt</strong>, darunter Regulus Black, der <strong>auf</strong> seinen<br />

Bruder zulief.<br />

"Und, habt ihr den Hexer gef<strong>und</strong>en?", fragte er besorgt.<br />

Sirius setzte ihn über ihre Erlebnisse im Mittelalter in Kenntnis, <strong>und</strong><br />

die Ordensmitglieder atmeten <strong>auf</strong>.<br />

"Dann sollte euch nichts mehr im Weg stehen", meinte Jones <strong>und</strong><br />

wies <strong>auf</strong> den Bogen. "Wenn ihr durchtretet, solltet ihr direkt in den<br />

entsprechenden Raum in der Welt der Lebenden kommen."<br />

"Wartet!", rief einer der Ordensmitglieder, <strong>und</strong> ging kurz durch die<br />

Tür. Sofort kam er mit einem Mann in Jeans <strong>und</strong> Sweatshirt wieder.<br />

"Das ist ein Muggel!", rief Ron überrascht.<br />

"Wieso ist er im Ministerium, Rex?", wollte Sirius erstaunt wissen.<br />

"Das", lächelte der jüngere Black, "ist einer der Muggel, die du<br />

angeblich ermordet hast. Er kann den wahren Verl<strong>auf</strong> des Vorfalls<br />

bezeugen. Wir haben dem Ministerium einen Antrag gestellt, er darf<br />

morgen mit in die Oberwelt, um vor dem Zaubererminister, also Fudge,<br />

für dich auszusagen."<br />

<strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine strahlten <strong>und</strong> schlugen Sirius <strong>auf</strong> die<br />

Schulter.<br />

"Das hieße – <strong>das</strong>s du frei bist!", stotterte <strong>Harry</strong> vor Aufregung<br />

heraus. Sollte <strong>das</strong> bedeuten, <strong>das</strong>s er endlich die Dursleys verlassen<br />

konnte?<br />

Sirius je<strong>doc</strong>h machte ein komisches Gesicht, <strong>das</strong> Regulus <strong>das</strong><br />

Grinsen wegwischte.<br />

"Was ist?", fragte ihn sein Bruder leise.<br />

"Du kennst Fudge nicht!", meinte Sirius hitzig. "Er hat mich damals<br />

ohne offizielle Untersuchung verurteilen lassen, er wird nicht eine<br />

Sek<strong>und</strong>e darüber nachdenken, ob ich vielleicht <strong>doc</strong>h unschuldig bin. Vor<br />

allem nicht, wenn er damit seinen Ruf ruinieren würde. Ich weiß eure<br />

Bemühungen durchaus zu schätzen, aber solange Pettigrew sich nicht<br />

stellt, <strong>und</strong> <strong>das</strong> wird er nie, werde ich immer der Gejagte sein."<br />

Doch da begann Regulus erst richtig zu strahlen <strong>und</strong> bat den<br />

Muggel, näher zu treten.<br />

338


"Richard Bentwick", stellter er den Mann vor, der schüchtern von<br />

einem Zauberer zum anderen schaute. In seiner Hand hielt er etwas, <strong>das</strong><br />

<strong>Harry</strong> in dieser von Magie durchdrungenen Umgebung so absurd<br />

vorkam, <strong>das</strong>s er es erst <strong>auf</strong> den zweiten Blick erkannte.<br />

"Eine Videokamera!", stieß er hervor. Bentwick sah ihn erfreut an,<br />

offensichtlich froh, jemanden gef<strong>und</strong>en zu haben, der sich auch in seiner<br />

Welt auskannte.<br />

"Was ist <strong>das</strong>?", fragte Sirius <strong>und</strong> musterte <strong>das</strong> kleine Ding<br />

misstrauisch.<br />

"Das, mein Bruder", frohlockte Regulus, "ist ein Dingsbums, <strong>das</strong> in<br />

der Lage ist, real Geschehenes <strong>auf</strong>zuzeichnen, so<strong>das</strong>s man es sich<br />

später immer wieder ansehen kann. Zufällig hat Richard deine Jagd <strong>auf</strong><br />

Pettigrew <strong>und</strong> den anschließenden Showdown <strong>auf</strong>genommen bis zu dem<br />

Moment, in dem ihn der Todesfluch traf, <strong>und</strong> als er in der <strong>Unterwelt</strong><br />

ankam, hatte er <strong>das</strong> Teil immer noch in der Hand. Damit kannst du<br />

Fudge beweisen, was an dem Tag geschehen ist!"<br />

"Aber ich habe keine Ahnung, wie man <strong>das</strong> Ding bedient!", wandte<br />

Sirius ein.<br />

"Kein Problem, ich weiß es", sagten <strong>Harry</strong>, Hermine <strong>und</strong><br />

McGonagall gleichzeitig. Regulus grinste.<br />

"Damit wäre <strong>das</strong> geklärt."<br />

Bentwick übergab Sirius die Kamera. Der schaute <strong>das</strong> kleine Teil<br />

einige Sek<strong>und</strong>en schweigend an, dann nickte er dem Muggel dankbar<br />

zu.<br />

"Sie haben <strong>auf</strong> gewisse Weise mein Leben gerettet", meinte er nur.<br />

Bentwick winkte ab. "Wenn ich helfen kann, tue ich <strong>das</strong> gerne.<br />

Mich hat die letzten Jahre sowieso gewurmt, <strong>das</strong>s womöglich der<br />

Falsche für den Mord an uns verurteilt werden könnte. Das war eine<br />

ganz miese Finte mit der Verwandlung in eine Ratte. Der Typ soll nur in<br />

die <strong>Unterwelt</strong> kommen, wir warten <strong>auf</strong> ihn."<br />

<strong>Harry</strong> grinste bei dem Gedanken, Pettigrew von Toten verfolgt zu<br />

sehen. Auch Hermine hatte eine zufriedene Miene <strong>auf</strong>gesetzt.<br />

"Ich bitte Sie nun, den Raum wieder zu verlassen", wandte sich<br />

Jones an Bentwick, <strong>und</strong> mit einem letzten Blick <strong>auf</strong> Sirius trat der hinaus.<br />

"Wird gleich einen Vergessenszauber abbekommen", seufzte<br />

Jones. "Schade eigentlich, aber die Muggel sollen nichts über die<br />

Mysterienarbeit wissen.“<br />

Jones sah sie abwartend an.<br />

"Nun, dann ist der Moment des Abschieds wohl gekommen",<br />

meinte Sirius traurig zu seinem Bruder.<br />

"Wir werden uns wieder sehen", entgegnete Regulus unbeschwert.<br />

"Das ist sicher", versuchte es auch Sirius <strong>auf</strong> die fröhliche Art, was<br />

ihm nach <strong>Harry</strong>s Meinung gründlich misslang.<br />

339


"Irgendwie werde ich es vermissen, vor den Augen unseres alten<br />

Hausdrachens eine geheime Widerstandsorganisation gegen Voldemort<br />

zu organisieren."<br />

Regulus lachte <strong>auf</strong>. "Na, daran wirst du wieder Spaß haben, wenn<br />

du <strong>auf</strong> regulärem Weg zu uns kommst."<br />

<strong>Harry</strong> räusperte sich.<br />

"Oh." Der junge Black lief leicht rot an. "Entschuldige, natürlich<br />

hoffen wir alle, <strong>das</strong>s der dunkle Lord bis dahin tot ist ... obwohl, wenn ich<br />

es mir überlege, müssten wir uns dann ja hier unten mit ihm<br />

herumschlagen. Lasst euch vielleicht noch etwas Zeit mit dem Siegen,<br />

ja?"<br />

Sirius umarmte ihn, <strong>und</strong> es schien, als könne er sich nur schwer<br />

dazu bewegen, die <strong>Unterwelt</strong> zu verlassen.<br />

"Dann ist auch <strong>das</strong> Ende unseres Weges gekommen", meinte nun<br />

Alexander zu ihnen.<br />

"Ja, nachdem ihr es in zehn Minuten geschafft habt, mich für<br />

immer aus meiner Zeit zu vertreiben, könnt ihr bedenkenlos<br />

verschwinden", grinste Carter.<br />

"Oh, <strong>das</strong> haben wir vergessen", schrak Hermine zusammen. "Was<br />

machst du jetzt? Zurück ins Mittelalter kannst du nicht."<br />

"Jedenfalls nicht, wenn ich nicht als Hexer für den Rest meines<br />

Todes eingesperrt werden will. Tja, einst war ich der beste Turnierreiter<br />

der Welt, nun werde ich wohl nach Persien gehen." Carter sah Alexander<br />

lächelnd an. "Dort könnte man ja auch eine neue Sportart einführen ..."<br />

"Das würde ich dir nicht empfehlen, meine Soldaten würden dich<br />

wie ich in zwei Sek<strong>und</strong>en besiegen", neckte ihn der Makedone.<br />

"Danke für alles, was ihr beide für uns getan habt", meinte <strong>Harry</strong><br />

nun im Namen aller zu den beiden.<br />

"War <strong>doc</strong>h nicht der Rede wert!", lachte Alexander. "Die letzten<br />

paar Tage waren <strong>auf</strong>regender als meine gesamten Jahre in der<br />

<strong>Unterwelt</strong>, <strong>und</strong> die waren schon turbulent genug."<br />

"Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder", sagte Carter.<br />

"Jedenfalls würde mich <strong>das</strong> freuen."<br />

"Wir wissen ja jetzt, wie wir in die Vergangenheit reisen können",<br />

entgegnete <strong>Harry</strong>, auch wenn er wenig Lust verspürte, wieder in die<br />

karge Steppe mit ihren wilden Reitern zu gehen. Aber <strong>das</strong> war noch<br />

lange hin.<br />

"Möge dieser Tag noch fern sein!", rief Sirius übermütig. "Jetzt aber<br />

los, ich will endlich <strong>zur</strong>ück."<br />

Gemeinsam traten sie zu dem Bogen, bestiegen <strong>das</strong> aus hellem<br />

Holz geschnitzte Podest <strong>und</strong> blieben wenige Handbreit vor dem<br />

wogenden Schleier stehen. Die zischenden Stimmen machten <strong>Harry</strong><br />

ganz verrückt, sein Fuß bewegte sich beinahe von alleine <strong>auf</strong> den Bogen<br />

zu.<br />

340


"Machs gut!", rief Sirius seinem Bruder zu. "Tröste Mum ein<br />

bisschen, jetzt, wo ich weg bin, wird sie tagelang heulen", meinte er mit<br />

ironischem Grinsen.<br />

"Ich sage ihr einfach, du seiest in die Studien der mittelalterlichen<br />

Inquisition so vertieft, <strong>das</strong>s du beschlossen hättest, einige Jährchen<br />

fortzubleiben", antwortete Regulus feixend.<br />

"Ich würde ja sagen "Bis Bald", wenn ich dir nicht <strong>das</strong> Gegenteil<br />

wünschen würde."<br />

Zusammen mit Alexander <strong>und</strong> Carter trat er einige Schritte <strong>zur</strong>ück,<br />

um nicht auch von den mysteriösen Stimmen angelockt zu werden.<br />

"Gut, wer zuerst?", flüsterte McGonagall so leise, so<strong>das</strong>s nur sie<br />

ihn hören konnten.<br />

"Vielleicht trauen Sie sich nicht, den ersten Schritt zu machen,<br />

McGonagall", zog ihn Snape mit seinem üblichen kalten Grinsen <strong>auf</strong>.<br />

<strong>Harry</strong>s Verteidigungslehrer ging dar<strong>auf</strong>hin <strong>auf</strong> den Bogen zu <strong>und</strong> hatte<br />

ihn beinahe erreicht, da knallte mit ohrenbetäubendem Lärm eine Tür ins<br />

Schloss, <strong>und</strong> ein Mysteriumsmitarbeiter rannte hektisch mit den Armen<br />

wedelnd in den Raum.<br />

"Nicht durchgehen!", brüllte er <strong>und</strong> stolperte fast über seine<br />

eigenen Füße.<br />

Irritiert drehten sie sich zu ihm um.<br />

"Was?", hörte <strong>Harry</strong> Ron furchtsam neben sich fragen.<br />

"Ihr könnt jetzt nicht <strong>zur</strong>ück!", keuchte der Unsägliche.<br />

"Wieso nicht?", stieß <strong>Harry</strong> frustriert hervor. Was war nun schon<br />

wieder?<br />

Eine Gestalt kam hinter dem Ministeriumsbeamten in den Raum<br />

<strong>und</strong> trat ins Licht.<br />

Hermine japste erschrocken <strong>auf</strong>, Sirius kniff die Augen zusammen,<br />

als traue er dem nicht, was er sah, <strong>und</strong> in <strong>Harry</strong>s Kopf drehte sich alles.<br />

"Fletcher!", bellte Snape hinter ihm. Seine Stimme war vollkommen<br />

ausdruckslos.<br />

Der kleine, wie üblich mit einem schäbigen Umhang bekleidete<br />

Zauberer schaute überrascht zu ihnen hoch.<br />

"Was macht ihr hier?", krächzte er.<br />

"Wir? Was machst DU hier!", schrie Sirius <strong>und</strong> lief <strong>auf</strong> Fletcher zu.<br />

"Bist du auch durch den Bogen gegangen?"<br />

"Bogen?", fragte ihn Fletcher mit großen Augen. "Als ob ich da je<br />

durchgehen würde! Teuflisches Ding ist <strong>das</strong>. Nein, ich – aber warte,<br />

wieso kann ich mit dir reden? Du bist tot!"<br />

Sirius schlug die Hände vor <strong>das</strong> Gesicht.<br />

"Alles, an <strong>das</strong> ich mich erinnern kann ist, <strong>das</strong>s Dumbledore mich<br />

von einem sehr günstigen Tauschhandel abgehalten hat – wollte gerade<br />

einige Besen bekannter Marken verk<strong>auf</strong>en, die ich billig erhalten habe."<br />

"Worunter er gestohlen meint", flüsterte Ron <strong>Harry</strong> ins Ohr.<br />

341


"Meinte, ich soll ins Ministerium kommen. Dort war die Hölle los."<br />

Alle schauten ihn fassungslos an.<br />

"Hölle?", wiederholte Sirius zögernd, so als wolle er eigentlich gar<br />

nicht wissen, was Fletcher zu berichten habe.<br />

"Ja, Du-Weißt-Schon-Wer hat seine Schergen dorthin geschickt,<br />

um den Eingang zu der Welt der Toten zu bewachen. Glaubt wohl, so<br />

käme er an dich heran." Er zeigte mit seinem Finger <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong>.<br />

"Ist ja Halloween, wisst ihr, da kommen die Toten für einen Tag<br />

<strong>zur</strong>ück in unsere Welt. Na, jedenfalls komme ich zum Raum mit dem<br />

schwarzen Bogen, <strong>und</strong> dort kämpfte der Orden mit den Todessern."<br />

Hermine war bleich geworden.<br />

"Und Voldemort?", fragte sie mit zitternder Stimme. "Wo ist er?"<br />

Fletcher zuckte bei dem Namen zusammen. "Keine Ahnung, hat<br />

sich nicht blicken lassen", meinte er gedehnt <strong>und</strong> sah sich <strong>auf</strong>merksam<br />

um. "Wo bin ich?"<br />

"Tot", meinte Sirius mitleidlos. Fletcher sank zusammen.<br />

"Aber hier ist alles so echt – erst kam ich zu einem Fluss, <strong>und</strong> so<br />

ein alter Kerl setzte mich über, dann war ich plötzlich in London <strong>und</strong> bin<br />

wieder ins Ministerium, dachte, mich hätte einer der Todesser mit einem<br />

Apportationszauber erwischt. Tot, na so was."<br />

Entnervt stöhnte McGonagall <strong>auf</strong>. "Wir können unter diesen<br />

Umständen nicht <strong>zur</strong>ück! Sobald wir durch den Bogen treten, warten die<br />

Todesser <strong>auf</strong> uns."<br />

"Nein", meinte <strong>Harry</strong> langsam. "Tun sie nicht."<br />

Alle sahen ihn an.<br />

"Was meinst du damit?", fragte Hermine.<br />

"Sie kämpfen im Raum des Todes – weil dort an Halloween die<br />

Toten durch den Bogen treten. Wir je<strong>doc</strong>h kämen im Raum des Lebens<br />

an. Wir verschwinden einfach hinter ihrem Rücken."<br />

Sirius schüttelte den Kopf. "Sicher haben sie auch dort einen<br />

Aufpasser postiert."<br />

"Na <strong>und</strong>, selbst wenn, den können wir noch überwältigen.<br />

Außerdem", grinste <strong>Harry</strong>, als ihm eine Idee kam, "werden wir sie<br />

beschäftigen."<br />

"Hä?", kam es von Ron.<br />

"Wir werden den Toten sagen, sie sollen die Todesser in einen<br />

hübschen Kampf verwickeln."<br />

McGonagall nickte. "Sie werden denken, die Toten schützen dich,<br />

um dir die Flucht zu ermöglichen. Und während alle Todesser abgelenkt<br />

sind, flüchten wir durch die Hintertür. Vielleicht wissen die Todesser gar<br />

nichts von dem weißen Bogen."<br />

Einer der Unsäglichen meldete sich. "Ich werde den Plan<br />

denjenigen berichten, die durch den Bogen treten." Er schaute <strong>auf</strong> seine<br />

342


Uhr. "In zwanzig Minuten ist Mitternacht, also der Tag von Halloween.<br />

Dann geht es los."<br />

"Ihr wisst, wie es aus der Mysteriumsabteilung hinausgeht?",<br />

versicherte sich McGonagall. <strong>Harry</strong> nickte.<br />

"Sobald wir <strong>das</strong> Atrium verlassen haben, disapparieren wir. Fliegen<br />

wäre zu gefährlich. Voldemort hat sicher einige Todesser als<br />

Absicherung um <strong>und</strong> über dem Gebäude postiert. Jeder von euch sucht<br />

sich einen Apparitionspartner."<br />

McGonagall selbst trat zu <strong>Harry</strong>, vermutlich, um ihn davor zu<br />

bewahren, mit Snape apparieren zu müssen. Ron schielte zu Sirius, der<br />

ihm zugrinste. Mit unbewegtem Gesicht schauten sich Hermine <strong>und</strong><br />

Snape kurz an.<br />

"Na dann", meinte McGonagall fröhlich, als hätten sie sich zu<br />

einem Osterspaziergang verabredet.<br />

<strong>Harry</strong> drückte seinen Feuerblitz enger an sich, den Regulus Black<br />

ihm vorhin gegeben hatte. Auch die anderen hielten ihre Besen in der<br />

Hand.<br />

Schweigend standen sie vor dem Bogen, niemand sagte etwas,<br />

auch Alexander, Carter <strong>und</strong> Regulus nicht. Plötzlich zerschnitt die<br />

Stimme des Ministeriumsbeamten die Luft.<br />

"Es ist soweit."<br />

Sie warteten noch zwei Minuten, bis ein weiterer Unsäglicher kam<br />

<strong>und</strong> meldete, <strong>das</strong>s die Toten nun die <strong>Unterwelt</strong> verlassen hätten.<br />

"Die haben sich über die Aussicht <strong>auf</strong> einen ordentlichen Kampf<br />

gefreut, <strong>das</strong> kann ich euch sagen", rief er. "Ihr dürftet keine Probleme<br />

haben."<br />

"Super, ich wollte schon immer einmal eine Zombie-Armee für mich<br />

kämpfen haben", murmelte Ron, als sie mit einem letzten Blick <strong>zur</strong>ück<br />

<strong>auf</strong> den Bogen zutraten.<br />

"Passt <strong>auf</strong> euch <strong>auf</strong>!", rief ihnen Alexander noch zu, dann hörte<br />

<strong>Harry</strong> gar nichts mehr, denn der hinter ihm <strong>zur</strong>ück schwingende weiße<br />

Schleier verschluckte sämtliche Geräusche der <strong>Unterwelt</strong>.<br />

Ehe er es sich versah, stolperte er hinter Ron <strong>und</strong> Hermine in den<br />

Raum, in dem sie vor ein paar Tagen schon einmal gewesen waren. Es<br />

kam ihm vor, als wäre dies Jahrh<strong>und</strong>erte her.<br />

Sirius, McGonagall <strong>und</strong> Snape hielten ihre Zauberstäbe vor sich<br />

<strong>und</strong> bedeuteten ihnen, ruhig zu sein. Sofort zückte <strong>Harry</strong> seinen eigenen<br />

Zauberstab <strong>und</strong> sah sich <strong>auf</strong>merksam um. Scheinbar waren sie die<br />

einzigen Personen in dem Raum, allerdings war gedämpfter Lärm zu<br />

hören, der sich für <strong>Harry</strong> ein wenig so anhörte, als griffen Alexanders<br />

Reiter die Skythen an.<br />

"Das sind sie", flüsterte McGonagall. "Die Todesser sind<br />

abgelenkt."<br />

343


Schon wieder eine Schlacht im Todesraum, dachte <strong>Harry</strong>. Nur war<br />

er diesmal nicht dabei, was ihn mit unglaublicher Dankbarkeit erfüllte.<br />

"Kommt!"<br />

Sie verließen schnell den Raum mit dem weißen Bogen, der nun<br />

wieder so normal <strong>und</strong> langweilig wirkte, als wäre er tatsächlich nichts<br />

weiter als ein Gebilde aus Stein <strong>und</strong> Stoff.<br />

Sie erreichten den Raum mit den vielen Spiegeln, den Sirius <strong>und</strong><br />

McGonagall anscheinend noch nicht kannten, denn <strong>Harry</strong>s Pate hätte<br />

beinahe einen Schockzauber <strong>auf</strong> sein eigenes Spiegelbild geschossen,<br />

<strong>und</strong> McGonagall starrte mit eigentümlichem Ausdruck <strong>das</strong> perfekte<br />

Abbild des alten, kaputten Stuhles an.<br />

"Was bei Merlin ...", keuchte er, wurde aber von Snape<br />

weitergestoßen.<br />

"Sich bew<strong>und</strong>ern können Sie ein anderes Mal", höhnte der<br />

Zaubertranklehrer. Sirius blitzte ihn mordlüstern an, war aber zu<br />

beschäftigt damit, den ganzen Spiegeln in ihren Holz-, Gold- <strong>und</strong><br />

Silberrahmen auszuweichen <strong>und</strong> schwieg.<br />

Dann gelangten sie in <strong>das</strong> Zimmer, in dem der Raum erforscht<br />

wurde. Ron fiel wieder <strong>auf</strong> die optische Täuschung hinein <strong>und</strong> blieb wie<br />

angewurzelt neben der Tür stehen, bis <strong>Harry</strong> ihn mit einem Ruck zum<br />

nur scheinbar unerreichbaren Ende des Raumes zog.<br />

Endlich stießen sie die Tür zu dem kleinen, r<strong>und</strong>en Zimmer <strong>auf</strong>,<br />

von dem die Eingänge zu den einzelnen Mysterienabteilungen abgingen.<br />

Das bläulich schimmernde Licht ließ ihre Gesichter blass wie die von<br />

Geistern wirken.<br />

Ohne anzuhalten rannten sie den Gang hinunter bis zum Fahrstuhl,<br />

dessen scheppernde Türen Sirius kommentarlos schloss, nachdem sie<br />

sich alle hineingequetscht hatten. Langsam verschwand der Korridor vor<br />

ihren Augen, während <strong>das</strong> Atrium Stück für Stück erschien, zuerst die<br />

blaue, mit sich bewegenden goldenen Symbolen versetzte Decke, dann<br />

die goldenen <strong>Tor</strong>e, die die Aufzüge von der großen Halle trennten, <strong>und</strong><br />

dann –<br />

<strong>Harry</strong>s Herz machte einen furchtbaren Satz.<br />

Zwei Todesser.<br />

"Oh nein", flüsterte McGonagall, aber da war es auch schon zu<br />

spät, der ruckelnde Aufzug war nicht zu überhören. Die Todesser, die in<br />

der Nähe des Brunnens der magischen Geschwister Wache hielten,<br />

schwangen herum, <strong>und</strong> ein zufriedenes Grinsen erschien <strong>auf</strong> dem<br />

dümmlichen Gesicht von Crabbe, dem Vater von <strong>Harry</strong>s ebenso<br />

dummem Mitschüler. Neben ihm stand ein großer, dunkelhaariger<br />

Todesser, den Sirius erschrocken mit "Lestrange!" anredete.<br />

"Sind die Toten wieder <strong>auf</strong>erstanden?", grinste Lestrange <strong>und</strong><br />

richtete unverwandt seinen Zauberstab <strong>auf</strong> sie.<br />

344


Er wedelte kurz, <strong>und</strong> vier Zauberstäbe flogen ihm in die Hand.<br />

Geschickt fing er sie <strong>auf</strong>.<br />

"Eine Bewegung, <strong>und</strong> ich schicke euch <strong>zur</strong>ück in die <strong>Unterwelt</strong>.<br />

Hoffentlich hat es euch dort gefallen."<br />

"Es war eine Genugtuung, dein hässliches Gesicht eine Weile nicht<br />

sehen zu müssen", höhnte Sirius.<br />

"Crucio!", bellte Lestrange, während <strong>das</strong> Gitter des Aufzugs <strong>zur</strong>ück<br />

schwang. Sirius krümmte sich <strong>und</strong> ging zu Boden.<br />

"Hör <strong>auf</strong>!", schrie <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> hätte sich beinahe <strong>auf</strong> Lestrange<br />

gestürzt, wenn nicht dessen Zauberstab ihn davon abgehalten hätte.<br />

Der Todesser brach in ein schallendes, blökendes Lachen aus.<br />

"Wolltet so einfach durch die Hintertür entwischen, nicht? Aber der<br />

dunkle Lord ist intelligent genug, um euer dummes Störmanöver zu<br />

durchschauen. Wir sollen euch zu ihm bringen. Er wird, neben der<br />

Tatsache, dich endlich umbringen zu können, erfreut sein, etwas über<br />

die <strong>Unterwelt</strong> zu erfahren."<br />

Lestrange kicherte über irgendetwas.<br />

"Woher wusstet ihr Idioten, wo wir sind?", fauchte McGonagall.<br />

Lestrange warf ihm einen mitleidigen Blick zu <strong>und</strong> schrie ein zweites Mal<br />

"Crucio!"<br />

McGonagall stöhnte <strong>auf</strong> <strong>und</strong> schlug gegen die Wand des Aufzugs.<br />

"Wir haben unsere Informanten auch in der Mysteriumsabteilung",<br />

feixte Crabbe, der dem Geschehen genüsslich zusah. "Glaubt ihr,<br />

niemand hätte es bemerkt, <strong>das</strong>s ihr in die <strong>Unterwelt</strong> gegangen seid? Der<br />

dunkle Lord wurde sogleich darüber in Kenntnis gesetzt <strong>und</strong> hat euch<br />

seinen treusten Diener nachgeschickt."<br />

Hochmütig schaute er sie an. "Tretet heraus, alle fünf, schön<br />

langsam."<br />

Irgendetwas an diesem Satz irritierte <strong>Harry</strong>, <strong>und</strong> als er sich umsah,<br />

fiel es ihm ein. Sie waren <strong>doc</strong>h sechs gewesen. Snape war<br />

verschw<strong>und</strong>en.<br />

"Dorthin!", befahl ihnen Lestrange <strong>und</strong> wies in eine Ecke. Sie<br />

stellten sich nebeneinander an die Wand, <strong>und</strong> augenblicklich wuchsen<br />

um sie herum eiserne Stangen vom Boden bis an die Decke. Sie waren<br />

eingesperrt.<br />

"Ihr bleibt hier, während wir den dunklen Lord benachrichtigen",<br />

grinste Lestrange. "Die Ministeriumsmitarbeiter sind wohl unten<br />

beschäftigt ... schade, nun ist eure Finte nach hinten losgegangen." Mit<br />

schnellen Schritten verschwanden die Todesser im Aufzug nach oben<br />

<strong>auf</strong> die Straße.<br />

"Verflucht!", schimpfte McGonagall <strong>und</strong> trat gegen die eisernern<br />

Stäbe.<br />

"Was machen wir nun?"<br />

"Den Orden rufen?", schlug Hermine vor.<br />

345


"Na klar, vielleicht siehst du irgendwo ein Telefon", stöhnte <strong>Harry</strong>,<br />

genervt von ihrer Naivität.<br />

"Wieso Telefon? Ein Patronus tut es <strong>doc</strong>h auch."<br />

"Hermine", erklärte Ron geduldig, "sie haben uns die Zauberstäbe<br />

abgenommen, falls du es noch nicht bemerkt hast."<br />

Hermine sah ihn hochmütig an <strong>und</strong> holte ihren Weinholzstab<br />

hervor.<br />

"Was? Wieso hast du deinen noch?", fragte <strong>Harry</strong> verblüfft.<br />

"Weil ich ihn sofort weggesteckt habe, als ich die Todesser<br />

gesehen habe", grinste sie.<br />

"Toll gemacht!", bemerkte Sirius <strong>und</strong> fügte eifrig hinzu: "Vielleicht<br />

kannst du diese Stäbe wegzaubern ..."<br />

Hermine schüttelte den Kopf. "Das ist dunkle Magie, da kann ich<br />

nichts ausrichten. Ich schicke dem Orden meinen Patronus."<br />

Weil ihnen nichts Besseres einfiel, schwiegen sie <strong>und</strong> sahen zu,<br />

wie Hermines Otter silbern die Halle erleuchtete <strong>und</strong> dann blitzschnell<br />

verschwand.<br />

Danach kramte sie in ihrer Tasche herum <strong>und</strong> brachte eine<br />

goldene Galleone ans Tageslicht.<br />

"Willst du in der Zwischenzeit shoppen gehen?", fragte Ron.<br />

Hermine warf ihm nur einen scharfen Blick zu, dann nahm sie ihren<br />

Zauberstab <strong>und</strong> murmelte einige Worte über der Münze.<br />

"Was tust du da?", wollte Sirius wissen. <strong>Harry</strong> aber ahnte es<br />

bereits.<br />

"Die DA!", rief er.<br />

"Korrekt", lächelte Hermine. "Durch den neuen Zauber, den ich<br />

euch letztens erklärt habe, werden sie wissen, wo wir sind. Sollte der<br />

Orden nicht erreichbar sein oder kommen können, dann vielleicht einige<br />

DA-Mitglieder.“<br />

"Das ist <strong>doc</strong>h Unsinn!", widersprach <strong>Harry</strong>. "Bis sie hier sind, haben<br />

uns die Todesser längst geholt."<br />

"Hast du eine bessere Idee?", fragte Hermine hilflos.<br />

"Nein", gab <strong>Harry</strong> zu. "Aber in wenigen Minuten kommen die<br />

Todesser mit Voldemort <strong>zur</strong>ück – <strong>und</strong> eigentlich habe ich nicht vor, ihm<br />

eingesperrt zu begegnen."<br />

Niemand antwortete dar<strong>auf</strong>. Die Zeit verging, <strong>und</strong> bei jedem<br />

Geräusch zuckten sie zusammen, jeden Augenblick erwarteten sie,<br />

Voldemort im Atrium <strong>auf</strong>tauchen zu sehen – groß, mit schlangenartigem<br />

Gesicht <strong>und</strong> den roten Schlitzen von Augen.<br />

Dann ist es aus, dachte <strong>Harry</strong>. Was sollten sie gegen ihn tun? Er<br />

würde Voldemort entgegentreten <strong>und</strong> verlangen, <strong>das</strong>s die anderen frei<br />

kämen ... auch wenn er nur wenig Hoffnung hatte, <strong>das</strong>s er damit Erfolg<br />

haben würde.<br />

"<strong>Harry</strong>", erklang <strong>auf</strong> einmal Rons Stimme.<br />

346


"Ja?"<br />

"Wenn wir – also wenn du, ich meine, wenn es passieren sollte,<br />

<strong>das</strong>s –", druckte er herum. "Ich will nur sagen, wir wissen ja, wo wir uns<br />

wieder treffen, nicht?"<br />

"Hör <strong>auf</strong> damit!", würgte <strong>Harry</strong> ihn ab. "Niemand wird sterben."<br />

Irgendwie fühlte er, <strong>das</strong>s die anderen ihm nicht glaubten.<br />

"Hört!", flüsterte Hermine, <strong>und</strong> sie hielten den Atem an. Der Aufzug<br />

aus der Telefonzelle hatte sich in Bewegung gesetzt <strong>und</strong> war <strong>auf</strong> dem<br />

Weg zu ihnen ins Atrium. Sirius atmete tief durch, McGonagall wirkte<br />

überaus entschlossen, als hätte er vor, Voldemort zum Faustkampf<br />

herauszufordern, <strong>und</strong> Ron <strong>und</strong> Hermine standen nur mit vor Schrecken<br />

<strong>auf</strong>gerissenen Augen vor den dunklen Eisenstangen, letztere hielt ihren<br />

Zauberstab unter dem Umhang. Aber auch damit würde sie gegen<br />

wenigstens drei Todesser nicht viel ausrichten können, dachte <strong>Harry</strong><br />

trübe.<br />

Die Aufzugstüren öffneten sich jetzt, <strong>und</strong> fünf schwarze Gestalten<br />

hasteten in die große Halle, eine davon deutlich größer als die anderen.<br />

<strong>Harry</strong> spannte seinen ganzen Körper an, um bereit zu sein <strong>auf</strong> <strong>das</strong>,<br />

was ihn gleich erwartete, bereit, die Gegenwart Voldemorts verkraften zu<br />

müssen ... Er wartete <strong>auf</strong> den stechenden Schmerz seiner Narbe, den er<br />

nur zu gut kannte.<br />

Die Gestalten kamen näher, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> registrierte zwei Hexen<br />

unter ihnen. Nicht Bellatrix Lestrange ... sicher war sie ihrem Mann<br />

gefolgt.<br />

Im düsteren Licht des nächtlichen Atriums näherten sie sich wie<br />

schleichende Schatten. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde<br />

der Schmerz ihn übermannen.<br />

Aber nach wie vor fühlte sich <strong>Harry</strong> irritierender Weise gar nicht so,<br />

als befände sich Voldemort nur wenige Schritte von ihm entfernt.<br />

Vielleicht hat er wieder nur seine Handlanger geschickt.<br />

"Soll ich Schockzauber versuchen?", flüsterte Hermine.<br />

"Nein, warte erst einmal", entgegnete McGonagall leise. "Es sind<br />

fünf, bis du auch nur den zweiten anvisiert hättest, wäre einer von uns<br />

tot."<br />

"<strong>Harry</strong>?"<br />

Nun ging es endgültig mit mir zu Ende, dachte er fast heiter.<br />

Todesser wollten ihn zu Voldemort bringen, <strong>und</strong> alles, was seinem<br />

überstrapazierten Hirn einfiel, war, Ginnys Stimme zu hören.<br />

"Seid ihr <strong>das</strong>?"<br />

Nun auch noch Neville. Wahnsinn, was einem alles suggeriert<br />

werden kann.<br />

"Ginny? Neville?", hörte er je<strong>doc</strong>h Hermines völlig ungläubige<br />

Stimme neben sich japsen.<br />

347


Er träumte <strong>doc</strong>h nicht! Mit schnellen Schritten kamen die Gestalten<br />

an die Eisenstangen heran, <strong>und</strong> verblüfft erkannte er nicht nur die<br />

beiden, sondern auch Katie <strong>und</strong> Cormack, die allerdings neben einem<br />

großen, hakennasigen Zauberer vor sich eingeschüchtert wirkten.<br />

"Snape!", knurrte Sirius. "Habe ich mir <strong>doc</strong>h gedacht, <strong>das</strong>s du<br />

Feigling verschw<strong>und</strong>en bist, bevor Gefahr <strong>auf</strong>kam!"<br />

"Womit ich ja wohl schneller gedacht habe als ihr alle zusammen",<br />

höhnte der Zaubertranklehrer. "So wie ich <strong>das</strong> sehe, bin ich frei, <strong>und</strong> du<br />

hinter Gittern." Er grinste. "Es tut mir unendlich Leid, diesen<br />

wünschenswerten Zustand zu beenden."<br />

Mit einem lässigen Schwingen seines Zauberstabes brachte er die<br />

Eisenstangen zum Verschwinden.<br />

Etwas Dunkles stürzte <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> zu <strong>und</strong> umarmte ihn. Ginny.<br />

"Ich bin so froh, <strong>das</strong>s es euch gut geht! Nachdem ihr einige Tage<br />

verschw<strong>und</strong>en wart, hat sogar Dumbledore sich ernsthaft Sorgen<br />

gemacht! Wo seid ihr gewesen?"<br />

"Na wo wohl", grinste <strong>Harry</strong> <strong>zur</strong>ück <strong>und</strong> deutete <strong>auf</strong> Sirius.<br />

"Ihr wart tatsächlich in der <strong>Unterwelt</strong>?", flüsterte sie <strong>und</strong> drückte<br />

sich an ihn. <strong>Harry</strong> spürte seine Knie weich werden <strong>und</strong> musste sich an<br />

der Wand abstützen.<br />

"Klar, aber wo kommt ihr so plötzlich her?", wollte er wissen.<br />

"Schnell raus hier!", befahl ihnen McGonagall <strong>und</strong> zog <strong>Harry</strong> an<br />

seinem Umhang hinter sich her.<br />

"Was macht ihr hier?", hörte er neben sich Hermine Katie fragen.<br />

"Dumme Frage, ihr habt uns <strong>doc</strong>h gerufen!", antwortete sie<br />

erstaunt.<br />

"Ihr habt eure Münzen wirklich kontrolliert?", erk<strong>und</strong>igte sich Ron.<br />

"Natürlich, schließlich wussten wir, <strong>das</strong>s ihr <strong>auf</strong> einer Mission seid!"<br />

"Mission", wiederholte Ron <strong>und</strong> machte ein stolzes Gesicht. "Ja,<br />

<strong>das</strong> waren wir in der Tat."<br />

"Na, <strong>und</strong> als wir euren Hilferuf bekommen haben, sind ich <strong>und</strong><br />

Cormack mit Ginny <strong>und</strong> Neville, die unbedingt mit wollten, vor <strong>das</strong><br />

Schlosstor gegangen, um zum Ministerium zu disapparieren. Wir haben<br />

im Sommer ja unsere Prüfung abgelegt."<br />

"Und als wir da ankommen", keuchte Cormack neben ihnen,<br />

während sie sich in die Telefonzelle quetschten – Sirius, McGonagall,<br />

Ron <strong>und</strong> Hermine blieben vorerst draußen – "treffen wir Snape, wie er<br />

gerade zu Dumbledore will, Hilfe holen. Als wir sagten, <strong>das</strong>s Dumbledore<br />

nicht im Schloss ist, ist er sofort zum Ministerium <strong>zur</strong>ück appariert – <strong>und</strong><br />

wir hinterher."<br />

"Und er hat euch gelassen?", flüsterte <strong>Harry</strong>, da Snape neben ihm<br />

stand.<br />

"Na ja, er war so in Eile, <strong>das</strong>s es ihm egal war", meinte Katie<br />

beschwingt. "Und so sind wir hier. Womit fliehen wir eigentlich?"<br />

348


"Disapparieren", sagte <strong>Harry</strong> knapp, als sie aus der Telefonzelle<br />

<strong>auf</strong> die dunkle, mit Abfällen übersäte Straße stolperten. Ungeduldig<br />

warteten sie, bis auch die anderen her<strong>auf</strong>gekommen waren (Sirius hielt<br />

ihre Besen in der Hand, die sie beim Erscheinen der Todesser vor den<br />

Fahrstühlen fallen gelassen hatten) <strong>und</strong> suchten sich ihre<br />

Apparitionspartner. <strong>Harry</strong> ergriff McGonagalls Arm <strong>und</strong> schaute besorgt<br />

in den nachtschwarzen Himmel, jeden Augenblick die Todesser<br />

erwartend.<br />

Plötzlich zerriss ein roter Blitz <strong>das</strong> fast greifbare Dunkel um sie<br />

herum <strong>und</strong> zischte so knapp an McGonagall vorbei, <strong>das</strong>s dessen<br />

Umhang angesengt wurde.<br />

"Verdammt!" <strong>Harry</strong>s Pate zog seinen Zauberstab <strong>und</strong> schoss einen<br />

Schockzauber über seine Schulter. Ein weiterer, weißer Lichtstrahl jagte<br />

zwischen Ron <strong>und</strong> Hermine hindurch <strong>und</strong> hätte fast Neville getroffen,<br />

wenn der nicht in diesem Moment in die Höhe gesprungen wäre, wobei<br />

er noch seinen Zauberstab zückte <strong>und</strong> ohne zu zögern einen Zauber in<br />

die Richtung des Angreifers brüllte. Ein erschrockenes Keuchen <strong>und</strong><br />

hässliches Plumpsen sagte ihnen, <strong>das</strong>s er getroffen hatte.<br />

"Super Neville!", rief McGonagall, als befänden sie sich in der<br />

Abschlussprüfung. "Jetzt aber weg!"<br />

Er, Sirius <strong>und</strong> Snape schossen weiter wahllos Zauber <strong>und</strong> Flüche<br />

in die Dunkelheit um sie herum, um im nächsten halbwegs ruhigen<br />

Moment die Konzentration für <strong>das</strong> Apparieren <strong>auf</strong>zubauen.<br />

<strong>Harry</strong> schaute besorgt ins Dunkel, als sich wenige Meter von ihnen<br />

entfernt eine schwarze Gestalt mit roten Augen aus dem Nichts<br />

manifestierte.<br />

Voldemort.<br />

Seine Narbe begann augenblicklich so stark zu schmerzen, <strong>das</strong>s er<br />

fast McGonagalls Arm losließ, um zu Boden zu gehen. Die roten Augen<br />

kamen näher, ein Zauberstab gleich seinem wurde in die Luft erhoben,<br />

zielte <strong>auf</strong> ihn, <strong>und</strong> –<br />

Ein grüner Lichtblitz raste <strong>auf</strong> ihn zu, <strong>und</strong> er konnte nicht<br />

ausweichen, da er nach wie vor McGonagall festhielt, der die Augen<br />

geschlossen hielt <strong>und</strong> nichts mitbekam, er konnte nichts tun außer dem<br />

todbringenden Fluch zuzusehen, wie er un<strong>auf</strong>haltsam näher kam. Das<br />

letzte, was er erblickte, war Ginnys Gesicht, <strong>und</strong> dafür war er dankbar.<br />

Unendlich dankbar.<br />

Danach spürte er nur noch ein pressendes Gefühl, <strong>das</strong> seinen<br />

Körper einengte <strong>und</strong> ihm die Luft aus der Lunge drückte.<br />

So fühlt sich Sterben also an, dachte er emotionslos. Gleich werde<br />

ich am Ufer des Totenflusses wieder <strong>auf</strong>wachen. Ob der alte Fährmann<br />

verblüfft sein wird, mich so schnell – <strong>und</strong> überhaupt – wieder zu sehen?<br />

Der Druck um ihn nahm immer mehr zu, <strong>und</strong> irgendwie verärgert<br />

fand er, <strong>das</strong>s Sterben genauso unangenehm war wie Apparieren.<br />

349


Dann war die Kraft um ihn herum <strong>auf</strong> einmal weg, <strong>und</strong> er taumelte<br />

ins Nichts. Nasses Gras schlug gegen seine Handflächen, als er zu<br />

Boden fiel, <strong>und</strong> schwarze Nacht umfing ihn, als er die Augen öffnete.<br />

War er in der <strong>Unterwelt</strong>?<br />

Neben ihm keuchte jemand, <strong>und</strong> als er sich umdrehte, erkannte er<br />

Ron.<br />

"Bist du auch tot?", schrie <strong>Harry</strong> entsetzt.<br />

"Das Apparieren bekommt dir nicht, Kumpel", stellte Ron sachlich<br />

fest.<br />

"Das –" Sprachlos schaute er sich um, nun, da seine Augen sich<br />

langsam wieder an die Dunkelheit gewöhnten. Auch Sirius, McGonagall,<br />

Hermine <strong>und</strong> die anderen rappelten sich gerade wieder hoch, <strong>und</strong> ein<br />

Stück hinter ihnen thronte die gewaltige, spärlich beleuchtete Silhouette<br />

von Hogwarts.<br />

<strong>Harry</strong> kam es vor, als habe er nie etwas Schöneres gesehen als<br />

die alten Mauern des riesigen Gebäudes, die so viel für ihn bedeuteten.<br />

"Ich dachte, ich wäre tot", nuschelte er <strong>und</strong> ließ sich mit vor<br />

Erleichterung zittrigen Knien von McGonagall durch <strong>das</strong> Schlosstor<br />

ziehen.<br />

"Tot? Na, <strong>das</strong> waren wir alle eine Weile lang, oder?", grinste Sirius<br />

neben ihm. Da wurde ihm bewusst, <strong>das</strong>s niemand außer ihm Voldemort<br />

gesehen hatte.<br />

"Ihr – wisst es nicht!", stieß er hervor.<br />

"Was?", fragte ihn McGonagall beunruhig.<br />

"Voldemort, er war da! Beim Ministerium! Er wollte mich<br />

umbringen!"<br />

Sirius erbleichte. "Bist du sicher?"<br />

"Ich habe ihn auch gesehen", warf Ginny ein. "Er hat einen Avada<br />

Kedavra <strong>auf</strong> <strong>Harry</strong> geschossen."<br />

Nun redeten alle wild durcheinander.<br />

"Hier sind wir <strong>auf</strong> jeden Fall sicher", seufzte McGonagall erleichtert.<br />

"Hogwarts ist gut geschützt."<br />

"Aber wie kommt es, <strong>das</strong>s wir Du-Weißt-Schon-Wen nicht auch<br />

gesehen haben?", fragte sich Ron verwirrt.<br />

"Er stand etwas weiter weg, <strong>und</strong> es war so dunkel, vermutlich habt<br />

ihr ihn deswegen nicht bemerkt", meinte <strong>Harry</strong>, der sich bewusst wurde,<br />

<strong>das</strong>s er eigentlich extrem müde sein müsste.<br />

"Oh mein Gott", flüsterte Hermine. "Fast hätte er es geschafft, ich<br />

glaube es nicht! Wenn wir nicht rechtzeitig appariert wären –"<br />

"Wir sind es", sagte Snape mit Betonung des Wortes "wir" <strong>und</strong><br />

meinte Hermine <strong>und</strong> sich. "Ich war schon weg, als der Dunkle Lord<br />

ankam. Gut so –" Unheil verkündend durchbohrte er <strong>Harry</strong> mit seinem<br />

kalten Blick. „Denn wie hätte ich sonst erklären sollen, <strong>das</strong>s ich <strong>Harry</strong><br />

<strong>Potter</strong> <strong>zur</strong> Flucht verhelfe?"<br />

350


<strong>Harry</strong> war klar, <strong>das</strong>s Snape ihn als Sündenbock benutzt hätte,<br />

wenn seine Tarnung <strong>auf</strong>geflogen wäre. Er zwang sich, unbewegt in die<br />

ausdruckslosen schwarzen Augen zu sehen.<br />

"Aber <strong>Potter</strong> gefällt es bekanntlich, <strong>das</strong>s die ganze Welt sich in<br />

Gefahr begibt, um ihm zu helfen, nur weil er sich aus irgendeinem Gr<strong>und</strong><br />

den Zorn des Dunklen Lord zugezogen hat –"<br />

"Genug, Severus!", rief McGonagall, <strong>und</strong> auch Sirius stand<br />

offenbar kurz davor, dem Zaubertranklehrer an die Kehle zu gehen.<br />

Stattdessen zerrupfte er mit verbiestertem Gesicht <strong>das</strong> Reisig von<br />

Hermines Besen.<br />

Sie erreichten die Eingangstür Hogwarts <strong>und</strong> traten in die dunkle,<br />

riesige Halle, von der die Marmortreppe in der düsteren Ferne<br />

entschwand wie eine Brücke in den Himmel.<br />

"Es ist etwa ein Uhr", meinte McGonagall. "Ihr geht am besten in<br />

eure Schlafsäle. Was besprochen werden muss, hat bis morgen Zeit."<br />

<strong>Harry</strong> war dankbar für diesen Vorschlag, denn seine Beine<br />

gehorchten ihm kaum noch. Die letzten, anstrengenden Tage, die ganze<br />

Aufregung, <strong>und</strong> nun auch noch der Schock durch Voldemort versetzten<br />

ihn zusammen mit dem Schlafdefizit in einen Zustand, der von dem<br />

eines Geistes auch nicht allzu weit entfernt sein konnte.<br />

"Lasst uns gehen", meinte Ginny sanft zu ihm. Er nickte, <strong>und</strong><br />

gemeinsam gingen sie die Treppe hin<strong>auf</strong> <strong>und</strong> durch die dunklen Gänge,<br />

begegneten <strong>auf</strong> ihrem Weg dabei nur einmal dem Fetten Mönch, der<br />

erstaunt durch die Decke entschwebte, als er sie erblickte.<br />

"Es ist vorbei", stellte Hermine fest <strong>und</strong> schlang in der Kälte des<br />

Schlosses fröstelnd die Arme um sich. "Voldemort kann uns nicht hierher<br />

folgen."<br />

"So wie ich ihn kenne, bastelt er bereits jetzt an einer Möglichkeit<br />

dazu", antwortete <strong>Harry</strong> düster.<br />

"Solange Dumbledore hier ist, wird uns nichts geschehen", meinte<br />

Ginny, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong>, Ron <strong>und</strong> Hermine mussten lächelte, denn genau mit<br />

diesem Satz hatten sie sich in ihrem ersten Jahr an der Schule auch<br />

getröstet.<br />

Und abgesehen von der Tatsache, <strong>das</strong>s ich mich einmal von<br />

Voldemorts Bildern habe manipulieren lassen, ist er tatsächlich nie bis<br />

nach Hogwarts durchgedrungen, dachte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> fühlte sich plötzlich<br />

wirklich sicher in dem so vertrauten Schloss. Wir werden ihn eben<br />

solange abhalten, bis wir selbst einen Weg gef<strong>und</strong>en haben, ihn zu<br />

besiegen ...<br />

Vor Müdigkeit stolpernd kletterten sie durch <strong>das</strong> Portrait, nachdem<br />

ihnen die Fette Dame ("Mission <strong>Unterwelt</strong>!") ungnädig vor sich<br />

hinmurmelnd Platz gemacht hatte. Sie verabschiedeten sich vor den<br />

351


Treppen zu den Schlafsälen <strong>und</strong> fielen nur eine Minute später in die<br />

Betten.<br />

<strong>Harry</strong> horchte <strong>auf</strong> Rons Schnarchen, <strong>und</strong> als dieser fest <strong>und</strong> tief<br />

schlief, ging er zum Fenster <strong>und</strong> betrachtete schweigend die weiten, in<br />

nachtschwarzer Finsternis unter ihm liegenden Länderein <strong>und</strong> irgendwo<br />

als etwas dunkleren Fleck Hagrids Hütte vor den rauschenden Wipfeln<br />

des Verbotenen Waldes.<br />

Er spürte, <strong>das</strong>s er sich irgendwo in seinem Inneren bereits von<br />

dieser Welt verabschiedet hatte, als sie vor einigen Tagen in die<br />

<strong>Unterwelt</strong> gegangen waren ... umso schöner war es nun, diesen alt<br />

bekannten Anblick wieder vor sich zu haben. Das erste Mal seit fast<br />

einer Woche entspannte er sich, <strong>und</strong> sofort überkam ihn eine<br />

Müdigkeitswelle, die es ihm nur noch ermöglichte, sich samt Kleidung<br />

<strong>und</strong> Schuhen <strong>auf</strong> sein Bett fallen zu lassen.<br />

Als er am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne bereits<br />

hoch am Himmel <strong>und</strong> schien ihm ins Gesicht.<br />

Gähnend sah er sich im leeren Zimmer um <strong>und</strong> versuchte sich<br />

vergeblich zu erinnern, welchen Tag sie hatten. Musste er nicht im<br />

Unterricht sein? Erschrocken sprang er <strong>auf</strong>, zog neue Sachen an <strong>und</strong><br />

fegte in den Gemeinschaftsraum. Dort saßen je<strong>doc</strong>h nur Ron, Hermine<br />

<strong>und</strong> Ginny.<br />

"Ausgeschlafen?", lächelte ihn Ginny an, <strong>und</strong> sofort vergaß er<br />

sämtliche Unterrichtsst<strong>und</strong>en dieser Welt.<br />

"Es ist schon nach Mittag, wir haben dir was zu Essen aus der<br />

großen Halle mitgebracht", meinte Ron <strong>und</strong> wies <strong>auf</strong> mehrere Teller, die<br />

<strong>auf</strong> dem Nachbartisch standen; <strong>Harry</strong> erblickte Hühnchencurry mit Reis,<br />

Bratkartoffeln mit Gulasch, mehrere Sorten Obst <strong>und</strong> ein riesiges Stück<br />

Sahnetorte. Hungrig stürzte er sich dar<strong>auf</strong>.<br />

"Wie lange seid ihr schon wach?", fragte er kauend.<br />

"Seit einer St<strong>und</strong>e vielleicht", erklärte Ron. "Hermine wollte uns ja<br />

unbedingt in den Unterricht schleifen, aber McGonagall hat gemeint, für<br />

heute seien wir entschuldigt."<br />

Hermine wirkte etwas unglücklich, tröstete sich aber mit der<br />

Bemerkung, <strong>das</strong>s sie nur eine St<strong>und</strong>e Zauberkunst verpassten <strong>und</strong> eine<br />

Doppelst<strong>und</strong>e Kräuterk<strong>und</strong>e, <strong>das</strong> sei schnell wieder <strong>auf</strong>zuholen, <strong>und</strong> Alte<br />

Runen falle glücklicherweise ohnehin aus wegen Drachenpocken von<br />

Professor –<br />

"Lass gut sein, Hermine", grinste Ron. Er beugte sich zu <strong>Harry</strong><br />

hinüber, der gerade einen großen Schluck Kürbissaft trank <strong>und</strong> flüsterte<br />

so laut, <strong>das</strong>s es auch Hermine hören konnte: "Warte erst, bis sie<br />

herausfindet, <strong>das</strong>s wir noch weitere drei Schultage verpasst haben."<br />

"Ron Weasley, du bist unmöglich!", rief Hermine <strong>und</strong> verschränkte<br />

beleidigt die Arme.<br />

352


Als <strong>Harry</strong> fertig war, schlug Hermine vor, sich ein wenig die Beine<br />

zu vertreten, <strong>und</strong> so schlenderten sie über die von einer fahlen<br />

Spätherbstsonne beschienenen Wiesen von Hogwarts. Hagrid war nicht<br />

in seiner Hütte, aber sie sahen ihn von weitem, wie er einigen<br />

Drittklässlern eine Thestralherde vorführte.<br />

<strong>Harry</strong> grinste, als er ihm zuwinkte. "Bei uns hat er wenigstens bis<br />

<strong>zur</strong> fünften Klasse gewartet, bis er mit Thestralen angefangen hat ..."<br />

"Ach, die tun <strong>doc</strong>h nichts!", meinte Ron. "Und besser als richtige<br />

Pferde sind sie allemal." Ginny sah ihn fragend an, <strong>und</strong> dar<strong>auf</strong>hin setzten<br />

sie sich unter die Bäume am Seeufer <strong>und</strong> erzählten, was in der <strong>Unterwelt</strong><br />

passiert war. Ginny unterbrach nur mit einzelnen Fragen, während sie<br />

<strong>das</strong> Gehörte zu verdauen versuchte.<br />

"Dann gibt es also wirklich eine <strong>Unterwelt</strong>", murmelte sie. "Ich weiß<br />

nicht, ob mich der Gedanke beruhigen oder ängstigen soll."<br />

"Ich denke, <strong>das</strong> Beste wäre, einfach nicht mehr darüber<br />

nachzudenken", meinte Hermine langsam. "Wir gehören hierher <strong>und</strong><br />

haben die Aufgabe, unser Leben zu leben. Was danach kommen mag,<br />

ist jetzt irrelevant."<br />

"Aber dennoch ist es toll zu wissen, <strong>das</strong>s danach nicht alles vorbei<br />

ist", widersprach <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> dachte an seine Eltern. Er würde sie eines<br />

Tages wieder sehen. Natürlich freute er sich dar<strong>auf</strong>, allerdings merkte er<br />

auch, <strong>das</strong>s er eine größere Geduld <strong>und</strong> Ruhe gef<strong>und</strong>en hatte, seit er die<br />

<strong>Unterwelt</strong> verlassen hatte. Er musste nicht mehr darüber grübeln, wie es<br />

wäre, Eltern zu haben – irgendwann würde er mit ihnen zusammen sein<br />

können, für immer. Aber bis dahin –<br />

"Sollten wir <strong>das</strong> Leben einfach genießen, meint ihr nicht auch?",<br />

räkelte sich Ron in der schwachen Herbstsonne <strong>und</strong> wirbelte träge einen<br />

H<strong>auf</strong>en bunter Blätter <strong>auf</strong>.<br />

Als ihnen zu kalt wurde, gingen sie <strong>zur</strong>ück ins Schloss. In der<br />

Eingangshalle lief ihnen McGonagall über den Weg. Er wirkte<br />

übernächtigt, als wäre er heute Nacht nicht zum Schlafen gekommen,<br />

war aber dennoch bemerkenswert fröhlich.<br />

"Da seid ihr ja!", rief er. Hinter ihm kam Franbery zum Vorschein,<br />

der einige Unterrichtsmaterialien trug. Scheinbar kamen sie gerade aus<br />

dem Verteidigungsklassenraum.<br />

"Ich soll dir von Dumbledore sagen, <strong>das</strong>s du heute Abend in sein<br />

Büro kommen sollst", richtete McGonagall <strong>Harry</strong> aus. "Sobald <strong>das</strong><br />

Festessen vorbei ist."<br />

"Festessen?", fragte Ron ganz Ohr.<br />

"Na, heute ist <strong>doc</strong>h Halloween, schon vergessen?" grinste der<br />

Verteidigungslehrer vergnügt <strong>und</strong> zog Franbery mit sich, der ihnen<br />

nachrief, ob sie denn den Herrn So <strong>und</strong> So in der <strong>Unterwelt</strong> getroffen<br />

hätten, den Begründer der Bewegung für ästhetische Zauberei –<br />

353


Sie taten so, als hörten sie ihn nicht.<br />

<strong>Harry</strong> drehte sich zu den anderen um. Nun wollte er etwas tun, was<br />

ihn seit dem Aufwachen nicht mehr los ließ.<br />

"Wo ist Sirius?", fragte er.<br />

"Im Raum der Wünsche, in unserem DA-Raum", erklärte Hermine.<br />

"Solange <strong>das</strong> Ministerium seine Unschuld noch nicht offiziell anerkannt<br />

hat, versteckt er sich dort. Es könnte höchstens passieren, <strong>das</strong>s DA-<br />

Mitglieder ihn überraschen, aber sie sind ja alle in die Sache eingeweiht<br />

<strong>und</strong> wissen, <strong>das</strong>s er kein Mörder ist."<br />

<strong>Harry</strong> nickte <strong>und</strong> ging in Richtung der Treppe. "Wir treffen uns dann<br />

zum Essen!", rief er den anderen zu <strong>und</strong> machte sich <strong>auf</strong> den Weg.<br />

Wieder benutzte er einige seiner Abkürzungen, die alleine ihm schon <strong>das</strong><br />

Gefühl von Zuhause gaben, durchquerte die Gänge <strong>und</strong> Fluchten von<br />

Hogwarts, die er ab jetzt wieder voll würde genießen können.<br />

Gleich dar<strong>auf</strong> trat er in den Raum der Wünsche. Sirius saß in<br />

einem Stuhl am Fenster <strong>und</strong> las in einem Buch, einige leere Teller<br />

standen neben ihm <strong>auf</strong> einem Tisch.<br />

"<strong>Harry</strong>!"<br />

Sirius wedelte mit dem Zauberstab, <strong>und</strong> ein weiterer Stuhl erschien<br />

gegenüber dem seinigen. <strong>Harry</strong> setzte sich. Jetzt, nachdem ihr<br />

Abenteuer vorbei war <strong>und</strong> so etwas wie Ruhe in sein Leben<br />

<strong>zur</strong>ückgekehrt war, wurde ihm erst bewusst, was sie tatsächlich<br />

geschafft hatten: Sirius lebte wieder. Sie hatten ihn aus der <strong>Unterwelt</strong><br />

<strong>zur</strong>ückgeholt. Sein Pate war wieder bei ihm; was letzten Juni im<br />

Ministerium geschehen war, hatte keine Bedeutung mehr. Er wusste,<br />

<strong>das</strong>s er vor dem schwarzen Bogen keine Angst mehr haben würde,<br />

sollte er sich ihm noch einmal nähern müssen.<br />

"Du wirkst so nachdenklich", meinte Sirius <strong>und</strong> sah ihn <strong>auf</strong>merksam<br />

an. "Was ist los?"<br />

<strong>Harry</strong> schüttelte seine Gedanken ab.<br />

"Mir sind nur die letzten Tage durch den Kopf gegangen", sagte er<br />

immer noch leicht abwesend. "Es war einfach so viel <strong>auf</strong> einmal – erst<br />

stolpern wir in die <strong>Unterwelt</strong>, dann werden wir beinahe von einem<br />

H<strong>auf</strong>en Skythen <strong>und</strong> einen Riesen getötet, dann finden wir dich <strong>und</strong> am<br />

Ende kam auch noch Voldemort –"<br />

"Langsam beginne ich zu glauben, <strong>das</strong>s solche Beschäftigungen<br />

für euch normal sind", grinste Sirius. "Ihr habt ein außerordentliches<br />

Talent, die Gefahr zu suchen. Wir waren damals genauso", erinnerte er<br />

sich verträumt.<br />

McGonagall <strong>und</strong> er geben sicher ein gutes Paar ab, dachte <strong>Harry</strong>,<br />

beide tun sie fast so, als befänden sie sich noch in ihrer Schulzeit. Aber<br />

war nicht genau <strong>das</strong> auch ein Zug an Sirius, den er so mochte?<br />

"Nun, gerade du solltest dich freuen, <strong>das</strong>s wir uns in Gefahr<br />

begeben haben", erwiderte <strong>Harry</strong> gespielt empört. Sirius lachte, wurde<br />

354


aber gleich wieder ernst. Vielleicht ernster, als <strong>Harry</strong> ihn je gesehen<br />

hatte.<br />

"Ich hatte bisher keine Zeit dafür, mich bei euch zu bedanken",<br />

begann er <strong>und</strong> würgte <strong>Harry</strong> ab, als dieser etwas erwidern wollte. "Nein,<br />

tue es nicht so bescheiden ab. Ihr habt etwas für mich getan, was noch<br />

nie jemand <strong>auf</strong> sich genommen hat, um einem anderen <strong>das</strong> Leben zu<br />

retten. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich diese zweite Chance<br />

überhaupt verdient habe."<br />

"Natürlich sind wir gekommen!", rief <strong>Harry</strong>. "Ich war schuld an<br />

deinem – äh, Tod, <strong>und</strong> musste meinen Fehler wieder gutmachen."<br />

Sirius sah ihn entgeistert an. "Wieso warst du schuld?"<br />

"Weil ich mich habe ins Ministerium locken lassen, weswegen ihr<br />

gekommen seid, um uns zu retten, <strong>und</strong> –"<br />

"<strong>Harry</strong>! Ob Voldemort dich damals oder an einem anderen<br />

Zeitpunkt <strong>und</strong> Ort angegriffen hätte, spielt <strong>doc</strong>h gar keine Rolle. Ich, der<br />

Orden, wir sind da, um dich zu beschützen. Und <strong>das</strong>s wir dabei sterben<br />

können, wissen wir alle."<br />

"Aber –"<br />

"Kein Aber! Du trägst nicht einen Hauch Schuld an meinem Tod,<br />

<strong>und</strong> selbst wenn es so wäre, hättest du sie nun ohnehin abgetragen,<br />

oder?"<br />

Langsam durchdrang <strong>Harry</strong> der ungewohnte Gedanke, schuldlos<br />

an Sirius' Tod zu sein, besser gesagt, allmählich wich dieses bleierne,<br />

<strong>auf</strong> ihm lastende Gefühl des schlechten Gewissens <strong>und</strong> der Melancholie,<br />

<strong>und</strong> er wurde augenblicklich glücklicher, so glücklich sogar, als hätte er<br />

einen besonders schwierigen Schnatz gefangen.<br />

Er nickte.<br />

"Na dann ist ja alles geklärt!", meinte Sirius fröhlich. "Eine Bitte<br />

hätte ich noch an dich: Würdest du mir vielleicht deinen Tarnumhang<br />

ausleihen? Ich will mir ein wenig die Beine vertreten, <strong>und</strong> ich bin nicht so<br />

sicher, wie die Schüler reagieren, wenn ein immer noch offiziell als<br />

Massenmörder verurteilter Zauberer in der Schule herumläuft."<br />

<strong>Harry</strong> kam eine Idee. "Du giltst <strong>doc</strong>h als tot. Kannst du – keine<br />

neue Identität annehmen, sollte deine Unschuld trotz des Videos nicht<br />

bewiesen werden können?"<br />

"Sicher ist <strong>das</strong> die letzte Alternative", nickte Sirius. "Dumbledore<br />

meint, solange wir verschleiern können, <strong>das</strong>s ich <strong>zur</strong>ück bin, bin ich<br />

abgesichert, auch wenn <strong>das</strong> Ministerium weiterhin <strong>auf</strong> meiner Schuld<br />

besteht. Momentan versucht der Orden Fudge zu überreden, meine<br />

Unschuld durch den Videobeweis quasi post mortem durchzusetzen.<br />

Sollten sie Erfolg haben, tauche ich dann plötzlich „offiziell“ wieder <strong>auf</strong>.<br />

Na ja, ich weiß nicht, ob <strong>das</strong> klappt, die Todesser haben mich ja auch<br />

gesehen. Sape <strong>und</strong> eure DA halten sicher dicht."<br />

Bei Snape war sich <strong>Harry</strong> nicht so sicher, sagte aber nichts.<br />

355


"Natürlich hoffe ich, <strong>das</strong>s ich bald wieder als anerkanntes Mitglied<br />

der Zauberergemeinschaft leben kann – in Freiheit. Dann kann ich<br />

endlich in vollem Umfang im Orden mitarbeiten", erklärte er eifrig.<br />

<strong>Harry</strong> atmete tief durch. "Und wo willst du wohnen?"<br />

Sirius zuckte mit den Schultern. "Entweder bleibe ich am<br />

Grimmauldplatz – wenn man <strong>das</strong> Haus ordentlich <strong>zur</strong>echtmacht, kann es<br />

sogar ganz gemütlich sein – oder ich suche mir etwas Kleines in der<br />

Nähe. Aber ich denke, ich bleibe in meinem Elternhaus wohnen. Allein,<br />

weil es als Hauptquartier des Ordens der wohl sicherste Ort Londons<br />

ist." Er zögerte kurz. „Ich habe noch eine andere Idee, aber <strong>das</strong> muss ich<br />

erst mit Dumbledore absprechen.“<br />

"Und –" <strong>Harry</strong> wagte es nicht, diesen Satz zu vollenden.<br />

"Ob du bei mir wohnen kannst?", grinste ihn Sirius aber sogleich<br />

wissend an.<br />

<strong>Harry</strong> nickte atemlos.<br />

"Natürlich!"“, strahlte sein Pate.<br />

So frei <strong>und</strong> unbeschwert hatte sich <strong>Harry</strong> seit langer, langer Zeit<br />

nicht mehr gefühlt wie jetzt, nachdem er Sirius seinen Tarnumhang<br />

gebracht hatte, dann kurz nach Hedwig in der Eulerei geschaut hatte,<br />

welche ihn auch sogleich begeistert umflogen hatte, als wüsste sie, wie<br />

kurz sie davor gestanden hatte, ihn nie wieder zu sehen, <strong>und</strong><br />

anschließend noch eine ordentliche Dreierpartie Zauberschach mit Ron<br />

<strong>und</strong> McGonagall gespielt hatte. Nun trat er zusammen mit Ron <strong>und</strong><br />

Hermine in die große Halle ein, die wie üblich zu Halloween festlich<br />

geschmückt war: Dutzende Riesenkürbisse umgaben den Raum,<br />

tausende hell scheinende Kerzen warfen ihr warmes Licht über die vier<br />

mit goldenen Tellern gedeckten Haustische <strong>und</strong> unechte, bunte Blätter<br />

rieselten bedächtig von der verzauberten Decke, die einen<br />

pechschwarzen, klaren <strong>und</strong> mit h<strong>und</strong>erten von Sternen übersäten<br />

Abendhimmel zeigte.<br />

Das Murmeln h<strong>und</strong>erter Schüler begleitete sie zu ihren Plätzen am<br />

Tisch der Gryffindors, <strong>Harry</strong> vermutete, <strong>das</strong>s es in den letzten Tagen<br />

wilde Spekulationen zu ihrem Verschwinden gegeben hatte. Bis <strong>auf</strong> die<br />

DA wusste aber wohl keiner um die wahren Hintergründe. Einige ihrer<br />

Mitglieder wie Luna oder Ernie kamen nun an ihren Tisch gesprintet <strong>und</strong><br />

gratulierten ihnen überschwänglich zu ihrer geglückten Mission. <strong>Harry</strong><br />

<strong>und</strong> Ron hatten Schwierigkeiten, ihr Grinsen wieder abzustellen. Auch<br />

Hermine wirkte ungemein zufrieden, <strong>und</strong> <strong>das</strong>, obwohl sie gerade erst von<br />

Seamus erfahren hatte, <strong>das</strong>s sie einen Zauberkunsttest verpasst hatten.<br />

"Zur nächsten DA-St<strong>und</strong>e werden wir euch alles ausführlich<br />

erzählen", meinte Ron gewichtig zu Ernie, der vor Neugier fast platzte.<br />

Hermine schüttelte lächelnd den Kopf, <strong>und</strong> auch <strong>Harry</strong> machte sich<br />

schon einmal <strong>auf</strong> eine haarsträubende Geschichte mit ganzen Rudeln<br />

356


von Riesen <strong>und</strong> einem heldenhaften Kampf Rons gegen Todesser<br />

gefasst.<br />

Ihm gegenüber sah er nun Neville, Katie <strong>und</strong> auch Cormack sitzen.<br />

"Ich wollte mich bei euch dafür bedanken, <strong>das</strong>s ihr gekommen<br />

seid, um uns zu helfen", erklärte er ruhig.<br />

"Ist <strong>doc</strong>h Ehrensache!", rief Neville, wurde aber ein bisschen rot<br />

über <strong>das</strong> Lob.<br />

"Wir sind <strong>doc</strong>h in der DA, da gehört es dazu, den anderen<br />

Mitgliedern zu helfen", sagte auch Katie.<br />

"Eben, dazu bildet du uns schließlich aus, oder?", fragte Cormack,<br />

<strong>und</strong> alle stimmten ihm begeistert zu. <strong>Harry</strong> wurde verlegen <strong>und</strong> war froh,<br />

als ein leises Klirren von Glas <strong>das</strong> Gespräch unterbrach. Dumbledore,<br />

der irgendwann in dieser Nacht an die Schule <strong>zur</strong>ückgekehrt sein<br />

musste, bat die Schüler um Aufmerksamkeit, <strong>und</strong> <strong>das</strong> laute<br />

Stimmengewirr brach ab.<br />

"Wieder einmal sind wir in unserer fantastisch geschmückten Halle<br />

zusammengekommen –" Er verneigte sich leicht in Richtung Hagrid, der<br />

wie immer für die Kürbisse gesorgt hatte <strong>und</strong> nun mit einem stolzen<br />

Grinsen eine wegwerfende Handbewegung machte, wobei er Professor<br />

Flitwicks Glas an die Wand schmetterte – "um Halloween zu feiern, den<br />

Tag, an dem, wie ihr sicherlich wisst, der Toten gedacht wird."<br />

Der Schulleiter warf einen langen Blick <strong>auf</strong> die Schülereien, <strong>und</strong><br />

<strong>Harry</strong> hätte schwören können, <strong>das</strong>s er ihm leicht zugenickt hätte.<br />

"Da wir uns aber in der Welt der Lebenden befinden, was ein<br />

unschätzbares Privileg ist, schlage ich vor, wir nutzen dies weidlich aus<br />

<strong>und</strong> stürzen uns <strong>auf</strong> ein weiteres leckeres Mahl."<br />

Applaus erklang, der lauter wurde, als unzählige schmackhafte <strong>und</strong><br />

<strong>auf</strong>wändige Gerichte <strong>auf</strong> den Tellern <strong>und</strong> Schüsseln vor ihnen<br />

erschienen.<br />

"Nicht, <strong>das</strong>s in der <strong>Unterwelt</strong> schlecht gegessen wird, oder?",<br />

grinste Ron, während er sich eine Riesenportion Hackfleischpastete mit<br />

Kartoffelbrei <strong>auf</strong>tat.<br />

"Oder getrunken", meinte Hermine ein wenig wehmütig, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong><br />

fragte sich, ob ihr natürlich vergeblicher Blick über den Tisch vielleicht<br />

Wein suchte.<br />

Obwohl er erst zu Mittag Unmengen verdrückt hatte, tat er sich von<br />

jedem Gericht etwas <strong>auf</strong> seinen Teller <strong>und</strong> beendete sein Mahl erst mit<br />

dem dritten Stück Schoko-Kürbistorte, als er kurz vor dem Platzen war.<br />

"He, schaut mal!", flüsterte plötzlich Neville <strong>und</strong> zeigte vor zum<br />

Lehrertisch. Dort fielen mysteriöserweise sämtliche Herbstblätter wie von<br />

einer unsichtbaren Kraft gelenkt schnurstracks <strong>auf</strong> Snapes Teller, der<br />

sein Essen gar nicht schnell genug davon freisch<strong>auf</strong>eln konnte. Zudem<br />

schwebte ein kleiner Kürbis mit einer Fratze vor seinem Gesicht <strong>und</strong><br />

streckte ihm erstaunlicherweise ständig die Zunge heraus. Was <strong>Harry</strong><br />

357


zudem <strong>auf</strong>fiel, waren die zwei Gläser <strong>und</strong> Teller, die vor McGonagall<br />

standen. Sein Lehrer für Verteidigung schaute ein ums andere Mal zu<br />

Snape herüber <strong>und</strong> wurde von einem Lachkrampf geschüttelt, was ihm<br />

einen misstrauischen Blick von seiner Tante einbrachte.<br />

"<strong>Harry</strong>, wo genau befinden sich eigentlich Sirius <strong>und</strong> dein<br />

Tarnumhang?", fragte Hermine missbilligend.<br />

"Mmm", machte <strong>Harry</strong> mit <strong>auf</strong>einander gepressten Lippen, um nicht<br />

auch loszulachen. Ron biss <strong>auf</strong> seine Gabel <strong>und</strong> bebte vor<br />

unterdrücktem Kichern. Die ganze Halle schaute nun gespannt zu<br />

Snape.<br />

Als auch noch dessen Glas sich wie von Zauberhand (wie treffend,<br />

dachte <strong>Harry</strong>) in die Luft erhob <strong>und</strong> ihm seinen Inhalt ins Gesicht kippte,<br />

war von überall her leises, weil krampfhaft <strong>zur</strong>ückgedrängtes Gelächter<br />

zu hören. Snape war <strong>auf</strong>gesprungen <strong>und</strong> schaute sich mit vor Hass<br />

sprühenden Augen nach dem Übeltäter um. Franbery stierte ihn<br />

verständnislos an, während McGonagall so tat, als mache er sich an<br />

einem Knopf seines Umhangs zu schaffen, so<strong>das</strong>s seine schwarze<br />

Mähne sein Gesicht <strong>und</strong> sein breites Grinsen verdeckte.<br />

Hermine schüttelte den Kopf. "Sie sind genauso kindisch wie ihr",<br />

meinte sie hochmütig zu Ron, der Katie gebeten hatte, über ihn einen<br />

Schweigezauber zu sprechen <strong>und</strong> nun in ungezügeltes, lautloses Lachen<br />

ausbrechen konnte.<br />

Als sie schließlich pappesatt <strong>und</strong> angenehm müde aus der Halle<br />

traten (Snape hatte den Lehrertisch wutentbrannt verlassen, wor<strong>auf</strong>hin<br />

sich die Schüler wieder beruhigt hatten), trafen sie am Fuß der<br />

Marmortreppe McGonagall, dem <strong>das</strong> viele Lachen scheinbar einen<br />

Schluck<strong>auf</strong> beschert hatte.<br />

"Das war gemein!", rief Hermine <strong>und</strong> schaute suchend in die Luft.<br />

"Wir wissen, <strong>das</strong>s du auch da bist, Sirius!" Ein körperloses Schnauben<br />

war zu hören.<br />

"Ach, <strong>das</strong> war <strong>doc</strong>h lustig", kicherte Ginny neben ihr.<br />

"Genau", behauptete McGonagall. "Ein wenig Spaß nach dem<br />

ganzen Stress musst du uns gönnen." Er wandte sich an <strong>Harry</strong>. "Wir<br />

sehen uns! Wenn du Lust hast, kannst du am Wochenende ja mal bei<br />

mir vorbeischauen. Sirius wird wohl auch da sein." Er nickte in die Leere<br />

neben sich.<br />

"Klar", grinste <strong>Harry</strong> <strong>zur</strong>ück. Warum auch nicht? OK, McGonagall<br />

war genauso fies zu Snape wie Sirius <strong>und</strong> wohl genauso leichtsinnig <strong>und</strong><br />

unbedacht in seinen Handlungen, aber immerhin war er sein Großcousin<br />

– <strong>und</strong> er hatte durchaus <strong>das</strong> Gefühl, sich mit ihm ebenso gut verstehen<br />

zu können wie mit seinem Paten.<br />

"Macht’s gut!" McGonagall verschwand über die Treppe, während<br />

sich <strong>Harry</strong> zu den anderen umdrehte.<br />

358


"Ich muss noch zu Dumbledore", seufzte er. "Wir sehen uns<br />

später."<br />

Ron nickte. "Klar, wir haben noch eine Partie Zauberschach zu<br />

Ende zu spielen."<br />

"Wir könnten auch die neuen Ideen für die DA durchgehen", schlug<br />

Hermine vor, bevor sie mit Ron wegging.<br />

Zurück blieb Ginny, die ihn vieldeutig anlächelte. "Wenn du<br />

möchtest, können wir vorher noch eine Weile in den Raum der Wünsche<br />

gehen."<br />

"Lieber nicht, da wohnt Sirius vorübergehend", durchschauerte es<br />

<strong>Harry</strong> bei dem Gedanken, von seinem Paten bei Dingen beobachtet zu<br />

werden, die er lieber geheim halten wollte.<br />

"Wie wäre es dann mit dem Klassenraum für Verteidigung?", fragte<br />

sie <strong>und</strong> wandte den Blick nicht von ihm.<br />

Warum nicht? Zauberschach, DA – alles Dinge, die er mochte,<br />

aber die Aussicht, mit Ginny allein sein zu können, erschien ihm plötzlich<br />

wie die einzige Sache der Welt, die sich zu tun lohnte.<br />

Er nickte, unfähig, etwas zu antworten. Irgendetwas an Ginny<br />

schien ihm die Kehle zuzuschnüren.<br />

"Also bis nachher, ich warte dort <strong>auf</strong> dich", flüsterte sie, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong><br />

musste sich zwingen, sie zu verlassen <strong>und</strong> in den zweiten Stock zu<br />

l<strong>auf</strong>en. Er rannte zu Dumbledores Büro, je eher er dort ankam, desto<br />

eher kam er auch wieder weg ... zu Ginny ...<br />

Erschrocken wäre er fast die enge Wendeltreppe des<br />

Wasserspeiers wieder heruntergestolpert, als vor ihm die Tür zum Büro<br />

des Schulleiters <strong>auf</strong>ging <strong>und</strong> er Sirius <strong>und</strong> McGonagall vor sich sah.<br />

"Ach, <strong>Harry</strong>, ich habe dich erwartet", hörte er Dumbledores Stimme<br />

<strong>und</strong> trat ein.<br />

"Wir hatten nur gerade etwas zu besprechen. Wie ich <strong>das</strong> sehe,<br />

wird es dir dein Pate ohnehin spätestens morgen früh verraten, <strong>und</strong><br />

wenn nicht, dann dein Großcousin." Er warf einen kurzen Blick über<br />

seine halbmondförmigen Brillengläser <strong>auf</strong> McGonagall, der verlegen<br />

grinste. "Deshalb kannst du es auch gleich erfahren."<br />

<strong>Harry</strong> sah die drei nacheinander verständnislos an.<br />

"Ich werde Lehrer, <strong>Harry</strong>!", rief Sirius strahlend.<br />

<strong>Harry</strong> wünschte sich, etwas anderes als "Hä?" geantwortet zu<br />

haben.<br />

"Verteidigungslehrer", präzisierte McGonagall.<br />

"Aber du –"<br />

"Ich bleibe erst einmal euer richtiger Lehrer, <strong>und</strong> Sirius wird mein<br />

Assistent. Wir haben <strong>das</strong> Glück, <strong>das</strong>s irgendeine Schule für Zauberei in<br />

den USA diesen vertrottelten Franbery <strong>doc</strong>h tatsächlich anstellen will –<br />

als Verteidigungslehrer! Er wird Hogwarts in den nächsten ein oder zwei<br />

Wochen verlassen, <strong>und</strong> Sirius nimmt seinen Platz ein."<br />

359


"Ich lerne ein bisschen den Lehrbetrieb kennen, <strong>und</strong> ab nächstem<br />

Jahr unterrichten wir gemeinsam", erklärte Sirius.<br />

"Da wir beide nebenbei im Orden zu tun haben – ja, ich trete nun<br />

auch ein – ist die Stelle für eine Person zu viel Arbeit. Wir teilen uns ab<br />

nächstem Schuljahr die Klassen <strong>auf</strong>", meinte McGonagall.<br />

<strong>Harry</strong> hatte gar nicht gewusst, <strong>das</strong>s es so viele gute Nachrichten<br />

<strong>auf</strong> einmal geben konnte ... Sirius lebte ... Ginny wollte sich mit ihm<br />

treffen ... McGonagall trat dem Orden bei ... <strong>und</strong> Sirius würde fortan<br />

immer in seiner Nähe sein!<br />

"Ich muss euch allerdings ermahnen, im Umgang mit Kollegen in<br />

Zukunft gemäßigter zu sein", richtete Dumbledore <strong>das</strong> Wort an die<br />

beiden.<br />

"Kein Problem", grinste Sirius. "Allein <strong>das</strong>s Snape mich nun jeden<br />

Tag sehen muss, ist für ihn die schlimmste <strong>Tor</strong>tur. Da muss ich nicht<br />

mehr viel beitragen."<br />

Feixend nickten die beiden Dumbledore <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> zu <strong>und</strong> traten<br />

aus dem Büro.<br />

Der Schulleiter seufzte. "Ich fürchte, sie werden nie erwachsen<br />

werden. Aber im Gegensatz zu einigen Lehrern scheinen sie gut mit<br />

euch Schülern auszukommen – <strong>und</strong> vor allem kann ich mir sicher sein,<br />

<strong>das</strong>s sie nicht Voldemort am Hinterkopf stecken haben oder getarnte<br />

Todesser sind."<br />

<strong>Harry</strong> setzte sich, immer noch grinsend.<br />

„Aber zuerst muss Sirius freigesprochen werden“, wandte er ein.<br />

„Natürlich, aber bezüglich des Verfahrens bin ich mir sehr sicher –<br />

ich habe heute mit dem Leiter für magische Strafverfolgung gesprochen,<br />

<strong>das</strong> Video wird als Beweis absolut ausreichen. Ich rechne damit, <strong>das</strong>s<br />

Sirius in einem offiziellen Prozess noch in den nächsten Wochen<br />

rehabilitiert wird.“ Dumbledore fuhr sich müde über die Augen. "Aber<br />

deswegen wollte ich dich nicht sprechen, wie du dir sicher denken<br />

kannst", fuhr er fort. "<strong>Harry</strong>, es ist von höchster Wichtigkeit, <strong>das</strong>s du mir<br />

alles erzählst, was in den letzten Tagen passiert ist." Er verschränkte die<br />

Finger <strong>und</strong> sah <strong>Harry</strong> mit seinen durchdringenden, leuchtend blauen<br />

Augen gespannt an.<br />

Und er erzählte. Das erste Mal machte es ihm Spaß, Dumbledore<br />

von etwas zu berichten, weil ihr Abenteuer endlich einmal gut<br />

ausgegangen war ... niemand war gestorben, <strong>und</strong> er musste auch keine<br />

Regelverstöße beichten – na ja, zumindest keine, die er nicht ohnehin<br />

davor schon einmal begangen hatte.<br />

"Du bist dir sicher bewusst, <strong>das</strong>s ich euch deswegen Hauspunkte<br />

abziehen werde", bestätigte Dumbledore dann auch seine<br />

Befürchtungen. "Ihr habt <strong>das</strong> von allen unmöglich gehaltene W<strong>und</strong>er<br />

geschafft <strong>und</strong> noch mehr Schulregeln gebrochen als sonst."<br />

360


<strong>Harry</strong> sackte leicht zusammen, aber die Gryffindors würden es<br />

verstehen ... die meisten jedenfalls. Sie wussten, <strong>das</strong>s es wichtigere<br />

Dinge gab als Hauspunkte.<br />

"Aber ich denke auch, <strong>das</strong>s euer Mut <strong>und</strong> eure Treue belohnt<br />

werden müssen, <strong>und</strong> letztendlich die Fähigkeiten, die ihr unter Beweis<br />

gestellt habt, um euer Ziel zu erreichen. Ich gebe zu, <strong>das</strong>s ich selbst nie<br />

daran geglaubt habe, <strong>das</strong>s Lebende in die <strong>Unterwelt</strong> gehen können –<br />

<strong>und</strong> davon <strong>zur</strong>ückkehren."<br />

"Ich auch nicht", meinte <strong>Harry</strong> knapp.<br />

"Und dennoch bist du gegangen. Ja, <strong>das</strong> erfordert Mut – viel Mut,<br />

aber nicht nur <strong>das</strong>. Voldemort hätte nie so etwas getan wie du, <strong>und</strong> weißt<br />

du auch, warum?"<br />

<strong>Harry</strong> schüttelte den Kopf.<br />

"Weil er den Tod fürchtet, mehr als alles andere. Er würde sich ihm<br />

nie freiwillig nähern, im Gegenteil, er versucht seit vielen Jahren,<br />

Unsterblichkeit zu erlangen. Du dagegen hast keine Angst vor dem<br />

Unbekannten, sondern kannst mit dem Tod umgehen. Damit bist du den<br />

meisten erwachsenen Hexen <strong>und</strong> Zauberern voraus."<br />

Er wusste nicht, was er dar<strong>auf</strong>hin sagen sollte.<br />

"Ich hätte wissen sollen, <strong>das</strong>s du durch den Bogen gehen würdest,<br />

nachdem ihr <strong>das</strong> Rosier-Buch gef<strong>und</strong>en hattet. Aber irgendwie habe ich<br />

euch <strong>das</strong> nicht zugetraut. Wieder einer meiner Fehler." Der Schulleiter<br />

schüttelte den Kopf, <strong>und</strong> von einigen Portraits an der Wand kam ein<br />

verständiges Nicken.<br />

"Die Jugend wird immer <strong>auf</strong>müpfiger!", kommentierte ein dicker,<br />

rotgesichtiger Zauberer in einer grauen Robe aus seinem Goldrahmen<br />

heraus erhitzt.<br />

"Immerhin hoffte ich, euch mit Professor Snape <strong>und</strong> Professor<br />

McGonagall Hilfe nachschicken zu können."<br />

Bei der Erwähnung McGonagalls fiel <strong>Harry</strong> etwas ein, was ihn<br />

schon seit Wochen wurmte.<br />

"Professor?"<br />

"Ja, <strong>Harry</strong>?"<br />

"Wieso können sich Jamie <strong>und</strong> Professor McGonagall nicht leiden?<br />

Er hat mir etwas von Clantraditionen erzählt, aber ich kann nicht<br />

glauben, <strong>das</strong>s Professor McGonagall muggelfeindlich ist."<br />

"Ist sie auch nicht", meinte Dumbledore schlicht. "Gut, Jamies<br />

Eltern haben sämtliche gesellschaftliche Normen über den H<strong>auf</strong>en<br />

geworfen, als sie zusammengezogen <strong>und</strong> schließlich ausgewandert sind,<br />

sie wurden von allen <strong>und</strong> besonders ihren Familien geächtet. Man kann<br />

nicht ausschließen, <strong>das</strong>s Professor McGonagall durch <strong>das</strong> Verhalten<br />

ihres Clans ein wenig davon beeinflusst wurde. Aber der eigentliche<br />

Gr<strong>und</strong> für ihre Abneigung ist ein anderer."<br />

361


<strong>Harry</strong> schwieg, er wusste, <strong>das</strong>s Dumbledore selbst entscheiden<br />

würde, ob er ihn nannte.<br />

"Es ist eigentlich kein Geheimnis, also fühle ich mich nicht als<br />

Verräter, wenn ich es dir sage. Professor McGonagall hat eine Nichte,<br />

die auch zu der Zeit von Jamie nach Hogwarts ging – ich glaube, sie war<br />

drei Jahre unter ihm. Wie es der L<strong>auf</strong> der Dinge manchmal will, verliebte<br />

sie sich in ihn. Er allerdings hatte keinerlei Interesse an ihr <strong>und</strong> auch<br />

nicht genug Entschlossenheit, sie eindeutig abzuweisen – kurz, sie<br />

wurde ziemlich unglücklich, <strong>und</strong> als er nach Amerika <strong>zur</strong>ückging <strong>und</strong><br />

angeblich starb, kam sie kaum darüber hinweg. Professor McGonagall<br />

hat ihre Nichte gemocht, <strong>und</strong> sie kann Jamie wohl bis heute nicht<br />

verzeihen, was er damals – unwissentlich, wie man ihm zu Gute halten<br />

muss – getan hat."<br />

"Das also steckt dahinter", rief <strong>Harry</strong> erleichtert. "Und ich habe <strong>das</strong><br />

Schlimmste befürchtet –"<br />

"Kann es Schlimmeres geben als unerfüllte Liebe?", fragte<br />

Dumbledore ruhig, <strong>und</strong> <strong>Harry</strong> verstummte.<br />

"Nun, ich habe dich heute aber auch noch aus einem anderen<br />

Gr<strong>und</strong> hergebeten. Du kannst es dir sicher denken. Voldemort arbeitet<br />

Tag <strong>und</strong> Nacht an neuen Plänen, dich anzugreifen, <strong>und</strong> beinahe wäre es<br />

ihm heute ja auch geglückt, wie ich gestehen muss. Ich schreibe mir die<br />

Gefahr selbst an, in die ihr geraten seid – ich hätte nie gedacht, <strong>das</strong>s<br />

Voldemort <strong>und</strong> seine Todesser an Halloween ins Ministerium eindringen<br />

könnten, um an dich zu gelangen. Wir waren einfach nicht schnell<br />

genug."<br />

"Es ist ja nichts passiert", meinte <strong>Harry</strong> <strong>und</strong> kam sich für einen<br />

irrwitzigen Augenblick so vor, als versuche er, Dumbledore zu trösten.<br />

"Nein, aber nur, weil Professor Snape bei euch war. Es wäre nicht<br />

auszudenken, wenn er euch nicht hätte befreien können."<br />

"Verteidigen Sie Snape nicht noch", stieß <strong>Harry</strong> hervor, dem<br />

plötzlich wieder siedendheiß einfiel, was Snape in die <strong>Unterwelt</strong><br />

getrieben hatte.<br />

Dumbledore zog die Augenbrauen hoch. "Bist du immer noch der<br />

– Entschuldigung, wenn ich <strong>das</strong> sagen muss – irrigen Überzeugung,<br />

<strong>das</strong>s Professor Snape für Voldemort arbeitet?"<br />

"Das weiß ich nicht", antwortete <strong>Harry</strong> vollkommen ehrlich. "Aber<br />

ich weiß, wieso er in die <strong>Unterwelt</strong> gegangen ist."<br />

"Weil ich ihn gebeten habe", meinte Dumbledore heiter.<br />

"Nein!", widersprach ihm <strong>Harry</strong> hitzig. "Er wollte zu meiner Mutter!<br />

Sie belästigen! Vermutlich hat er es auch getan, wir waren ja einige Tage<br />

getrennt –"<br />

Dumbledore unterbrach ihn mit einer ruhigen Handbewegung, sein<br />

Gesichtsausdruck drückte nun allerdings vollkommene Verblüffung aus.<br />

"Deine Mutter?", fragte er überrascht.<br />

362


"Ja, er war einmal in sie verliebt, meint jedenfalls Hermine, <strong>und</strong> –"<br />

"<strong>Harry</strong>, was immer auch zwischen Professor Snape <strong>und</strong> deiner<br />

Mutter gewesen sein mag, es hatte nichts mit seinem Tun in der<br />

<strong>Unterwelt</strong> zu tun."<br />

"Das stimmt nicht, er wollte von Anfang an zu ihr!", rief <strong>Harry</strong><br />

hektisch. "Bevor er Jamie verlor, sprach er davon, zu einer Frau gehen<br />

zu wollen!"<br />

"Ja", erklärte Dumbledore sanft, "weil ich ihm diese Aufgabe<br />

gegeben habe."<br />

Nun war es an <strong>Harry</strong>, entgeistert in seinen Stuhl <strong>zur</strong>ückzusinken.<br />

"Sie haben – Snape befohlen, zu meiner Mutter zu gehen?",<br />

keuchte er.<br />

Dumbledores blaue Augen blitzten vergnügt.<br />

"Nein, ich habe ihn gebeten, einer Dame namens Hepzibah Smith<br />

einen Besuch abzustatten, um sie über gewisse Vorfälle zu befragen.<br />

Vorfälle, über die ich mit dir reden muss, denn sie werden deine <strong>und</strong><br />

Voldemorts Zukunft wesentlich bestimmen."<br />

"Snape war also nie bei meiner Mutter gewesen?", vergewisserte<br />

sich <strong>Harry</strong>. Dumbledore schüttelte den Kopf.<br />

Nach einigen Sek<strong>und</strong>en Pause, in denen <strong>das</strong> leise Ticken von<br />

Dumbledores seltsamen Instrumenten zu vernehmen war, während vor<br />

dem Fenster die ersten Schneeflocken des Winters wirbelten, fragte<br />

<strong>Harry</strong> bedächtig:<br />

"Über was haben Snape <strong>und</strong> diese Frau gesprochen?"<br />

"Über etwas, bei dem uns der höchst bemerkenswerte Orden der<br />

<strong>Unterwelt</strong> ein gutes Stück weiterhelfen konnte, insbesondere der Bruder<br />

von Sirius, Regulus Black. <strong>Harry</strong>, ich möchte mit dir über etwas reden,<br />

was es uns sehr erschweren wird, Voldemort zu schlagen. Etwas, <strong>das</strong> er<br />

geschaffen hat, um allmächtig zu werden. Das wir <strong>auf</strong> einem sehr langen<br />

<strong>und</strong> anstrengenden Weg suchen <strong>und</strong> vernichten müssen."<br />

<strong>Harry</strong> wusste plötzlich, <strong>das</strong>s die unbeschwerten St<strong>und</strong>en, die hinter<br />

ihm lagen, nur eine Atempause gewesen waren – ein kurzer Aufschub,<br />

bevor er sich wieder in den unvermeidlichen Kampf mit Voldemort würde<br />

begeben müssen. Widerwillig lauschte er Dumbledores nächsten<br />

Worten.<br />

"Und zwar seine Horkruxe."<br />

THE END<br />

363

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