SFT 1/84 - Science Fiction Times
SFT 1/84 - Science Fiction Times
SFT 1/84 - Science Fiction Times
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong> <strong>Times</strong> 12/19<strong>84</strong> 13<br />
Gefühle, Leidenschaften und Affekte des<br />
Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie<br />
dieselben schnell erhöht oder auch nur<br />
umstimmt.“ 10<br />
Im einzelnen führt Schopenhauer -<br />
besonders im Hinblick auf die Symphonie<br />
Beethovens - aus, daß die Musik die<br />
größte Verwirrung zeigt, welcher jedoch<br />
die vollkommenste Ordnung zugrunde<br />
liegt, und daß die Kämpfe in ihr sich immer<br />
wieder zur Eintracht gestalten. „Es<br />
ist re rum concordia discors, ein treues<br />
und vollkommenes Abbild des Wesens<br />
der Welt, welche dahinrollt im unübersehbaren<br />
Gewirr zahlloser Gestalten und<br />
durch stete Zerstörung sich selbst erhält.<br />
Zugleich nun aber sprechen aus dieser<br />
Symphonie alle menschlichen Leidenschaften<br />
und Affekte : die Freude, die<br />
Trauer, die Liebe, der Haß, der Schrecken,<br />
die Hoffnung und so weiter in zahllosen<br />
Nuancen‘, jedoch alle gleichsam<br />
nur in abstracto und ohne alle Besonderung:<br />
Es ist ihre bloße Form ohne den<br />
Stoff, wie eine bloße Geisteswelt ohne<br />
Materie.“ 11<br />
Es war das „Unmittelbare“ der Musik<br />
Beethovens, das schon die Zeitgenossen<br />
so sehr beeindruckte, obwohl manche<br />
vor der Gewalt der Aussage flüchteten<br />
(Weber, Spohr). Interessant ist, daß beispielsweise<br />
die Fünfte Symphonie den<br />
Dichter und Kritiker E.T. A. Hoffmann<br />
zu ekstatischen Formulierungen hinriß,<br />
die sie als „höhere Offenbarung“<br />
kennzeichneten, während der Musiker<br />
Hoffmann weiter in der Nachfolge Mozarts<br />
komponierte. Daß es eine einfache<br />
Wechselwirkung von Musik und<br />
Dichtung nicht gibt, daß vielmehr diese<br />
Beziehungen häufig kompliziert und<br />
ambivalenter Natur sind, zeigt das Beispiel<br />
Hoffmanns sehr deutlich, zeigt das<br />
Verhältnis Wagners zu Baudelaire und<br />
Nietzsche, der einen übermaächtigen<br />
Einfluß auf die beiden Jüngeren ausübte,<br />
deren Persönlichkeiten er gar nicht richtig<br />
wahrnahm, während er seinerseits<br />
von Schopenhauers Ästhetik beeinflußt<br />
war, der wiederum Wagner nicht ernst<br />
nahm.<br />
Am langfristigsten und tiefsten<br />
scheint die Wirkung Beethovens - und<br />
das bis auf Dichtung und Dichter des<br />
zwanzigsten Jahrhunderts - gewesen zu<br />
sein. So sprach Alfred Mombert, der eine<br />
seiner Anthologien MUSIK DER WELT<br />
nannte, immer wieder von den „symphonischen“<br />
Zusammenhängen seiner<br />
Gedicht-Werke und dachte dabei besonders<br />
an Beethoven. Eine Ausgabe letzter<br />
Hand - DER HIMMLISCHE ZECHER<br />
(1951) - enthält eine retrospektive Auswahl<br />
aus seinem lyrischen Gesamtwerk<br />
von TAG UND NACHT (1894)<br />
bis ATAIR (1 925) in sieben Büchern,<br />
von denen jedes Buch Themen, Gegenthemen<br />
und deren Durchführungen in<br />
großen epischdramatischen Sätzen und<br />
Wortzusammenballungen wiedergibt.<br />
Man mag bei solch einem EPOS DES<br />
KOSMISCHEN INDIVIDUUMS, wie<br />
es auch DAS NORDLICHT (1910) von<br />
Theodor Däubler darstellte, eher an Gustav<br />
Mahler oder an die TURANGALI-<br />
LA-SYMPHONIE von Olivier Messiaen<br />
denken als an den in seiner Zielsetzung<br />
viel bescheideneren (und daher vermutlich<br />
um so viel wirkungsvolleren)<br />
Beethoven, aber Mombert und seine<br />
Zeitgenossen sahen in Beethoven und<br />
keinem anderen ihr großes „symphonisches“<br />
Vorbild.<br />
Das gilt auch für David Lindsay und<br />
das Gestaltungsprinzip seiner Romane,<br />
besonders des ersten - A VOY AGE TO<br />
ARCTURUS - und des letzten - THE<br />
WITCH. Deutlich zu betonen ist, daß<br />
hier - bei Lindsay noch weniger als bei<br />
Mombert und den deutschen Frühexpressionisten<br />
- nirgends an Lautmalerei,<br />
Vokalisation oder die Nachahmung musikalischer<br />
Wirkungen, kurz irgendeine<br />
Art „Wortmusik“ gedacht ist, sondern<br />
LITERARISCHE<br />
TRANSPOSmON<br />
MUSIKALISCHER<br />
GESTALTUNGS·<br />
PRINZIPIEN<br />
an die literarische Transposition musikalischer<br />
Gestaltungsprinzipien. So zeigt<br />
etwa die Schlußsequenz von A VOY<br />
AGE TO ARCTURUS - das „Muspel“-<br />
Kapitel - deutliche Anzeichen einer immer<br />
unerträglicheren Dissonanz, die in<br />
einen düsteren Moll-Akkord aufgelöst<br />
wird - eine Technik, die Alexander Skriabin<br />
in seinen späten Klaviersonaten und<br />
symphonischen Dichtungen verwendet.<br />
Das ganze Werk scheint - wie eine<br />
Sonate Skriabins - aus einer Reihe von<br />
Variationen und Durchfuhrungen gegebener<br />
Themen zu bestehen, die zu einer<br />
scheinbaren Apotheose ohne „authentischen“<br />
Schluß, ohne Bestätigung durch<br />
Tonika und Dominante führen und daher<br />
unentschieden enden - im Bereich der<br />
Zwischentöne, beinahe tonlos. Wenn<br />
auch die Analogien zwischen Musik<br />
und Sprache zu unerlaubten Grenzüberschreitungen<br />
führen können ‚:“ handelt<br />
es sich doch um die Analyse eines<br />
sprachlichen Kunstwerks, um Literatur<br />
-, scheinen sie jedoch in dem Maße<br />
Erkenntniswert zu besitzen, als Musik<br />
selber Sprache ist und von einem Autor<br />
literarischer Werke wie Lindsay so verstanden<br />
und interpretiert wird.<br />
In den „Notes“ heißt es: „Music is a<br />
microcosm of the feelings. It expresses<br />
them all, yet only as Art; it is not the feelings<br />
themselves.“ 12 Das klingt wie eine<br />
Warnung an die Adresse des Künstlers<br />
selbst, sich nicht von Gefühlen hinreißen<br />
zu lassen. Und weiter: „Music is the<br />
experience of a supernatural world. The<br />
attempt to identify it with world-experience<br />
is a proof of the practical, utilitarian<br />
nature of man, which always tries to<br />
change the wild into the domestic.“ 13<br />
Die Unvereinbarkeit von Wort und<br />
Musik wird am Beispiel von Mozarts<br />
„Zauberflöte“ deutlich gemacht: „What<br />
words are to Music , individuals are to<br />
the Sublime. This is excellently shown in<br />
the Temple scene of the Magic Flute. The<br />
massive gloom of the interior, the gigantic<br />
statue silhouette against the gleaming<br />
sky, Mozart‘s hymn ; contrasted with the<br />
dec1amation of the High Priest, and the<br />
double row of white-robed priests who<br />
assist him. Both words and men appear<br />
absolutely insignificant and meaningless<br />
beside the music and the solemn grandeur<br />
of the temple.,, 14<br />
Musik stellt für Lindsay eine Eingangstür<br />
ins Übersinnliche dar. Genau<br />
EINE EINGANGSTÜR<br />
INS ÜBERSINNLICHE<br />
diese Funktion erfüllt sie, wenn im ersten<br />
Kapitel - „Seance“ - von A VOYAGE TO<br />
ARCTURUS die Zwischenaktmusik zur<br />
Zauberflöte erklingt, bevor das Phantom<br />
aus dem Jenseits beschworen wird und<br />
sich materialisiert. Diese Szene hat den<br />
Charakter eines Vorspiels, einer Ouvertüre<br />
oder auch einer Exposition mit zwei