SFT 1/84 - Science Fiction Times
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<strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong> <strong>Times</strong> 12/19<strong>84</strong> 11<br />
zuweilen lächerlich erscheinen läßt.<br />
Die gleiche Wirklichkeit hat uns einen<br />
Kafka ständig nähergebracht, dessen<br />
Visionen durch keinerlei Gestik verzerrt<br />
oder getrübt wurden und daher von unverminderter<br />
Aktualität sind und bleiben<br />
werden. Trotz Kafkas bohrender und<br />
quälender Suche nach sich selbst (in den<br />
Tagebüchern) und der Hermetik seiner<br />
Bilder überzeugt sein Werk mühelos; ein<br />
Werk, in dem nicht von Abgründen geredet<br />
wird, sondern das selbst Abgrund<br />
ist. Die Nüchternheit der Diktion unterstützt<br />
und verstärkt Kafkas dichterische<br />
Wirkung und läßt sein Werk überleben in<br />
einer Zeit kultureller und gesellschaftlicher<br />
Krisen, die selbst nach Deutung und<br />
Sinnerfahrung verlangen.<br />
Zwischen und nach zwei Weltkriegen,<br />
die das Antlitz der Erde verändert<br />
haben, sind Kafkas Parabeln Zeichen für<br />
die Existenzkrise überhaupt geworden,<br />
ohne irgendetwas erklären zu wollen.<br />
Das Phänomen der Anonymität, das in<br />
der modernen Massengesellschaft entstanden<br />
ist, dem noch ein Nietzsche mit<br />
prophetischer Selbstgewißheit sich zu<br />
entziehen versuchte, ist in Kafkas Werk<br />
selbst Gestalt geworden und hat ihn, der<br />
es selbst vernichten und damit der Anonymität<br />
übergeben wollte, seinen Namen<br />
gemacht, den Namen Franz Kafka.<br />
Man mag darin eine historische Paradoxie<br />
oder gar ein unerklärliches Phänomen,<br />
einen dialektischen Prozeß oder<br />
was immer erblicken, wenn es erlaubt<br />
wäre, für literarische Geltung, Bekanntheit<br />
und Berühmtheit Gründe oder Gesetze<br />
zu nennen und aufzufinden. Wenn<br />
es solche Gesetze überhaupt gibt, so halte<br />
ich sie für genauso undurchschaubar<br />
wie die Gesetze der Repertoirebildung in<br />
Opernhäusern. Ich muß mich daher auf<br />
die Feststellung beschränken, daß es auf<br />
der einen Seite berühmte Autoren und<br />
Opern gibt, die immer wieder gelesen<br />
und gespielt werden, unabhängig davon,<br />
ob ihre Qualität höher oder niedriger ist<br />
als von Autoren und Opern, die auf der<br />
anderen Seite stehen und niemals gelesen<br />
und gespielt werden.<br />
II<br />
Ein solcher Autor, der nicht im Repertoire<br />
vorkommt, der nicht gelesen, zitiert<br />
und interpretiert wird und den die Literaturgeschichte<br />
bisher totgeschwiegen hat,<br />
ist der große englische Romanschriftsteller<br />
und Dichter David Lindsay, dessen<br />
Bücher einige der wesentlichen literarischen<br />
Botschaften dieses Jahrhunderts<br />
enthalten, aber selbst in seiner Heimat<br />
noch viele Jahre nach seinem Tode kaum<br />
einen Verleger fanden. Lindsay gehört<br />
weder zur Kategorie der „Mißverstandenen“<br />
wie Nietzsche noch „Verschollenen“<br />
und „Vergessenen“ wie Mombert<br />
und Däubler oder der „spät Berühmten“<br />
wie Kafka und Lovecraft. Er gehört zu<br />
jenen Schriftstellern, die schon zu Lebzeiten<br />
tot waren und daher keiner Vergessenheit<br />
anheimfallen konnten, weil<br />
man nie richtig Notiz von ihnen genommen<br />
hatte. Neuerdings erfährt er, damit<br />
das Maß der traurigen Ironie auch vollgemacht<br />
wird, das sonderbare Schicksal<br />
VON DER LITERATUR-<br />
GESCHICHTE<br />
TOTGESCHWIEGEN<br />
eines spät Anerkannten im Bereich der<br />
<strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong>, nachdem ihn quicke<br />
Herausgeber dieses immer noch als obskur<br />
verschrienen Genres als „Klassiker“<br />
an Land gezogen und gleich wieder mumifiziert<br />
haben.<br />
Lindsay gerät damit zum zweiten Mal<br />
in eine literarische Grauzone, und wiederum<br />
droht ihm Vergessen - diesmal<br />
als Klassiker, der schon Patina angesetzt<br />
hat. In Wirklichkeit aber gilt es hier, einen<br />
Autor völlig neu zu entdecken, dessen<br />
Werk von seltener Geschlossenheit<br />
und, soweit ich sehen kann, einzigartiger<br />
Schönheit und Tiefe ist.<br />
Es umfaßt als bisher bekannt sieben<br />
Romane, von denen der erste, A VOY<br />
AGE TO ARCTURUS (1920 in London<br />
erschienen), 1975 in deutscher Übersetzung<br />
als DIE REISE ZUM ARCTURUS<br />
veröffentlicht wurde, während die übrigen<br />
nur in englischer Sprache erschienen<br />
(die beiden letzten, THE VIOLET<br />
APPLE und THE WITCH, erst lange<br />
nach seinem Tode 1976 in den USA). Es<br />
existieren außerdem unveröffentlichte<br />
SKETCH NOTES FOR A NEW SY-<br />
STEM OF PHILOSOPHY, die Lindsay<br />
als einen reflektierenden Geist zeigen,<br />
der sein dichterisches Werk mit kritischen<br />
Kommentaren begleitete. Sie<br />
geben darüber hinaus Aufschluß über<br />
Lindsays philosophische Ideen und die<br />
von ihm verarbeiteten Einflüsse, beson-<br />
ders von Schopenhauer und Nietzsche.<br />
Daß diese Einflüsse überwiegend ästhetischer<br />
Natur waren, beweist Lindsays<br />
von J. B. Pick mitgeteilte Äußerung über<br />
Nietzsches Philosophie: „Nietzsche was<br />
by nature a musician, and went of expressing<br />
his feelings. His ‚superman‘ is<br />
simply a creative artist, and is thus obviously<br />
unfitted for a universally human<br />
type.,, 6<br />
An Schopenhauer zog ihn besonders<br />
die Willensmetaphysik an, die zur<br />
Vorstellung des „Sublimen“ bei Lindsay<br />
führte. In den NOTES heißt es:<br />
„Schopenhauer‘s ‚Nothing‘ , which is<br />
the least understood part of his system, is<br />
identical with my Muspel; that is the real<br />
world ... To understand the true nature of<br />
the world, it is necessary to realise that<br />
it is a direct creation of the will, and that<br />
everything in it (including love, selb-sacrifice<br />
etc.) is either the assertion or the<br />
denial of the will (Schopenhauer); but<br />
that the Muspel-World does not possess<br />
this inner core of will, but something<br />
else, of which the will is a corrupted version.“<br />
7<br />
Muspel - das ist jenes geheimnisvolle<br />
Licht, das durch den Schatten des Kristallmanns<br />
gebrochen wird. Es ist die<br />
Quelle des Lebens in A VOY AGE TO<br />
ARCTURUS, deren unversiegbare Kraft<br />
erst am Ende einer metaphysischen Pilgerfahrt<br />
erkannt wird. Ich habe dieses<br />
machtvolle und sublime Erstlingswerk<br />
Lindsays, das von wenigen Kennern zugleich<br />
als sein Meisterwerk angesehen<br />
wird, schon in einem anderen Zusammenhang<br />
vorgestellt und als exemplarisch<br />
für den Ausdruck einer metaphysischen<br />
Krise interpretiert. 8 Anknüpfend<br />
an früher Gesagtes, möchte ich, ohne<br />
meine recht spontane Deutung zurückzunehmen,<br />
doch eine deutliche Korrektur<br />
anbringen: A VOY AGE TO ARC-<br />
TURUS ist weder <strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong> noch<br />
Fantasy und steht auch nicht in deren<br />
Vor- oder Umfeld. Es hat mit der älteren<br />
und neueren „Space Opera“ lediglich<br />
den Schauplatz - den Planeten eines anderen<br />
Sternensystems - gemeinsam.<br />
Das ganze Buch - seine innere Handlung<br />
- ist aber durchgehend Vision und<br />
Metapher. Der symbolische Gehalt hat<br />
mythische Wurzeln und steht in keiner<br />
direkten Beziehung zum physikalischen<br />
Weltall. Besonders deu tlich wird dies<br />
durch die philosophischen Implikationen,<br />
vor allem durch den Hinweis auf<br />
Schopenhauer.