SFT 1/84 - Science Fiction Times
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<strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong> <strong>Times</strong> 12/19<strong>84</strong><br />
NACHRICHTEN<br />
VON NIRGENDWO<br />
Diese Welt, dieselbige von allen Dingen,<br />
hat weder der Götter noch der Menschen<br />
einer gemacht, sondern sie war<br />
immer und ist und wird immer sein ein<br />
ewig lebendiges Feuer, nach Maßen sich<br />
entzündend und nach Maßen erlöschend.<br />
Heraklit, Fragment 30<br />
We are such stuff as dreams are made on,<br />
and our little life is rounded with a sleep.<br />
Shakespeare, The Tempest<br />
Wir sind einsame Feuer!<br />
Alfred Mombert, Der Glühende<br />
I<br />
In seiner autobiographischen Skizze<br />
„Ecco homo“ (1888) beklagt sich Friedrich<br />
Nietzsche ein Jahr vor seinem geistigen<br />
Zusammenbruch, daß er im Grunde<br />
unbekannt geblieben sei und man ihn<br />
weder gehört noch auch nur gesehen<br />
habe. „Ich lebe auf meinen eigenen Kredit<br />
hin, es ist vielleicht bloß ein Vorurteil,<br />
daß ich lebe? ... “ 1 Was dann folgt,<br />
weist in einer seltsamen Mischung von<br />
nahezu pubertärer Anmaßung und richtiger<br />
Selbsteinschätzung auf die wirkliche<br />
Bedeutung eines der großen Philosophen<br />
der Neuzeit hin, der sich selbst nicht so<br />
sehr als Person, sondern als ein Ereignis,<br />
ja „Verhängnis“ empfand, und das<br />
mit gebührender Verachtung der Kleinheit<br />
seiner Zeitgenossen. Schon Thomas<br />
Mann, der Nietzsche bewunderte<br />
und sich immer als einen seiner gelehrigsten<br />
Schüler verstand, tadelte diesen<br />
Versuch einer Selbstdramatisierung offen<br />
und empfand ihn als stellenweise<br />
geschmacklos. Und heutige Leser, die<br />
Nietzsche weniger kennen, werden sich<br />
angesichts von Kapitelüberschriften wie<br />
„Warum ich so weise bin“, „Warum ich<br />
so klug bin“, „Warum ich so gute Bücher<br />
schreibe“ etc. eines Gefühls der Peinlichkeit<br />
wohl kaum erwehren können.<br />
Nichtsdestoweniger bleibt „Ecce homo“<br />
der bemerkenswerte Versuch eines Genies,<br />
aus der Anonymität herauszutreten,<br />
sich selbst beim Namen zu nennen und<br />
dem schöpferischen Ich Werkzeugcharakter<br />
zu verleihen. Was wir lesen, ist<br />
keineswegs Autobiographie im üblichen<br />
Sinn, sondern die Schilderung eines säkularen<br />
Ereignisses, eines exemplarischen<br />
Schicksals, eben des Schicksals,<br />
als das Nietzsche sich sah, wenn er an<br />
Dietrich<br />
Wachler<br />
Über Dichtung<br />
und Vision<br />
im Werk<br />
David<br />
Lindsays<br />
die Gegenwart, und noch mehr, wenn er<br />
an die Zukunft dachte.<br />
Es gibt noch andere – weitaus radikalere<br />
– Versuche, Ich und Werk zu identifizieren,<br />
die Person als schöpferisches,<br />
als dichterisches Ich zu begreifen, in<br />
dem das äußere – autobiographische –<br />
Ich fast völlig verschwindet. So schrieb<br />
Alfred Mombert, einer der entscheidenden<br />
Vorläufer und Anreger des deutschen<br />
Expressionismus, der, eigenem Zeugnis<br />
zufolge, seine Visionen stets aus der<br />
Höhe empfing: „Mein Leben in dieser<br />
Zeit – welches Mancher hier sich erwarten<br />
mag – wogte zwischen den gefesteten<br />
Ufer-Formen dieser Zeit. Soll ich die<br />
Kammern, Häuser, Städte, Länder, soll<br />
ich die Zeit-Genossen, Seelen aufzeichnen,<br />
in den ich wachte und schlief?“ 2<br />
Wenige Zeilen danach ist von „einem<br />
vielen gemeinsamen, heutigen Europäer-Leben“<br />
3 die Rede, dessen Ereignisse<br />
vor allem in häufigen Reisen bestanden.<br />
„Aber als ich: ein Student der Rechte:<br />
wandelnd zwischen ‚Tag und Nacht‘:<br />
mitten im Getöse der Straßen Berlins die<br />
Erscheinung des ‚Glühenden‘ sichtete; –<br />
als ich: ein badischer Gerichtsschreiber:<br />
im Sommer 1896 im Schwurgerichtssaal<br />
amtierend, während der Verhandlungen<br />
noch große Teile der ‚Schöpfung‘ dichtete<br />
; – als-ich: ein Deutscher Bücher-Autor:<br />
im Jahre 1901 vor dem Gedichtwerk<br />
‚Der Denker‘ die Inschrift-Tafel aufrichtete:<br />
‚Dem Sternbild Orion geweiht‘<br />
– war es einziges, überzeitlich – seligfreies,<br />
versenktes, erhobenes Sinnbild-<br />
Leben. War es Dichter-Leben. Das ist<br />
das Leben, das organisch, unaufhaltsam,<br />
jedes andere verdrängend, in mir und um<br />
mich, weitergewachsen ist. Es hat schaffend<br />
alle meine Zeiten und alle meine<br />
Räume gestaltet. Es hat mir die Welt: die<br />
‚Blüte des Chaos‘ ans Herz gelegt … Es<br />
hat endlich ‚Aeon‘, den ewigen Menschen,<br />
ins Körper-Reich eingeführt. So<br />
wurde die Geschichte meiner Dichtung<br />
die wahre, die einzige Geschichte meines<br />
Lebens.,“ 4<br />
ICH VERBERGE MICH<br />
IN DEN TIEFSTEN<br />
SCHLÜNDEN MEINER<br />
WERKE<br />
Der pathetische Sprachgestus, der<br />
dieses „Dichter-Leben“ für uns Heutige<br />
womöglich in noch weitere Ferne rückt<br />
als Nietzsches „Schicksal“ und „Verhängnis“,<br />
vermittelt andererseits doch<br />
klar genug, daß hier ein ernst gemeinter<br />
Versuch nicht nur der Selbstdeutung und<br />
Selbsterkenntnis, sondern auch einer<br />
Identifikation mit Werk und Aufgabe<br />
gemacht wurde, die so weit ging, daß<br />
der Dichter sagen konnte: „Ich verberge<br />
mich in den tiefsten Schlünden meiner<br />
Werke.“ 5<br />
Daß dieses Werk Momberts mit all<br />
seinen Abgründen und Visionen der<br />
Höhe wie das mancher seiner Zeitgenossen,<br />
der sogenannten „Kosmiker“ – etwa<br />
Theodor Däublers, Otto zur Lindes u. a.<br />
-, uns heute so fremd geworden ist, daß<br />
wir es fast vergessen zu haben scheinen,<br />
hängt sicherlich mit ganz nüchternen Erfahrungen<br />
zusammen, Erfahrungen einer<br />
Wirklichkeit, die eben nicht die Wirklichkeit<br />
Momberts und Däublers war<br />
und deren visionäre Ekstase und prophetische<br />
Attitüde heute seltsam veraltet, ja