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Fall 1 - Liquorentnahme - Tappe-online.de

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Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte)<br />

Wintersemester 2006/07<br />

<strong>Fall</strong> 1: <strong>Liquorentnahme</strong> (nach BVerfGE 16, 194)<br />

A ist Geschäftsführer und mit einem Geschäftsanteil von 24.000 € Hauptgesellschafter <strong>de</strong>r „Münchner<br />

Mo<strong>de</strong>llstrickwaren-GmbH“. Mitgesellschafter mit einem Anteil von 1.000 € ist seine mit ihm<br />

zusammenwohnen<strong>de</strong>, jetzt 89 Jahre alte Mutter. Da er als Geschäftsführer wie<strong>de</strong>rholt Fragebogen<br />

<strong>de</strong>r Handwerkskammer, zu <strong>de</strong>ren Beantwortung er sich nicht verpflichtet glaubte, nicht ordnungsgemäß<br />

ausgefüllt, son<strong>de</strong>rn – wie die Staatsanwaltschaft vortrug – „mit ungenügen<strong>de</strong>n, zynischen und<br />

teils völlig sinnlosen Vermerken versehen“ hatte, wur<strong>de</strong>n gegen die Gesellschaft zwei Bußgel<strong>de</strong>r von<br />

je 500 € verhängt; jedoch wur<strong>de</strong>n diese Bußgel<strong>de</strong>r, da A als gesetzlicher Vertreter <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

bereits früher <strong>de</strong>n sog. „Offenbarungseid“ geleistet hatte, als uneinbringlich nie<strong>de</strong>rgeschlagen. Weil<br />

A die Bußgeldbeschei<strong>de</strong> verschul<strong>de</strong>t und somit <strong>de</strong>r Gesellschaft einen Scha<strong>de</strong>n von über 1.000 €<br />

zugefügt habe, ist gegen ihn wegen Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) Anklage erhoben wor<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>r Hauptverhandlung ordnete <strong>de</strong>r Amtsrichter die ärztliche Untersuchung <strong>de</strong>s A zur Prüfung<br />

seiner Zurechnungsfähigkeit an. Der Gerichtsarzt stellte nach ambulanter Untersuchung einen Verdacht<br />

auf Erkrankung <strong>de</strong>s Zentralnervensystems fest; zur Klärung hielt er eine Blutuntersuchung und<br />

eine Untersuchung <strong>de</strong>s Liquor (Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit) für notwendig, wozu es eines<br />

Einstichs in <strong>de</strong>n Wirbelkanal mit einer langen Hohlna<strong>de</strong>l entwe<strong>de</strong>r im Bereich <strong>de</strong>r oberen Len<strong>de</strong>nwirbel<br />

(Lumbalpunktion) o<strong>de</strong>r im Nacken zwischen Schä<strong>de</strong>l und oberstem Halswirbel (Okzipitalpunktion)<br />

bedarf. Da A die Durchführung dieser Untersuchungen verweigerte, ordnete das Amtsgericht<br />

gestützt auf § 81a StPO ihre Vornahme durch die Nervenklinik <strong>de</strong>r Universität München an.<br />

Nach<strong>de</strong>m A alle Rechtsmittel gegen diese Anordnung ausgeschöpft hat, erhebt er Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>.<br />

Er ist <strong>de</strong>r Ansicht, die Anordnung verstoße gegen seine Grundrechte. Eine <strong>Liquorentnahme</strong><br />

sei ein riskanter Eingriff. Sie führe in 10 % aller Fälle zu Störungen <strong>de</strong>s Gesundheitszustan<strong>de</strong>s<br />

wie Schmerzen und Übelkeit und könne auch zu ernsten Komplikationen führen.<br />

Hat die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s A Aussicht auf Erfolg?<br />

§ 81a StPO lautet:<br />

„(1)<br />

1 Eine körperliche Untersuchung <strong>de</strong>s Beschuldigten darf zur Feststellung von Tatsachen angeordnet<br />

wer<strong>de</strong>n, die für das Verfahren von Be<strong>de</strong>utung sind. 2 Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben<br />

und an<strong>de</strong>re körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach <strong>de</strong>n Regeln <strong>de</strong>r ärztlichen Kunst zu<br />

Untersuchungszwecken vorgenommen wer<strong>de</strong>n, ohne Einwilligung <strong>de</strong>s Beschuldigten zulässig, wenn<br />

kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.<br />

(2) Die Anordnung steht <strong>de</strong>m Richter […] zu.“


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Lösung zu <strong>Fall</strong> 1: <strong>Liquorentnahme</strong> (nach BVerfGE 16, 194)<br />

Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s A ist erfolgreich, wenn sie zulässig und begrün<strong>de</strong>t ist.<br />

A. Zulässigkeit <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong><br />

I. Verfassungsrechtsweg<br />

Art. 93 I Nr. 4a GG i. V. m. § 13 Nr. 8a BVerfGG, § 90 ff. BVerfGG [+]<br />

II.<br />

Beteiligtenfähigkeit<br />

§ 90 I BVerfGG („Je<strong>de</strong>rmann“) [+]<br />

III.<br />

IV.<br />

Prozessfähigkeit<br />

Beschwer<strong>de</strong>gegenstand<br />

§ 90 I BVerfGG: Je<strong>de</strong>r Akt <strong>de</strong>r öffentlichen Gewalt<br />

hier: richterliche Anordnung <strong>de</strong>r Entnahme von Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit<br />

[+]<br />

V. Beschwer<strong>de</strong>befugnis<br />

1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung<br />

hier: Art. 2 II GG<br />

2. Beschwer<br />

a) selbst [+]<br />

b) gegenwärtig [+]<br />

c) unmittelbar [+]<br />

VI.<br />

Rechtswegerschöpfung<br />

§ 90 II BVerfGG (i. V. m. Art. 94 II, S. 2, 1. Alt. GG) [+]<br />

VII. Form<br />

§§ 23 I, 92 BVerfGG [+]<br />

VIII. Frist<br />

§ 93 BVerfGG [+]<br />

Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s A ist damit zulässig.


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B. Begrün<strong>de</strong>theit <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong><br />

Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s A ist begrün<strong>de</strong>t, wenn durch die Anordnung <strong>de</strong>s Richters in<br />

seine Grundrechte eingegriffen wird und dieser Eingriff nicht gerechtfertigt wer<strong>de</strong>n kann.<br />

I. Schutzbereich <strong>de</strong>s Art. 2 II GG.<br />

1. persönlicher Schutzbereich = „je<strong>de</strong>r“ [+]<br />

2. sachlicher Schutzbereich<br />

a) Leben [-]<br />

b) Körperliche Unversehrtheit<br />

= Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinn und im geistig-seelischen Bereich<br />

hier [+]<br />

II.<br />

Eingriff = Beeinträchtigung<br />

hier: klassischer Eingriffsbegriff<br />

1. final = zielgerichtet<br />

2. unmittelbar = ohne weitere Zwischenschritte<br />

3. Regelung = rechtsverbindliche Anordnung, die auf die Setzung einer Rechtsfolge<br />

gerichtet ist<br />

4. mit Befehl und Zwang durchsetzbar<br />

III.<br />

Rechtfertigung<br />

Gesetzesvorbehalt in Art. 2 II 2 GG: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes<br />

eingegriffen wer<strong>de</strong>n.“<br />

Der Eingriff ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn das grundrechtseinschränken<strong>de</strong> Gesetz<br />

verfassungsmäßig ist und das Gesetz im Einzelfall verfassungsgemäß angewandt wor<strong>de</strong>n<br />

ist.<br />

Hinweis:<br />

1. Gesetzliche Ermächtigung in § 81a StPO<br />

Die Verfassungsmäßigkeit <strong>de</strong>s Gesetzes und die <strong>de</strong>s Einzelaktes, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Gesetz beruht,<br />

wer<strong>de</strong>n getrennt geprüft!<br />

2. Verfassungsmäßigkeit <strong>de</strong>s Gesetzes<br />

a) formelle Verfassungsmäßigkeit<br />

aa)<br />

Gesetzgebungskompetenz:<br />

Art. 72 GG i. V. m. Art. 74 I Nr. 1 GG (Strafrecht und gerichtliches<br />

Verfahren): konkurrieren<strong>de</strong> Gesetzgebung [+]


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bb)<br />

Gesetzgebungsverfahren<br />

mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt (so wie regelmäßig bei <strong>de</strong>r Ü-<br />

berprüfung tatsächlich existieren<strong>de</strong>r Gesetze): [+]<br />

b) materielle Verfassungsmäßigkeit<br />

aa)<br />

bb)<br />

Zitiergebot, Art. 19 I 2 GG<br />

Das Zitiergebot fin<strong>de</strong>t keine Anwendung bei vorkonstitutionellen Gesetzen<br />

(BVerfGE 2, 121, 122f). Selbst wenn man davon ausgeht. dass die StPO (von<br />

1877) durch zahlreiche Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s nachkonstitutionellen<br />

Gesetzgebers übergegangen ist, gilt das Zitiergebot nicht, weil das BVerfG eine<br />

Ausnahme auch dann anerkennt, wenn ein Gesetz lediglich bereits gelten<strong>de</strong><br />

Grundrechtseinschränkungen unverän<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r mit geringfügigen Abweichungen<br />

wie<strong>de</strong>rholt (BVerfGE 5, 13, 16).<br />

Verhältnismäßigkeit <strong>de</strong>s Gesetzes<br />

Hinweis:<br />

Problematisch im Rahmen <strong>de</strong>r materiellen Verfassungsmäßigkeit ist stets die<br />

Verhältnismäßigkeit (hergeleitet aus <strong>de</strong>m Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG).<br />

Hier besteht Raum für die eigene Argumentation.<br />

Faustformel für <strong>de</strong>n Schwerpunkt <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeitsprüfung: <strong>Fall</strong>s <strong>de</strong>r<br />

Rechtsanwen<strong>de</strong>r (i. d. R. die Behör<strong>de</strong>) keine „Wahl“ hat, soll die ausführliche<br />

Prüfung <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit beim Gesetz selbst stattfin<strong>de</strong>n; besteht ein<br />

Ermessen o<strong>de</strong>r bedient sich das Gesetz unbestimmter Rechtsbegriffe, so liegt<br />

<strong>de</strong>r Schwerpunkt bei <strong>de</strong>r Überprüfung <strong>de</strong>s Einzelaktes<br />

(1) legitimer Zweck<br />

Strafverfolgungsbehör<strong>de</strong>n sollen Verfahrens- und Strafbarkeitshin<strong>de</strong>rnisse erkennen<br />

können [+].<br />

(2) Geeignetheit<br />

= das Mittel muss die Erreichung <strong>de</strong>s angestrebten Zwecks zumin<strong>de</strong>st för<strong>de</strong>rn,<br />

Dabei ist zu berücksichtigen, dass <strong>de</strong>m Gesetzgeber insoweit eine Einschätzungsprägorative<br />

zugebilligt wird. [+].<br />

(3) Erfor<strong>de</strong>rlichkeit<br />

= das Mittel ist erfor<strong>de</strong>rlich, wenn kein gleich geeignetes, aber mil<strong>de</strong>res Mittel<br />

zur Verfügung steht.<br />

(4) Angemessenheit<br />

Abwägung <strong>de</strong>r betroffenen Rechtsgüter<br />

hier: Allgemeininteresse an funktionieren<strong>de</strong>r Strafrechtspflege gegen körperliche Integrität;<br />

§ 81a StPO ist auch angemessen, weil die Norm für die Berücksichtigung atypischer <strong>Fall</strong>konstellationen<br />

Raum lässt.


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3. Verfassungsmäßigkeit <strong>de</strong>s Einzelakts<br />

a) Prüfungsmaßstab<br />

Das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht prüft nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.<br />

Es überprüft insbeson<strong>de</strong>re nicht, ob richtig unter die Merkmale<br />

<strong>de</strong>r Ermächtigungsgrundlage subsumiert wor<strong>de</strong>n ist.<br />

b) Verhältnismäßigkeit <strong>de</strong>s Einzelakts<br />

aa) legitimer Zweck<br />

Feststellung <strong>de</strong>r Schuldfähigkeit im konkreten <strong>Fall</strong> [+]<br />

bb) Geeignetheit<br />

cc) Erfor<strong>de</strong>rlichkeit<br />

dd) Angemessenheit<br />

Abwägung <strong>de</strong>r betroffenen Rechtsgüter<br />

Hier liegt ein schwerwiegen<strong>de</strong>r Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vor,<br />

an<strong>de</strong>rerseits ist das Strafverfahren von relativ geringer Be<strong>de</strong>utung (Bagatellsache).<br />

Die Rechtsanwendung ist daher unverhältnismäßig und daher verfassungswidrig.<br />

IV.<br />

Ergebnis: Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s A ist auch begrün<strong>de</strong>t.

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