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LAUTERBACH, BRINKER-MEYENDRIESCH, FESENFELD,<br />

GRIESHOP, GRUBER, KÄSER, LUDWIG, SCHLEGEL,<br />

SCHWARZ-GOVAERS, SPUREK (HRSG.)<br />

Bildungsabschlüsse –<br />

Bildungsanschlüsse –<br />

Bildungsmanagement<br />

3


CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek: Lauterbach, Brinker-Meyendriesch,<br />

Fesenfeld, Grieshop, Gruber, Käser, Ludwig, Schlegel, Schwarz-Govaers, Spurek<br />

(Hrsg.): Bildungsabschlüsse – Bildungsanschlüsse – Bildungsmanagement<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen<br />

Nationalbiografie. Detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter<br />

http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

1. Auflage 2012<br />

hpsmedia, Hungen<br />

hpsmedia<br />

Reihe Pflegewissenschaft<br />

An den Hafergärten 9<br />

35410 Hungen<br />

www.pflege-wissenschaft.info<br />

Layout&Satz:<br />

Herstellung und Druck:<br />

Books on Demand GmbH, Norderstedt<br />

ISBN 978-3-9814259-6-3<br />

Urheberrecht der deutschsprachigen Ausgabe hpsmedia, Reihe Pflegewissenschaft. Das<br />

Werk, einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung<br />

außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist unzulässig und strafbar. Die Wiedergabe<br />

von Gebrauchsnamen, Handelsnamen oder Warenbezeichnungen in diesem<br />

Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass<br />

solche Namen frei von Rechten Dritter seien und daher von jedermann genutzt werden<br />

dürfen. Eine entsprechende Kennzeichnung erfolgt nicht.<br />

4


INHALT<br />

Vorwort 9<br />

Andreas Lauterbach<br />

„Gute Pflege hat ihren Preis – bilden wir aus, wen wir brauchen?“ 11<br />

Karin Reiber, Maik Winter, Sascha Mosbacher<br />

Akademisierung der Pflegelehrer/-innen-Bildung in Baden-Württemberg<br />

der letzten 10 Jahre<br />

Eine empirische Zwischenbilanz zu Berufseinmündung, -verbleib und<br />

-entwicklung von Pflegepädagogen/-innen<br />

23<br />

Sven Karstens, Marco Roos, Joachim Szecsenyi, Cornelia Mahler<br />

Einschätzung der Relevanz verschiedener Handlungsfelderfür ein<br />

interprofessionelles Studienangebot<br />

Die Perspektive von Auszubildenden<br />

37<br />

Marietta Handgraaf, Wiebke Hoppstädter, Katrin Koch<br />

Wissen wohin es geht – Studienlaufbahnbegleitung, ein mehrdimensionales<br />

Konzept an der Hochschule für Gesundheit Bochum<br />

47<br />

Walter Anton<br />

Integrierte und modularisierte Altenpflege- und Heilerziehungspflegeausbildung<br />

(HEPAP)<br />

61<br />

Tobias Immenroth<br />

Kompetenzverlagerungen im Umfeld der Pflegeprofession 73<br />

5


Wolf-Dieter Lettau, Ina Struckmann, Renate von der Heyden,<br />

Simone Rechenbach, Annette Nauerth, Ursula Walkenhorst<br />

Gelingende Transitionen an der Schnittstelle Studium und Beruf 87<br />

Mathias Bertram, Anneke de Jong, Almut Hartenstein-Pinter,<br />

Cäcilia Krüger, Christel Bienstein<br />

„Geleitete Praxis“ – ein didaktisches Konzept im Studiengang<br />

Innovative Pflegepraxis<br />

105<br />

Sonja Feige, Daniela Weber<br />

Traineeprogramm Pflege und Therapie II am Robert-Bosch-<br />

Krankenhaus<br />

117<br />

Walter Anton, Jasmin Schön<br />

Implementierung gesundheitsfördernder Konzepte an einer<br />

Berufschule für Pflegeberufe<br />

133<br />

Bärbel Wesselborg, Karin Reiber<br />

Schulorganisation und Lehrergesundheit 143<br />

Katharina Lüftl, Andrea Kerres<br />

„Ich denk mal, dass andere Bereiche […] die mit Handkuss aufnehmen“<br />

Einschätzungen von Pflegedienstleitungen zum Einsatz von Absolventen<br />

des dualen Pflegestudiengangs in der direkten Pflege<br />

157<br />

Doris Gebhard, Eva Brunner<br />

HUROPEL – Human Rights, Older People and End of Life Care<br />

Ein innovatives Erasmus Intensivprogramm für Studierende aus dem<br />

Gesundheits- und Pflegebereich mit interdisziplinärem Fokus auf den<br />

letzten Abschnitt des Lebens<br />

179<br />

6


Michael Bossle, Irene Leitner<br />

Historisches Wissen erfahren, Werte vermitteln<br />

Das Vertiefungsprogramm BerufsbildMenschenbild für Pflege- und<br />

Sozialberufe am Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim (Ö)<br />

191<br />

Jana Wolf, Susanne Neumann<br />

Tiergestützte Aktivitäten mit Pflegeheimbewohnern<br />

Eine qualitative Analyse und ihre Implikation für die Altenpflegeausbildung<br />

205<br />

Anne Schmitt<br />

Übertragung und Gegenübertragung in der Kinderkrankenpflege 225<br />

Ines Buscher, Sven Reuther, Daniela Holle, Sabine Bartholomeyczik,<br />

Horst Christian Vollmar, Margareta Halek<br />

Das kollektive Lernen in Fallbesprechungen<br />

Theoretische Ansätze zur Reduktion herausfordernden Verhaltens bei<br />

Menschen mit Demenz im Rahmen des Projektes FallDem<br />

251<br />

Autoren 273<br />

7


VORWORT<br />

„Bildungsabschlüsse – Bildungsanschlüsse – Bildungsmanagement“ – diese Schlagworte<br />

verweisen auf den Rahmen für „<strong>Lernwelten</strong> <strong>2011</strong>“, den internationalen wissenschaftlichen<br />

Kongress für Pflege- und Gesundheitspädagogik.<br />

„<strong>Lernwelten</strong>“ bedeutet, Türen zu öffnen für vielfältige Lernerfahrungen. Die <strong>Lernwelten</strong>kongresse<br />

führen in die Welt des Lehrens und Lernens in den Pflege- und Gesundheitsberufen<br />

ein. Der <strong>Lernwelten</strong>kongress wird jährlich, möglichst abwechselnd<br />

zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführt. Das Ereignis fand<br />

<strong>2011</strong> an der Hochschule für Gesundheit Bochum statt. Der ursprünglich für die Pflegeausbildungen<br />

konzipierte Kongress findet inzwischen seine Erweiterung durch die Gesundheits-<br />

oder Therapieberufe wie Hebammenlehre, Ergotherapie, Logotherapie und<br />

Physiotherapie sowie Medizintechnik. Die Hochschule für Gesundheit Bochum stellte<br />

mit den Studienprogrammen für diese Gesundheitsberufe das ideale Lernumfeld dar.<br />

Neue Berufsgruppen etablieren sich, <strong>neu</strong>e Zugangswege im akademischen Bereich<br />

werden eröffnet, <strong>neu</strong>e Organisationsformen von Bildungseinrichtungen drängen sich<br />

auf. Der <strong>Kongressband</strong> zu „<strong>Lernwelten</strong> <strong>2011</strong>“ möchte diese bunte Welt durch einzelne<br />

Spotlights beleuchten:<br />

Andreas Lauterbach stellt im Einführungsreferat die Frage „Gute Pflege hat ihren Preis<br />

– bilden wir aus, wen wir brauchen?“ Die Frage kann auf die anderen Berufsgruppen<br />

übertragen werden. Ergänzend könnte die Frage lauten: „Wie und woher bekommen<br />

wir diejenigen, die wir brauchen?“ Lauterbach antwortet darauf mit vier möglichen<br />

Szenarios: 1. Steigerung der Ausbildungszahlen, 2. Import von Pflegekräften aus dem<br />

Ausland, 3. Akademisierung, 4. Steigerung der Attraktivität und Differenzierung der<br />

Niveaus. Die dokumentierten Vorträge zeigen Ideen auf, beschreiben Erfahrungen und<br />

Forschungsergebnisse zu den „Bildungsabschlüssen, Bildungsanschlüssen und zum<br />

Bildungsmanagement“, die diese Szenarios untermauern können.<br />

Neue „Bildungsabschlüsse“ können die Attraktivität für die Gesundheitsberufe steigern<br />

z. B. durch Abschlüsse mit interprofessionellem Studienangebot, durch Verknüpfung<br />

mehrerer Gesundheitsberufe oder durch Kompetenzverlagerung im Umfeld der<br />

Pflegeprofession. Neue „Bildungsanschlüsse“ müssen sorgfältig überwacht werden,<br />

um die Ausbildungszahlen für Auszubildende oder Studierende zu erhöhen, wie z. B.<br />

durch die gelingende Transition an der Schnittstelle Studium und Beruf oder durch<br />

die Erhebung zum Verbleib von Studierenden aus dualen Studiengängen. Auch der<br />

Berufseinstieg und -verbleib der akademisch ausgebildeten Pflegelehrer/-innen muss<br />

verstärkt unter die Lupe genommen werden. Neue Formen des „Bildungsmanagements“<br />

werden z.B. durch eine sorgfältig angeleitete Praxis, gesundheitsfördernde<br />

Konzepte an den Schulen oder durch kollektives Lernen in Fallbesprechungen ermöglicht.<br />

Speziell für die Kinderkrankenpflegeausbildung sind Fragen zur Beratungskompetenz<br />

zu klären.<br />

9


Der Bericht aus der Hochschule für Gesundheit Bochum bringt mit dem Thema „Studienlaufbahnbegleitung“<br />

die verschiedenen Schwerpunkte des Kongresses zusammen<br />

und zeigt auch die bespielhafte Kooperation zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen<br />

auf.<br />

Als Herausgeber/-innen zeichnen die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats von<br />

<strong>Lernwelten</strong> <strong>2011</strong>, die für die inhaltliche Qualität des internationalen Kongresses verantwortlich<br />

sind.<br />

Dr. Renate Schwarz-Govaers<br />

10


„Gute Pflege hat ihren Preis –<br />

bilden wir aus, wen wir<br />

brauchen?“<br />

Andreas Lauterbach<br />

In nahezu allen europäischen Ländern herrscht heutzutage ein Mangel an qualifi -<br />

zierten Pflegekräften. Auch in Deutschland wird sich dieser Mangel in den kommenden<br />

Jahren weiter verschärfen. Immer weniger junge Menschen entscheiden sich für den<br />

Pfl egeberuf; zudem zeigen internationale Studien, dass insbesondere die Pfl egenden<br />

in Deutschland deutlich unzufriedener mit ihrem Beruf sind. So gaben in der letzten<br />

europäischen Studie zur Berufszufriedenheit in der Pfl ege (NEXT-Study) gerade einmal<br />

46% der Pfl egenden an, mit ihrem Beruf zufrieden zu sein. Damit gehört Deutschland<br />

mit Polen und der Slowakei zu den Schlusslichtern, während beispielsweise unsere<br />

Nachbarländer Niederlande und Norwegen jeweils Werte von 80% und mehr erreichen.<br />

An der Spitze der Demotivatoren stehen die mangelnde Möglichkeit sich weiter<br />

zu qualifizieren und die Arbeitsplatzsituation. Dabei sind es gerade die jungen und die<br />

gut qualifi zierten Pfl egenden, die den Ausstieg ganz besonders erwägen: „Die motivierten<br />

Aussteiger sind jung, gut ausgebildet und streben nach berufl icher und damit<br />

persönlicher Weiterentwicklung“, stellt der Kollege Hasselhorn von der Uni Wuppertal<br />

dazu fest. Verschärft wird das Problem durch die Abwanderung ins besser bezahlte<br />

und attraktivere Ausland.<br />

EINLEITUNG<br />

Seit Mitte der <strong>neu</strong>nziger Jahre wächst die Arbeitsbelastung und die Standards in der<br />

pflegerischen Versorgung verändern sich nicht wesentlich. Der medizinische Dienst des<br />

Spitzenverbandes der Krankenkassen stellt hierzu fest: „es gibt nach wie vor zum Teil<br />

erhebliche Qualitätsdefizite“ 1 . Die Verbesserungen sind allenfalls formaler Natur (z. B.<br />

Fortbildungspläne), während die direkte Pflege „noch nicht zufriedenstellend“ (ebd.)<br />

ist, eine Beobachtung, die sich vollständig mit dem Befund der Gesundheitsökonomie<br />

deckt. Seit fünfzehn Jahren, so der Kölner Gesundheitswissenschaftler Karl Lauterbach,<br />

trockne die Pflege aus. Das Budget wird nicht mehr erhöht, die Belastung nimmt zu.<br />

Das alles sind Missstände, die seit Jahren bekannt sind:<br />

Bundestagsdrucksache 14/8822, bekannt als „Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation<br />

in der Bundesrepublik Deutschland“ 2 , Expertise von Ruth Schwerdt:<br />

Austrocknung und Unterernährung in den Pflegeheimen, zu wenig Vorsorge gegen<br />

Wundliegen, zu selten gewechselte Windeln, Verabreichung von Sedativa „aus arbeit-<br />

11


ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

sökonomischen Gründen“, Gewalt gegen Bewohner mit „dem Ziel, ihren Widerstand<br />

zu brechen, vor allem um Arbeiten schneller zu erledigen“ – diese Befunde überraschen<br />

umso weniger, als sie ein Jahr zu vor im „Dritten Bericht zur Lage der älteren<br />

Generation“ in etwas allgemeineren Worten auch schon beschrieben waren. Auf Seite<br />

275 des jüngsten Berichts findet sich allerdings ein Hinweis, der einer Erläuterung<br />

bedarf. „Nicht rechtzeitig umlagern“ 3 , steht da – auch dies sei eine gängige Form der<br />

Vernachlässigung. Man muss ein wenig über Altenpflege wissen, um zu ahnen, welche<br />

Barbarei in diesen drei Wörtern beschrieben wird. „Nicht rechtzeitig umlagern“,<br />

das bedeutet nichts anderes, als wehrlose Menschen furchtbar zu quälen. So klar wie<br />

die Missstände benennt der aktuelle Altenbericht auch ihre Ursache: „zu wenig oder<br />

mangelhaft qualifiziertes Personal“.<br />

Der Pflegealltag in Deutschland ist vor allem das Ergebnis einer versäumten Diskussion<br />

um die Verteilung der sichtlich knapper werdenden Mittel: Ein Intensivpatient<br />

verursacht, grob geschätzt, an jedem seiner letzten Lebenstage so viele Kosten wie<br />

eine gut geführte Altenpflegestation. Im Extremfall öffnen Intensivpflegende im Viertelstundentakt<br />

Ampullen, deren jede das Monatsgehalt einer Altenpflegerin kostet.<br />

Solche Berechnungen anzustellen gilt hierzulande – vorsichtig formuliert – als unfein.<br />

In Fragen von Leben und Tod darf Geld keine Rolle spielen. „Wenn das Überleben eines<br />

Patienten von ökonomischen Kriterien abhängt, stehen wir ethisch da, wo die Nazis<br />

aufgehört haben“, schrieb Frank Ulrich Montgomery, der langjährige Vorsitzende der<br />

Ärztevereinigung Marburger Bund. In Wirklichkeit ist dieser Punkt längst erreicht. Ob<br />

Menschen in der Altenpflege länger oder kürzer überleben, ob sie in Würde sterben<br />

oder unter furchtbaren Schmerzen langsam, das hängt schon seit vielen Jahren nicht<br />

allein von ihrem Gesundheitszustand ab, sondern ganz entscheidend auch von ihrem<br />

Vermögen und dem Charakter der gewählten Einrichtung.<br />

Diese Befunde sind nicht <strong>neu</strong> – und sie sind jährlich in den Berichten der Fachverbände<br />

zu lesen. Doch wie haben wir auf diese mittlerweile sieben Jahre alten Befunde<br />

reagiert? Mittlerweile liegen eine Reihe von Vorschlägen vor, wir das Problem gelöst<br />

werden kann.<br />

Schauen wir uns vier zentrale Lösungsvorschläge zur Pflegepolitik genauer an:<br />

SZENARIO 1: STEIGERUNG DER AUSBILDUNGSZAHLEN<br />

Die OECD-Studie „International Migration Outlook 2007“ kommt zu dem Ergebnis,<br />

dass Deutschland sehr viel schneller und in größerem Umfang als die meisten anderen<br />

OECD-Länder auf eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung wird reagieren müssen.<br />

Doch das Image der Pflegeberufe ist eher schlecht: 51% der Pflegenden geben ihrem<br />

Beruf schlechte Noten. Lediglich die Slowakei steht im europäischen Vergleich noch<br />

schlechter da; die Mehrheit der Pflegenden (63%) glaubt, dass sich die Attraktivität<br />

bis 2015 weiter verschlechtern wird. Man kann zu Recht von einem Mangel an qua-<br />

12


ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

lifiziertem Pflegepersonal in Deutschland sprechen: Der Deutsche Berufsverband für<br />

Pflegeberufe (DBfK) hierzu: Der „War for Talents“ hat längst begonnen.<br />

Einige aktuelle Zahlen: Für den Westen Deutschlands wird ein Rückgang der Zahlen der<br />

Schulabsolventen von 12,3 Millionen (2005) auf 10 Millionen (2020) erwartet 4 . Das ist<br />

ein Rückgang um knapp 18%; dieser fällt im Osten noch deutlicher aus: Im Jahr 2012<br />

werden wir einen Rückgang von 21% gegenüber 2005 verzeichnen – bei steigendem<br />

Anteil alter und hochalter Menschen. Es stehen also weniger junge Menschen zur Verfügung,<br />

die eine Ausbildung beginnen können – bei steigender Attraktivität anderer<br />

Berufsbilder: „War for Talents“.<br />

Abb. 1<br />

Die Prognosen für den Bedarf an Pflegefachkräften sind ebenso eindrucksvoll, wenn<br />

sie auch je nach Studie variieren. PricewaterhouseCoopers hat in Verbindung mit dem<br />

Institut WifOR errechnet, dass im Jahr 2030 von 400.000 fehlenden Pflegekräften und<br />

950.000 fehlenden Fachkräften im Gesundheitswesen insgesamt ausgegangen werden<br />

kann 5 . Dem Statistischen Bundesamt zufolge werden im Jahr 2025 etwa 152.000<br />

Pflegekräfte in Krankenhäusern und in der Altenpflege fehlen. Das Institut für Gesundheitssystemforschung<br />

in Kiel hat 2007 errechnet, dass sich der Bedarf an Pflegekräften<br />

13


ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

in der Pflegeversicherung bis 2050 mehr als verdoppeln wird, von rund 509.000 auf<br />

rund 1,3 Millionen. Im Jahr 2000 waren knapp ein Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen<br />

Alter in der Versorgung Pflegebedürftiger beschäftigt. 2050 werden es<br />

3,6 Prozent sein müssen.<br />

Dahingegen ist die Zahl der Ausbildungsplätze in der Krankenpflege seit Jahren vergleichsweise<br />

konstant: Sie liegt bei knapp 70.000. In der Altenpflege stellt sich die<br />

Situation anders dar, hier lassen sich die gravierendsten Veränderungen erkennen:<br />

die Zahl der Ausbildungsplätze stieg hier von 16.782 im Jahr 1999 auf 32.315 im Jahr<br />

2007 an. Die Zahlen in der Altenpflegeausbildung haben sich also nahezu verdoppelt! 6<br />

Machen wir hierzu eine Modellrechnung auf: Berücksichtigt man aktuelle Trends in der<br />

Ausbildungs- und Bewerbersituation, wird die Anzahl der Absolvent/-innen bis 2025<br />

weiter sinken, von jetzt ca. 102.000/Jahr auf ca. 83.000/Jahr. Gleichzeitig steigt der<br />

Bedarf an, sodass in nur <strong>neu</strong>n Jahren bundesweit knapp 100.000 Pflegekräfte zusätzlich<br />

fehlen werden. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass die Ausbildungskapazitäten<br />

schon jetzt um 15%, ab 2017 um weitere 15% erhöht werden müssten – ohne Berücksichtigung<br />

der in der Altenpflege häufigen Fluktuation.<br />

Jahr<br />

Ausbildungsplätze<br />

Pflege-Altenpflege<br />

Ausbildungslücke<br />

stat. Bundesamt<br />

PriceWaterhouse<br />

Coopers<br />

2012 70.000+32.000 11.000 39.930<br />

2014 68.000+32.000 14.000 50.820<br />

2016 62.000+30.000 20.000 72.600<br />

2018 60.000+28.000 24.000 87.120<br />

2020 57.000+26.000 29.000 105.270<br />

Summe 98.000 355.740<br />

Tab. 1: Eigene Berechnung<br />

Im Jahr 2025 werden damit nach Angaben des Statistischen Bundesamtes und des Bundesinstitut<br />

für Berufsbildung (BIBB) rund 152.000 Beschäftigte in Pflegeberufen fehlen.<br />

In den Jahren 2000 bis 2008 sanken die Ausbildungszahlen in den Pflegeberufen im<br />

Zuge des allgemeinen Stellenabbaus und der Änderung der Finanzierungsgrundlagen<br />

kontinuierlich ab. Absolvierten 2000 bundesweit noch 69.403 Menschen eine Pflegeausbildung,<br />

waren dies 2008 nur noch 62.486. Dies entspricht einem Minus von<br />

10%, bei steigenden Patientenzahlen. Wir nennen dies eine typische Demografiefalle.<br />

Der eine Faktor ist die Morbidität einer alternden Bevölkerung mit einer steigenden<br />

Nachfrage nach Medizin und Pflege, der andere Faktor ist die Demografie mit weniger<br />

jüngeren Menschen, womit sich das Arbeitskräftepotenzial reduziert.<br />

14


ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

Was bedeutet also Szenario 1? Zu den bestehenden 102.000 Ausbildungsplätzen sind<br />

künftig zwischen rund 6.000 und 13.000 zusätzlich jährlich notwendig, um den Bedarf<br />

zu decken. Dies zieht eine Ausweitung der Ausbildungskapazitäten von mehr als 10%<br />

nach sich.<br />

SZENARIO 2: IMPORT VON ZUSÄTZLICHEN PFLEGEKRÄFTEN<br />

AUS DEM AUSLAND<br />

Seit dem 1. Mai <strong>2011</strong> ist das EU-Gesetz in Kraft: Seitdem könnten 73 Millionen Osteuropäer<br />

auch in Deutschland jede ihnen angebotene Stelle legal annehmen. Diese<br />

Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet, dass jeder Bürger eines Mitgliedsstaates der Europäischen<br />

Union in jedem anderen Mitgliedsstaat unter den gleichen Voraussetzungen<br />

arbeiten darf wie ein Bürger des betreffenden Staates.<br />

Nicht erst seitdem wird von verschiedenen Seiten gefordert, die Situation durch ausländische<br />

Fachkräfte zu entspannen. Dies mag allenfalls partiell zur Entspannung führen.<br />

Die EU-Kommission weist jedoch darauf hin, dass 2020 den europäischen Ländern bis<br />

zu zwei Millionen Arbeitskräfte im Gesundheitssektor fehlen könnten, eine Auswirkung<br />

der Alterung auch in anderen europäischen Bevölkerungen – mit der Folge, dass der<br />

„Import“ von Fachpersonal deutlich hinter den Erwartungen zurück bleiben wird.<br />

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) hat in diesem Zusammenhang kürzlich<br />

die Zuwanderung von Pflegefachkräften aus EU-Krisenländern wie Spanien oder<br />

Portugal befürwortet. „In Spanien gibt es eine Arbeitslosigkeit von 20 Prozent und in<br />

Deutschland Fachkräftemangel.“ Bedenken gegen den Zuzug qualifizierter Pflegekräfte<br />

könne er nicht nachvollziehen. Seine Partei wolle die Zuwanderung vielmehr erleichtern.<br />

„Das sichert auch unseren Wohlstand“, so Bahr. Demgegenüber hat der Präsident<br />

des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, das Anwerben von Fachkräften aus<br />

finanziell angeschlagenen europäischen Ländern völlig zu Recht als „zutiefst unethisch<br />

und unmoralisch“ bezeichnet. Tatsächlich: Es kann keine Lösung sein, den Mangel an<br />

qualifizierten Pflegefachkräften durch gezielte Abwerbung noch zu forcieren. Gerade<br />

diejenigen Länder, die im Focus solcher Abwerbebemühungen stehen (Spanien, Italien,<br />

Griechenland, Portugal) sind bei der Quote von Pflegefachpersonal europäische<br />

Schlusslichter. Die von manchen erwartete Völkerwanderung in die Berufe mit Fachkräftemangel<br />

ist aber bislang ausgeblieben. In der Vergangenheit sind pro Jahr etwa<br />

250.000 Menschen aus den <strong>neu</strong>en EU-Staaten in die 15 alten EU-Staaten eingewandert.<br />

Während der Finanzkrise hat sich diese Zahl in etwa halbiert, nun pendelt sie<br />

sich wieder auf dem üblichen Niveau ein. Es zeigt sich, dass etwa 135.000 Menschen<br />

pro Jahr nach Deutschland kommen 7 . Die Statistiken zeigen zudem deutlich mehr<br />

Einwanderer als tatsächlich ankommen, weil viele, die bereits seit Jahren zugezogen<br />

sind und hier arbeiten, sich nun offiziell anmelden.<br />

15


ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

Welche Fragestellungen in diesem Zusammenhang auf uns zukommen, liegt auf der<br />

Hand:<br />

• Pflege, besonders Altenpflege oder Pflege von Demenzpatienten, ist eine sprachintensive<br />

Tätigkeit, die hoher kommunikativer Kompetenz bedarf. Gleiches gilt für<br />

klinische Pflege. Kommunikationsprobleme und daraus resultierende Versorgungsfehler<br />

stehen in vielen Kliniken mittlerweile unter den Top 3 der kritischen Ereignisse.<br />

• Wer soll primär die Versorgung von älteren Menschen, die im 2. Weltkrieg traumatisiert<br />

aus Osteuropa geflohen sind, übernehmen? „Bei ihnen wird das Trauma der<br />

Vergangenheit von Flucht und Vertreibung beim Hören der Fremdsprachen wieder<br />

aufleben“, erklärt der Vorstand der deutschen Hospizstiftung, Eugen Brysch.<br />

• Durch die Zunahme ausländischer Pflegekräfte und Auszubildender entstehen völlig<br />

<strong>neu</strong>e Herausforderungen für die „kultursensible Pflege“ (die sich ja eigentlich den<br />

Patient/-innen mit Migrationshintergrund verschrieben hatte): So hat das Land<br />

Baden-Württemberg 8 kürzlich eine Modellinitiative zur Altenpflegehilfeausbildung<br />

speziell für Bewerber/-innen mit Migrationshintergrund ins Leben gerufen. Hintergrund:<br />

Mittlerweile verfügen (je nach Ausbildung) zwischen 7 und 18% der<br />

Bewerber/-innen über einen Migrationshintergrund und weisen nicht ausreichende<br />

Sprachkenntnisse auf.<br />

Schulart<br />

Gesamtschülerzahl<br />

davon<br />

ausländisch<br />

Anteil<br />

Schulen für Altenpflegehilfe 957 169 18%<br />

Schulen für Altenpflege 7.323 879 12%<br />

Schulen für Krankenpflegehilfe 157 27 17%<br />

Schulen für Krankenpflege 7.057 486 7%<br />

Tab. 2<br />

In der EU-Studie „PROMeTHEUS“ 9 zeigt sich vor allem eines: Bei der Mobilität von<br />

Gesundheitspersonal in der EU ist der Zuzug geringer als erwartet 10 , es sind eher die<br />

Jungen, die kommen – und sie kommen nur für einen bestimmten, eher kürzeren Zeitraum,<br />

vor allem nach Deutschland und Österreich – während die „östlichen Länder“<br />

vor allem einen Einbruch in der Population der jungen Frauen zu verzeichnen haben.<br />

Szenario 2, „Import von Pflegepersonal“, wird nur für eine Teilkompensation des<br />

Fachkräftemangels sorgen, aber gleichzeitig <strong>neu</strong>e Herausforderungen mit sich<br />

bringen.<br />

16


ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

Hierzu einige Zahlen: Der Mindestlohn im Pflegebereich liegt bei 8,50 Euro (West) (dies<br />

sind ca. 1360 Euro pro Monat) und damit gut 2 Euro unter dem der Gebäudereiniger.<br />

SZENARIO 3: AKADEMISIERUNG<br />

Unter Akademisierung verstehen wir die „Anhebung der beruflichen Ausbildung auf<br />

Hochschulniveau bzw. die Verlagerung von Erstausbildungen in den tertiären Bildungssektor“<br />

11 . Akademisierung wird in der Pflege vorwiegend als Professionalisierung der<br />

Disziplin verstanden. Es geht also primär um ein berufspolitisches bzw. um ein bildungsstrukturelles<br />

Ziel. Was wird unter der Professionalisierung der Pflege verstanden?<br />

Professionalisierung ist eine Sammelbezeichnung für alle Arten von Prozessen, in denen<br />

Berufe Merkmale einer Profession erwerben oder zu erwerben versuchen. Allerdings<br />

gibt es keine einheitliche Auffassung darüber, was eine Profession ausmacht 12 . Pflegepersonen<br />

gelten als Semiprofessionen, weil u.a. ihre Ausbildung kürzer ist, ihre Tätigkeiten<br />

nicht klar abgegrenzt sind und ihr Wissen nicht den genannten Anforderungen<br />

entspricht. Akademisierung ist also vor allem auch eines: Attraktivitätssteigerung und<br />

Profilierung gegenüber anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Verbunden mit<br />

der Professionalisierung der Pflege sind Erwartungen und Hoffnungen, die sich nicht<br />

nur auf die Bewältigung <strong>neu</strong>er Herausforderungen beziehen, sondern auch auf Chancen<br />

zur Aufwertung, verbesserten gesellschaftlichen Anerkennens, autonomen Gestaltung<br />

und Eigenständigkeit der beruflich Handelnden 13 . Dies wird nicht widerspruchslos<br />

hingenommen: So formuliert Werner Bauer für die Verbindung der Schweizer Ärzte<br />

(FMH) die Kritik wie folgt: „Solche Prozesse sind nicht einfach, sie wecken Widerstände,<br />

führen über Um- und Irrwege und brauchen Zeit.“ 14<br />

In Deutschland trafen im Dezember 2009 der Präsident der Ärztekammer Westfalen-<br />

Lippe, Theodor Windhorst, und der Leiter des Gesundheitscampus Nordrhein-Westfalen,<br />

Andreas Meyer-Falcke, im Rahmen einer Podiumsdiskussion aufeinander. Der<br />

Ärztelobbyist kritisierte die akademischen Ausbildungen der Pflegeberufe und forderte:<br />

„Stecken Sie das viele Geld lieber in die Ausbildung der Ärzte und nicht in ein akademisiertes<br />

Proletariat.“ Windhorst ist Chirurg, Wissenschaftler und Chefarzt, weiß also,<br />

wovon er redet. Die Ärztekammer war in der Folge im Klärung bemüht: Eigentlich habe<br />

der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe ja gemeint, dass im derzeitigen Pflegenotstand<br />

die Akademisierung in der Masse gar nichts bringen würde, man bräuchte<br />

doch jetzt das qualifizierte Personal in den Kliniken.<br />

Noch werden langjährige Entwicklungen, wie beispielsweise die Möglichkeit der primärqualifizierenden<br />

Studiengänge, gesellschaftlich fast gar nicht wahrgenommen.<br />

„Anders als in vielen anderen Industrienationen bleiben die Fähigkeiten und Potentiale<br />

der Pflege hierzulande fast ungenutzt. Starre Hierarchien, Festhalten an traditioneller<br />

Rollenverteilung und politische Halbherzigkeit führen nach wie vor zu Unter-, Fehlund<br />

Überversorgung“, schreibt Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für<br />

Pflegeberufe.<br />

17


ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

Krankenpflege: Bedarfseinschätzung hochschulisch Qualifizierte 2007<br />

Pharma & Gesundheit | Pflege & Betreuung<br />

Bedarfseinschätzung für hochschulisch qualifizierte Arbeitskräfte in der Krankenpflege 2007 (in Prozent)<br />

Anteil der Befragten in 1<br />

60,0<br />

50,0<br />

50,8<br />

40,0<br />

36,7<br />

30,0<br />

20,0<br />

10,0<br />

0,0<br />

9,8<br />

2,7<br />

0,4 0,4<br />

Weniger als 5% 6-10% 11-25% 26-50% 51-75% Größer als 76% Fehlend<br />

Abb. 2<br />

Selbst in unserer Disziplin ist noch offen, wohin die Reise gehen wird:<br />

• Bleibt alles, wie es ist? Wir haben eine dreijährige (vielleicht generalistische) Ausbildung<br />

mit parallelen Bachelor- und Masterstudiengängen, Fachweiterbildungen und<br />

Promotionskollegs: Dieses Modell weist zahlreiche Inkompatibilitäten auf, hier seien<br />

u.a. die Frage nach der Hierarchisierung von Qualifikationsniveaus, Lohnniveaus der<br />

Absolvent/-innen, Tätigkeitsprofile und Karrierewege genannt.<br />

• Pflege wird grundständig akademisiert. Denkbar wäre eine Zweijährige Berufsausbildung<br />

„Pflegeassistenz“ mit Möglichkeit zum Erwerb der Fachhochschulreife, dem<br />

Bachelor-Studium „Pflege“ als generalistische Grundqualifizierung, dem Master-<br />

Studium „Advanced Nursing Practitioner“ (ANP) sowie dem Promotionsstudium<br />

„Pflegewissenschaften“. Offen bleiben auch hier Fragen wie dem Stellenwert der<br />

Fachweiterbildungen sowie die bereits eben genannten<br />

• Übergangslösung: Zweijährige Berufsausbildung „Pfl egeassistenz“ (mit Anrechnungsmöglichkeit<br />

auf die dreijährige Ausbildung), parallel dreijährige Berufsausbildung<br />

(ggf. auch als generalistische Ausbildung zur „Pflegefachkraft“ und mit<br />

Möglichkeit zum Erwerb der Fachhochschulreife!), dem Bachelor-Studium „Pflege“<br />

als generalistische Grundqualifizierung, dem Master-Studium „Advanced Nursing<br />

Practitioner“ (ANP) sowie dem Promotionsstudium „Pflegewissenschaften“.<br />

18


ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

Zurzeit sind in Deutschland mehrere Modellversuche zur akademisierten Pflegebildung,<br />

u.a. hier in Bochum in der Erprobung. Bis zum Jahr 2016 werden Evaluationsergebnisse<br />

dieser Modelle vorliegen. Strittig ist, wie hoch der Anteil akademisierter Pflegekräfte<br />

an einer Ausbildungskohorte sein sollten. Häufig wird hier die Zahl 10% genannt;<br />

diese beruht auf einem Sachverständigengutachten von Görres, das dieser 2008 für<br />

die Bundesregierung erstellt hat. 15<br />

Szenario 4 bedeutet, die noch offenen Fragen in der hochschulischen Ausbildung<br />

dringend zu lösen, insbesondere die offene Frage der Geltung der veralteten Ausbildungsrichtlinien<br />

im Hinblick auf deren Inkompatibilität hochschulischer Ausbildungen<br />

zu hinterfragen. Hochschulische Ausbildungen bedürfen freier Curricula! Es bedeutet<br />

aber auch den Ausbau hochschulischer Infrastrukturen und damit die Schaffung von<br />

3.000–6.000 Studienplätzen in Deutschland.<br />

SZENARIO 4: STEIGERUNG DER ATTRAKTIVITÄT UND<br />

DIFFERENZIERUNG DER NIVEAUS DER PFLEGEBERUFE<br />

Die Verbundpartner des vom BMBF geförderten Forschungsprojektes „Berufe im Schatten“<br />

haben die These aufgestellt, dass es manche Dienstleistungsberufe gibt, die nicht<br />

in dem Maße wertgeschätzt werden, wie sie eigentlich sollten. Unterschätzt werden<br />

Fachlichkeit und Komplexität ihrer Tätigkeiten – die meist mit der Interaktion mit<br />

Menschen in Verbindung stehen. Diese Dienstleistungsberufe finden sich z. B. in der<br />

Pflege, im Einzelhandel und im Friseurhandwerk. „Pflegen kann jeder“ lautet eine gern<br />

zitierte Aussage – kochen kann aber auch jeder, oder? Den Alltag schaffen die meisten<br />

von uns ganz gut – schlimmstenfalls gibt es Tiefkühlkost und Mikrowelle. Aber wenn<br />

es richtig gut werden soll – dann wenden wir uns doch an die Experten. Von unseren<br />

4-Sterne-Italienern und der new professional cuisine erwarten wir dann höchste handwerkliche<br />

Kompetenz. Warum? Weil die meisten Berufe eine innere Differenzierung<br />

ihrer Berufsniveaus entwickelt haben.<br />

Machen wir uns nichts vor: Die Arbeits- und Personalsituation in der Pflege beruht<br />

auf einer prekären Situation: Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch an den Beruf<br />

und das Gelernte einerseits, die Erfahrungen der alltäglichen Praxis andererseits gefährdet<br />

die Qualität der Pflege und demotiviert Pflegefachpersonal. Die gelungene<br />

Interaktion zwischen Pflegenden und Gepflegten ist der Kernbereich pflegerischen<br />

Wirkens. In der Realität ist der zeitliche und strukturelle Spielraum für eine dergestalt<br />

qualitativ am Stand der Kunst orientierte Pflege nur mehr partiell garantiert: Aus dem<br />

Arbeitsalltag erwächst eine Ablauf- und Pflegeorganisation, die sich nicht an den von<br />

den Fachkräften selbst als fachlich vertretbar angesehenen, sondern an der Effizienz<br />

der betrieblichen Abläufe orientiert. 16<br />

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ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

Abb. 3<br />

Diese Effizienzorientierung pflegerischen Wirkens bedeutet mehr, als zu wenig für<br />

die Kranken tun zu können. Sie zieht nach sich, Fehler durch Überlastung des Personals<br />

zu akzeptieren, zu kalkulieren, absichtlich zu riskieren, Hintern abwischen im<br />

Eilschritt, Kranke versorgen im Akkord. Da bleibt keine Zeit für ein betreuendes oder<br />

tröstendes Gespräch. Was zählt sind teure Apparate und Chemie. Nächstenliebe hat<br />

keine Krankenkasse im Leistungskatalog und kein Pharmavertreter im Musterkoffer.<br />

Während Krankenkassen- und Pharmapaläste in Prunk und Luxus erglänzen, machen<br />

beinahe täglich Horrorberichte über unzumutbare Zustände in Pflegeheimen die Runde.<br />

Wechselschichten, Wochenenddienste und Nachtarbeit bedeuten für das Krankenpflegepersonal<br />

nicht selten den fast völligen Ausschluss vom sozialen Leben, sind<br />

gesundheits- und familienzersetzend.<br />

Einige statistische Daten: 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten in der Krankenpflege<br />

und 48 Prozent der Vollzeitbeschäftigten in der Altenpflege verdienen einen monatlichen<br />

Bruttolohn von unter 1500 Euro. Wiederum 20 Prozent der Beschäftigten in<br />

der Krankenpflege und 24 Prozent der Beschäftigten in der Altenpflege verdienen<br />

monatlich weniger als 2000 Euro. Einkommen von unter 2000 Euro werden vom DGB<br />

als Prekärlöhne eingestuft, unter 1500 Euro als Armutslöhne17 – es überrascht zudem<br />

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ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

nicht, dass die 12 Prozent Männer im Pflegeberuf im Schnitt mehr verdienen. 50 Prozent<br />

der Altenpflegekräfte beenden ihre Tätigkeit nach dreieinhalb Jahren (nach Beginn<br />

der Erstbeschäftigung). Die Wahrscheinlichkeit für Altenpfleger/-innen, ihren Beruf zu<br />

verlassen, liegt mehr als dreimal so hoch wie für Beschäftigte in der Krankenpflege.18<br />

Die Altenpflege entwickelt sich also zum Problembereich; dies wird durch zahlreiche<br />

weitere Studien gestützt.19<br />

Die NEXT-Studie liefert uns zusätzliche Aufschlüsse über den Wunsch, den Pflegeberuf<br />

zu verlassen. Demnach geben knapp 9 Prozent der Befragten an, „mehrmals wöchentlich<br />

oder häufiger“ über einen Berufsausstieg nachzudenken, weitere 10 Prozent<br />

machen dies „mehrfach monatlich“. 34 Prozent beschäftigten sich „mehrmals im<br />

Jahr“ mit diesem Gedanken und 47 Prozent erwogen dies „nie“.20 Und wie in vielen<br />

Berufsfelder gilt: knapp 1/3 der Beschäftigten geht in den kommenden 10 Jahren in<br />

Ruhestand21, der demographische Wandel der Berufskohorte wirkt damit problemverschärfend.<br />

80% der Pflegenden sind Frauen – nicht weil Männer den Beruf qua natura<br />

scheuen, sondern weil Karriere- und Verdienstchancen abschrecken. Vergessen wir<br />

nicht: 8,50 Euro, der Mindestlohn in der Pflege ist ein Lohn, der als Verdienst unterhalb<br />

der Armutsgrenze definiert ist.<br />

Conclusio: Es ist notwendig, verschiedene Qualifi kationsniveaus, verschiedene Tätigkeitsbereiche<br />

sowie Berufsbilder zu schaffen, die den Anforderungen an moderne<br />

Berufe gerecht werden und für junge Menschen attraktiv sind.<br />

LITERATUR<br />

AVR – Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des deutschen Caritasverbandes 2009. http://<br />

www.schiering.org/arhilfen/gesetz/avr/avr.htm<br />

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.) 2009: Sicherheit und Gesundheit bei der<br />

Arbeit 2007 – Unfallverhütungsbericht Arbeit. Dortmund/Berlin/Dresden: BAuA.<br />

Behrens, Johann/Horbach, Annegret/Müller, Rolf 2009: Forschungsstudie zur Verweildauer in Pfl e-<br />

geberufen in Rheinland-Pfalz (ViPb). Abschlussbericht. Halle (Saale): Martin-Luther-Universität Halle<br />

Wittenberg.<br />

BGW (Hrsg.) 2007: Sieht die Pflege bald alt aus? BGW-Pflegereport 2007. Hamburg: BGW.<br />

Hasselhorn, Hans-Martin/Tackenberg, Peter/Büscher, Andreas/Stelzig, Stephanie/Kümmerling, Angelika/<br />

Müller, Bernd Hans 2005: Wunsch nach Berufssaustieg bei Pflegepersonal in Deutschland. In: Hasselhorn,<br />

H.-M. et al.: Berufsausstieg bei Pflegepersonal. Arbeitsbedingungen und beabsichtigter Berufsausstieg<br />

bei Pflegepersonal in Deutschland und Europa. Dortmund/Berlin/Dresden: BAuA.<br />

Statistisches Bundesamt (Hrsg.) 2008: Pfl egestatistik. Pfl ege im Rahmen der Pfl egeversicherung –<br />

Deutschlandergebnisse Dezember 2007. Wiesbaden: destatis.<br />

Verdi (Hrsg.) 2008: Arbeitsqualität aus der Sicht von Krankenpfleger/innen. http://www.verdi-gute-arbeit.de/meldung_volltext.php?si=4a251a6a51a7f&id=49d5c6613279f&akt=branchen&view=&lang=1<br />

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ANDREAS LAUTERBACH: „GUTE PFLEGE HAT IHREN PREIS – BILDEN WIR AUS, WEN WIR BRAUCHEN?“<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 MDS-Qualitätsberichte informieren über Pflegequalität bundesweit. Online im Internet: http://www.<br />

mds-ev.de/Qualitaetsbericht%20des%20MDS.htm in der Version vom 24.8.<strong>2011</strong><br />

2 Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Risiken, Lebensqualität<br />

und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen<br />

und Stellungnahme der Bundesregierung. Online im Internet: http://dipbt.bundestag.de/dip21/<br />

btd/14/088/1408822.pdf in der Version vom 18.4.2002<br />

3 Seite 275<br />

4 Vorausberechnung der Schüler- und Absolventenzahlen 2005 bis 2020, KMK-Konferenz: http://www.<br />

kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2007/2007_05_01-Vorausberechnung-Schueler-<br />

Absolventen-05-2020.pdf<br />

5 Fachkräftemangel – Stationärer und ambulanter Bereich bis zum Jahr 2030. PwC in Zusammenarbeit<br />

mit WifOR. http://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/fachkraeftemangel-stationaererund-ambulanter-bereich-bis-zum-jahr-2030.jhtml<br />

6 Die Wertschätzung für die Pflegeberufe im Spiegel der Statistik. Christina Goesmann und Kerstin Nölle,<br />

TU Dortmund 2009<br />

7 http://www.badische-zeitung.de/wirtschaft-3/es-wird-keine-voelkerwanderung-geben--41875186.<br />

html<br />

8 Vgl.: „Entschließung des Bundesrates für mehr Pflegepersonal mit Migrationshintergrund und zum<br />

Ausbau pflegeberufsbezogener Sprachförderung“, Bundesratsdrucksache 134/11<br />

9 Prometheus: http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/98403/E87923.pdf<br />

10 Siehe auch: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=heft&id=102568<br />

11 vgl. AG MTG, 2003; sek. zit. n. Kälble, K., 2008)<br />

12 vgl. Krüger 1983, S. 514<br />

13 vgl. Albers 2000, S. 4-6; sec. zit. n. Bögemann-Großheim 2004, S.100<br />

14 Was bringt die Akademisierung der Krankenpflege?, Neue Züricher Zeitung, 31. Oktober 2006. Online<br />

im In-ternet: http://www.nzz.ch/2006/10/31/hc/articleEKR6T.html<br />

15 Görres: Entwurf eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-<br />

Weiterentwicklungsgesetz); Drucksache 16/7439, Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode<br />

16 Hoppe: Ursachen und Strategien zur Beseitigung des Fachkräftemangels im Interesse einer bedarfsgerechten<br />

Versorgung pflegebedürftiger Menschen<br />

17 DGB-Index „Gute Arbeit“<br />

18 vgl. Behrens 2009: 29ff.<br />

19 U.a. Forschungsstudie zur Verweildauer in Pflegeberufen in Rheinland-Pfalz, (ViPb)<br />

20 Die Wertschätzung für die Pflegeberufe im Spiegel der Statistik. Christina Goesmann und Kerstin<br />

Nölle, TU Dortmund 2009<br />

21 BGW-Pflegereport 2007<br />

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