29.04.2015 Aufrufe

SFT 9/84 - Science Fiction Times

SFT 9/84 - Science Fiction Times

SFT 9/84 - Science Fiction Times

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Seience Fietion <strong>Times</strong> 9/19<strong>84</strong><br />

II<br />

DIETMAR<br />

WENZEL<br />

EIN KOMISCHER STERN<br />

Un ter den deu tschen Phantasten ist Paul<br />

Sehe erb art die wohl skurrilste Persönlichkeit.<br />

Zahlreiche Anekdoten, ftir die<br />

sich Ernst Rowohlt, Walter Mehring,<br />

Erich Mühsam und andere verbürgen,<br />

wissen davon zu berichten.<br />

Scheerbart wurde 1863 in Danzig geboren.<br />

Er hatte zehn Geschwister, verlor<br />

mit vier Jahren die Mutter und mit<br />

zehn den Vater. Erzogen von der religiösen<br />

Stiefmutter, unter deren Einfluß er<br />

eigentlich Theologie studieren und Missionar<br />

werden wollte, entschloß er sich<br />

als 19jähriger, Schriftsteller zu werden_<br />

Der Erfolg blieb ihm zeitlebens versagt,<br />

zu absonderlich waren die Texte,<br />

die er verfaßte: " Ich liebe Dich! Ein<br />

Eisenbahn-Roman" (1897), "Tarub,<br />

Bagdads berühmte Köchin_ Arabischer<br />

Kultur-Roman" (1897), "Immer mutig!<br />

Ein phantastischer Nilpferdroman"<br />

(1902) usw. Seit 1887 lebte Scheerbart<br />

in Berlin, wo er fortan die Boheme mit<br />

seiner Trinkfreudigkeit und dem übersprudelnden<br />

Einfallsreichtum seiner<br />

selbsterkannten Genialität beglückte.<br />

Nur dank desMitleids und der Gutmütigkeit<br />

der Freunde, die er dort gewann,<br />

konnte er sich mühsam über Wasser halten.<br />

Seine Hauptnahrungsmittel sollen,<br />

nach den Worten Ernst Rowohlts, "geschabter<br />

Hering auf Brot" und Bier gewesen<br />

sein. Was ihm das reale Leben versagte,<br />

lebte er in der Phantasie seiner<br />

Romane und Erzählungen aus: prachtvolle<br />

Gelage in ftirstlichen Palästen,<br />

Freß- und Sauforgien ohnegleichen<br />

durchziehen das Werk wie ein weinroter<br />

Faden.<br />

Seinem Freund Erich Mühsrun zufolge<br />

hoffte Scheerbart, der Armut eines<br />

Tages ein Ende zu bereiten und "mit einem<br />

Schlag Multimillionär zu werden".<br />

So werkelte er drei Jahre am Bau eines<br />

Perpetuum Mobiles herum. Doch die<br />

Maschine, die er liebevoll "Perpeh"<br />

nannte und allmählich den großen Tisch<br />

in der Waschküche überwucherte, wollte<br />

und wollte nicht funktionieren - was<br />

den Konstrukteur aber keineswegs entmutigte:<br />

"Perpeh ist fertig; es bewegt<br />

sich nur noch nicht." Auch die Herausgabe<br />

einer Tageszeitung, die "nur Lügen<br />

Paul Scheerbart<br />

DIE GROSSE REVOLUTION<br />

Ein Mondroman<br />

Leipzig und Weimar: Kiepenheuer 1983,<br />

208 S., 15 ,60 DM<br />

!' ,I U I.<br />

IIHI811<br />

&<br />

SCIIEE Hß AHT<br />

Oll Hala<br />

.. '<br />

1.' .....<br />

: ... :." .<br />

J('n"l('it.sgalt'ric<br />

enthalten sollte, und zwar, wie Sc heerbart<br />

es ausdrückte, 'Lügen mit Hintergrund'"<br />

(Erich Mühsam), scheiterte. Der<br />

Verleger, den er wunderbarerweise gefunden<br />

hatte, sprang im letzten Augenblick<br />

ab.<br />

Am 15. Oktober 1915 starb der Phantast,<br />

Satiriker und Lebenskünstler Paul<br />

Scheerbart wie er gelebt hatte - in völliger<br />

Armut. Die Freunde verklärten se i­<br />

nen Tod zum Heldentod: er habe aus<br />

Protest gegen den Ersten Weltkrieg die<br />

Nahrungsaufnalune verweigert. Wahr ist<br />

währscheinlich, daß Hunger , Alkohol<br />

und die Abscheu vor der Kriegsbegeisterung<br />

der Zeitgenossen gleichennaßen für<br />

seinen Tod verantwortlich wurden.<br />

DIE GROSSE REVOLUTION verfaßte<br />

Scheerbart - wie dem sehr informativen<br />

Nachwort von Vera Hauschild<br />

zur DDR-Neu ausgabe zu entnehmen<br />

ist - im ersten Halbjahr 1901 auf der<br />

Insel Rügen. Dorthin hatte er sich mit<br />

seiner Frau (eine Postbeamtenwitwe, die<br />

er 1900 geheiratet hatte) zurückgezogen,<br />

um dem teuren Großstadtleben in<br />

Berlin rur eine Weile zu entkommen.<br />

Der Insel-Verlag lehnte die Annähme<br />

des Manuskripts erst ab , verlegte den<br />

Roman 1902 schließlich doch noch,<br />

weil ein er der Verlagsgründer sich bereit<br />

erklärte, die Druckkosten zu tragen. In<br />

der ihm typischen Art widmete Paul<br />

Scheerba rt seinem Gönner das Werk:<br />

"Dem lachenden Fanatiker Alfred Walter<br />

Heymel". Soviel zur Entstehungsgeschichte<br />

des Romans. Weiteres - wie<br />

auch die zeitgeschichtliche Einordnung<br />

- kann dem fakten- und kenntnisreichen<br />

Nachwort entnommen werden.<br />

Die große Revolu tion vollzieh t sich<br />

auf dem Mond, wo die Mondmänner<br />

schon seit Jahrtausenden durch Teleskope<br />

das sonde rb are Treiben der Menschen<br />

auf der Erde studieren. Die "Weltfreunde"<br />

wollen dem ein Ende bereiten.<br />

Sie planen, auf der Rückseite des Erdtrabanten<br />

ein großes Teleskop zu errichten,<br />

um das ihrer Meinung nach viel interessantere<br />

Geschehen in den Weltraumtiefen<br />

zu beobachten. Die "Erdfreunde"<br />

widersetzen sich diesen Bestrebungen,<br />

müssen aber einem Kompromiß<br />

zustimmen: Sollten innerhalb von fünfzig<br />

Jahren nicht drei Erdstaaten das Militär<br />

abschaffen, so haben die Erdbewohner<br />

damit selbst bewiesen, daß sie<br />

der Aufmerksamkeit der Mondmänner<br />

nicht länger würdig sind. Die Entscheidung<br />

fallt zugunsten der "Weltfreunde"<br />

aus, und nach tausendjähriger Bauzeit<br />

ist es dann soweit, gebannt starren die<br />

Mondmänner durch das neue Teleskop<br />

in die "große Welt".<br />

In der Sekundärliteratur zu Leben<br />

und Werk Paul Scheerbarts wird bisweilen<br />

darauf hingewiesen, daß "Die große<br />

Revolution" in einer Beziehung aus dem<br />

Gesamtwerk herausragt: Der Roman<br />

weist einen bewußt durchkonstruierten<br />

Handlungsrahmen auf, der einen An-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!