Sozialethik. Mit internationaler Bibliographie, V. Teil - stiftung-utz.de

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104 3. Kap.: Die Demokratie Die liberale Demokratie - Der reine Pluralismus Die liberale Auffassung von Demokratie ist aus der Sicht der formalen Freiheit aller die logischste Form von demokratischem Verständnis der Politik. Die Forderung der sozialen Gerechtigkeit ist dadurch erfüllt, daß jeder hat, was er durch eigene Leistung erbracht hat. Nur an diejenigen ist dabei nicht gedacht, die aus natürlichen Gründen nichts leisten können. Im liberalen Sinn wird deren Anliegen durch die humanen (karitativen) Beziehungen der Individuen erfüllt. Vor jeder Hereinnahme von sozialen Komponenten in das Demokratieverständnis wird gewarnt. Gleiche Freiheit für alle dürfe nicht nach kommunistischem Rezept mit gleicher Verteilung von Einkommen und Vermögen auf alle verwechselt werden. Die liberale Idee der Demokratie ist zugleich die reinste Form des politischen Pluralismus, d.h. der Identität von Herrscher und Beherrschtem: jeder hat formal das gleiche Recht der politischen Entscheidung. Die existentiellen Interessen treten in den Hintergrund. Der Politikwissenschaftler und Sozialist Harald Laski hatte an sich diesen direkten Pluralismus der politischen Entscheidung verteidigt; er hat aber zugleich die existentiellen Interessen der Bürger miteinbegriffen, in der Meinung, daß sich im individualistischen Konkurrenzkampf der Interessen von selbst als Resultat die soziale Einheit ergebe und sich damit die Repräsentation des Volkswillens wie auch die Intervention der Staatsmacht erübrigen. Doch kann eine solche Demokratie keine stabilen Verhältnisse schaffen. Die Macht der vielen Unzufriedenen läßt sich damit nicht beseitigen. Der dauernde substantielle Wechsel der Wirtschafts- und Sozialpolitik, etwa von der Marktwirtschaft in die Planwirtschaft und umgekehrt, von einer Wahlperiode in die andere ist nicht zu vollziehen. Das gleiche gilt auch von der reinen liberalen Demokratie. Die Politik läßt sich nicht als Parallele zur Marktwirtschaft konstruieren, wie es verschiedentlich versucht wurde (/. M. Buchanan/G. Tullock, A. Downs). Die materiellen Interessen lassen sich vom Willen zur Freiheit nicht abtrennen. Der reine Pluralismus, der nur mit der formalen Freiheit operiert, ist eine Utopie. Selbst in jeder plebiszitären Demokratie, die an sich den reinen Pluralismus verwirklichen sollte, bilden sich spontan Interessengruppen, die sich kaum in einen umfassenden Kompromiß einbinden lassen. N. Luhmann anerkennt den Kompromiß höchstens für eine einzelne demokratische Entscheidung. Ihm kommt es auf die Vielfältigkeit der Ansichten, auf die allseitige Dynamik und Offenheit des Systems an. Ein dauerhafter Konsens ist für ihn demokratiewidrig. Die Demokratie kann nur bei Komplexität der Meinungen und Entscheidungen erhalten werden. Im Vordergrund

I. Die ethische Rechtfertigung der Demokratie 105 steht demnach nicht der Mensch, der seine Selbstverwirklichung in freier Entscheidung sucht, sondern der Dauerbestand des Systems. Dieser Zweck wird natürlich nur erreicht, wenn jedem die ihm genehme Wahl offensteht. Jedoch ist auch diese nur demokratiegerecht, wenn sie flexibel bleibt. Im Grund sind diese auf dem Reißbrett der ewigen Demokratie vorgenommenen Überlegungen nichts anderes als die Erfüllung der von der Demokratie geforderten Offenheit für die stets wechselnden Wertpräferenzen der Bürger. Die repräsentative Demokratie In dem Augenblick, in dem die Freiheit mit der Interessenpräferenz verbunden ist, ergibt sich ein wenigstens teilweiser Konsens, der in einer Gruppenbildung und im Bedürfnis einer entsprechenden Repräsentation seinen Ausdruck findet. Die Frage, ob die repräsentative oder die plebiszitäre Demokratie vorzuziehen ist, hängt von der Funktionsfähigkeit des einzelnen Systems ab. Da es in der modernen Demokratie nicht um die Wahrheit, d.h. das echte Gemeinwohl, sondern vielmehr um die Partizipation des Volkes an der Regierung geht, kann man sagen, daß die plebiszitäre Demokratie rein theoretisch den Vorrang haben sollte, soweit sie in einer gewissen Größe noch funktionsfähig ist. Bei substantiellen Fragen, die zutiefst von allen Bürgern wahrgenommen werden müssen, ist wohl in jedem Fall eine Volksbefragung angezeigt. Doch auch dieses Urteil hat nur Gültigkeit bei Berücksichtigung aller konkreten Bedingungen. Bei der heutigen Macht der Medien, die zum Teil von finanzkräftigen Instituten unterhalten werden, wird es immer fraglicher, ob es überhaupt noch einen vernehmbaren Volkswillen gibt. Die engagierten Verteidiger der Repräsentation weisen zusätzlich auf die Komplexität der heutigen sozialen und wirtschaftlichen Probleme hin, die durch Volksentscheid nicht lösbar sind. Andererseits kann ein Volksentscheid den politischen Repräsentanten, heißen sie nun Regierung oder Parteien, die Augen für Anliegen öffnen, an die sie aus ihrer abstrakten Sicht nicht denken. In der Schweiz hat ein Volksentscheid, der sich gegen Regierung und Parteien aussprach, oft gute sachlich gerechtfertigte Dienste geleistet. Andererseits sind viele Bürger bei Gesetzesvorlagen, die vom Parlament dem Volk unterbreitet werden, nicht imstande, den ganzen Sachverhalt zu beurteilen. Dazu braucht es oft spezielle Gremien von Fachleuten. In einer gesellschaftlich strukturierten Demokratie wird die politische Entscheidung im sozialen Vorraum vorbereitet wird. Hier werden die vielen verschiedenen Individualinteressen gesiebt und gleichlautende Interessen in Gruppen gebündelt. Auf diese intermediären, zwischen dem Staat und den Individuen sich bildenden Interessengruppen hat der Rechtshistoriker Otto von Gierke in seinem in den Jahren 1908 bis 1913 in mehreren Bänden veröffentlichten Werk „Das deutsche Genossenschaftsrecht" hingewiesen. Dieser

I. Die ethische Rechtfertigung <strong>de</strong>r Demokratie 105<br />

steht <strong>de</strong>mnach nicht <strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r seine Selbstverwirklichung in freier<br />

Entscheidung sucht, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Dauerbestand <strong>de</strong>s Systems. Dieser Zweck<br />

wird natürlich nur erreicht, wenn je<strong>de</strong>m die ihm genehme Wahl offensteht.<br />

Jedoch ist auch diese nur <strong>de</strong>mokratiegerecht, wenn sie flexibel bleibt. Im<br />

Grund sind diese auf <strong>de</strong>m Reißbrett <strong>de</strong>r ewigen Demokratie vorgenommenen<br />

Überlegungen nichts an<strong>de</strong>res als die Erfüllung <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Demokratie gefor<strong>de</strong>rten<br />

Offenheit für die stets wechseln<strong>de</strong>n Wertpräferenzen <strong>de</strong>r Bürger.<br />

Die repräsentative<br />

Demokratie<br />

In <strong>de</strong>m Augenblick, in <strong>de</strong>m die Freiheit mit <strong>de</strong>r Interessenpräferenz verbun<strong>de</strong>n<br />

ist, ergibt sich ein wenigstens teilweiser Konsens, <strong>de</strong>r in einer Gruppenbildung<br />

und im Bedürfnis einer entsprechen<strong>de</strong>n Repräsentation seinen Ausdruck<br />

fin<strong>de</strong>t. Die Frage, ob die repräsentative o<strong>de</strong>r die plebiszitäre Demokratie<br />

vorzuziehen ist, hängt von <strong>de</strong>r Funktionsfähigkeit <strong>de</strong>s einzelnen Systems<br />

ab. Da es in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Demokratie nicht um die Wahrheit, d.h. das echte<br />

Gemeinwohl, son<strong>de</strong>rn vielmehr um die Partizipation <strong>de</strong>s Volkes an <strong>de</strong>r Regierung<br />

geht, kann man sagen, daß die plebiszitäre Demokratie rein theoretisch<br />

<strong>de</strong>n Vorrang haben sollte, soweit sie in einer gewissen Größe noch<br />

funktionsfähig ist. Bei substantiellen Fragen, die zutiefst von allen Bürgern<br />

wahrgenommen wer<strong>de</strong>n müssen, ist wohl in je<strong>de</strong>m Fall eine Volksbefragung<br />

angezeigt. Doch auch dieses Urteil hat nur Gültigkeit bei Berücksichtigung<br />

aller konkreten Bedingungen. Bei <strong>de</strong>r heutigen Macht <strong>de</strong>r Medien, die zum<br />

<strong>Teil</strong> von finanzkräftigen Instituten unterhalten wer<strong>de</strong>n, wird es immer fraglicher,<br />

ob es überhaupt noch einen vernehmbaren Volkswillen gibt. Die engagierten<br />

Verteidiger <strong>de</strong>r Repräsentation weisen zusätzlich auf die Komplexität<br />

<strong>de</strong>r heutigen sozialen und wirtschaftlichen Probleme hin, die durch Volksentscheid<br />

nicht lösbar sind. An<strong>de</strong>rerseits kann ein Volksentscheid <strong>de</strong>n politischen<br />

Repräsentanten, heißen sie nun Regierung o<strong>de</strong>r Parteien, die Augen für<br />

Anliegen öffnen, an die sie aus ihrer abstrakten Sicht nicht <strong>de</strong>nken. In <strong>de</strong>r<br />

Schweiz hat ein Volksentscheid, <strong>de</strong>r sich gegen Regierung und Parteien aussprach,<br />

oft gute sachlich gerechtfertigte Dienste geleistet. An<strong>de</strong>rerseits sind<br />

viele Bürger bei Gesetzesvorlagen, die vom Parlament <strong>de</strong>m Volk unterbreitet<br />

wer<strong>de</strong>n, nicht imstan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n ganzen Sachverhalt zu beurteilen. Dazu braucht<br />

es oft spezielle Gremien von Fachleuten.<br />

In einer gesellschaftlich strukturierten Demokratie wird die politische Entscheidung<br />

im sozialen Vorraum vorbereitet wird. Hier wer<strong>de</strong>n die vielen<br />

verschie<strong>de</strong>nen Individualinteressen gesiebt und gleichlauten<strong>de</strong> Interessen in<br />

Gruppen gebün<strong>de</strong>lt. Auf diese intermediären, zwischen <strong>de</strong>m Staat und <strong>de</strong>n<br />

Individuen sich bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Interessengruppen hat <strong>de</strong>r Rechtshistoriker Otto<br />

von Gierke in seinem in <strong>de</strong>n Jahren 1908 bis 1913 in mehreren Bän<strong>de</strong>n veröffentlichten<br />

Werk „Das <strong>de</strong>utsche Genossenschaftsrecht" hingewiesen. Dieser

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